Gender-Gesundheitsbericht Schweiz 2006 - Gender Campus
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«haben», sondern etwas ist, das wir «tun». Anders formuliert: Das Geschlecht wird in<br />
sozialen Situationen hergestellt und bestätigt, und Individuen nutzen hierzu Verhaltensweisen,<br />
die geschlechtstypisch sind. Gesundheitsrelevante Verhaltensweisen von Jungen<br />
und Mädchen werden unter dieser Perspektive als geschlechtssymbolisierende<br />
Praktiken verstanden, die der Herstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit dienen<br />
(Connell, 2000; West & Fenstermaker, 1995). Der Begriff Praktik greift dabei einerseits<br />
den Gedanken auf, dass Jungen und Mädchen aktiv ihre Entwicklung gestalten, und<br />
andererseits wird dadurch betont, dass Weiblichkeit und Männlichkeit nicht festgelegt<br />
und klar definiert sind, sondern dass diese einer historischen Wandelbarkeit unterliegen.<br />
Im Weitern wird auch berücksichtigt, dass die Praktiken immer in einem spezifischen<br />
sozialen Kontext stehen (Helfferich, 2001). Studien zeigen nämlich, dass die Vorstellungen<br />
und Symbolisierungen von Weiblichkeit und Männlichkeit je nach sozialem Milieu<br />
differieren (Frerichs, 2000; Frerichs & Steinrücke, 1997; Liebau, 1992; Vester & Gardemin,<br />
2000). Unter dieser Perspektive kann exzessiver Alkoholkonsum von männlichen<br />
Jugendlichen als Symbolisierung einer bestimmten Form von Männlichkeit betrachtet<br />
werden. Andere Praktiken, die auf Kraft und Verausgabung zielen, stellen ebenfalls eine<br />
bestimmte Form von Männlichkeit her. Auch Weiblichkeiten werden plural inszeniert: Die<br />
Distanz zu Risikoverhalten symbolisiert eine bewahrende Weiblichkeit, während Risikopraktiken<br />
bei Mädchen als Ausdruck des Anspruchs auf Teilhabe an (männlichen) Privilegien<br />
interpretiert werden können (Helfferich, 2001). Wie bereits oben angetönt, sind<br />
diese Inszenierungen von Weiblichkeiten und Männlichkeiten aber nicht einfach frei<br />
wählbar, sondern sind rückgebunden an ein bestimmtes soziales Milieu und damit Ausdruck<br />
eines bestimmten Habitus. Das gesundheitsrelevante Verhalten von Jungen und<br />
Mädchen kann daher als Ergebnis unterschiedlicher Orientierungen im Umgang mit dem<br />
Körper gedeutet werden. Das Orientierungsmuster, das den Umgang mit dem eigenen<br />
Körper bestimmt, wird «somatische Kultur» genannt. Sie bestimmt die Aufmerksamkeit,<br />
die wir auf unseren Körper richten. Sie prägt die Vorstellungen darüber, was der Körper<br />
braucht und wie man mit ihm umgehen soll. Sie bestimmt die Art und Weise, wie jemand<br />
seinen Körper pflegt, ernährt, präsentiert, herausputzt, trainiert, schützt, gefährdet<br />
u.a. Die somatische Kultur wird in der Sozialisation erworben und von der Zugehörigkeit<br />
zu einem bestimmten sozialen Milieu geprägt. Für Erwachsene und Jugendliche konnten<br />
somatische Kulturen bereits rekonstruiert werden (Gredig et al., 2002; Helfferich, 1994;<br />
Kolip, 1997). Inwiefern bei Kindern solche körperbezogenen Orientierungsmuster bereits<br />
vorhanden sind, bleibt hingegen offen, da entsprechende Untersuchungen noch fehlen.<br />
3.3.5. Forschungs- und Handlungsbedarf<br />
Erfreulicherweise findet die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zunehmend Aufmerksamkeit,<br />
und es wurden in den vergangenen Jahren einige epidemiologische Studien<br />
durchgeführt, die Auskunft über den Gesundheitszustand und das gesundheitsrelevante<br />
Verhalten von Kindern und Jugendlichen geben (z.B. die Studie Health Behavior in<br />
School-aged Children, SMASH). Die Daten zur Gesundheit und zum gesundheitsrelevanten<br />
Verhalten von Kindern und Jugendlichen machen deutlich, dass geschlechtsspezifische<br />
Unterschiede in vielen (wenn auch nicht in allen) Bereichen feststellbar sind. Um<br />
die gesundheitliche Ungleichheit von Jungen und Mädchen allerdings adäquat erfassen<br />
bzw. erklären zu können, braucht es mehr als eine blosse Differenzierung nach Ge-<br />
Geschlechterblick auf die Gesundheitsziele für die <strong>Schweiz</strong> | 104