brennpunkt 2-2012 .indd - Edition dibue
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Richard Pare, Narkomfin-Gemeinschaftswohnanlage: Innenansicht, 1995,<br />
Fotografie, 121,9 x 154,2 cm, (O.i.F.)<br />
Architekten: Iwan Antonow, Wenjamin Sokolow, Arseni Tumbsow, 1929-1936<br />
© courtesy Richard Pare und Kicken Berlin<br />
1993 begonnen, diese »verlorene Avantgarde«<br />
wiederzuentdecken. Auf mehreren<br />
Reisen nach Moskau und nach St.<br />
Petersburg sowie durch die ehemaligen<br />
Sowjetrepubliken dokumentierte<br />
er, was von den Gebäuden noch erhalten<br />
ist. Seine Aufnahmen spüren deren<br />
Schönheit und den Erfindungsreichtum<br />
ihrer Erbauer auf und zeigen zugleich<br />
die Spuren des Verfalls. Damit zeichnen<br />
sie auch ein Bild der postsowjetischen<br />
Gesellschaft, die sich ihres außergewöhnlichen<br />
Erbes nicht bewusst ist.<br />
Neu waren bei dieser Architektur nicht<br />
nur die Formensprache, sondern auch<br />
die Bauaufgaben: So entstanden mit dem<br />
Aufbau der neuen Gesellschaft Arbeiterclubs,<br />
Gewerkschaftshäuser, kollektive<br />
Wohnanlagen, Sanatorien für die<br />
Werktätigen, staatliche Großkaufhäuser,<br />
Partei-und Verwaltungsbauten, aber<br />
auch Kraftwerke und Industrieanlagen,<br />
um das Land zu modernisieren.<br />
Der erste wichtige Bau nach der Revolution<br />
war der Schabolowka-Radioturm<br />
von Wladimir Schuchow. Er wurde von<br />
1919-22 aus sechs übereinander montierten<br />
Hyperboloiden errichtet und war<br />
mit 150 Metern zu jener Zeit der höchste<br />
Turm in dieser Bauweise. Seine ele-<br />
gante, filigrane Struktur wurde Symbol<br />
der Überwindung des Alten und Schweren.<br />
Rodtschenkos bekannte Fotos des<br />
Radioturmes - heute Ikonen der Avantgardefotografie<br />
- betonen die Dynamik<br />
von unten nach oben. Pares Aufnahmen<br />
des Turmes zielen stärker auf die Details<br />
und rücken damit die Bauweise jener<br />
Zeit ins Blickfeld.<br />
Die Leistungen russischer Ingenieure<br />
wie Schuchow beeinflussten mit ihren<br />
neuartigen technischen Konstruktionen<br />
die Entwicklung der Architektur, die den<br />
Funktionen entsprechend klare, geometrische<br />
Formen verwendete. Im Verlaufe<br />
der 1920er Jahre zeichneten sich dann<br />
zwei entscheidende architektonische<br />
Strömungen ab: der Rationalismus und<br />
der Konstruktivismus.<br />
Die Vertreter der ersten Strömung gründeten<br />
1923 die Assoziation neuer Architekten<br />
(ASNOVA), ihr Hauptvertreter<br />
war Ladowski. Bei den Konstruktivisten<br />
spielte neben Alexander Wesnin Moisei<br />
Ginsburg eine große Rolle. 1925 vereinigten<br />
sich die konstruktivistischen<br />
Moskauer Architekten in der Gesellschaft<br />
moderner Architekten (OSA).<br />
Daneben gab es auch andere Strömungen<br />
und herausragende Einzelgänger<br />
bis 9. Juli <strong>2012</strong><br />
Martin-Gropius-Bau<br />
Niederkirchnerstraße 7<br />
10963 Berlin-Kreuzberg<br />
Mi – Mo 10 – 19 Uhr<br />
Dienstags geschlossen<br />
<strong>brennpunkt</strong> 2/<strong>2012</strong><br />
Galerien<br />
wie Konstantin Melnikow. Trotz polemischer<br />
Auseinandersetzungen zwischen<br />
den Strömungen hatte sich bis Ende der<br />
1920er Jahre ein modernes Bauen konsolidiert.<br />
Im Zuge der Industrialisierung des<br />
Landes im Rahmen des ersten Fünfjahrplanes<br />
1928-32 wurde die Entstehung<br />
neuer Städte vorangetrieben. Damit<br />
waren Fragen des Konzepts der Großstadt<br />
verbunden, für die unterschiedliche<br />
Lösungen vorgeschlagen wurden<br />
wie die »horizontalen Wolkenkratzer«<br />
für Moskau von El Lissitzky oder die<br />
»Parabel« als Grundschema der Stadtentwicklung<br />
von Ladowski. Etliche<br />
der von Pare fotografierten Gebäude<br />
wurden für kollektives Wohnen entwickelt.<br />
Der von Ginsburg und Ignati Milinis<br />
1930 in Moskau errichtete Narkomfin-Wohnblock<br />
war eins der experimentellsten<br />
Projekte jener Ära. Er enthielt<br />
neben Wohnungen auf zwei Etagen<br />
auch eine gemeinschaftlich betriebene<br />
Kantine, eine Kindertagesstätte, eine<br />
Sporthalle und eine Waschküche. Weitere<br />
Bautypen zur Durchsetzung der<br />
kollektivistischen Lebensweise waren<br />
Großküchen, von denen drei im damaligen<br />
Leningrad von einer Gruppe um<br />
Josif Meerzon, Vertretern des Rationalismus,<br />
erbaut wurden. Arbeiterklubs<br />
und Kulturpaläste dienten vielfältigen<br />
Bildungsangeboten und symbolisierten<br />
im Stadtraum mit ihren dynamischen<br />
Formen die Rolle der neuen Klasse.<br />
Als sich Mitte der 1930er Jahre das politische<br />
Klima in der Sowjetunion gravierend<br />
änderte und damit eine monumentale,<br />
sich am Klassizismus orientierende<br />
Bauweise protegiert wurde,<br />
endete dieses spannende Kapitel der<br />
Avantgarde und geriet in Vergessenheit.<br />
Di nach Ostern (10. April) und Di<br />
nach Pfingsten (29. Mai) geöffnet.<br />
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