12 Foto: Michael Westrich Das Abenteuer beginnt hier Michael Westrich hat mit den Flüchtlingen, von denen er im Artikel erzählt, einen Film gedreht. Der Arbeitstitel lautet „This is Europe”. Die Fotos sind Stills aus diesem Film. Watch your steps... Yolga und Klen auf dem Weg zum Frachthafen Algeciras, am südlichsten Zipfel Spaniens, ist eine wichtige Transitstadt für Migrantinnen und Migranten aus Afrika. Und für die meisten der Beginn ihrer klandestinen Reise durch die Realitäten Europas. Eine Erzählung der <strong>Grenze</strong> aus ethnographischen Fragmenten. Von Michael Westrich
Um halb fünf erwacht die Stadt aus ihrem Mittagsschlaf, durch das offene Fenster dringen die Stimmen der Nachbarn und das Lachen fussballspielender Kinder. Yolga hebt kurz den Kopf, ohne die Augen zu öffnen, horcht und dreht sich um, begleitet vom metallenen Knarren seines Hochbetts. Er wird noch eine Stunde weiterschlafen, vermutlich, vielleicht auch länger, Termine hat er nicht. Keiner hier hat heute noch Termine. Im Hintergrund säuselt das Radio unbemerkt irgendwelche Melodien, nur selten wird die Siesta für ein paar Minuten unterbrochen, weil jemand lauthals mitsingt. 17 Männer wohnen hier vorübergehend, der Großteil kommt aus Westafrika, einige aus Marokko und Algerien, wenige aus Südamerika. Die Wege der Frauen sind andere und mir als Mann schwer zugänglich. „Im Radio läuft Youssou Ndour“, ruft es aus irgendeinem Bett und jemand dreht lauter, denn auch Youssou Ndour ist ein Migrant, der seine Heimat Senegal verlassen hat, um „wie Gott in Frankreich“ zu leben. Aber trotz all seines Reichtums, heißt es, vergesse er seine Heimat nicht- deshalb singe er über sie. „Verreisen heißt bleiben, bis du weiterfahren kannst“, übersetzt Yolga mir eine Textzeile, die ich nicht verstanden habe, und sie löst breite Zustimmung im Raum aus. Transitstadt Algeciras Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die Anwesenden hier nicht nur die Räumlichkeiten, sondern ein Schikksal: Sie reisen in Etappen, ohne Papiere und ohne Aussichten darauf, sie in den nächsten Monaten zu bekommen. Trotzdem sind sie da und wollen es bleiben, denn ebenso teilen sie einen Traum von einem besseren Leben. In Europa. Nur deshalb haben sie sich auf den Weg gemacht, haben Monate, ja Jahre ihres Lebens investiert. Und es bis Algeciras geschafft, der Hafenstadt in Südspanien, 20 Kilometer südwestlich von Gibraltar und etwa gleich weit entfernt von Tarifa, der Surferhochburg, der südlichsten Stadt Europas. Von ihren ausgedehnten, gepflegten Touristenstränden aus scheint die Bergkette zwischen Nie stehen wir zu lange an einem Punkt, bewusst sind wir in einer kleinen Gruppe losgezogen. Ceuta und Tanger zum Greifen nah, und in der Tat trennen Spanien und Marokko nur 14 Kilometer Mittelmeer. „El estrecho“, sagen die Einheimischen, die Meerenge, ein Symbol für die verwobenen Geschichten Europas, Afrikas, Lateinamerikas. Youssou Ndour stimmt den Refrain an und einige im Schlafzimmer beginnen zu tänzeln, andere bleiben liegen, schauen lächelnd zu oder ziehen sich die Decke über den Kopf. Seit Beginn meiner Feldforschung bin ich fast jeden Tag hier, am Ende werden es genau acht Monate sein. Der Ort übt eine Faszination auf mich aus, er scheint seine eigenen Zeiten und Rhythmen zu haben: Es ist ein Ort des Transits, in dem sich Reisende und ihre Geschichten treffen, ein Haus der immer offenen Türen, unscheinbar gelegen im Hinterhof eines Kirchenareals nahe des Hafens in Algeciras. Zu Zeiten Francos trafen sich hier regimekritische Zirkel, heute leben hier vor allem Menschen ohne Papiere und ohne Aussichten auf politisches Asyl. Nahe der Migration Nur 35 Minuten Schiffstransfer bis Tanger, verkünden allgegenwärtige Werbeplakate vor den Zäunen der Hafenanlagen in Algeciras, gleich neben dem Parkplatz, wo Obdachlose in aufgebrochenen Autos wohnen. Wir passieren den Hafen, um nach Jobs zu suchen, nachdem die verlängerte Siesta vorbei ist. Mit Yolga unterwegs zu sein verändert die Stadt, man sieht anders. Der Hafen ist eine sensible Gegend, im Umfeld der kleinen Ticketverkäufer, die sich wie Perlen an einer Schnur entlang der Ringstraße aufreihen, gehen informelle und formelle Geschäftspraktiken nahtlos ineinander über. Je nach Geschmack finden sich hier offizielle und gefälschte Fährtickets, mehr oder weniger gut gefälschte Markenklamotten, Drogen und Prostitution. Yolga und Klen bewegen sich vorausschauend, ich passe mich an. Nie stehen wir zu lange an einem Punkt, bewusst sind wir in einer kleinen Gruppe losgezogen. Oft reden sie über „das Abenteuer“, wie sie es nennen, und lachen, stellen zur allgemeinen Belustigung Assoziationen her zwischen dem Strand in Algeciras und der Sahara oder grenze