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Grenze - Hinterland Magazin

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Um halb fünf erwacht die Stadt aus ihrem Mittagsschlaf,<br />

durch das offene Fenster dringen<br />

die Stimmen der Nachbarn und das Lachen<br />

fussballspielender Kinder. Yolga<br />

hebt kurz den Kopf, ohne die<br />

Augen zu öffnen, horcht und<br />

dreht sich um, begleitet vom<br />

metallenen Knarren seines<br />

Hochbetts. Er wird noch eine<br />

Stunde weiterschlafen, vermutlich,<br />

vielleicht auch länger, Termine<br />

hat er nicht. Keiner hier<br />

hat heute noch Termine. Im Hintergrund säuselt das<br />

Radio unbemerkt irgendwelche Melodien, nur selten<br />

wird die Siesta für ein paar Minuten unterbrochen,<br />

weil jemand lauthals mitsingt. 17 Männer wohnen<br />

hier vorübergehend, der Großteil kommt aus Westafrika,<br />

einige aus Marokko und Algerien, wenige aus<br />

Südamerika. Die Wege der Frauen sind andere und<br />

mir als Mann schwer zugänglich. „Im Radio läuft<br />

Youssou Ndour“, ruft es aus irgendeinem Bett und<br />

jemand dreht lauter, denn auch Youssou Ndour ist<br />

ein Migrant, der seine Heimat Senegal verlassen hat,<br />

um „wie Gott in Frankreich“ zu leben. Aber trotz all<br />

seines Reichtums, heißt es, vergesse er seine Heimat<br />

nicht- deshalb singe er über sie. „Verreisen heißt bleiben,<br />

bis du weiterfahren kannst“, übersetzt Yolga mir<br />

eine Textzeile, die ich nicht verstanden habe, und sie<br />

löst breite Zustimmung im Raum aus.<br />

Transitstadt Algeciras<br />

Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die Anwesenden<br />

hier nicht nur die Räumlichkeiten, sondern ein Schikksal:<br />

Sie reisen in Etappen, ohne Papiere und ohne<br />

Aussichten darauf, sie in den nächsten Monaten zu<br />

bekommen. Trotzdem sind sie da und wollen es bleiben,<br />

denn ebenso teilen sie einen Traum von einem<br />

besseren Leben. In Europa. Nur deshalb haben sie<br />

sich auf den Weg gemacht, haben Monate, ja Jahre<br />

ihres Lebens investiert. Und es bis Algeciras geschafft,<br />

der Hafenstadt in Südspanien, 20 Kilometer südwestlich<br />

von Gibraltar und etwa gleich weit entfernt von<br />

Tarifa, der Surferhochburg, der südlichsten Stadt<br />

Europas. Von ihren ausgedehnten, gepflegten Touristenstränden<br />

aus scheint die Bergkette zwischen<br />

Nie stehen wir zu lange an einem<br />

Punkt, bewusst sind wir in einer<br />

kleinen Gruppe losgezogen.<br />

Ceuta und Tanger zum Greifen nah, und in der Tat<br />

trennen Spanien und Marokko nur 14 Kilometer<br />

Mittelmeer. „El estrecho“, sagen die Einheimischen,<br />

die Meerenge, ein Symbol für<br />

die verwobenen Geschichten<br />

Europas, Afrikas, Lateinamerikas.<br />

Youssou Ndour stimmt den<br />

Refrain an und einige im Schlafzimmer<br />

beginnen zu tänzeln,<br />

andere bleiben liegen, schauen<br />

lächelnd zu oder ziehen sich die<br />

Decke über den Kopf. Seit<br />

Beginn meiner Feldforschung bin ich fast jeden Tag<br />

hier, am Ende werden es genau acht Monate sein.<br />

Der Ort übt eine Faszination auf mich aus, er scheint<br />

seine eigenen Zeiten und Rhythmen zu haben: Es ist<br />

ein Ort des Transits, in dem sich Reisende und ihre<br />

Geschichten treffen, ein Haus der immer offenen<br />

Türen, unscheinbar gelegen im Hinterhof eines Kirchenareals<br />

nahe des Hafens in Algeciras. Zu Zeiten<br />

Francos trafen sich hier regimekritische Zirkel, heute<br />

leben hier vor allem Menschen ohne Papiere und<br />

ohne Aussichten auf politisches Asyl.<br />

Nahe der Migration<br />

Nur 35 Minuten Schiffstransfer bis Tanger, verkünden<br />

allgegenwärtige Werbeplakate vor den Zäunen der<br />

Hafenanlagen in Algeciras, gleich neben dem Parkplatz,<br />

wo Obdachlose in aufgebrochenen Autos wohnen.<br />

Wir passieren den Hafen, um nach Jobs zu<br />

suchen, nachdem die verlängerte Siesta vorbei ist. Mit<br />

Yolga unterwegs zu sein verändert die Stadt, man<br />

sieht anders. Der Hafen ist eine sensible Gegend, im<br />

Umfeld der kleinen Ticketverkäufer, die sich wie Perlen<br />

an einer Schnur entlang der Ringstraße aufreihen,<br />

gehen informelle und formelle Geschäftspraktiken<br />

nahtlos ineinander über. Je nach Geschmack finden<br />

sich hier offizielle und gefälschte Fährtickets, mehr<br />

oder weniger gut gefälschte Markenklamotten, Drogen<br />

und Prostitution. Yolga und Klen bewegen sich<br />

vorausschauend, ich passe mich an. Nie stehen wir<br />

zu lange an einem Punkt, bewusst sind wir in einer<br />

kleinen Gruppe losgezogen. Oft reden sie über „das<br />

Abenteuer“, wie sie es nennen, und lachen, stellen<br />

zur allgemeinen Belustigung Assoziationen her zwischen<br />

dem Strand in Algeciras und der Sahara oder<br />

grenze

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