Gender-Gesundheitsbericht Schweiz 2006 - Gender Campus
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Exkurs: Zur Notwendigkeit eines Geschlechterblicks –<br />
das Beispiel koronare Herzkrankheit<br />
Bis vor wenigen Jahren galt der Herzinfarkt als typische Männerkrankheit. Die Ergebnisse<br />
der MONICA-Studien sowie anderer epidemiologischer Arbeiten, die sowohl auf die<br />
höhere Letalität des Herzinfarktes bei jüngeren Frauen verweisen als auch auf den stärkeren<br />
Rückgang der Sterblichkeit an koronaren Herzkrankheiten bei Männern hinweisen,<br />
haben zu einer breiteren Aufmerksamkeit für das Thema «Frau und Herz» geführt. Mittlerweile<br />
liegen zahlreiche Studien zu den Geschlechtsunterschieden in Ätiologie, Diagnostik<br />
und Therapie einer koronaren Herzkrankheit vor und Sensibilisierungskampagnen<br />
wurden gestartet, die sowohl Ärztinnen und Ärzte als auch die Allgemeinbevölkerung<br />
darauf aufmerksam machen, dass Herzkrankheiten bei Frauen eine der wichtigsten Erkrankungen<br />
sind. Im deutschsprachigen Raum wurden in den vergangenen Jahren einige<br />
Überblicksarbeiten verfasst, die einen Einstieg in das Thema erleichtern (z.B. Bisig &<br />
Gutzwiller, 2002, Bachmann & Medau, 2002, Lohe, 2002, Kuhlmann, 2004).<br />
Zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede werden unterschiedliche Faktoren herangezogen,<br />
die auf die Interaktion des biologischen und sozialen Geschlechts verweisen. So<br />
wird das um 5 bis 10 Jahre höhere durchschnittliche Erkrankungsalter bei Frauen zum<br />
einen auf biologische Aspekte, genauer: den potenziellen Schutz durch Östrogene 45 zurückgeführt.<br />
Die Verordnung der so genannten Hormon«ersatz»therapie 46 war in dieser<br />
Logik folgerichtig auch die zentrale Präventionsstrategie (ausführlicher siehe Kuhlmann &<br />
Kolip, 2005, sowie Kuhlmann, 2004). Mit der Women’s Health Initiative-Study, einer randomisierten,<br />
kontrollierten Studie mit 16'000 Frauen wurden die Hoffnungen auf das<br />
präventive Potenzial der Hormonpräparate allerdings zerschlagen: Zwar schützt die (post-)<br />
menopausale Hormontherapie vor Dickdarmkrebs und Knochenbrüchen, aber das Risiko<br />
für eine Brustkrebserkrankung, für Lungenkrebs und – wider Erwarten – für Schlaganfälle<br />
und koronare Herzerkrankungen steigt (Writing Group, 2002).<br />
Die geschlechtsspezifischen Morbiditätsmuster werden aber auch auf ein in der weiblichen<br />
Bevölkerung geringeres Ausmass gesundheitsriskanten Verhaltens (insbesondere<br />
Tabakkonsum) zurückgeführt. Vor diesem Hintergrund wird der geringere Rückgang in<br />
der Mortalität auf den steigenden Anteil von Raucherinnen bezogen. Auch für andere<br />
Risikofaktoren – Bluthochdruck, Übergewicht, Dyslipidämie, Bewegungsmangel, Diabetes<br />
mellitus, Stress – lassen sich geschlechtsspezifische Verteilungen ausmachen (für<br />
einen Überblick siehe Bisig & Gutzwiller, 2002). Auch mehren sich die Befunde, dass die<br />
einzelnen Risikofaktoren für Frauen eine grössere Bedeutung haben als für Männer und<br />
dass von einer geschlechtsspezifischen Gewichtung auszugehen ist (Lohe, 2002). So ist<br />
die Kombination von oralen Kontrazeptiva und Tabakkonsum bei Frauen mit einem stark<br />
erhöhten Risiko verbunden.<br />
45 Diese These war lange Zeit plausibel und diente als eines der wichtigsten Argumente für die<br />
Verordnung von Hormonpräparaten nach der Menopause. Die Befunde zum Schutz durch Östrogene<br />
sind allerdings widersprüchlich (zusammenfassend Weber et al., 2004).<br />
46 Der Begriff Hormon«ersatz»therapie wurde von Frauengesundheitsforscherinnen von Beginn an<br />
kritisiert, da er suggeriert, dass Östrogene in und nach den Wechseljahren – ähnlich wie das Insulin –<br />
zwangsläufig ersetzt werden muss. Sie sehen hierin den Ausdruck einer nicht gerechtfertigten<br />
Medikalisierung einer normalen körperlichen Umbruchphase im Leben von Frauen (Lademann, 2000).<br />
Geschlechterblick auf die Gesundheitsziele für die <strong>Schweiz</strong> | 139