'Gastarbeit' in der Bundesrepublik Deutschland - von Cord ...

4.3. Funktionen der Rückkehrorientierung 87
Der für Mihçiyazgan zentrale, leider aber nicht definierte Begriff der „türkischen Sinn-„ bzw.
„Sozialwelt“ erscheint etwas pauschal angesichts der fortgeschrittenen Differenzierung der türkischen
Minderheit in Deutschland. In den unterschiedlichen innertürkischen Milieus 27 sind auch
verschiedene Deutungsmuster zu erwarten. Am deutlichsten wird das bei modernen Muslimen,
die die Gespaltenheit ihres deutsch-türkischen Zugehörigkeitsgefühls dadurch überwinden können,
daß sie zum Islam gehören 28 .
Im ganzen definiert sich die türkische Minderheit aber noch immer relativ stark über die Türkei;
eine Presse, eine öffentliche Meinung oder ein Selbstbewußtsein als Türken in Deutschland
ist schwach und zersplittert, was gewiß durch den fortdauernden Ausschluß von der deutschen
Politik bedingt ist. Die vom Herkunftsland produzierten Medien berücksichtigen weniger die
Probleme der MigrantInnen, sondern erhalten aus nationalistischen und ökonomischen Interessen
deren Rückkehrorientierung 29 .
Diese Orientierung der Minderheit auf das Herkunftsland bewirkt, daß die Absicht, zurückzukehren,
ein wichtiges Zugehörigkeitsmerkmal bleibt – umso mehr, je heterogener andere Situationen
und Einstellungen, je individueller die Selbstbilder als Einzelne werden. Nur die wenigen
MigrantInnen, die Zugang zu einer deutschen Bezugsgruppe gefunden haben, könnten eine
Ausgrenzung möglicherweise in Kauf nehmen. Die allermeisten brauchen angesichts der inneren
Zerrissenheit und der Ausgrenzung im Aufnahmeland den „migrationsstreßfreien“ Schutzraum
der eigenen Minderheit 30 .
Ähnlich dürften diese Muster auch innerhalb der anderen Minderheiten wirken.
„Italiener, die mit dem Gedanken spielten, für längere Zeit oder für immer in Deutschland zu bleiben, wurden von ihren
Kollegen stets ‘wegerklärt’, ihr Ansinnen mit einer schlechten Familie, leichtsinnigem Charakter, regionaler Herkunft
(z.B. Sizilien) und Mangel an Opfermut begründet.“ 31
Dieser Mechanismus innerhalb einer Wohnheimgruppe 1965 schien auch später noch zu
funktionieren 32 .
Rückkehrorientierung schafft, gerade wenn sie nicht mehr selbstverständlich ist, ethnische
Identität; denn ethnische Identität entsteht vor allem dann, wenn zuvor selbstverständliche Verhaltensweisen
durch Krisen als Handlungsoptionen erst erfahren und „problematisiert“ werden
33 . Die Aufgabe der zuvor selbstverständlichen Rückkehr wäre dagegen ein großer Schritt
zu einer auch identifikativen Assimilation an Deutschland.
Loyalitätsbekundung zum Herkunftsland
Zudem muß auch Loyalität zum Herkunftsland und zum Heimatdorf gezeigt werden.
Die Regierungen der Herkunftsländer versuchen, die Rückkehrorientierung zu erhalten. Ein
Istanbuler Neurologie-Chefarzt:
„Der Gastarbeiter muß wissen, daß er, wenn seine Zeit kommt, zurückkehren muß. (...) Er muß sich bewußt sein, daß er
letzten Endes auch einen Auftrag seines Heimatlands im Gastland zu erfüllen hat.“ 34
Schierup stellt fest:
„These efforts to combat assimilation seem actually to have been the most successful element of Yugoslav migration
policy, expressed in the conservation of a comparatively steady flow of migrant remittances and in the production of a
prolonged psycho-social drama among the majority of Yugoslavia’s post-war labour migrants in Europe“ 35 .
Wichtiger noch sind die Erwartungen der Verwandten im Heimatdorf. Die MigrantInnen
„sind im Auftrag oder mit Auftrag ihrer Bezugsgruppen emigriert. Diese signifikanten Dritten bestehen auf der Erfüllung
des Kontraktes, auf der Orientierung an der Rückkehr.“ 36 „Eine Aufgabe der Rückkehr kommt einem Vertrauensbruch
gleich, dem Nicht-Erfüllen eines Auftrags.“ 37