'Gastarbeit' in der Bundesrepublik Deutschland - von Cord ...
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4.3. Funktionen <strong>der</strong> Rückkehrorientierung 85<br />
Dieses Kapitel betrifft vor allem die rund 60 % <strong>der</strong> MigrantInnen, die we<strong>der</strong> e<strong>in</strong>deutig zurückkehren<br />
werden noch e<strong>in</strong>deutig ihre Rückkehrorientierung aufgegeben haben.<br />
Abwehrstrategie gegen Diskrim<strong>in</strong>ierung und Existenzunsicherheit<br />
Wo die Rückkehr nicht mehr konkret vorbereitet wird, dient ihre Möglichkeit doch <strong>der</strong> Selbstbehauptung<br />
gegenüber <strong>der</strong> Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrung und <strong>der</strong> Existenzunsicherheit.<br />
Die meisten MigrantInnen empfanden e<strong>in</strong>e nicht nur anhaltende, son<strong>der</strong>n sogar wachsende<br />
Diskrim<strong>in</strong>ierung und Fe<strong>in</strong>dseligkeit <strong>von</strong> seiten <strong>der</strong> Deutschen. „Jeden Tag solche Worte treffen<br />
... Mit Psychologie. Den Kopp kaputt. Also ich b<strong>in</strong> sowieso müde <strong>von</strong> Arbeit, dann kommen dazu<br />
se<strong>in</strong>e Worte, ja?“ 6 ‘Auslän<strong>der</strong>fe<strong>in</strong>dlichkeit’ ersche<strong>in</strong>t dabei als e<strong>in</strong> Komplex aus allgeme<strong>in</strong>en<br />
Benachteiligungen, staatlicher Repression, ger<strong>in</strong>gem Prestige und e<strong>in</strong>zelnen verbalen o<strong>der</strong> tätlichen<br />
Übergriffen, sozusagen als e<strong>in</strong>e „kollektive Dauerdemütigung“ 7 .<br />
Gegen die kont<strong>in</strong>uierliche Diskrim<strong>in</strong>ierungserfahrung erlaubt die Rückkehrorientierung e<strong>in</strong>e<br />
Bewahrung des Selbstwertgefühls: „Wo ich h<strong>in</strong>gehöre, weiß ich ja.“ 8 Sie bietet sche<strong>in</strong>bar e<strong>in</strong>en<br />
<strong>in</strong>dividuellen Ausweg aus <strong>der</strong> strukturellen Chancenlosigkeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit. Je mehr Diskrim<strong>in</strong>ierung<br />
die MigrantInnen erfahren, desto mehr Rückkehrabsichten äußern sie. Darauf läßt<br />
sich wohl auch die überdurchschnittliche Rückkehrorientierung bei TürkInnen zurückführen 9 .<br />
„Kennzeichnend (...) sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Grundzug <strong>von</strong> Melancholie zu se<strong>in</strong>, wie er <strong>in</strong> <strong>der</strong> sehnsüchtigen Kernaussage <strong>der</strong><br />
Migrantenideologie zum Ausdruck kommt: ‘Wir kehren das nächste Jahr zurück!’“ 10<br />
Früher träumten alle, „sich aus dem Dorf zu retten“, heute träumen sie, sich „aus <strong>Deutschland</strong><br />
zu retten“ 11 .<br />
Auslän<strong>der</strong>fe<strong>in</strong>dlichkeit und Rechtsstatus hängen eng zusammen, denn die Rechtsunsicherheit<br />
schafft e<strong>in</strong>e diffuse Angst: Die bloße Unfreundlichkeit <strong>der</strong> Vorgesetzten kann sich je<strong>der</strong>zeit<br />
zur existenzbedrohenden Kündigung ausweiten. Trotz langer Aufenthaltszeiten hatten weit weniger<br />
MigrantInnen als möglich die unbefristete Aufenthaltserlaubnis o<strong>der</strong> die Aufenthaltsberechtigung<br />
12 .<br />
Unabhängig vom objektiven Status ist e<strong>in</strong> subjektives Mißtrauen gegenüber <strong>der</strong> deutschen<br />
Verwaltung und Justiz weit verbreitet: „Wenn denen da oben e<strong>in</strong>fällt, an<strong>der</strong>e Gesetze zu machen,<br />
können sie eben.“ 13 Selbst EG-Zugehörige zweifeln:<br />
„Ja, ob man bleiben kann? Vom Papier her b<strong>in</strong> ich Italiener. Und <strong>der</strong> deutsche Staat hat auch se<strong>in</strong>e Probleme. Ich weiß<br />
nicht, was die <strong>in</strong> <strong>der</strong> nächsten Zeit entscheiden...“ 14<br />
Das Gefühl, zur <strong>in</strong>dustriellen Reservearmee zu gehören, ließ jede Planung, die den Zeitraum<br />
<strong>von</strong> zwei, drei Jahren überschritt, als illusorisch ersche<strong>in</strong>en:<br />
„Und dann ist es nicht klar, ob man auch hierbleiben kann, wie es die Ausbildung <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong> erfor<strong>der</strong>t. Heute hat man<br />
Arbeit, aber ob man morgen Arbeit hat, das ist nicht klar. (...) Hier: Das ist nur e<strong>in</strong> Provisorium (geçiçi = im Vorübergehen),<br />
also hier, das ist wie e<strong>in</strong> Hotel. Wenn man zu uns heute <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong> sagt: ‘Los, geh!’ Dann kann ich nicht sagen:<br />
‘Ich geh nicht.’ Je<strong>der</strong> muß schließlich <strong>in</strong> se<strong>in</strong> eigenes Land gehen.“ 15<br />
Die vagen Zukunftsabsichten <strong>der</strong> MigrantInnen entsprangen somit den unvoraussehbaren<br />
Bed<strong>in</strong>gungen, nicht etwa e<strong>in</strong>em Fehlen <strong>von</strong> zukunftsgerichteter Lebensplanung 16 .<br />
„Wenn wir jetzt rausgeschmissen werden“ 17 – wer damit rechnet, muß sich die Rückkehr als<br />
gedankliche Möglichkeit offenhalten. Sie bietet e<strong>in</strong>e gewisse <strong>in</strong>dividuelle Sicherheit, bei e<strong>in</strong>er latent<br />
drohenden Ausweisung nicht „<strong>in</strong>s Nichts zu stürzen“ 18 .