'Gastarbeit' in der Bundesrepublik Deutschland - von Cord ...
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2. Die faktische Nie<strong>der</strong>lassung 17<br />
Seit etwa 1970 ballte sich die ausländische Wohnbevölkerung <strong>in</strong> bestimmten Vierteln, den<br />
se<strong>in</strong>erzeit dämonisierten ‘Ghettos’. Seit etwa 1980 ist dieser Konzentrationsprozeß zum Stillstand<br />
gekommen.<br />
Ethnische M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten haben sich herausgebildet und e<strong>in</strong>e – je nach Größe <strong>der</strong> Gruppe,<br />
Segregationsgrad und an<strong>der</strong>en Faktoren unterschiedlich starke – eigene Infrastruktur entwickelt.<br />
Diese Kolonien haben große Bedeutung für nahezu alle Gruppen 25 über die Nie<strong>der</strong>lassung<br />
h<strong>in</strong>aus, und zwar auch ohne e<strong>in</strong>e ethnische Segregation des Wohngebiets („community<br />
without prop<strong>in</strong>quity“ 26 ). Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre waren die ersten politischen, kulturellen und<br />
religiösen Immigrantenvere<strong>in</strong>e gegründet worden, seit etwa 1980 schlossen sie sich stärker zusammen<br />
und orientierten sich auf <strong>Deutschland</strong> 27 .<br />
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad stieg <strong>von</strong> 15 %(1960) auf 31 %(1978); 1975 waren<br />
im Metallbereich sogar 60 % <strong>der</strong> TürkInnen Gewerkschaftsmitglied. In den Betriebsräten blieben<br />
sie aber unterrepräsentiert 28 .<br />
Die Zahl <strong>der</strong> selbständigen UnternehmerInnen stieg ab Ende <strong>der</strong> siebziger Jahre an: In Berl<strong>in</strong><br />
stellten sie schließlich 10.8 % <strong>der</strong> griechischen und 2.6 % <strong>der</strong> türkischen E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>Innen 29 .<br />
Bundesweit hatten die 35 000 türkischen Unternehmen 1992 125 000 Arbeitsplätze und e<strong>in</strong>en<br />
Jahresumsatz <strong>von</strong> 28 Milliarden Mark 30 .<br />
Auf dem Arbeitsmarkt verfestigte sich <strong>der</strong> Status <strong>der</strong> E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>Innen vor allem <strong>in</strong> den siebziger<br />
Jahren: Hatten 1963 noch 62.2 % e<strong>in</strong>e Betriebszugehörigkeit <strong>von</strong> unter zwei Jahren, waren<br />
es 1972 nur noch 56 %, 1980 nur noch 29.4 %, 1985 nur noch 18.9 % 31 . Das mag auf bessere<br />
betriebliche Integration h<strong>in</strong>deuten 32 o<strong>der</strong> auf die langfristigen strukturellen Verän<strong>der</strong>ungen des<br />
Arbeitsmarktes, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Aufspaltung <strong>in</strong> gute und schlechte Arbeitsplätze und die Unterschichtung<br />
<strong>der</strong> MigrantInnen. Auslän<strong>der</strong>Innen blieben nach wie vor auf dieses sekundäre<br />
Randbelegschafts-Segment verwiesen, das zwar konjunkturempf<strong>in</strong>dlich, aber im ganzen für<br />
den Produktionsprozeß notwendig war. Sie waren vom Konjunkturpuffer zum unverzichtbaren<br />
Sockelproletariat geworden 33 .<br />
Da sich <strong>der</strong> Lebensmittelpunkt nach <strong>Deutschland</strong> verlagert hatte, sanken auch die Sparquoten<br />
und die Geldüberweisungen <strong>in</strong>s Heimatland. Hatten 1971 noch zwei Drittel <strong>der</strong> ausländischen<br />
ArbeitnehmerInnen regelmäßig Geld nach Hause geschickt, waren es 1980 nur noch<br />
43.3 % 34 . Der Sparwille sank erst nach 1980, auch weil dann die Reale<strong>in</strong>kommen zurückg<strong>in</strong>gen<br />
35 . E<strong>in</strong> Bankguthaben war auch und gerade bei e<strong>in</strong>er ungewissen Zukunft <strong>in</strong> <strong>Deutschland</strong><br />
wichtig. 1980 kauften nur noch wenige MigrantInnen langlebige Konsumgüter für das Heimatland<br />
36 . Sie konsumierten immer mehr hierzulande, wie die Marktforschung befriedigt feststellte:<br />
„Die Bestandsreduzierung hat den ausländischen Arbeitnehmer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung für den deutschen Markt nicht geschmälert.<br />
Im Gegenteil – <strong>der</strong> festzustellende Strukturwandel dürfte den ‘Gastarbeitermarkt’ bei vielen Produkten erst<br />
richtig <strong>in</strong>teressant machen.“ 37<br />
Zusammenfassend läßt sich die Nie<strong>der</strong>lassung als e<strong>in</strong> Prozeß <strong>in</strong>terpretieren, <strong>der</strong> bei vielen<br />
Zugewan<strong>der</strong>ten bereits Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre e<strong>in</strong>setzte und um 1980 größerenteils, um<br />
1985 ganz überwiegend abgeschlossen war. Die E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>Innen waren als KonsumentInnen<br />
und ProduzentInnen nicht mehr ersetzbar. Beson<strong>der</strong>s früh ließen sich die GriechInnen, SpanierInnen<br />
und e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> ItalienerInnen nie<strong>der</strong>, später vor allem die TürkInnen. Nur e<strong>in</strong> Fünftel <strong>der</strong><br />
MigrantInnen – e<strong>in</strong> größerer Teil wie<strong>der</strong>um bei den ItalienerInnen – hat sich noch nicht nie<strong>der</strong>gelassen.<br />
Die allermeisten ‘Gastarbeiter’ s<strong>in</strong>d längst De-facto-E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>Innen; seit mehr als<br />
zehn Jahren ist <strong>Deutschland</strong> wie<strong>der</strong> e<strong>in</strong> De-facto-E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>ungsland geworden.<br />
1 Castles 1984, 11ff.<br />
2 Z.B. Özcan <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>er Geschichtswerkstatt 1993.<br />
3 Meier-Braun 1988, 10.<br />
4 Booth 1992, 162. Schon früher bei GriechInnen und TürkInnen, weniger deutlich bei ItalienerInnen.<br />
5 Überschneidungen auch bei Castles 1984, 215.