Grenze - Hinterland Magazin
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ihm. Er dreht, raucht und raunt mit tiefer Stimme, wie<br />
leid er es sei, um jede Zigarette betteln zu müssen.<br />
Und um jedes Telefonat nach Hause. Um ein Bier.<br />
Wenn ich weggehe, wird er aufhören zu rauchen, bis<br />
er selbst Geld verdient. Wenn es nach dem Gesetz<br />
geht also erst in drei Jahren. drei Jahre Stillstand, drei<br />
Jahre warten. Mindestens. Yolga, Klen und all die<br />
anderen hier sind in keinem Asylverfahren, sie haben<br />
keinerlei Anspruch auf Hilfe, schlafen in sozialen Einrichtungen<br />
oder Orten, an denen sie sich selbst organisieren<br />
können, holen sich Kleidung von der Caritas.<br />
Finanzielle Unterstützung bekommen sie von niemandem.<br />
Keinen Cent. Sie sind da und sie sind Menschen,<br />
aber „wir dürfen nicht einmal sein“, wie Yolga<br />
trocken feststellt.<br />
Die die <strong>Grenze</strong> in sich tragen<br />
Vom Zentrum aus gesehen ließen sich die kurzen,<br />
fragmentarischen Geschichten, die ich in diesem Text<br />
erzählt habe, unter „Illegalität“ subsumieren, es würde<br />
aber jeder körperlichen Dimension entbehren. Europa<br />
verteidigt an seinen <strong>Grenze</strong>n nicht nur Freiheit und<br />
Sicherheit, sondern auch die Idee, die es sich von<br />
sich selbst macht. Es vergisst dabei jedoch, was dekoloniale<br />
Denker die „koloniale Differenz“ nennen 1 ,<br />
also den Punkt, an dem Europa begonnen hat, sich<br />
zeitlich und geographisch auf Abstand zu den Anderen<br />
zu bringen. „Wir sind immer noch die Sklaven“,<br />
meint Yolga und spielt damit auf die Machtbeziehungen<br />
an, in die die Geschichten Afrikas und Europas<br />
eingewoben sind. In den Kolonien galten schon<br />
immer eigene Gesetze, und es gab eigene Gesetze für<br />
die Kolonialisierten. Jene Anderen aus der Peripherie<br />
der zivilisierten Welt wurden gebraucht, um die Idee<br />
eines weißen, christlichen, männlichen Europas zur<br />
Deckung zu bringen mit einem Territorium. Heute<br />
aber bringen die mobilen Körper der Migration<br />
Bewegung in die räumliche und zeitliche Ordnung,<br />
sie überschreiten und verändern die <strong>Grenze</strong>, die<br />
wiederum mit Ausschluss reagiert. „Some are forced<br />
to be border“, schreibt Etienne Balibar 2 , manche sind<br />
dazu gezwungen, <strong>Grenze</strong> zu sein. Grenz-Personen.<br />
Ich habe eine „Perspektive nahe der Migration“<br />
gewählt, um diese körperliche Dimension der <strong>Grenze</strong><br />
nicht aus den Augen zu verlieren. Was außerdem aus<br />
einer anderen Blickrichtung vermutlich nicht sichtbar<br />
ist, sind jene Momente der Zusammengehörigkeit und<br />
der Solidarität, die an manchen Punkten der<br />
Geschichte durchscheinen. Trotz aller Heterogenität<br />
der Migrantinnen und Migranten eint sie der Wille,<br />
etwas zu verändern. Kwame Nimako und Stephen<br />
Small 3 würden darin wohl den utopischen Horizont<br />
grenze<br />
der Diaspora erkennen, Regina Römhild 4 das Aufscheinen<br />
eines Kosmopolitismus von unten. Yolga<br />
nennt es Abenteuer, und darin schwingt ein offenes<br />
Ende mit sowie die ständige Hoffnung, es möge ein<br />
gutes sein. Doch der Alltag in Europa ist unmenschlich<br />
schwierig. „Das Abenteuer“, sinniert Yolga, und<br />
er wirkt etwas abgeklärt, „das Abenteuer endet gar<br />
nicht in Europa“, so wie er immer gedacht hatte. „Es<br />
beginnt hier“.<<br />
1 Grosfoguel, Rámon<br />
(2008): Transmodernity,<br />
border thinking, and global<br />
coloniality. Eurozine, 1-23,<br />
www.eurozine.com<br />
2 Balibar, Etienne (2002):<br />
Politics and the other<br />
scene. London, Verso<br />
3 Nimako, Kwame and<br />
Stephen Small (2009): Theorizing<br />
Black Europe and<br />
African diaspora: Implications<br />
for citizenship, nativism,<br />
and xenophobia. In<br />
Black Europe and the African<br />
diaspora. Darlene Clark<br />
Hine, Trica Danielle Keaton,<br />
et al. (Hg.), Urbana, University<br />
of Illinois Press<br />
4 Römhild, Regina (2009):<br />
Aus der Perspektive der<br />
Migration: Die Kosmopolitisierung<br />
Europas. In No integration?!Kulturwissenschaftliche<br />
Beiträge zur<br />
Integrationsdebatte in Europa.<br />
Sabine Hess, Jana Binder,<br />
et al. (Hg.), Bielefeld,<br />
transcript<br />
Besser so?<br />
Die Küste Marokkos<br />
vom spanischen<br />
Festland aus gesehen.<br />
Michael Westrich<br />
promoviert am Institut<br />
für Europäische<br />
Ethnologie der Humboldt<br />
Universität zu<br />
Berlin über Migration<br />
und soziale<br />
Bewegungen an den<br />
EU-Außengrenzen.