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Grenze - Hinterland Magazin

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ISSN 1863-1134<br />

<strong>Grenze</strong><br />

außerdem im Heft:<br />

Schlampen Marsch! Was wir noch zu erwarten haben<br />

Verdammte Hacke! Schröders Extremismus der Mitte<br />

Wir wollen mehr! Transsexuellengesetz ungenügend<br />

Heimatkrimi abschaffen! Kluftinger ausweisen!<br />

# 18/2011 4,50 euro


Grenzschutz aus Sicht der EU<br />

uropa fährt Hochtechnologie auf, um Migrierende<br />

E davon abzubringen, dass sie die <strong>Grenze</strong>n überschreiten.<br />

Diese Grafik sowie das Infrarotbild vom Titel<br />

stammen aus aktuellen EU-Broschüren, in denen die<br />

EU-Kommission ihre technischen Errungenschaften<br />

anpreist. Die Sicherung der <strong>Grenze</strong> gerät zunehmend<br />

zur reinen Objektabwehr. Dass es sich bei den Flüchtlingen<br />

um Menschen handelt, wird ausgeblendet.<br />

Matthias Becker zeichnet in star wars ab Seite 18<br />

die Entwicklung der Genzschutz-Technologie nach<br />

und was die EU-Kommission plant und umsetzt.<br />

Das Vierteljahresheft<br />

für kein ruhiges.<br />

IMPRESSUM<br />

<strong>Hinterland</strong> #18<br />

Oktober bis Dezember 2011<br />

Titel: Infrarotaufnahme eines Flüchtlingbootes<br />

Herausgeber:<br />

Bayerischer Flüchtlingsrat<br />

Augsburgerstraße 13<br />

80337 München<br />

Verantwortlich: Matthias Weinzierl<br />

Redaktion: Andrea Böttcher, Friedrich C.<br />

Burschel, Dorothee Chlumsky, Stephan<br />

Dünnwald, Florian Feichtmeier, Stefan Klingbeil,<br />

Christoph Merk, Anna-Katinka Neetzke,<br />

Till Schmidt, Nikolai Schreiter, Sarah Stoll, Sara<br />

Magdalena Schüller<br />

Namentlich gekennzeichnete Beiträge müssen nicht<br />

unbedingt die Meinung der Redaktion wiedergeben.<br />

Kontakt: redaktion@hinterland-magazin.de<br />

Gestaltung: Matthias Weinzierl<br />

Druck: Ulenspiegel Druck GmbH,<br />

Birkenstraße 3, 82346 Andechs<br />

Auflage: 1.500 Stück<br />

Website: Anton Kaun<br />

Anzeigen: anzeigen@hinterland-magazin.de<br />

Jahresabo: 21,00 Euro<br />

Abo-Bestellung: abo@hinterland-magazin.de<br />

www.hinterland-magazin.de<br />

gefördert von der UNO-Flüchtlingshilfe<br />

Eigentumsvorbehalt:<br />

Diese Zeitschrift ist solange Eigentum des Absenders, bis<br />

sie dem Gefangenen persönlich ausgehändigt worden ist.<br />

Zur-Habe-Nahme ist keine persönliche Aushändigung im<br />

Sinne des Vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem Gefangenen<br />

nicht ausgehändigt, so ist sie dem Absender mit dem<br />

Grund der Nichtaushändigung in Form eines rechtsmittelfähigen<br />

Bescheides zurückzusenden.


4<br />

zitiert & kommentiert<br />

Von Hubert Heinhold<br />

italia brutalia<br />

5<br />

Italien liegt in Europa<br />

Die Situation von Flüchtlingen in Italien<br />

Von Domink Bender<br />

grenze<br />

12<br />

Das Abenteuer beginnt hier<br />

Der Beginn einer klandestinen Reise<br />

durch die Realitäten Europas<br />

Von Michael Westrich<br />

18<br />

Star Wars<br />

Aufrüstung an den Schengengrenzen<br />

Von Matthias Becker<br />

21<br />

Unter Zugzwang<br />

Das mexikanische Grenzregime<br />

Von Sebastian Muy<br />

28<br />

Die Guten ins Töpfchen<br />

Die Migrations- und Entwicklungspolitik der EU<br />

Von Holger Harms<br />

31<br />

Hopp oder Topp?<br />

Das entgrenzte Subjekt in digitalen Räumen<br />

Von Jana Ballenthien und Tanja Carstensen<br />

36<br />

Mauerpark Germany<br />

Geschichte und Zukunft der Residenzpflicht<br />

Von Anke Schwarzer<br />

42<br />

Die <strong>Grenze</strong>n verbrennen<br />

Über das erfolgreiche Überschreiten<br />

von europäischen Außengrenzen<br />

Von Bernd Kasparek<br />

46<br />

Wir schengen euch nix<br />

Willkommen auf dem NoBorder-Camp 2011<br />

Von Niko Schreiter<br />

49<br />

Eingeschränkte Sichtweisen<br />

Vom Märchen der „Festung Europa“<br />

Von Luise Marbach<br />

55<br />

Spiel mit <strong>Grenze</strong>n<br />

Bericht einer Aktion am Gärtnerplatz<br />

Von Julia Jäckel<br />

57<br />

<strong>Grenze</strong>n des Wachstums<br />

Über Genpflanzen und verseuchte Böden<br />

Von Barbara Brandl<br />

61<br />

Ungenügend<br />

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />

zum Transsexuellengesetz<br />

Von Till Schmidt<br />

postkolonial<br />

63<br />

Mythen vom Chinesen-Maier<br />

und koloniale Propaganda<br />

Von Martin W. Rühlemann<br />

debattencaspar<br />

67<br />

Der Bauchredner aus dem Allgäu<br />

Über gefeierte regionale Kriminalromane<br />

Von Casper Schmidt<br />

bitte mitte<br />

70<br />

Herrschaft des Verdachts<br />

Bayern gegen „Extremismus“<br />

Von Fred König<br />

72<br />

Extrem unbrauchbar<br />

Kritik eines inhaltsleeren Begriffs<br />

Von Niko Schreiter<br />

fragmente<br />

74<br />

Gedicht aus dem Exil<br />

Von SAID<br />

Impressions<br />

Von Birds of Immigrants<br />

queer<br />

75<br />

Nationale Hysterie<br />

Bericht über die diesjährige Budapest Pride<br />

Von Judith Götz und Rosemarie Ortner<br />

78<br />

NEIN heißt NEIN!<br />

Chancen und Risiken einer<br />

schlampigen Protestform<br />

Von Judith Völkel<br />

lesen<br />

80<br />

Ethnographie am Ufer<br />

Von Stephan Dünnwald<br />

„Mach doch mal einer den Kulturkack aus!”<br />

Von Thomas Atzbacher<br />

Man würd doch wohl noch sagen dürfen<br />

Von Thomas Atzbacher<br />

nachgehakt<br />

85<br />

Eine deutsche Botschaft<br />

Über das Recht auf Familienzusammenführung<br />

Von Anna-Katinka Neetzke und Tobias Klaus<br />

Et voilá, liebe Lesenden,<br />

or Ihnen liegt unsere Ausgabe #18. Es ist<br />

V– wieder einmal – ein prall gefülltes Heft<br />

geworden. Auf 88 Seiten finden Sie 26 Artikel,<br />

die sich größtenteils unserem Schwerpunktthema<br />

<strong>Grenze</strong> widmen. Daneben gibt’s übrigens<br />

ein Novum, nämlich Lyrik, in Form<br />

eines Gedichtes des iranischen Exilanten<br />

SAID.<br />

Diesmal sollten Sie unser Heft auch einmal<br />

schnell durchblättern: Von hinten nach<br />

vorn! In der rechten unteren Ecke erwartet sie<br />

das Daumenkino Lampedusa von Anton<br />

Kaun. Es zeigt die Gewalt der italienischen<br />

Polizei gegen tunesische Migranten, die sich<br />

auf der Mittelmeerinsel im September abspielte.<br />

Keine leichte Kost…<br />

Unsere #19 wird übrigens wieder ein bundesweit<br />

erscheinendes Heft der Flüchtlingsräte<br />

Das Schwerpunktthema ist Abschiebung. Wir<br />

freuen uns schon jetzt auf Ihre Beiträge. Der<br />

Redaktionsschluss ist der 20. Februar 2012.<br />

…und jetzt — lesen!<br />

Ihre <strong>Hinterland</strong> Redaktion


4<br />

zitiert & kommentiert<br />

„Über den Wolken muss die<br />

Freiheit wohl grenzenlos sein ...“<br />

Hubert Heinhold<br />

ist Rechtsanwalt<br />

und im Vorstand<br />

des Fördervereins<br />

Bayerischer<br />

Flüchtlingsrat e.V.<br />

und bei Pro Asyl.<br />

Von Hubert Heinhold<br />

(Reinhard Mey)<br />

Wer teilt sie nicht, die Sehnsucht nach der<br />

grenzenlosen Freiheit? Der eine meint<br />

Repressionslosigkeit, die andere Unabhängigkeit,<br />

der nächste die geistige Freiheit, andere verstehen<br />

darunter konkrete Dinge wie „no border“,<br />

„break the wall“, keinen Knast und keine Psychiatrie et<br />

cetera. Nicht erst seit 1968 ist grenzenlose Freiheit ein<br />

Sehnsuchtsort.<br />

Dass die Freiheit der Minderheit auch die Freiheit der<br />

Mehrheit beschneiden kann, erleben wir gerade in diesen<br />

Tagen sehr schmerzhaft. Die Wirtschaft prägt die<br />

Außenpolitik der Staaten. Ob ein afrikanisches oder<br />

lateinamerikanisches Land Visumsfreiheit genießt,<br />

hängt weniger von historischen Verknüpfungen, sondern<br />

von politischen, geostrategischen und wirtschaftlichen<br />

Interessen ab. Die Ökonomie vor allem ist es,<br />

die die <strong>Grenze</strong>n erhält oder niederreißt und eine USA,<br />

eine EU oder auch nur einen Euro-Raum schafft. Jenseits<br />

dieser Interessen gibt es kein „Menschenrecht auf<br />

Reisefreiheit“, jedenfalls nicht in der Realität, sondern<br />

allenfalls in schönen Postulaten.<br />

Das Postulat „no border“ ist daher gegenwärtig nichts<br />

anderes als gut gemeint, ein Scheck auf eine Zukunft,<br />

für die zu kämpfen wir aufgefordert sind. Noch sind<br />

wir allerdings weit entfernt von einer supranationalen<br />

oder gar überkontinentalen Gemeinschaft.<br />

Auf der politisch-strategischen Ebene ist es nötig, eine<br />

offene Debatte über die interkontinentalen Wanderungen<br />

zu führen, über die <strong>Grenze</strong>n der Aufnahmebereitschaft<br />

und die Risiken und Folgen von Wanderungsbewegungen<br />

für die Länder auf der südlichen Erdhalbkugel.<br />

Eine grenzenlose Welt ist gegenwärtig ebenso<br />

wenig wünschenswert wie das eingemauerte Europa<br />

oder Amerika. Dass deren Mauern und Abwehrbollwerke<br />

geschleift werden müssen, ist klar. Welche Regelungen<br />

– und damit Begrenzungen – vernünftig und<br />

gerecht sind und wie man sie weltumspannend installieren<br />

kann, braucht noch viele Diskussionen, viel Zeit<br />

und auch die eine oder andere Revolution.


Italien liegt in Europa<br />

In Italien sind Flüchtlinge einer verheerenden Situation ausgesetzt. Aufgrund des Dublin-Systems, das<br />

festlegt, dass Flüchtlinge ihren Asylantrag im EU-Einreiseland stellen müssen, werden Asylsuchende auch<br />

aus Deutschland wieder nach Italien zurückgeschoben. Eine Sammlung erschütternder O-Töne von<br />

überwiegend minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen gibt Auskunft über die italienischen – und<br />

europäischen – Zustände. Von Dominik Bender<br />

Foto: Shirin Shahidi


Slumview: Streetview<br />

Das Bretterlager Comunità la Pace in Rom.<br />

Zu erkunden auch per Google Streetview.


Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte<br />

(EGMR) hat am 19.10.2011 (Az.<br />

64208/11) erstmals eine Dublin-Abschiebung<br />

aus Deutschland nach Italien gestoppt. Der EGMR hat<br />

der deutschen Bundesregierung in diesem Rahmen<br />

unter anderem folgende Frage zur Beantwortung vorgelegt:<br />

„Besteht angesichts der vom Beschwerdeführer<br />

vorgelegten Berichte und Schilderungen die ernstzunehmende<br />

Gefahr, dass der Beschwerdeführer im<br />

Falle einer Abschiebung nach Italien einer Verletzung<br />

in seinen Rechten aus Art. 3 Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

ausgesetzt wird?“<br />

Dem „Statement of Facts“, das der EGMR wenige<br />

Tage später zu dem Fall veröffentlicht hat lässt sich<br />

entnehmen, dass sich in ihm die in der deutschen<br />

verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung seit etwa<br />

einem Jahr kontrovers geführte Debatte über die<br />

Zulässigkeit von Dublin-Abschiebungen nach Italien<br />

in ganz besonderer Weise zugespitzt hat: Die aus<br />

Syrien stammende Familie kurdischer Volkszugehörigkeit<br />

wurde nach ihrer Einreise nach Deutschland auseinandergerissen<br />

– der Familienvater musste sich<br />

nach Nordrhein-Westfalen begeben, seine Frau und<br />

Kinder hingegen nach Sachsen-Anhalt. Auf diese<br />

Weise entstand eine für den Fall folgenreiche Aufspaltung<br />

der gerichtlichen Zuständigkeit. Da die Familie<br />

über Italien in die Europäische Union eingereist war<br />

und dort auch Fingerabdrücke hinterlassen hatte, leitete<br />

das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein<br />

Verfahren zur Abschiebung der gesamten Familie<br />

dorthin ein. Alle Familienmitglieder setzten sich mit<br />

Rechtsbehelfen gegen die drohende Abschiebung zur<br />

Wehr. Und nun zeigte die Aufspaltung der gerichtlichen<br />

Zuständigkeit ihre Folgen: Während sich Frau<br />

und Kinder erfolgreich beim Verwaltungsgericht Magdeburg<br />

gegen die Abschiebung nach Italien wehrten,<br />

erklärte das für den Ehemann und Vater zuständige<br />

Verwaltungsgericht Münster die Abschiebung nach<br />

Italien für zulässig. Der Riss, der im Hinblick auf die<br />

Frage der Zulässigkeit von Italien-Abschiebungen seit<br />

2010 – ähnlich wie in den Jahren 2008 und 2009<br />

bezüglich der Griechenland-Abschiebungen – durch<br />

die unterinstanzliche verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung<br />

geht, ging nun plötzlich auch direkt durch<br />

eine Familie! Das Bundesverfassungsgericht, vom<br />

Rechtsanwalt des Familienvaters auf den ablehnenden<br />

Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster hin angerufen,<br />

hatte an der bevorstehenden Trennung der<br />

Familie und der Abschiebung des Ehemannes und<br />

Vaters nach Italien nichts auszusetzen. Wohl aber<br />

bekanntermaßen der EGMR, auf dessen endgültige<br />

Entscheidung in dem Fall nun mit Spannung gewartet<br />

werden kann.<br />

Foto: Shirin Shahidi<br />

Erschütternde Vorort-Recherchen<br />

Der Fall gibt Anlass dazu, sich noch einmal die Dramatik<br />

der Situation in Italien vor Augen zu führen<br />

und sich in Erinnerung zu rufen, warum Pro Asyl, die<br />

Schweizerische Flüchtlingshilfe zusammen mit der<br />

norwegischen Nichtregierungsorganisation Jussbuss,<br />

die norwegische Nichtregierungsorganisation NOAS<br />

sowie der Menschenrechtsbeauftragte des Europarates<br />

Thomas Hammarberg, aber auch zum Beispiel das<br />

Europamagazin des SWR und die Sendung „Weltbilder“<br />

des NDR, Vorort-Recherchen in Italien unternahmen<br />

und von ihnen berichteten: Es waren die glaubhaften<br />

und erschütternden Berichte derer, die als<br />

Asylsuchende monatelang, teilweise jahrelang, in Italien<br />

um ihr Überleben gekämpft und sich schließlich<br />

zu einer Flucht aus dem italienischen Elend in ein<br />

anderes europäisches Land – darunter auch oft<br />

Deutschland, die Schweiz und Norwegen – entschieden<br />

hatten. Die Berichte dieser Menschen zu dokumentieren<br />

ist umso dringender notwendig, weil das<br />

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in<br />

Dublin-Verfahren in aller Regel auf die Anhörung<br />

(das „Interview“) der Betroffenen vollständig verzichtet,<br />

so dass es keine Kenntnis von den Hintergründen<br />

der jeweiligen Weiterflucht erhält. Es soll ja „nur“ – so<br />

die Idee hinter dem vollständigen Amtsermittlungsausfall<br />

– in ein anderes europäisches Land abgeschoben<br />

werden. An dieser Haltung des BAMF haben die<br />

zahlreichen belastbaren Belege für die dramatische<br />

Situation in Italien und auch die Vielzahl der verwaltungsgerichtlichen<br />

Aussetzungsbeschlüsse nichts<br />

ändern können – die jüngste Entscheidung des EGMR<br />

wird es wohl auch nicht tun.<br />

In der Folge sollen daher die Zitate von Betroffenen<br />

wiedergegeben werden, die teilweise auch in dem<br />

von Pro Asyl veröffentlichten Bericht zur Situation<br />

von Flüchtlingen in Italien aufgegriffen werden. Sie<br />

stammen ganz überwiegend von unbegleiteten minderjährigen<br />

Flüchtlingen, für deren rechtliche Vertretung<br />

ich als Ergänzungspfleger (d.h. als vom Familiengericht<br />

beauftragter Rechtsanwalt) verantwortlich<br />

bin. Die Zitate sind in chronologische Reihenfolge<br />

von der Flucht nach Italien bis zur Flucht aus Italien<br />

gebracht.<br />

Ankunft in Italien<br />

„Vier Tage und vier Nächte verbrachten wir auf dem<br />

Meer. Wir verloren die Orientierung, Treibstoff,<br />

Lebensmittel und Wasser gingen aus, hohe Wellen<br />

drohten das Boot zum Kentern zu bringen. Als wir<br />

ein Fischerboot sahen, flehte einer von uns, der eng-<br />

italia brutalia


8<br />

italia brutalia<br />

Foto: Shirin Shahidi<br />

Weniger geht<br />

kaum: Im besetzten<br />

Bürogebäude nahe<br />

der römischen End-<br />

lisch konnte, den Fischer an, uns zu helfen. Es seien<br />

Frauen und Kinder an Bord, einige seien ohnmächtig,<br />

wir bräuchten dringend Hilfe. Der Fischer war<br />

freundlich, er gab uns Wasser und Treibstoff, aber er<br />

hatte Angst, von der Küstenwache mit uns gesehen<br />

und der Schlepperei angeklagt zu werden. Er bot an,<br />

uns die Richtung zu zeigen, aber er bat uns, Abstand<br />

zu halten.“<br />

„Ich gehe davon aus, dass ich bei meiner Ankunft als<br />

Minderjähriger registriert wurde. Ich wies jedenfalls<br />

darauf hin, dass ich minderjährig bin. Welche Daten<br />

sie dann aber letztlich benutzten, weiß ich nicht. Das<br />

Problem war nämlich, dass bei der Registrierung nicht<br />

jeder selbst zum Namen und Geburtsdatum befragt<br />

wurde. Stattdessen wurden zwei oder drei Bootsflüchtlinge,<br />

die etwas englisch sprachen, ausgewählt<br />

und aufgefordert, für alle zu sprechen.“<br />

„Eine Person, die somalisch und italienisch sprach,<br />

musste für uns nach der Ankunft die Angaben zu den<br />

Personendaten machen, da gab es keinen Ausweg.<br />

Über die so entstandenen Personendaten erhielten<br />

wir einen Zettel, den wir um das Handgelenk gebunden<br />

bekamen. Die Daten auf meinem Zettel waren<br />

falsch. Mein Geburtsjahr lautete, soweit ich mich erinnere,<br />

auf das Jahr 1989. Danach wäre ich also mindestens<br />

18 Jahre und damit volljährig gewesen. Und das<br />

zu einem Zeitpunkt, zu dem ich in Wirklichkeit gerade<br />

mal 14 Jahre alt war!“<br />

„Ich war der Jüngste im Boot. Die Erwachsenen hatten<br />

mir gesagt, dass man mich von der Gruppe trennen<br />

werde, wenn ich sage, dass ich minderjährig bin.<br />

Ich war auf der Flucht schon so oft alleine gelassen<br />

worden, dass ich nicht schon wieder getrennt werden<br />

wollte, also sagte ich, ich sei 18 Jahre alt.“<br />

haltestelle Anagnina<br />

sind Lattenroste und Unterbringung im Erstaufnahmelager<br />

Matratzen die einzigen<br />

Möbelstücke. „Zu den Unterbringungsbedingungen in dem Lager<br />

auf Lampedusa kann ich folgendes sagen: Die Einrichtung<br />

war völlig überfüllt. Kinder, Jugendliche,<br />

Erwachsene, Frauen und Männer, Alte und Kranke –<br />

sie alle waren dort auf engstem Raum miteinander<br />

untergebracht.“<br />

„Es hieß, dass die Bürger von Turin<br />

„In Bari herrschten die gleichen<br />

sich vor Leuten wie uns fürchten.“<br />

schlimmen Unterbringungsbedingungen<br />

wie schon zuvor auf<br />

Lampedusa: Wir waren in einem<br />

überfüllten, mit Zäunen eingegrenzten Lager untergebracht,<br />

das aus Blechcontainern bestand und vom<br />

Militär bewacht wurde. Die Bewacher hatten Geweh-<br />

re geschultert, und wir fühlten uns wie in Gefangenschaft.<br />

Tagsüber war die Hitze in den Blechcontainern<br />

nicht auszuhalten, sie war unglaublich, und<br />

nachts kühlten die Temperaturen derart ab, dass wir<br />

bitter froren.“<br />

„Als einer von uns fragte, wieso wir wie Tiere von<br />

der Außenwelt abgeschirmt hier festgehalten werden,<br />

bekam er zur Antwort, dass die Bürger von Turin sich<br />

vor Leuten wie uns fürchten und das können sie<br />

ihren Mitbürgern nicht antun.“<br />

„An den Aufenthalt im Lager erinnere ich mich<br />

ungern, es war eine sehr schlimme Zeit. Das Lager<br />

wurde von Kameras und von Polizisten bewacht, ich<br />

durfte es nicht verlassen. Streit entstand oft um die<br />

wenigen Toiletten und Duschmöglichkeiten. Aber so<br />

schlimm es in dem Lager war, es war doch wesentlich<br />

besser als das, was mich danach erwartete.“<br />

Entlassung aus dem Erstaufnahmelager<br />

„Nach drei Monaten händigte man mir ein Dokument<br />

aus, das dokumentierte, dass ich für die nächste Zeit<br />

rechtmäßig in Italien bleiben dürfte. Gleichzeitig forderte<br />

man mich zum Verlassen des Lagers auf. Ich<br />

hätte einen solchen Gedanken zuvor niemals für<br />

möglich gehalten, aber plötzlich wollte ich im Lager<br />

bleiben, waren die Lebensumstände dort noch so<br />

widrig. Denn es war gerade die Zeit des Jahreswechsels<br />

2008/2009, also mitten im Winter, und ausgerechnet<br />

zu so einer Jahreszeit sollte ich einfach mir selbst<br />

überlassen werden?“<br />

„Nach einiger Zeit setzte man uns in Caltanisetta (Sizilien)<br />

vor die Tür des Flüchtlingslagers und überließ<br />

uns uns selbst. ‚Versucht es in anderen Ländern in<br />

Europa, wir wollen Euch hier nicht‘ gab man uns mit<br />

auf den Weg. Ich schloss mich mit einer Gruppe von<br />

sieben anderen minderjährigen Jungen aus Somalia<br />

zusammen. Wir alle fuhren – ohne gültiges Ticket –<br />

mit dem Zug nach Rom. Dort, so hofften wir, könnten<br />

wir Arbeit, Unterschlupf, medizinische Versorgung,<br />

Nahrung und eine Schulausbildung finden.“<br />

Ankunft in Rom<br />

„Somalische Landsleute haben mir dann angeboten,<br />

mit ihnen nach Rom zu gehen. Wir alle verbanden<br />

damit die Hoffnung, in dieser großen Metropole<br />

zumindest unsere existentiellsten Lebensbedürfnisse<br />

sicherstellen zu können. Wir hatten uns jedoch geirrt,<br />

wie wir sofort nach unserer Ankunft in Rom feststellen<br />

mussten. In dieser Stadt hat sich eine Subkultur


Cativa Italia<br />

In der Comunità la Pace leiden viele Menschen an<br />

Krankheiten, es gibt eine Dusche – ohne Wasser.<br />

der Flüchtlinge gebildet, die<br />

elend ist.“<br />

„Meistens hielt ich mich – wie<br />

die meisten Flüchtlinge – rund<br />

um den Hauptbahnhof auf. Das<br />

ist gleichzeitig der Ort, der von<br />

mafiösen Gruppen kontrolliert wird. Sie versuchen<br />

einen zu zwingen, z.B. Drogen zu verkaufen. Als ich<br />

das ablehnte, wurde ich einmal derart zusammengeschlagen,<br />

dass ich bewusstlos wurde.“<br />

„Wir haben nachts Schutz in U-Bahnhöfen und Tunneln<br />

gesucht. Aber die Sicherheitsleute haben uns<br />

verjagt, sie haben ihre Hunde auf uns gehetzt. Es<br />

wird im Winter sehr kalt in Rom und wir hatten keine<br />

Matratzen oder Decken. Wir haben auf Pappkartons<br />

geschlafen. Wenn du fünf Pappkartons hast, bist du<br />

ein reicher Mann unter den Flüchtlingen.“<br />

„Bei den gewalttätigen Übergriffen ging es aber nicht<br />

immer darum, die Betroffenen zu kriminellen Handlungen<br />

zu zwingen. Teilweise waren die Angriffe<br />

auch einfach rassistisch motiviert, und teilweise<br />

„Überall waren Kakerlaken.<br />

Ich muss heute noch würgen,<br />

wenn ich nur daran denke.“<br />

waren es sexuelle Übergriffe.“<br />

„Jede Nacht zwischen 3 und 4<br />

Uhr kamen Sicherheitsleute und<br />

verscheuchten die Menschen,<br />

die auf der Straße schliefen. Es<br />

kamen auch Fahrzeuge mit Wassertanks,<br />

die die Straße nass spritzten und auch die,<br />

die dort schliefen.“<br />

„In Rom kam ich in der somalischen Botschaft unter.<br />

Dort schlief ich auf dem Boden, nicht einmal eine<br />

warme Jacke hatte ich für den Winter. Es war<br />

unglaublich schmutzig, es gab keine Toiletten, überall<br />

waren Kakerlaken. Ich muss heute noch würgen,<br />

wenn ich nur daran denke.“<br />

„Ich hatte Somalia wegen des Krieges verlassen, aber<br />

was ich in Italien erlebte, war schlimmer. Es gab zwar<br />

keine Schießereien und Bombenangriffe, aber ich<br />

lebte auf der Straße, ich hungerte, es gab keine Schule<br />

und keinen Arzt, ich musste betteln und wurde<br />

überall verjagt.“<br />

Foto: Shirin Shahidi


10<br />

Foto: Shirin Shahidi<br />

Bürowrack<br />

Anagnina:<br />

Flüchtlinge bilden in<br />

Rom eine eigene<br />

Subkultur, zwischen<br />

Ruinen und Obdachlosigkeit.<br />

„Ein Mensch braucht drei grundsätzliche Dinge zum<br />

Leben: Essen, Wasser und Unterkunft. Man braucht<br />

auch Bekleidungen. Diese Sachen habe ich vom italienischen<br />

Staat nicht bekommen.“<br />

„Der italienische Staat hat mich aufgenommen und<br />

ohne irgendwelche Unterstützungen einfach wie<br />

Abfall zur Seite gestellt. Ein Jahr lang habe ich auf<br />

dem Busbahnhof, am Bahnhof oder auch einfach in<br />

abgestellten, kaputten Autos übernachtet. Es gab<br />

weder Essen noch Wasser. Um diese Dinge haben wir<br />

bei den Kirchen gebettelt.“<br />

„Die Probleme, die es in Italien gibt, können schrift-<br />

lich nicht ausreichend geschildert<br />

werden. Kurz gesagt, selbst<br />

wenn sich alle Blätter der<br />

Bäume zum Papier und alles<br />

Wasser zu Tinte wandeln könnten,<br />

würde es nicht ausreichen,<br />

um die Probleme in Italien<br />

schriftlich zu schildern.“<br />

„Ich war immer nur damit beschäftigt, etwas zu Essen<br />

zu finden, aber ich bekam nie mehr als eine Mahlzeit<br />

pro Tag. Ich hungerte, ich wurde krank, aber an<br />

einen Luxus wie einen Arztbesuch war nicht zu denken.<br />

Ich hätte gerne Italienisch gelernt, aber so, wie<br />

ich damals lebte, hatte ich keine Kraft dafür.“<br />

„Ich konnte mein Leben – und dabei muss ich noch<br />

einmal betonen: es war mitten im Winter und ich war<br />

gerade einmal 14 Jahre alt – nur dadurch sichern,<br />

dass ich mir Weggeworfenes von Supermärkten und<br />

Essensreste von Restaurants zusammenklaubte. Auch<br />

mit dem Verkauf von Blechdosen verdiente ich ein<br />

„Ich wachte im Krankenhaus auf,<br />

dort gab man mir etwas Traubenzucker<br />

und schickte mich sofort<br />

wieder auf die Straße.“<br />

paar Cents, für die ich mir dann Essen und Trinken<br />

kaufte.“<br />

Die Rolle der Polizei und die Ohnmacht<br />

der karitativen Einrichtungen<br />

„In Rom, wo ich im Herbst 2008 ankam, herrschte<br />

Anarchie, was die Rechte und Chancen von minderjährigen<br />

Flüchtlingen angeht. Die Polizei ist kein Ansprechpartner<br />

von uns gewesen, sondern ein Feind,<br />

vor dem man Angst hatte. Wenn ich mich hilfesuchend<br />

an die Polizei wendete, zogen die Polizisten<br />

immer sofort Gummi-Handschuhe an, zogen ihre<br />

Gummi-Knüppel und dann drohten sie teilweise nur,<br />

teilweise schlugen und bespuckten sie mich aber<br />

auch.“<br />

„Wie schon zuvor in Bari versuchte ich auch in Rom<br />

bei der Polizei Hilfe zu bekommen. Ich wies, so gut<br />

das mit meinen schlechten Italienisch- und Englisch-<br />

Kenntnissen ging, darauf hin, dass ich noch ein Kind<br />

bin und dass ich dringend Hilfe benötige. Die Reaktion<br />

der Polizisten war aber immer die gleiche: Man<br />

verscheuchte mich und gab mir noch mit auf den<br />

Weg, ich solle woanders hingehen in Europa.“<br />

„Natürlich kamen wir auf die Idee, uns statt an die<br />

Polizei an kirchliche Einrichtungen zu wenden. Ich<br />

kannte die Orte, wo es Beratung, Schlafplätze und<br />

Essen gab. Es war klar, dass immer nur die ersten in<br />

der Schlange eine Chance auf Beratung, Schlafplätze<br />

oder Nahrung hatten. So bemühte ich mich, sehr früh<br />

am richtigen Orten zu sein.<br />

Gelang mir das, kamen aber<br />

fast immer ältere, erwachsene<br />

Ausländer, schlugen uns und<br />

verdrängten uns ans Ende der<br />

Schlange. Diese Menschen<br />

waren auch Flüchtlinge, denen<br />

es ebenfalls sehr schlecht ging.“<br />

Die fehlende Gesundheitsversorgung<br />

„Besonders dramatisch wurde die Situation für mich,<br />

als ich zum ersten Mal meine Magenprobleme bekam.<br />

Ich hatte starke Schmerzen, ich krümmte mich. In<br />

den Tagen und Wochen zuvor hatte ich viele viele<br />

Kilo abgenommen und mein Stuhlgang war schwarz<br />

geworden, schwarz wie Holzkohle. Also überwand<br />

ich meine Ängste vor der Polizei und begab mich zu<br />

ihnen. Aber es geschah das gleiche, wie immer:<br />

Handschuhe, Gummiknüppel, Schläge, Beschimpfungen,<br />

Bespucken.“


„Als ich in dem besetzten Haus lebte, wurde ich<br />

krank, bekam Fieber, konnte nichts mehr essen und<br />

nahm stark ab. Mein Körper trocknete aus, meine<br />

Haut bekam Risse, juckte und ich kratzte mich blutig.<br />

Ich bekam in einer Krankenstation der Caritas Tabletten,<br />

es ging mir dann auch etwas besser, aber an den<br />

Lebensumständen, die mich krank gemacht hatten,<br />

konnte auch die Caritas nichts ändern.“<br />

„Ich wäre gern zum Zahnarzt gegangen, um die drei<br />

ausgeschlagenen Zähne ersetzen zu lassen, aber als<br />

Obdachloser hat mich kein Arzt angenommen.“<br />

„Ich lebte auf der Straße und im Winter wurde es<br />

sehr kalt. Ich wurde krank es war etwas mit der<br />

Leber, ich hatte starke Schmerzen. Wenn es schon<br />

keinen Arzt für mich gibt, dann brauche ich wenigstens<br />

ein Dach über dem Kopf, um mich dort zurückzuziehen,<br />

wenn ich krank bin.“<br />

Zuflucht in anderen europäischen Ländern und<br />

erneute Abschiebung nach Italien<br />

„Leute, die ganz früher nach Italien eingereist sind,<br />

die schaffen es. Aber die Flüchtlinge, die neu eingereist<br />

sind, haben keine Chance. Ich kannte nur die<br />

Erfolglosen, Armen, nicht die, die Erfolg hatten. Ich<br />

wäre gar nicht nach Deutschland gekommen, wenn<br />

es einen Vormund, einen Anwalt und eine Unterkunft<br />

in Italien gegeben hätte. Aber die Behörden ermuntern<br />

uns doch und fordern uns auf, unser Glück<br />

woanders zu suchen.“<br />

„In Deutschland habe ich endlich nach langer Zeit<br />

wieder zu mir gefunden. Hier wird man wie ein<br />

Mensch behandelt. Deshalb möchte ich nicht, dass<br />

man mir das bisschen Glück wegnimmt. Ich möchte<br />

nicht abgeschoben werden.“<br />

„Drei Tage vor meiner Rücküberstellung nach Italien,<br />

es muss kurz nach dem Jahreswechsel 2009/2010<br />

gewesen sein, wurde ich in der Schweiz inhaftiert.<br />

Dann flog man mich nach Rom. Ich wurde dort von<br />

der Polizei einfach an den Ausgang des Flughafen-<br />

Gebäudes gebracht. Das Zugticket vom Flughafen in<br />

die Innenstadt von Rom habe ich dann sogar selbst<br />

bezahlt. Anders wäre ich ja gar nicht weggekommen.<br />

Die folgenden vier Monate in Rom waren grausam.“<br />

„Ich habe nach meiner Abschiebung aus der Schweiz<br />

nach Rom wie vorher elend auf der Straße gelebt, das<br />

ging ein Jahr lang so. Ich war sehr schwach. Es ging<br />

nur um einen Überlebenskampf, wo finde ich Essen,<br />

wo schlafe ich, was ziehe ich überhaupt an? Das war<br />

eine lange und harte Zeit. Es ist eine Art Junkie-<br />

Leben, das man dort auf der Straße führt. Man ist 24<br />

Stunden auf der Straße und auf der Suche.“<br />

„Ich hatte in Schweden in einem Kinderheim gelebt.<br />

Wahrscheinlich deshalb wurde ich von einem Mann<br />

und einer Frau auf dem Flug begleitet. Am Flughafen<br />

wurde ich von zwei Polizisten in Empfang genommen,<br />

die Schweden flogen wieder zurück. Ich wusste<br />

nicht, wohin ich gehen sollte, also blieb ich erst einmal<br />

am Flughafen. Als es dunkel wurde, sollte ich<br />

den Flughafen verlassen. Ich fragte, wo ich schlafen<br />

solle, aber die Polizisten sagten, das sei mein Problem,<br />

sie hätten mich nicht gerufen und ich solle<br />

dahin gehen, wo ich vorher war.“<br />

„Ich hatte zwar in der Schweiz Teile von meinem<br />

Taschengeld zurückgelegt und angespart, um nach<br />

der absehbaren Abschiebung nach Italien von dort<br />

erneut fliehen zu können. Dieses Geld hatte ich mit<br />

Tesafilm in meine Unterhose eingeklebt, damit es mir<br />

nicht, wie früher meine Dokumente, geklaut würde.<br />

Nun war ich aber wieder in Rom und - das mag<br />

komisch klingen - ‚traute‘ mich nicht, es für die<br />

erneute Weiterflucht einzusetzen. Ich hatte Angst vor<br />

einem besseren Leben, weil es wieder ein absehbares<br />

Ende haben würde.“<br />

„Ich war völlig verwahrlost, ich lag mit Schüttelfrost<br />

auf dem Betonboden, ich hatte ständig Erkältungen<br />

und Grippe. Meiner Meinung nach führen Tiere ein<br />

besseres Leben als Asylsuchende. Ich will nie mehr<br />

dorthin zurück, das wird nur über meine Leiche<br />

geschehen. Ich bin in Italien fast umgekommen, tagelang<br />

habe ich nichts zu Essen gehabt, ich litt unter<br />

Unterzuckerung, ich kippte um, mitten auf der Straße,<br />

beinahe hätten mich Autos überfahren. Ich wachte im<br />

Krankenhaus auf, dort gab man mir etwas Traubenzucker<br />

und schickte mich sofort wieder auf die Straße.“<br />

„Falls man mich nach Italien abschiebt, spüre ich,<br />

dass ich nicht mehr leben kann und will. Das habe<br />

ich ebenfalls meinen Betreuern und meinem Anwalt<br />

gesagt. Ich habe gesagt: ‚Wenn sie mich nach Italien<br />

abschieben, dann bringen sie meine Leiche dorthin.‘“<<br />

italia brutalia<br />

Dominik Bender<br />

ist Rechtsanwalt mit<br />

den Schwerpunkten<br />

Ausländer- und<br />

Sozialrecht in<br />

Frankfurt am Main.


12<br />

Foto: Michael Westrich<br />

Das Abenteuer beginnt hier<br />

Michael Westrich hat<br />

mit den Flüchtlingen,<br />

von denen er<br />

im Artikel erzählt,<br />

einen Film gedreht.<br />

Der Arbeitstitel lautet<br />

„This is Europe”.<br />

Die Fotos sind Stills<br />

aus diesem Film.<br />

Watch your steps...<br />

Yolga und Klen auf dem Weg zum Frachthafen<br />

Algeciras, am südlichsten Zipfel Spaniens, ist eine wichtige Transitstadt für Migrantinnen und Migranten<br />

aus Afrika. Und für die meisten der Beginn ihrer klandestinen Reise durch die Realitäten Europas. Eine<br />

Erzählung der <strong>Grenze</strong> aus ethnographischen Fragmenten. Von Michael Westrich


Um halb fünf erwacht die Stadt aus ihrem Mittagsschlaf,<br />

durch das offene Fenster dringen<br />

die Stimmen der Nachbarn und das Lachen<br />

fussballspielender Kinder. Yolga<br />

hebt kurz den Kopf, ohne die<br />

Augen zu öffnen, horcht und<br />

dreht sich um, begleitet vom<br />

metallenen Knarren seines<br />

Hochbetts. Er wird noch eine<br />

Stunde weiterschlafen, vermutlich,<br />

vielleicht auch länger, Termine<br />

hat er nicht. Keiner hier<br />

hat heute noch Termine. Im Hintergrund säuselt das<br />

Radio unbemerkt irgendwelche Melodien, nur selten<br />

wird die Siesta für ein paar Minuten unterbrochen,<br />

weil jemand lauthals mitsingt. 17 Männer wohnen<br />

hier vorübergehend, der Großteil kommt aus Westafrika,<br />

einige aus Marokko und Algerien, wenige aus<br />

Südamerika. Die Wege der Frauen sind andere und<br />

mir als Mann schwer zugänglich. „Im Radio läuft<br />

Youssou Ndour“, ruft es aus irgendeinem Bett und<br />

jemand dreht lauter, denn auch Youssou Ndour ist<br />

ein Migrant, der seine Heimat Senegal verlassen hat,<br />

um „wie Gott in Frankreich“ zu leben. Aber trotz all<br />

seines Reichtums, heißt es, vergesse er seine Heimat<br />

nicht- deshalb singe er über sie. „Verreisen heißt bleiben,<br />

bis du weiterfahren kannst“, übersetzt Yolga mir<br />

eine Textzeile, die ich nicht verstanden habe, und sie<br />

löst breite Zustimmung im Raum aus.<br />

Transitstadt Algeciras<br />

Bei aller Unterschiedlichkeit teilen die Anwesenden<br />

hier nicht nur die Räumlichkeiten, sondern ein Schikksal:<br />

Sie reisen in Etappen, ohne Papiere und ohne<br />

Aussichten darauf, sie in den nächsten Monaten zu<br />

bekommen. Trotzdem sind sie da und wollen es bleiben,<br />

denn ebenso teilen sie einen Traum von einem<br />

besseren Leben. In Europa. Nur deshalb haben sie<br />

sich auf den Weg gemacht, haben Monate, ja Jahre<br />

ihres Lebens investiert. Und es bis Algeciras geschafft,<br />

der Hafenstadt in Südspanien, 20 Kilometer südwestlich<br />

von Gibraltar und etwa gleich weit entfernt von<br />

Tarifa, der Surferhochburg, der südlichsten Stadt<br />

Europas. Von ihren ausgedehnten, gepflegten Touristenstränden<br />

aus scheint die Bergkette zwischen<br />

Nie stehen wir zu lange an einem<br />

Punkt, bewusst sind wir in einer<br />

kleinen Gruppe losgezogen.<br />

Ceuta und Tanger zum Greifen nah, und in der Tat<br />

trennen Spanien und Marokko nur 14 Kilometer<br />

Mittelmeer. „El estrecho“, sagen die Einheimischen,<br />

die Meerenge, ein Symbol für<br />

die verwobenen Geschichten<br />

Europas, Afrikas, Lateinamerikas.<br />

Youssou Ndour stimmt den<br />

Refrain an und einige im Schlafzimmer<br />

beginnen zu tänzeln,<br />

andere bleiben liegen, schauen<br />

lächelnd zu oder ziehen sich die<br />

Decke über den Kopf. Seit<br />

Beginn meiner Feldforschung bin ich fast jeden Tag<br />

hier, am Ende werden es genau acht Monate sein.<br />

Der Ort übt eine Faszination auf mich aus, er scheint<br />

seine eigenen Zeiten und Rhythmen zu haben: Es ist<br />

ein Ort des Transits, in dem sich Reisende und ihre<br />

Geschichten treffen, ein Haus der immer offenen<br />

Türen, unscheinbar gelegen im Hinterhof eines Kirchenareals<br />

nahe des Hafens in Algeciras. Zu Zeiten<br />

Francos trafen sich hier regimekritische Zirkel, heute<br />

leben hier vor allem Menschen ohne Papiere und<br />

ohne Aussichten auf politisches Asyl.<br />

Nahe der Migration<br />

Nur 35 Minuten Schiffstransfer bis Tanger, verkünden<br />

allgegenwärtige Werbeplakate vor den Zäunen der<br />

Hafenanlagen in Algeciras, gleich neben dem Parkplatz,<br />

wo Obdachlose in aufgebrochenen Autos wohnen.<br />

Wir passieren den Hafen, um nach Jobs zu<br />

suchen, nachdem die verlängerte Siesta vorbei ist. Mit<br />

Yolga unterwegs zu sein verändert die Stadt, man<br />

sieht anders. Der Hafen ist eine sensible Gegend, im<br />

Umfeld der kleinen Ticketverkäufer, die sich wie Perlen<br />

an einer Schnur entlang der Ringstraße aufreihen,<br />

gehen informelle und formelle Geschäftspraktiken<br />

nahtlos ineinander über. Je nach Geschmack finden<br />

sich hier offizielle und gefälschte Fährtickets, mehr<br />

oder weniger gut gefälschte Markenklamotten, Drogen<br />

und Prostitution. Yolga und Klen bewegen sich<br />

vorausschauend, ich passe mich an. Nie stehen wir<br />

zu lange an einem Punkt, bewusst sind wir in einer<br />

kleinen Gruppe losgezogen. Oft reden sie über „das<br />

Abenteuer“, wie sie es nennen, und lachen, stellen<br />

zur allgemeinen Belustigung Assoziationen her zwischen<br />

dem Strand in Algeciras und der Sahara oder<br />

grenze


14<br />

grenze<br />

den Hierarchien untereinander<br />

und denen der „Ghettos“, den<br />

chaotischen Orten migrantischer<br />

Selbstorganisation entlang der<br />

Migrationsrouten. Humor hilft<br />

ihnen, sich den Erinnerungen<br />

zu nähern, die sie alle teilen,<br />

und gleichzeitig Distanz herzustellen, vermute ich.<br />

Und mir hilft die Nähe zu ihnen und die Erfahrungen<br />

die wir teilen, eine andere, menschliche Dimension<br />

der Migration kennenzulernen, einen Blick zu entwikkeln<br />

für ihre Körper, ihre Materialitäten und Machtstrukturen,<br />

zu versuchen, eine Perspektive daraus zu<br />

machen, von der aus die <strong>Grenze</strong> sich anders erzählen<br />

lässt.<br />

Bruder, hast du 50 Cent?<br />

Wir überqueren den Parkplatz und laufen am Frachthafen<br />

entlang. Yolga und Klen sind ordentlich gekleidet,<br />

die Rastalocken säuberlich geflochten, selbstsicher<br />

wirken sie. Wir passen gegenseitig auf uns auf,<br />

sie auf mich in der manchmal etwas diffusen Welt am<br />

Rande unserer Gesellschaft, ich auf sie in der Öffentlichkeit,<br />

wo ich mit meiner hellhäutigen, blonden<br />

Erscheinung vermutlich das Stereotyp einer klandestinen<br />

Flüchtlingsgruppe sprenge. Vor uns taucht ein<br />

Afrikaner auf, er trägt eine auffällige Arbeitsuniform<br />

mit Neonstreifen, „mein Bruder“, begrüßt ihn Yolga<br />

und stellt sich dann vor. Sami jobbt als Parkeinweiser,<br />

er ist stolz, Arbeit zu haben. „Ihr müsst Euch bei<br />

Vovis bewerben“, sagt er, „aber es gibt eine lange<br />

Warteliste. Manche haben Glück, andere warten sechs<br />

Monate oder ein ganzes Jahr. Ihr müsst hartnäckig<br />

sein, jeden Tag nachfragen“. Vovis ist eine NGO, die<br />

gegründet wurde, um sozial schwache Spanier und<br />

Spanierinnen zu unterstützen. Sie bietet aber auch als<br />

einzige Organisation weit und breit die Möglichkeit,<br />

ohne Papiere und trotz Arbeitsverbots Geld zu verdienen.<br />

Ein Mercedes biegt ein, Klen und zwei seiner<br />

Kollegen spurten los, winken, pfeifen, rufen „weiter,<br />

weiter, weiter“ und fuchteln mit den Armen. Das<br />

Auto folgt, die junge Frau am Steuer schaltet den<br />

Motor aus, Klen wartet neben dem Wagen. Sie steigt<br />

aus, gibt eine Münze und geht schnell davon. 60 Cent<br />

kostet das „Ticket“, ein Kinokarten-ähnlicher Abriss,<br />

auf dem die Organisation für die Spende dankt. Sami<br />

öffnet seine Hand, sagt „Seht Ihr!“ und zeigt uns eine<br />

Euro-Münze. Manche geben nichts, andere, wie die<br />

junge Frau gerade eben, runden auf. „Du kannst<br />

arbeiten so lange du willst“, wenn man Acht- oder<br />

gar Zwölf-Stunden-Schichten leiste, verdiene man bis<br />

zu 800 Euro im Monat. Yolga ist schweigsam geworden,<br />

am liebsten würde er hierbleiben und sofort die<br />

Yolga fragt seinen Bekannten<br />

nach Kontakten, die Arbeit haben<br />

könnten, doch der schüttelt den<br />

Kopf. „La crisis“, sagt er.<br />

Arbeit antreten. So hat er sich<br />

Europa doch vorgestellt: Einmal<br />

über den Hafen laufen, Arbeit<br />

finden und pro Monat 200 Euro<br />

an seine arme Mutter schicken,<br />

die er seit seiner Jugend unterstützt.<br />

Sie wartet, ohne ihn nagt<br />

sie am Hungertuch. Wir verabschieden uns, „Bruder“,<br />

sagt Klen, „gib mir ein paar Cent für eine Zigarette“,<br />

und Sami kramt 50 Cent aus seiner Tasche. Freude,<br />

Gelächter, Abschied.<br />

Vom Abenteuer in die Krise<br />

Neben einem marokkanischen Café, in dem nachmittags<br />

viele der allgegenwärtigen Schwarzhändler zu<br />

finden sind, treffen wir einen Bekannten aus dem<br />

Senegal, der sich seine eigene ökonomische Nische<br />

geschaffen hat: Er hat zwar keine Papiere, aber ein<br />

Zimmer in der Wohnung eines Bekannten, das er<br />

gegen Geld mit Touristen oder Landsleuten teilt, die<br />

er – selbst als Tourist getarnt – am Hafen kennenzulernen<br />

versucht. Yolga fragt ihn nach Kontakten, die<br />

Arbeit haben könnten, doch der Bekannte schüttelt<br />

den Kopf. „La crisis“, sagt er, ganz so wie die meisten<br />

Spanier und Spanierinnen, wenn man sie fragt, wie es<br />

ihrem Land geht. Doch in diesem Fall kommt<br />

erschwerend hinzu, dass Yolga und Klen laut Gesetz<br />

nicht arbeiten dürfen. Erst wenn sie nachweisen können,<br />

drei Jahre im Land gewesen zu sein, keinerlei<br />

Probleme mit der Justiz und einen Arbeitsvertrag in<br />

Petto zu haben, erst dann haben sie Aussichten auf<br />

eine Arbeitserlaubnis.<br />

Wenn er je Papiere haben sollte, werde er Business<br />

mit Afrika machen, meint Yolga. Oder ins Migrationsgeschäft<br />

einsteigen, denn Migrierende reisen mit<br />

Ersparnissen, und je enger die <strong>Grenze</strong>n werden,<br />

umso mehr Geld lässt sich damit verdienen. Das wissen<br />

die Polizei, die Leute die Visa und Pässe fälschen,<br />

die Schlepperbanden, die Fahrerinnen und Fahrer, die<br />

Personen die Essen verkaufen, die Banditen. Yolga<br />

hat Koffer und Kleidung verkauft, als er verstand,<br />

worauf er sich eingelassen hatte, sein Geld versteckte<br />

er außerhalb der Zelte oder Zimmer, ehe er zu Bett<br />

ging – was ihm zu Gute kam, als er in Algerien verhaftet<br />

und in die malische Wüste abgeschoben<br />

wurde. Ausgerechnet nach Tinsawaten. „Wenn du auf<br />

Abenteuer sagst, dass du in Tinsawaten warst, respektieren<br />

dich alle“, sagt Yolga und fügt hinzu: „Five<br />

kilometers to hellfire“. Er aber hatte noch genug<br />

Geld, um von dort erneut nach Nordalgerien zu fahren.<br />

Klen lacht und stimmt zu, auch er wurde mehrmals<br />

erwischt und abgeschoben, aber „weggehen


heißt Mann sein“. Ein Abenteurer müsse klug sein<br />

und viele Leute kennen – denn die Realitäten der<br />

Reise ändern sich ständig und schnell. Er muss „robben<br />

wie ein Soldat“, lernen, wann man „die Zäune<br />

angreift“ oder wie man „den<br />

Zug stiehlt“. Er darf niemandem<br />

vertrauen, muss aber gleichzeitig<br />

Allianzen bilden, um die kritischen<br />

Punkte der Reise zu<br />

überwinden. Deshalb gibt es<br />

auf diesem Weg keine Frauen,<br />

ihre Taktiken sind andere. Deshalb<br />

ist die Geschichte, die ich<br />

hier erzähle, männlich. „Wenn du ohne Geld nach<br />

Hause kommst, glauben alle, dass du es gegessen<br />

hast“. Die Frage ist daher nicht, ob man es schafft,<br />

nach Europa zu kommen, sondern wie viele Anläufe,<br />

wie viel Zeit man braucht. Wie klug die Finten, wie<br />

stark der Körper. Wenn die Entscheidung einmal<br />

gefallen ist, gibt es kein Zurück mehr, zu groß wären<br />

die eigene Scham und das Unverständnis der anderen.<br />

Das Klingeln meines Handys unterbricht uns. Am<br />

anderen Ende ist ein Bekannter, er hat mir einen<br />

Gesprächstermin mit den Beamten der Grenzpolizei<br />

organisiert – informell, denn offiziell müsste ich dafür<br />

eine Erlaubnis aus Madrid oder gar Warschau einholen,<br />

schließlich geht es um die Sicherheit Spaniens<br />

und Europas, gerade jetzt, zehn Jahre nach 09/11. Ich<br />

Mit Frontex kamen die RABIT-<br />

Teams, die Polizisten aus der<br />

gesamten EU und neueste<br />

Technik.<br />

Warten...<br />

…dass die Zeit vergeht. Transitstadt Algeciras<br />

verspreche, die Namen nicht zu veröffentlichen.<br />

Im „Kampf gegen Migration“<br />

Kurze Zeit später betrete ich das Büro eines leitenden<br />

Beamten der Guardia Civil, straff<br />

baut er sich in seiner grünlichen<br />

Uniform hinter dem Schreibtisch<br />

auf, um uns zu begrüßen. Ich<br />

habe das Gefühl, er freut sich<br />

über mein Interesse, bereitwillig<br />

und nicht ohne Stolz erzählt er<br />

vom „Kampf gegen Migration“,<br />

wie er es nennt, durchgeführt<br />

mit einer Symbiose von Radarschirmen und Wärmebildkameras,<br />

Herzfrequenzmessern und Schnelleinsatzbooten.<br />

Die Hardware des modernen „Grenzmanagements“,<br />

mit dem Sicherheit und Menschenrechte<br />

gleichermaßen garantiert werden sollen. Die<br />

Geschichte, die er erzählt, ist eine des Erfolgs, Bilder,<br />

wie sie uns aus Griechenland, Lampedusa und Malta<br />

erreichen, seien hier Vergangenheit. In zwei Linien<br />

operiere die Guardia Civil heute, an der Küste und in<br />

den umliegenden Dörfern. Er schätze, dass so gut<br />

wie niemand unbemerkt über den Estrecho gelange.<br />

Zehn Kilometer weit überwache SIVE, das „integrierte<br />

Grenz-Überwachungssystem“, den kompletten Schiffsverkehr<br />

in der Meerenge von der Küste aus; seit Mai<br />

auch aus der Luft, womit er vermutlich den eigentlich<br />

zivilen Transporthubschrauber meint, der täglich zwischen<br />

Ceuta und Algeciras verkehrt.<br />

Foto: Michael Westrich


16<br />

Bleierner Nachmittag<br />

Yolga und seine Bettnachbarn überbrücken die Zeit<br />

Foto: Michael Westrich<br />

Die die Freiheit kontrollieren<br />

Anfang 2000, zur Hochzeit der „Boat People“, war<br />

hier noch alles anders, erinnert er sich. Da es keine<br />

lückenlose Radarüberwachung gab, erkannte die<br />

Küstenwache die kleinen Boote sehr spät und musste<br />

oft mitansehen, wie acht Boote gleichzeitig landeten.<br />

Dann wurde das Budget zur Überwachung der<br />

Außengrenzen aufgestockt und Frontex gegründet,<br />

und mit Frontex kamen die RABIT-Teams, die Polizisten<br />

aus der gesamten EU und neueste Technik. Über<br />

die Zusammenarbeit der Fron-<br />

tex-Teams wisse jedoch der Chef<br />

der Policía Nacional mehr. In<br />

diesem Moment stößt auch er zu<br />

uns, ein junger, groß gewachsener<br />

Mann, sympathisch, gebildet,<br />

politisch korrekt in seiner Wortwahl.<br />

Die Bedeutung der EU-<br />

Grenzschutzagentur bestehe für<br />

ihn vor allem in der Zentralisierung von Informationen<br />

und in den regelmäßigen internationalen Einsätzen<br />

– wobei er kurz darüber klagt, wie schwierig die<br />

Zusammenarbeit zum Teil sei, da so gut wie niemand<br />

in seinem lokalen Team eine Fremdsprache und nur<br />

Yolga dreht, raucht und raunt mit<br />

tiefer Stimme, wie leid er es sei,<br />

um jede Zigarette betteln zu müssen.<br />

Und um jedes Telefonat<br />

nach Hause.<br />

wenige ausländische Kollegen und Kolleginnen spanisch<br />

sprächen. Dann erklärt er mir, wieso eine intensivere<br />

Kontrolle und ein entschiedeneres Durchgreifen<br />

an der Schengener Außengrenze alleine aus Perspektive<br />

der Menschenrechte absolut notwendig sei.<br />

Er selbst sei dabei gewesen, als ein Ruderboot mit<br />

Flüchtlingen vor einigen Jahren an Land gezogen<br />

wurde und alle 33 Insassen tot waren. Oder erst vergangene<br />

Woche, als eine Frau in einer Patera, die<br />

geborgen wurde, entbunden hatte. Um das alles zu<br />

verstehen, müsse man die Geschichten dahinter kennen,<br />

die armen Leute fielen Menschenhändlern zum<br />

Opfer – Europa aber sei ein<br />

Raum der Sicherheit und der<br />

Freiheit.<br />

Sein oder Nicht-Sein in Europa<br />

Als ich mich auf den Rückweg<br />

mache, dämmert es bereits.<br />

Yolga sitzt auf einem Plastikstuhl<br />

vor dem Haus und wartet, dass die Zeit vergeht.<br />

Nach Arbeit kann er erst morgen wieder suchen. Wieder<br />

wird er an den Hafen gehen, bei Vovis fragen,<br />

den Schwarzmarkt durchkämmen. Ich setze mich zu<br />

ihm, lege meinen Tabak auf den Tisch und warte mit


ihm. Er dreht, raucht und raunt mit tiefer Stimme, wie<br />

leid er es sei, um jede Zigarette betteln zu müssen.<br />

Und um jedes Telefonat nach Hause. Um ein Bier.<br />

Wenn ich weggehe, wird er aufhören zu rauchen, bis<br />

er selbst Geld verdient. Wenn es nach dem Gesetz<br />

geht also erst in drei Jahren. drei Jahre Stillstand, drei<br />

Jahre warten. Mindestens. Yolga, Klen und all die<br />

anderen hier sind in keinem Asylverfahren, sie haben<br />

keinerlei Anspruch auf Hilfe, schlafen in sozialen Einrichtungen<br />

oder Orten, an denen sie sich selbst organisieren<br />

können, holen sich Kleidung von der Caritas.<br />

Finanzielle Unterstützung bekommen sie von niemandem.<br />

Keinen Cent. Sie sind da und sie sind Menschen,<br />

aber „wir dürfen nicht einmal sein“, wie Yolga<br />

trocken feststellt.<br />

Die die <strong>Grenze</strong> in sich tragen<br />

Vom Zentrum aus gesehen ließen sich die kurzen,<br />

fragmentarischen Geschichten, die ich in diesem Text<br />

erzählt habe, unter „Illegalität“ subsumieren, es würde<br />

aber jeder körperlichen Dimension entbehren. Europa<br />

verteidigt an seinen <strong>Grenze</strong>n nicht nur Freiheit und<br />

Sicherheit, sondern auch die Idee, die es sich von<br />

sich selbst macht. Es vergisst dabei jedoch, was dekoloniale<br />

Denker die „koloniale Differenz“ nennen 1 ,<br />

also den Punkt, an dem Europa begonnen hat, sich<br />

zeitlich und geographisch auf Abstand zu den Anderen<br />

zu bringen. „Wir sind immer noch die Sklaven“,<br />

meint Yolga und spielt damit auf die Machtbeziehungen<br />

an, in die die Geschichten Afrikas und Europas<br />

eingewoben sind. In den Kolonien galten schon<br />

immer eigene Gesetze, und es gab eigene Gesetze für<br />

die Kolonialisierten. Jene Anderen aus der Peripherie<br />

der zivilisierten Welt wurden gebraucht, um die Idee<br />

eines weißen, christlichen, männlichen Europas zur<br />

Deckung zu bringen mit einem Territorium. Heute<br />

aber bringen die mobilen Körper der Migration<br />

Bewegung in die räumliche und zeitliche Ordnung,<br />

sie überschreiten und verändern die <strong>Grenze</strong>, die<br />

wiederum mit Ausschluss reagiert. „Some are forced<br />

to be border“, schreibt Etienne Balibar 2 , manche sind<br />

dazu gezwungen, <strong>Grenze</strong> zu sein. Grenz-Personen.<br />

Ich habe eine „Perspektive nahe der Migration“<br />

gewählt, um diese körperliche Dimension der <strong>Grenze</strong><br />

nicht aus den Augen zu verlieren. Was außerdem aus<br />

einer anderen Blickrichtung vermutlich nicht sichtbar<br />

ist, sind jene Momente der Zusammengehörigkeit und<br />

der Solidarität, die an manchen Punkten der<br />

Geschichte durchscheinen. Trotz aller Heterogenität<br />

der Migrantinnen und Migranten eint sie der Wille,<br />

etwas zu verändern. Kwame Nimako und Stephen<br />

Small 3 würden darin wohl den utopischen Horizont<br />

grenze<br />

der Diaspora erkennen, Regina Römhild 4 das Aufscheinen<br />

eines Kosmopolitismus von unten. Yolga<br />

nennt es Abenteuer, und darin schwingt ein offenes<br />

Ende mit sowie die ständige Hoffnung, es möge ein<br />

gutes sein. Doch der Alltag in Europa ist unmenschlich<br />

schwierig. „Das Abenteuer“, sinniert Yolga, und<br />

er wirkt etwas abgeklärt, „das Abenteuer endet gar<br />

nicht in Europa“, so wie er immer gedacht hatte. „Es<br />

beginnt hier“.<<br />

1 Grosfoguel, Rámon<br />

(2008): Transmodernity,<br />

border thinking, and global<br />

coloniality. Eurozine, 1-23,<br />

www.eurozine.com<br />

2 Balibar, Etienne (2002):<br />

Politics and the other<br />

scene. London, Verso<br />

3 Nimako, Kwame and<br />

Stephen Small (2009): Theorizing<br />

Black Europe and<br />

African diaspora: Implications<br />

for citizenship, nativism,<br />

and xenophobia. In<br />

Black Europe and the African<br />

diaspora. Darlene Clark<br />

Hine, Trica Danielle Keaton,<br />

et al. (Hg.), Urbana, University<br />

of Illinois Press<br />

4 Römhild, Regina (2009):<br />

Aus der Perspektive der<br />

Migration: Die Kosmopolitisierung<br />

Europas. In No integration?!Kulturwissenschaftliche<br />

Beiträge zur<br />

Integrationsdebatte in Europa.<br />

Sabine Hess, Jana Binder,<br />

et al. (Hg.), Bielefeld,<br />

transcript<br />

Besser so?<br />

Die Küste Marokkos<br />

vom spanischen<br />

Festland aus gesehen.<br />

Michael Westrich<br />

promoviert am Institut<br />

für Europäische<br />

Ethnologie der Humboldt<br />

Universität zu<br />

Berlin über Migration<br />

und soziale<br />

Bewegungen an den<br />

EU-Außengrenzen.


18<br />

Star Wars<br />

Vor knapp vier Jahren kündigte die Kommission der Europäischen Union an, man wolle ein gemeinsames<br />

europäisches Grenzüberwachungssystem entwickeln. Dieses European Border Surveillance System (EURO-<br />

SUR) hat den Zweck, den Mitgliedsstaaten eine „vollständige situative Kenntnis ihrer Außengrenzen“ zu<br />

verschaffen. Von Matthias Becker


Es ist bemerkenswert, dass dieses umfassende<br />

Grenzüberwachungssystem bereits zuvor und<br />

in einem ganz anderen Politikfeld auf den Weg<br />

gebracht wurde – nämlich als Teil der europäischen<br />

Forschungsförderung. Seit 2007 unterstützt die EU<br />

finanziell Projekte, in denen neue Techniken für die<br />

Grenzkontrolle entwickelt werden. Das Forschungsprogramm<br />

heißt „Sicherheitsforschung“, die Programmlinie<br />

„Intelligente Überwachung und Grenzsicherheit“.<br />

In diesem Rahmen arbeiten Behörden,<br />

Rüstungs- und Informationstechnikkonzerne mit staatlichen<br />

Forschungsinstituten zusammen und entwickeln<br />

Hightech für die Kontrolle der Schengen-<strong>Grenze</strong>n.<br />

Software berechnet „Migrationsbewegungen“<br />

Viele dieser Projekte klingen nach Science-Fiction,<br />

sind aber ernst gemeint. Da gibt es unbemannte<br />

Landroboter, die demnächst in Grenzgebieten patrouillieren<br />

könnten. Schwimmende „Überwachungsplattformen“<br />

für den Einsatz auf hoher See, die sich<br />

untereinander vernetzen. Software-Systeme, die quasi<br />

alle verfügbaren Daten auswerten, um vorherzusagen,<br />

wo demnächst Einwanderer eintreffen werden.<br />

Mit Wissenschaft im gängigen Sinn hat die sogenannte<br />

Sicherheitsforschung nicht viel zu tun. Beispielsweise<br />

versucht kein einziges der geförderten Projekte<br />

zu definieren, was „Sicherheit“ eigentlich bedeuten<br />

soll und wie sie also herzustellen wäre. Stattdessen<br />

handelt es sich um „Forschung und Entwicklung“,<br />

wie sie ohnehin in den entsprechenden Abteilungen<br />

der Rüstungsindustrie stattfindet. Es geht um die<br />

Beschaffung von technischen Anlagen für Polizei,<br />

Militär und Grenzschutz und darum, organisatorische<br />

Standards festzulegen, damit sie reibungslos über Landesgrenzen<br />

hinweg miteinander kooperieren können.<br />

Der Aufbau von EUROSUR soll nach dem Willen der<br />

EU-Kommission in drei Etappen vor sich gehen. In einer<br />

ersten Phase sollen die nationalen Systeme zur Grenzüberwachung<br />

zusammenfließen. Dann will die EU in<br />

einer zweiten Phase gemeinsame Mittel und Technik<br />

anschaffen. In einem Arbeitspapier von Januar 2011 verweist<br />

die Kommission ausdrücklich auf die Forschungsprojekte<br />

aus der Sicherheitsforschung, die dabei berükksichtigt<br />

werden sollten. In der letzten Phase sollen die<br />

beteiligten Organe mit einem gemeinsamen IT-System<br />

über die Meeresgrenzen Informationen teilen. Mit<br />

EUROSUR will die EU zunächst das Mittelmeer, den<br />

südlichen Atlantik und das Schwarze Meer überwachen,<br />

bei Erfolg könnte das System aber ausgeweitet werden,<br />

um dann alle maritimen Schengen-<strong>Grenze</strong>n abzudecken.<br />

Um die „vollständige situative Kenntnis der Außen-<br />

grenzen“ zu erreichen, werden<br />

die diversen Datensammlungen<br />

Entscheidend ist<br />

aus den Mitgliedsstaaten in<br />

der Austausch zwischen den<br />

einem „System der Systeme“ nationalen Behörden über neue<br />

zusammenfließen. In einer Mach- Methoden mit denen Migrierende<br />

barkeitsstudie hat die Firma ESG<br />

versuchen, nach Europa<br />

unter Beteiligung von EADS,<br />

hineinzukommen.<br />

Selex und Thales sowie der Universität<br />

der Bundeswehr dafür<br />

technische und organisatorische<br />

Standards festgelegt. Für EURO-<br />

SUR verarbeiten die Behörden unter anderem Daten<br />

aus der Satellitenaufklärung, von Überwachungssensoren<br />

im Grenzgebiet, Drohnen und Radargeräten.<br />

Entscheidend ist außerdem der Austausch zwischen<br />

den nationalen Behörden über neue Methoden, mit<br />

denen Migrierende ohne entsprechende Papiere versuchen,<br />

nach Europa hinein zu kommen.<br />

Wenig bekannt ist der letzte Baustein des EUROSUR–<br />

Lagebilds, das sogenannte Common Pre-frontier Intelligence<br />

Picture (CPIP). Die europäische Grenzschutzbehörde<br />

Frontex soll dieses europaweite Informationssystem<br />

betreuen. Seine Aufgabe ist es unter<br />

anderem, durch eine teil-automatisierte Trendanalyse<br />

„Migrationsbewegungen“ zu entdecken oder vorherzusagen,<br />

bevor sie an einer Schengen-<strong>Grenze</strong> ankommen,<br />

um entsprechende Ressourcen zur Abwehr<br />

bereitzustellen. Zu diesem Zweck verarbeitet das<br />

System Informationen über die Ströme außerhalb<br />

Europas – eben vor der <strong>Grenze</strong>. CPIP enthält neben<br />

Satellitenaufnahmen und Informationen der Nachrichtendienste<br />

auch sogenannte Open Source Intelligence<br />

(OSINT). Das sind Daten, die über das Internet (mehr<br />

oder weniger) frei zugänglich sind: Pressemeldungen,<br />

Werbeanzeigen, Einträge in Blogs, Diskussionsforen<br />

und möglicherweise auch in Sozialen Netzwerken<br />

wie Facebook.<br />

Selbstbedienungsladen der Rüstungsindustrie<br />

oder bewusste Aufrüstung?<br />

Von den Geldern für die „Sicherheitsforschung“ profitieren<br />

in erster Linie große Rüstungsfirmen und Informationstechnikkonzerne<br />

der großen EU-Mitgliedstaaten:<br />

etwa EADS, BAE, Atos Origin, Alcatel, Thales oder<br />

Finmeccanica. Weil die EU bis zu drei Viertel der Entwicklungskosten<br />

übernimmt – mit der Begründung,<br />

dass der Absatzmarkt für diese Produkte nicht gesichert<br />

sei – können diese Privatunternehmen mit Steuergeldern<br />

Grundlagenforschung betreiben, ohne die<br />

Produkte unmittelbar verwerten zu müssen. Möglicherweise<br />

kommt dabei etwas heraus, was sich auf dem<br />

Weltmarkt für Sicherheitstechnik vermarkten lässt.<br />

grenze


20<br />

Mit Aktentasche<br />

und Strickpulli<br />

So stellt die EU ihre-<br />

Technik zur<br />

Menschenabwehr<br />

auf youtube vor:<br />

http://www.youtube.c<br />

om/v/jpxZ24Daxlk<br />

Die Ausrichtung der Forschung dient offensichtlich<br />

den Interessen des „sicherheitsindustriellen Komplexes“<br />

(Ben Hayes). Die Industrie hat in weiten Teilen<br />

selbst definiert, in welchen „sicherheitsrelevanten<br />

Bereichen“ sie „Forschungsbedarf“ sieht. „Sicherheitsrelevant“<br />

sind – Überraschung! – genau die Technikfelder,<br />

in denen sie ohnehin tätig ist. Aber auch die<br />

staatlichen Behörden, die irgendwie mit dem Schutz<br />

der <strong>Grenze</strong>n befasst sind, waren an der Konzeption<br />

beteiligt.<br />

Aus der Perspektive der Behörden 2007 erhielt das Europäische<br />

und der Unternehmen ist die Forum für Sicherheitsforschung<br />

Grenzkontrolle ein taktisches, und -innovation (ESRIF) von der<br />

technisch zu lösendes EU-Kommission den Auftrag,<br />

Problem.<br />

eine umfassende Sicherheitsforschungsstrategie<br />

für die Zeit bis<br />

2030 zu entwickeln. Dieses<br />

Forum setzte sich zu gleichen<br />

Teilen aus Vertretern der Industrie und staatlicher<br />

Behörden zusammen. Leiter der „Arbeitsgruppe<br />

Grenzsicherheit“ im ESRIF war Erik Berglund, der<br />

damalige Chef der Forschungsabteilung von Frontex,<br />

heute deren „Director for Capacity Building“.<br />

Matthias Becker<br />

lebt in Berlin und „Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz des<br />

arbeitet als freier Grenzmanagements. Dazu müssen wir verstehen,<br />

Journalist für diverse welche Grenzaktivitäten es innerhalb und außerhalb<br />

Zeitungen und Europas gibt“, heißt es im 2009 veröffentlichten<br />

Radiosender. 2010 Abschlussbericht dieser Arbeitsgruppe. Als zukünftige<br />

erschien im Heise- Prioritäten nennt der Bericht unter anderem „eine<br />

Verlag sein Buch effiziente und effektive Kontrolle der Personen- und<br />

„Datenschatten. Auf Warenströme an den Grenzübergängen“ und „die<br />

dem Weg in die Überwachung der Grenzregionen“. Biometrie und<br />

Überwachungsgesell- Sensortechnik sollen vermehrt zum Einsatz kommen,<br />

schaft?“<br />

um „Anomalien in großen regulären Strömen“ zu entdecken.<br />

Utopien technischer Machbarkeit<br />

Gemeinsam ist den Vertreterinnen und Vertretern der<br />

Industrie und den Verantwortlichen in den Behörden,<br />

soweit es in den Forschungsprojekten sichtbar wird,<br />

eine technokratische Auffassung von Grenzkontrolle.<br />

Sie setzen auf Hightech – auf Kameras mit noch besserer<br />

Auflösung, auf noch bessere Sensoren, noch<br />

komplexere Algorithmen und noch schnellere Computer.<br />

Etwa Hälfte der Fördermittel wurde bisher für<br />

Anlagen zur Detektion und Überwachung ausgegeben.<br />

Der Trend geht dabei zu mobilen Überwachungsanlagen,<br />

sogenannten Drohnen. Fast alle Neuentwicklungen<br />

nutzen avancierte Sensor- und Computertechnik.<br />

Mit ihr sollen Überwachungsaufgaben<br />

automatisiert und effektiver gemacht werden.<br />

Aus der Perspektive der Behörden und der Unternehmen,<br />

die ihnen die Ausrüstung für ihre Aufgaben liefern,<br />

ist die Grenzkontrolle ein taktisches, technisch<br />

zu lösendes Problem: Wer heimlich über die <strong>Grenze</strong><br />

will, soll entdeckt und festgesetzt werden. In ihren<br />

Szenarien spielen die Beweggründe und Ressourcen<br />

der Menschen, die die <strong>Grenze</strong>n übertreten, keine<br />

Rolle. Ebensowenig die Korruption europäischer und<br />

außereuropäischer Behörden – oder auch die simple<br />

Tatsache, dass jede noch so avancierte Überwachungstechnik<br />

überlistet werden kann.


Unter Zugzwang<br />

Jedes Jahr versuchen tausende zentralamerikanische Migrantinnen und Migranten, irregulär in die USA<br />

zu gelangen. Der Weg durch Mexiko kommt dabei einem Spießroutenlauf gleich: Es drohen Kontrollen<br />

und Abschiebung, Raub und Vergewaltigung, Entführung und Mord. Trotz dieser unhaltbaren Zustände<br />

sperrt sich die mexikanische Regierung gegen eine Entkriminalisierung der Transitmigration.<br />

Von Sebastian Muy<br />

waren die Parteien, die Bürgermeister,<br />

die Gouverneure, die Bundesbe-<br />

„Wo<br />

hörden, die Armee, die Marine, die<br />

Kirchen, die Kongresse, die Unternehmer; wo waren<br />

wir alle, als die Wege und Straßen, die nach Tamaulipas<br />

führen, sich in tödliche Fallen verwandelten für<br />

schutzlose Männer und Frauen, für unsere Brüder<br />

und Schwestern, Migrantinnen und Migranten aus<br />

Zentralamerika?“, fragte der bekannte mexikanische<br />

Schriftsteller Javier Sicilia vor circa 150.000 Demonstrierenden<br />

auf der Abschlusskundgebung des „Marsches<br />

für würdevollen Frieden und Gerechtigkeit“,<br />

der am 8. Mai diesen Jahres in Mexiko-Stadt stattfand.<br />

Er nahm damit Bezug auf den Mord an 72 mittel- und<br />

südamerikanischen Migrantinnen und Migranten auf<br />

einer Ranch im Nordosten Mexikos im August 2010.<br />

Angehörige der kriminellen Gruppierung „Los Zetas “<br />

hatten sie ermordet, nachdem sie sich offenbar<br />

geweigert hatten, sich in deren Dienste zu stellen.<br />

Seitdem wurden vor allem im Norden Mexikos<br />

wiederholt Massengräber entdeckt, in denen Hunderte<br />

getötete Menschen, darunter viele Migrantinnen<br />

und Migranten, verscharrt worden waren.<br />

Foto: Ricardo Ramírez Arriola<br />

Es geht ein Zug<br />

nach Nirgendwo…<br />

Migrantinnen und<br />

Migranten versuchen<br />

auf die anfahrenden<br />

Züge aufzuspringen


22<br />

Foto: Hauke Lorenz<br />

Längst haben die Übergriffe auf<br />

Transitmigrantinnen und -<br />

migranten alarmierende Ausmaße<br />

angenommen und tragen<br />

einen gewichtigen Teil zur grausamen<br />

Bilanz des seit Jahren<br />

zunehmend eskalierenden mexikanischen<br />

„Drogenkrieges“ bei.<br />

Nach Schätzungen der nationalen Menschenrechtskommission<br />

sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen<br />

werden seit einigen Jahren jährlich mehr als<br />

20.000 meist zentralamerikanische Migrantinnen und<br />

Migranten auf ihrem Weg durch Mexiko entführt. Hinter<br />

den Taten stehen kriminelle Gruppierungen wie<br />

die erwähnten „Zetas“; oft mit Billigung oder Zuarbeit<br />

von mexikanischem Behördenpersonal. Migrierende<br />

werden häufig unter Folter gezwungen, Angehörige<br />

anzurufen und sie um die Übersendung eines hohen<br />

Lösegeldes zu bitten. Wer sich weigert oder über<br />

keine zahlungsfähigen Verwandten verfügt, wird<br />

gefoltert, verstümmelt und häufig ermordet.<br />

Besonders dramatisch ist die Situation der migrierenden<br />

Mädchen und Frauen: Amnesty International geht<br />

davon aus, dass sechs von zehn Transitmigrantinnen<br />

während ihrer Reise durch Mexiko sexualisierte<br />

Gewalt erleben.<br />

Um dem Kontrollnetz der<br />

Migrationspolizei zu entkommen,<br />

sind die Migrantinnen und<br />

Migranten gezwungen, auf<br />

klandestine Migrationsrouten<br />

auszuweichen.<br />

Sprung ins Ungewisse…<br />

Ein Migrant wechselt den Waggon<br />

Die Rolle der Ex-Elitemilitärs<br />

Die Geschichte der Zetas steht<br />

exemplarisch für die enge Verquickung<br />

von staatlichen Institutionen<br />

mit kriminellen Gruppierungen<br />

in Mexiko. Gegründet<br />

wurden die Zetas um die Jahrtausendwende<br />

von ehemaligen Angehörigen militärischer<br />

Eliteeinheiten – sie hatten eine Spezialausbildung<br />

für den Anti-Drogen-Kampf erhalten, waren<br />

zuvor aber auch zur Aufstandsbekämpfung im Chiapas-Konflikt<br />

sowie im guatemaltekischen Bürgerkrieg<br />

im Einsatz – zunächst als militärischer Arm des Golfkartells,<br />

einer der großen Gruppen des organisierten<br />

Verbrechens in Mexiko. Von diesem spalteten sie sich<br />

jedoch 2010 ab und sind seitdem zu einem der wichtigsten<br />

– und brutalsten – Akteure im mexikanischen<br />

Drogenkrieg geworden. Über die traditionellen Aktivitätsfelder<br />

der Drogenkartelle hinaus haben die Zetas<br />

durch Entführungen, Erpressungen und Menschenhandel<br />

an Geld und Macht gewonnen. Die Entführung<br />

von Migrantinnen und Migranten stellt dabei ein<br />

lukratives Geschäft dar: Nach Schätzungen der nationalen<br />

Menschenrechtskommission CNDH verdienen<br />

kriminelle Gruppierungen jährlich etwa 50 Millionen<br />

US-Dollar durch die Erpressung von Lösegeldern.


Kein Freund und Helfer<br />

Das praktisch risikolose Agieren der Entführerbanden<br />

wird erst durch die weit verbreitete Korruption und<br />

die Verbindungen ermöglicht, die zwischen dem Per-<br />

sonal mexikanischer Behörden<br />

und der organisierten Kriminalität<br />

bestehen. Zu diesem<br />

Schluss kommt auch der UN-<br />

Sonderberichterstatter für die<br />

Rechte der Migrantinnen und<br />

Migranten, Jorge Bustamante, in<br />

einem Bericht von 2008: „Durch<br />

die Allgegenwart der Korruption<br />

auf allen Ebenen der Regierung<br />

und die enge Verbindung, die viele Behörden mit<br />

den Bandennetzwerken haben, kommt es weiterhin<br />

zu Erpressungen, Vergewaltigungen und tätlichen<br />

Angriffen gegen Migrantinnen und Migranten.“ Auch<br />

die nationale Menschenrechtskomission spricht von<br />

„mittäterschaftlichen Verbindungen zwischen der Kriminalität<br />

und einigen staatlichen Akteuren“. Die von<br />

ihr und Nichtregierungsorganisationen gesammelten<br />

Zeugenaussagen von betroffenen Migrantinnen und<br />

Migranten legen hiervon Zeugnis ab. Abgesehen von<br />

der Korruption können die Migrierenden auch sonst<br />

von den zuständigen Behörden wenig Hilfe erwarten:<br />

Cecilia Romero, bis September 2010 Direktorin der<br />

mexikanischen Migrationsbehörde INM, empfahl den<br />

undokumentierten Migrierenden, sich den Behörden<br />

freiwillig zu stellen und sich in ihre Heimatländer<br />

abschieben zu lassen, um einer möglichen Entführung<br />

zu entgehen.<br />

Mexiko als vertikale <strong>Grenze</strong><br />

In dieser Aussage spiegelt sich die Ausrichtung der<br />

mexikanischen Migrationspolitik auf ein reines Kontrollregime<br />

wieder. Während ab 1994 durch mehrere<br />

Freihandelsabkommen die <strong>Grenze</strong>n für den Warenverkehr<br />

zwischen den USA, Mexiko und den zentralamerikanischen<br />

Staaten weitgehend aufgehoben wurden,<br />

richtete Mexiko seine Migrationspolitik – einerseits<br />

unter dem Druck der USA, anderseits mit dem<br />

Argument, so die nationale Souveränität zu wahren –<br />

zunehmend auf die Versiegelung seiner Südgrenze<br />

aus. Mexiko verpflichtete sich gegenüber den USA<br />

dazu, durch strikte Kontrollen gegen die irreguläre<br />

Migration aus dem Süden vorzugehen. Mexiko wurde<br />

so zur „vertikalen <strong>Grenze</strong>“, zu einem Filter im Kampf<br />

der USA gegen illegalisierte Migration. Die <strong>Grenze</strong> ist<br />

dabei nicht auf den territorialen Grenzraum zwischen<br />

Mexiko und Guatemala reduziert, sondern befindet<br />

sich überall im mexikanischen Hoheitsgebiet, wo irre-<br />

Das Risiko, auf der Reise<br />

vergewaltigt zu werden, ist<br />

derart präsent, dass einige<br />

Migrantinnen sich vor dem<br />

Aufbruch Verhütungsmittel<br />

injizieren.<br />

gulär Reisende dem Risiko von Kontrollen und<br />

Abschiebung ausgesetzt sind. Um dem engmaschigen<br />

Kontrollnetz der Migrationspolizei (INM), etwa auf<br />

den öffentlichen Straßen vor allem im Süden des Landes,<br />

zu entgehen, sind die Migrantinnen und Migran-<br />

ten gezwungen, auf klandestine<br />

Migrationsrouten auszuweichen.<br />

Die meisten müssen die ersten<br />

300 Kilometer nach dem Grenzübertritt<br />

zu Fuß bewältigen, um<br />

dann auf einen Güterzug aufzuspringen<br />

und so zu versuchen,<br />

die (je nach Route) zwischen<br />

1800 und 3900 Kilometer von<br />

der Süd- zur Nordgrenze hinter<br />

sich zu bringen. Dabei kommt es häufig zu tragischen<br />

Unfällen, bei denen Migrierenden ums Leben kommen<br />

oder Gliedmaßen verlieren. Zudem führen die<br />

Zugstrecken durch Gebiete, in denen kriminelle<br />

Gruppierungen ihr Unwesen treiben. Sie überfallen<br />

die Reisenden, rauben sie aus, und entführen sie. Die<br />

entführten Migrantinnen und Migranten werden in<br />

sogenannte Casas de Seguridad (Sicherheitshäuser)<br />

verschleppt und dort festgehalten. Dort sind sie<br />

Erpressung, Folter, Vergewaltigung und anderen<br />

Übergriffen schutzlos ausgeliefert.<br />

Sexualisierte Gewalt als Waffe gegen Migrantinnen<br />

und Migranten<br />

Der massiven sexualisierten Gewalt gegen migrierende<br />

Frauen und Mädchen in Mexiko liegt ein gesellschaftlicher<br />

und historischer Hintergrund zugrunde.<br />

Die UN-Sonderberichterstatterin zur Gewalt gegen<br />

Frauen, Yakin Ertürk, attestierte der mexikanischen<br />

Gesellschaft 2006 die fortwährende Dominanz einer<br />

„machistischen Kultur“, die ein „hohes Aggressionsniveau<br />

gegen Frauen“ hervorrufe und aufrechterhalte.<br />

Dieses wird im brutalisierten Kontext der organisierten<br />

Kriminalität, in dem es allein um Macht und Geld<br />

– nicht um Legalität oder gesellschaftliche und moralische<br />

Legitimität geht – noch potenziert. Die undokumentierten<br />

Transitmigrantinnen sind als Frauen,<br />

Migrantinnen und Statuslose dabei gleich mehrfacher<br />

Diskriminierung und Angreifbarkeit ausgesetzt. Die<br />

gegenüber sexualisierter Gewalt ohnehin verbreitete<br />

Straflosigkeit, rassistische Diskriminierung und ihr<br />

irregulärer Status führen die Frauen in die faktische<br />

Rechtlosigkeit. Dies führt dazu, dass sie den Übergriffen<br />

der Täter – unter anderem kriminelle Banden,<br />

Schlepper, Angehörige von Polizei und Migrationsbehörde<br />

oder auch anderer Migranten und Angehörige<br />

der mexikanischen Zivilbevölkerung – meist ohne<br />

Schutz ausgeliefert sind. Das Risiko, auf der Reise<br />

grenze


24<br />

Foto: Ricardo Ramírez Arriola<br />

vergewaltigt zu werden, ist derart präsent, das einige<br />

Migrantinnen sich vor dem Aufbruch Verhütungsmittel<br />

injizieren, um nicht ungewollt schwanger zu werden.<br />

Auch irregulär migrierende Jungen und Männer sind<br />

von sexualisierter Gewalt betroffen.<br />

Entlang der gängigen irregulären Migrationsrouten<br />

gibt es nur wenige Orte, an denen die Migrierenden<br />

Unterschlupf und Unterstützung erhalten. Die katholische<br />

Kirche und lokale Gemeinden betreiben entlang<br />

der Strecken einige Herbergen, in denen die Migrierenden<br />

einige Tage kostenlos unterkommen, ihre


Kleidung waschen, zu essen bekommen und Ärzte<br />

konsultieren können. Zudem sind die Herbergen Ort<br />

des Austauschs. Migrantinnen und Migranten sprechen<br />

über ihre Erfahrungen und Strategien, über Weiter-<br />

oder Rückreise und knüpfen Netzwerke. Die<br />

Betreiberinnen und Betreiber der Herbergen versu-<br />

Rauf aufs Dach…<br />

Wer mitreisen will, muss sich notgedrungen<br />

an Leitern und Vorsprüngen festklammern<br />

chen, Menschenrechtsverletzungen gegen die Migrierenden<br />

öffentlich zu machen, weswegen sie zuweilen<br />

Einschüchterungen seitens der Polizei oder Gangs<br />

ausgesetzt sind.


26<br />

Wider die Kriminalisierung<br />

der Migration<br />

Angesichts der schockierenden<br />

Ausmaße der Übergriffe gegen<br />

Transitmigrantinnen und -migranten<br />

in Mexiko haben zahlreiche<br />

zivilgesellschaftliche und religiöse<br />

Organisationen im März dieses<br />

Jahres der Bevölkerungskommission<br />

der Abgeordnetenkammer<br />

vorgeschlagen, ein neues Visum für diese Personengruppe<br />

einzuführen: zwar sei Mexiko – angesichts von<br />

mehreren Millionen häufig ohne gültigen Papiere in<br />

den USA lebenden Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern<br />

– für seinen Einsatz für die Rechte von Migrantinnen<br />

und Migranten bekannt. Sowohl bei den Vereinten<br />

Nationen als auch im interamerikanischen Menschenrechtssystem<br />

habe Mexiko die Bemühungen vorangetrieben,<br />

mehr rechtliche Instrumente zum Schutz vor<br />

Übergriffen und Diskriminierung zu schaffen, gleichzeitig<br />

aber habe es sich in den letzten Jahren zu einem<br />

der gefährlichsten Länder für Transitmigrantinnen und<br />

-migranten entwickelt. Die Autorinnen und Autoren<br />

kritisieren den „reaktiven Fokus“ der mexikanischen<br />

Regierung, deren Engagement gegen die Entführungen<br />

sich auf meist fruchtlose Ermittlungen beschränke. Der<br />

Kern des Problems würde nicht angetastet: die Illegalisierung<br />

der Transitmigration. Sie zwinge die meist aus<br />

Zentralamerika stammenden Migrantinnen und Migranten<br />

zum Ausweichen auf die klandestinen Routen, auf<br />

Mexiko hat sichzu einem<br />

der gefährlichsten Länder für<br />

Transitmigrantinnen und<br />

-migranten entwickelt.<br />

denen sie eine leichte „Beute“<br />

für die Gruppen der organisierten<br />

Kriminalität darstellen. Die<br />

beteiligten Organisationen schlagen<br />

daher vor, ein Visum für<br />

Transitmigrantinnen und -<br />

migranten zu schaffen, das zwei<br />

Monate gültig ist und an jede<br />

Person ausgestellt wird, die die<br />

Absicht äußert, das mexikanische<br />

Territorium zu durchqueren.<br />

Zwar existiert bereits im bisher geltenden mexikanischen<br />

Bevölkerungsgesetz die Kategorie des Transitmigranten<br />

bzw. der Transitmigrantin. Die Ausstellung<br />

eines entsprechenden Visums ist jedoch ausgeschlossen,<br />

sofern keine Einreiseerlaubnis ins Zielland vorliegt.<br />

Und ein Visum für die USA zu erhalten ist an<br />

Bedingungen geknüpft, die für die große Mehrheit<br />

aller Zentralamerikanerinnen und -amerikaner unerfüllbar<br />

sind. Schon für ein US-Touristenvisum müssen<br />

Staatsangehörige zentralamerikanischer Staaten nachweisen,<br />

ihren festen Wohnsitz außerhalb der USA zu<br />

haben und dort in stabilen Lebensverhältnissen zu<br />

leben. Sie müssen glaubhaft machen, die USA nur für<br />

eine genau begrenzte Zeit besuchen zu wollen und<br />

alle Reisekosten selbst decken können. Die Entscheidung<br />

ist letztlich auch von der subjektiven Einschätzung<br />

des Konsuls oder der Konsulin abhängig. Auch<br />

die Ausstellung eines mexikanischen Touristenvisums<br />

ist für die allermeisten zur Migration entschlossenen


Menschen keine realistische<br />

Option, da die Anforderungen<br />

eng an jene für ein US-Visum<br />

geknüpft sind. Für Menschen,<br />

die von Armut betroffen sind,<br />

bleibt daher in der Regel nur<br />

die Reise ohne gültiges Visum.<br />

Die Realisierung des Vorschlags<br />

und die Ausstellung einer Durchreiseerlaubnis ohne<br />

ausschließende Kategorisierungen würde es den Transitmigrantinnen<br />

und -migranten ermöglichen, zumindest<br />

bis zur Nordgrenze legal reguläre Transportmittel<br />

zu nutzen und damit ihre Angreifbarkeit deutlich zu<br />

verringern.<br />

Gegenwind in Mexiko und aus den USA<br />

Der Einführung eines „barrierefreien“ Visums für<br />

Transitmigrantinnen und -migranten, wie vom Bündnis<br />

der zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen<br />

vorgeschlagen, stehen jedoch Hindernisse im<br />

Weg: Die USA – und vor allem die an Mexiko<br />

angrenzenden Bundesstaaten, die ihre Anti-Immigrations-Gesetzgebung<br />

in den letzten Jahren massiv verschärft<br />

haben – setzen der Legalisierung der Transitmigration<br />

ihren Widerstand entgegen. Sie sind ungeachtet<br />

der vielen gewaltsamen Übergriffe vor allem<br />

daran interessiert, dass die mexikanische Politik die<br />

irregulären Migrationsbewegungen Richtung Norden<br />

„vorfiltert“, bevor sie die US-<strong>Grenze</strong> erreichen. Die<br />

Herausforderung bestehe also darin, so das an der<br />

Ausarbeitung des Vorschlags beteiligte mexikanische<br />

Menschenrechtszentrum Centro Prodh, die mexikanische<br />

Regierung davon zu überzeugen, ihre Migrationspolitik<br />

nicht an den Bedürfnissen der USA auszurichten,<br />

sondern das Leben von Tausenden von<br />

Migrierenden zu schützen. Keine einfache Aufgabe,<br />

wird Migration von der Calderón-Regierung doch vor<br />

allem im Zusammenhang mit Drogen-, Waffen- und<br />

Menschenhandel im Rahmen eines Sicherheitsdiskurses<br />

thematisiert. So ließ der Präsident 2007 verlauten:<br />

„Es ist wichtig, den Fluss an illegalem Waffen-, Personen-<br />

und Drogenverkehr/-handel zu stoppen, (...) es<br />

ist wichtig, sich um die Durchlässigkeit unserer <strong>Grenze</strong>n<br />

mit Guatemala und vor allem mit Belize zu kümmern.“<br />

Es ginge darum, „an der Südgrenze die Tür<br />

der Entwicklung zu öffnen und nicht die Tür der Kriminalität.“<br />

Wenngleich viele mexikanische „Landsleute“ in den<br />

USA ebenso unter Entrechtung und Diskriminierung<br />

zu leiden haben, kann auch in der mexikanischen<br />

Gesellschaft keineswegs von einem hegemonialen<br />

Interesse an der Verteidigung der Rechte der Migran-<br />

Es passiert selbst indigenen<br />

Mexikanerinnen und Mexikanern,<br />

dass sie von der Migrationspolizei<br />

schikaniert oder sogar<br />

abgeschoben werden.<br />

tinnen und Migranten ausgegangen<br />

werden: Xenophobe und<br />

rassistische Ideologien sind verbreitet<br />

und stehen einer Solidarisierung<br />

mit den Transitmigrantinnen<br />

und -migranten im Wege.<br />

Der anti-indigene Rassismus der<br />

Mehrheitsbevölkerung und politischen<br />

Eliten, der ein Erbe des europäischen Kolonialismus<br />

ist, verdichtet sich zusammen mit xenophoben<br />

Abwehrhaltungen gegen Zentralamerikanerinnen<br />

und -amerikaner und klassistischen Vorurteilen gegen<br />

„Armutsmigrantinnen und -migranten“ zu einem<br />

Diskurs, in dem Einwandererinnen und Einwanderer<br />

vor allem als Gefahr für die nationale Souveränität<br />

und Sicherheit wahrgenommen werden. Dieser<br />

Diskurs verleiht den Übergriffen gegen Migrantinnen<br />

und Migranten vor allem in der migrationsstrategisch<br />

wichtigen Küstenregion von Chiapas einen gewissen<br />

Grad an gesellschaftlicher Akzeptanz. Armut, Indigenität<br />

und (irregulärer) Migrationsstatus werden oftmals<br />

in eins gesetzt, so dass es zuweilen selbst indigenen<br />

Mexikanerinnen und Mexikanern passiert, dass<br />

sie von der Migrationspolizei schikaniert oder sogar<br />

abgeschoben werden.<br />

Angesichts dieses Gegenwindes verwundert es nicht,<br />

dass es bislang nicht danach aussieht, dass auf parlamentarischem<br />

Wege eine reale Verbesserung der Situation<br />

der Migrierenden erreicht würde. Zwar wurde<br />

Ende April das neue Migrationsgesetz verabschiedet,<br />

welches das Bevölkerungsgesetz ersetzen soll. Jedoch<br />

werden Migration dort weiterhin unter Gesichtspunkten<br />

der nationalen Souveränität und Sicherheit verhandelt<br />

und die Kontrollbefugnisse der Migrationsbehörden<br />

aufrechterhalten. Die Möglichkeit, mit der Einführung<br />

des neuen Gesetzes die Transitmigration de<br />

facto zu entkriminalisieren, wurde nicht genutzt. Die<br />

genaueren Ausgestaltungen zum Migrationsgesetz –<br />

etwa Anwendungshinweise – stehen noch nicht fest.<br />

Derzeit deutet jedoch alles darauf hin, dass es<br />

schlicht am politischen Willen fehlt, die freie und<br />

sichere Ein- und Durchreise gesetzlich möglich zu<br />

machen.<br />

Dabei ist eine Entkriminalisierung dringend notwendig.<br />

Irreguläre Migration wird sich nicht durch<br />

Abschiebungen, Grenzzäune und sonstige staatliche<br />

Kontrollversuche und auch nicht „mit Hilfe“ der organisierten<br />

Kriminalität aufhalten lassen. Nicht der einzige,<br />

aber der wichtigste Migrationsgrund bleibt die<br />

weitverbreitete Armut in den Ländern Mittelamerikas,<br />

die wiederum die Staaten des Nordens maßgeblich<br />

verantworten.<<br />

grenze<br />

Sebastian Muy<br />

war als freiwilliger<br />

Mitarbeiter beim<br />

mexikanischen Menschenrechtsnetzwerk<br />

„Red Todos Derechos<br />

para Todas y Todos”<br />

(Red TDT) in Mexiko-Stadt<br />

tätig. Er lebt<br />

und arbeitet derzeit<br />

in Berlin.


28<br />

Die Guten ins Töpfchen<br />

Die Migrations- und Entwicklungspolitik der EU fördert einzig die Mobilität der Elite des globalen<br />

Südens und verfolgt dabei vor allem ihre eigenen Ziele. Von Holger Harms


Migration heißt immer auch Entwicklung, so<br />

die Europäische Union. Vorbei sind die Zeiten,<br />

in denen die Mobilität von Menschen<br />

des globalen Südens hier nur als Problem wahrge-<br />

nommen wurde und mit allen<br />

Mitteln unterbunden werden<br />

musste. Denn entsprechend<br />

gesteuert könne Migration, so<br />

meint die EU, erhebliche Vorteile<br />

für Herkunfts- als auch Aufnahmeländer<br />

sowie natürlich für<br />

die Migrierenden selbst bedeuten.<br />

In dieser Konstellation profitiert<br />

die EU von den dringend benötigten Arbeitskräften<br />

und die „peripheren“ 1 Herkunftsstaaten von<br />

den Rücküberweisungen der im Ausland arbeitenden<br />

Staatsangehörigen. Und natürlich könnten die Migrierenden<br />

durch ihren Aufenthalt in der „entwickelten“<br />

Welt Kenntnisse, Fähigkeiten und Kontakte erwerben,<br />

die sie nach ihrer Rückkehr zu ihrem und zum Vorteil<br />

ihrer Angehörigen nutzen. Soweit die Vorstellung der<br />

EU zu einer entwicklungsfördernden Migrationssteuerung.<br />

Brain gain statt brain drain<br />

Die von der EU betriebene, zusehends verzahnte<br />

Migrations- und Entwicklungspolitik sieht jedoch<br />

anders aus. So entwirft die Europäische Kommission<br />

unter dem Titel „Konsolidierung des Gesamtansatzes<br />

zur Migrationsfrage: Für mehr Koordinierung, Kohärenz<br />

und Synergie“ (2008) ihre Vorstellung einer<br />

kohärenten Politik in den Bereichen Migration und<br />

Entwicklung: Die sogenannte legale Migration soll<br />

gefördert, die sogenannte irreguläre bekämpft und<br />

das Zusammenspiel von Migration und Entwicklung<br />

begünstigt werden. Dabei will die EU die euphemistisch<br />

als „Partnerländer“ bezeichneten Staaten des<br />

Südens bei den Bemühungen unterstützen „ihre<br />

Kapazitäten zur Steuerung der legalen Migration auszubauen“.<br />

Ist im Gesamtansatz zunächst noch allgemein<br />

von der Förderung der Mobilität die Rede, so<br />

zeigt sich in der Umsetzung der Politik, wessen Mobilität<br />

genau gemeint ist. Explizit nennt die EU Forschende,<br />

Studierende, Unternehmerinnen und Unternehmer<br />

sowie Fachkräfte – die Elite also. Visaerleichterungen,<br />

Anerkennung von Studienabschlüssen,<br />

Übertragbarkeit von Pensions- und Sozialversicherungsansprüchen<br />

sowie weitere unterstützende Maßnahmen<br />

sollen diese Gruppen für einen temporären<br />

Aufenthalt in der EU begeistern. Die behauptete zeitliche<br />

Begrenzung des Aufenthalts ist dabei wichtig für<br />

die Legitimation des Gesamtansatzes. Um nicht zur<br />

desaströsen Fachkräfteabwanderung im Süden beizu-<br />

Die Förderung der Mobilität<br />

der Elite der Peripherie ist nicht<br />

als entwicklungspolitische Maßnahme<br />

zu verstehen, sondern<br />

als wohlfeiles Eigeninteresse<br />

der EU.<br />

tragen, hat die EU dafür das Konzept der zirkulären<br />

Migration ersonnen: Arbeitskräfte arbeiten oder forschen<br />

für eine vorher festgelegte Zeit in der EU,<br />

unterstützen schon während ihres Aufenthalts durch<br />

Rücküberweisungen ihre Angehörigen<br />

und dadurch indirekt<br />

auch ihre Herkunftsländer. Nach<br />

ihrer Rückkehr kommen ihre<br />

Kenntnisse und Kontakte<br />

schließlich der Entwicklung<br />

ihrer Länder zugute. Der durch<br />

die Fachkräfteabwanderung verursachte<br />

brain drain würde so<br />

zu einem brain gain.<br />

Dabei blendet diese Vorstellung einer Wissensvermittlung<br />

aus der „entwickelten“ in die „zu entwickelnde“<br />

Welt nicht nur die von der westlichen Hemisphäre<br />

verursachten Krisen aus und stellt den westlichen<br />

Entwicklungsweg als „natürliches“ Endziel einer jedweden<br />

Entwicklung dar. Die Idee des brain gain<br />

macht zudem die koloniale Kontinuität der unionseuropäischen<br />

Entwicklungszusammenarbeit deutlich.<br />

Selbst wenn man diese Betrachtungen unberücksichtigt<br />

lässt, ist doch die Wahrscheinlichkeit einer (freiwilligen)<br />

Rückkehr nach Beendigung von Forschung<br />

oder Beschäftigungsverhältnis eher gering. Legal<br />

migrierte Fachkräfte mit gesicherter qualifizierter<br />

Anstellung kehren nur in den seltensten Fällen<br />

zurück. Die Aussichten auf eine vergleichbare Arbeitsstelle<br />

und auch die Anwendbarkeit der erworbenen<br />

Kenntnisse sind oft nicht gegeben.<br />

Wettbewerb um die klügsten Köpfe<br />

Ob die EU mit ihren Anreizen für die Elite des<br />

Südens die Fachkräfteabwanderung aus der kapitalistischen<br />

Peripherie tatsächlich verringern will, ist<br />

mehr als fraglich. Die Durchlässigkeit der EU-<strong>Grenze</strong>n<br />

für die Elite zu erhöhen, ist vielmehr Ausdruck des<br />

weltweit stattfindenden Wettbewerbs um die klügsten<br />

Köpfe. Die USA etwa pflegen schon lange einen präferentiellen<br />

Umgang mit Hochqualifizierten, wobei<br />

Qualifikation nicht selten mit einem überdurchschnittlich<br />

hohen Einkommen gleichgesetzt wird. Aber auch<br />

andere kapitalistische Zentren und nicht zuletzt die<br />

aufsteigenden Ökonomien China und Indien buhlen<br />

um die globale Elite und diese rekrutiert sich zusehends<br />

nicht mehr nur aus den westlichen Staaten.<br />

Durch den verschärften Wettbewerb sind nun auch<br />

Hochqualifizierte aus anderen Teilen der Welt schwer<br />

umkämpft. Und auch wenn sich die Politik noch<br />

lange mit Slogans wie „Kinder statt Inder“, so beispielsweise<br />

Jürgen Rüttgers als damaliger Ministerprä-<br />

grenze<br />

1 Der Begriff Peripherie<br />

bezeichnet<br />

hier lediglich die<br />

periphere Stellung<br />

im globalen Kapitalismus<br />

und nicht ein<br />

Defizit nicht-westlicher<br />

Regionen.


30<br />

grenze<br />

sident von Nordrhein-Westfalens, gegen diese Entwikklung<br />

zu wehren versuchte, ist auch die EU längst<br />

abhängig von der Zuwanderung vor allem von Hochqualifizierten.<br />

Die Förderung der<br />

Mobilität der Elite der Peripherie<br />

Die zugrunde liegende Argumen-<br />

ist vor diesem Hintergrund also<br />

tation läuft darauf hinaus, dass nicht als entwicklungspolitische<br />

es für den größten Teil der Maßnahme zu verstehen, son-<br />

Menschen besser sei, einfach dern als wohlfeiles Eigeninteres-<br />

zu bleiben wo sie sind.<br />

se der EU. Im Europäischen Pakt<br />

zu Einwanderung und Asyl<br />

(2008) fordert der Rat zudem,<br />

„die Attraktivität der Europäischen<br />

Union für hochqualifizierte Arbeitnehmer zu<br />

erhöhen“. Die Zuwanderung richtet sich dabei nach<br />

dem Bedarf der Europäischen Union. Das Entstehen<br />

einer lokalen Elite in den Herkunftsländern wird so<br />

oft unmöglich gemacht, was nicht nur in ökonomischer<br />

Hinsicht ein Problem ist, sondern auch Gesundheitssystem,<br />

Bildungswesen und Verwaltung des globalen<br />

Südens immens belastet. Und wo es in Europa<br />

unzählige wissenschaftliche Publikationen gibt, die<br />

sich mit der „Peripherie“ befassen, fehlt eben dort<br />

nicht nur das Geld für die Forschung, sondern auch<br />

die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen.<br />

2 CIGEM steht für<br />

Centre d'Information<br />

et de Gestion<br />

des Migrations (Zentrum<br />

für Information<br />

und Migrationsmanagement).<br />

Holger Harms<br />

studierte Internationale<br />

Beziehungen<br />

und Entwicklungspolitik<br />

und engagiert<br />

sich im Café Exil in<br />

Hamburg.<br />

Entwicklungszusammenarbeit<br />

als Migrationssteuerung<br />

Die Förderung der legalen Migration, die vor allem<br />

die Elite anspricht und den Nutzen der Aufnahmeländer<br />

verfolgt, ist für die EU immer auch ein Grund,<br />

um gleichzeitig die irreguläre Migration einzudämmen.<br />

Nicht konsequent gegen die „Illegalen“ vorzugehen<br />

würde die Bemühungen der EU für mehr Mobilität<br />

nach ihrer Lesart konterkarieren. So dienen denn<br />

die Programme zur legalen Migration zur Legitimation<br />

der umso härter durchzusetzenden Abwehr gegen die<br />

ungewollte Zuwanderung. Über die Möglichkeiten,<br />

vor allem aber über die <strong>Grenze</strong>n der legalen Zuwanderung<br />

will die EU mittlerweile bereits vor Ort in den<br />

Herkunfts- und Transitländern besser informieren.<br />

Das CIGEM 2 , ein in der Folge des „Gesamtansatzes”<br />

entwickeltes Pilotprojekt der EU in der malischen<br />

Hauptstadt Bamako ist exemplarisch für die Instrumentalisierung<br />

der Entwicklungszusammenarbeit für<br />

die Belange der Migrationskontrolle. Ursprünglich als<br />

Stelle für die Arbeitsvermittlung von malischen<br />

Arbeitsuchenden in die EU konzipiert, wandelte sich<br />

das Hauptanliegen der Einrichtung schnell: Der malischen<br />

Gesellschaft wird dort nun ein neues Problembewusstsein<br />

vermittelt und die bisher positiv konnotierte<br />

Migration als Bedrohung dargestellt. Ausreisewilligen<br />

Personen werden Gefahren und Risiken der<br />

Migration und eines illegalisierten Aufenthalts verdeutlicht.<br />

Die zugrunde liegende Argumentation läuft<br />

darauf hinaus, dass es für den größten Teil der Menschen<br />

besser sei, einfach zu bleiben wo sie sind. Nur<br />

in der EU benötigte Fachkräfte werden willkommen<br />

geheißen. Für die meisten Migrierenden, also Nicht-<br />

Hochqualifizierte oder nicht benötigte Hochqualifizierte,<br />

wirkt die Migrationspolitik der EU jedoch<br />

immer restriktiver.<br />

Rückübernahmeabkommen mit den Herkunftsländern,<br />

welche die Rücknahme von in der EU aufgegriffenen<br />

Staatsbürgern garantieren, werden so zu<br />

einer entwicklungspolitischen Notwendigkeit, helfen<br />

sie doch aus Sicht der EU der Fachkräfteabwanderung<br />

entgegenzuwirken und die Glaubwürdigkeit der<br />

unionseuropäischen Bemühungen zur legalen Migration<br />

zu erhöhen. Und wirklich abstrus wird es, wenn<br />

die Grenzschutzagentur Frontex als Verbündete der<br />

Peripherie im Kampf gegen den brain drain<br />

erscheint.<br />

Die <strong>Grenze</strong> zur EU ist also durchaus nicht undurchlässig.<br />

Die entwicklungspolitisch begründeten Maßnahmen<br />

der EU fördern jedoch einzig die Mobilität<br />

einer Elite und schließen den größten Teil der Migrierenden<br />

aus oder versuchen dies zumindest. Ziel dabei<br />

ist die effektive Steuerung der Migration, welche der<br />

EU in der globalen Konkurrenz um die klügsten<br />

Köpfe eine vorteilhafte Position verschaffen soll, und<br />

nicht eine selbstbestimmte Entwicklung des Südens.


Hopp oder Topp?<br />

Mit dem Web 2.0 stehen viele Grenzziehungen der sogenannten Moderne endgültig zur Disposition,<br />

etwa zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre, zwischen Nutzenden und Produzierenden, zwischen<br />

Erwerbsarbeit und anderen Lebensbereichen. Menschen, die viel mit dem Internet arbeiten, setzen sich<br />

zum Teil aktiv mit diesen Prozessen der Entgrenzung auseinander und kommen zu unterschiedlichen<br />

Lösungen. Von Jana Ballenthien und Tanja Carstensen


32<br />

grenze<br />

Im Zuge der Globalisierung und Internationalisierung<br />

von Wirtschafts- und Finanzmärkten sowie<br />

einer Vermarktlichung unternehmensinterner<br />

Beziehungen wird seit den 1990er Jahren in der<br />

Soziologie intensiv das Phänomen der Entgrenzung<br />

diskutiert. In der Erwerbsarbeit lösen sich traditionelle<br />

<strong>Grenze</strong>n und Regelungen auf, es entstehen immer<br />

mehr ungeregelte Arbeitsverhältnisse jenseits von<br />

Tarifverträgen, befristet, als Mini-Jobs oder Ich-AGs.<br />

Vormals klare Arbeitszeiten verschwimmen zunehmend<br />

mit Zeiten außerhalb von Erwerbsarbeit,<br />

bedingt durch gestiegene Anforderungen und Arbeitsverdichtung<br />

auf Unternehmensseite, aber auch eigene<br />

Ansprüche an Selbstverwirklichung im Job. Die räumlichen<br />

Strukturen von Betrieben und Büros lösen sich<br />

auf und werden von Homeoffice, international<br />

kooperierenden Teams und Co-Working-Spaces abgelöst.<br />

Klassische Ausbildungen wie Schulbildung oder<br />

Studium verlieren an Bedeutung. Wichtiger werden<br />

Schlüsselqualifikationen wie Kommunikations- und<br />

Medienkompetenz. Auch nationalstaatliche <strong>Grenze</strong>n<br />

verlieren teilweise an Bedeutung. Entgrenzung wird<br />

für den Bereich der Erwerbsarbeit als ambivalenter<br />

Prozess diskutiert, der mehr Anforderungen an Selbstorganisation<br />

und Strukturierungsleistungen des Subjekts<br />

stellt und dabei Chancen größerer Autonomie<br />

innerhalb der Arbeitsverhältnisse bietet, aber auch<br />

Gefahren erhöhter Belastung und die Tendenz zur<br />

Selbstausbeutung birgt.<br />

Nicht zuletzt die technologischen Veränderungen der<br />

letzten Jahre haben diese zeitliche, räumliche, rechtliche<br />

und organisatorische Entgrenzung mit bedingt.<br />

Die digitalen Medien wie Smartphones, Tabletts, Social<br />

Networks wie Facebook oder Xing, Kurzmessages-<br />

Dienste wie Twitter und viele andere „Mitmachmöglichkeiten“<br />

des Web 2.0 (Youtube, Flickr, Foursquare…)<br />

begünstigen Entgrenzungen – welche ihre Nutzerinnen<br />

und Nutzer zudem mit Handlungsaufforde-<br />

rungen zu aktiver Partizipation konfrontieren.<br />

In unserer von der Volkswagen-Stiftung finanzierten<br />

Untersuchung „Subjektkonstruktionen und digitale<br />

Kultur“ führten wir 30 Interviews mit Menschen zwischen<br />

22 und 30 Jahren, die in den Berufsfeldern<br />

Onlinejournalismus, Webdesign, Programmierung,<br />

Online Development, Social Media Beratung und<br />

andere arbeiten. In der Befragung wird deutlich, dass<br />

die Auseinandersetzung mit <strong>Grenze</strong>n bzw. Entgrenzung<br />

eine wichtige Herausforderung im Alltag darstellt.<br />

Vier Themenkomplexe stehen dabei im Mittelpunkt:<br />

Die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Freizeit,<br />

die Veränderungen im Verhältnis Privatsphäre<br />

und Öffentlichkeit, der permanente technische Wandel<br />

und die Herausforderungen des Lernens zwischen<br />

„alten“ Lerninstitutionen und einem autonomeren und<br />

autodidaktischeren Lernen.<br />

Erwerbsarbeit und Freizeit<br />

Viele unserer Interviewten beschreiben, dass Erwerbsarbeit<br />

und andere Lebensbereiche nicht mehr klar<br />

voneinander zu trennen sind. Es ist den Menschen<br />

selbst überlassen, die Fähigkeit zu entwickeln, eine<br />

<strong>Grenze</strong> zwischen beiden Bereichen zu ziehen, die sie<br />

als Subjekt nicht gefährdet. Der Bereich des Webwork<br />

scheint dabei besonders entgrenzt und oftmals auch<br />

prekär. Unabhängig ob in Festanstellung oder in Selbständigkeit<br />

– Menschen, die sich in klaren Strukturen,<br />

ohne Überstunden und mit finanzieller Sicherheit<br />

befinden, sind rare Exemplare in der internetbasierten<br />

Arbeitswelt. Gleichzeitig zeigt unser Sample: Strukturelle<br />

Entgrenzung an sich gibt noch keinen Aufschluss<br />

darüber, ob sie von den Menschen negativ<br />

wahrgenommen wird. Die Menschen, mit denen wir<br />

Interviews führten, haben hohe Ansprüche an Selbstverwirklichung<br />

im Beruf. Vielen ist sie so wichtig,<br />

dass sie dafür zum Teil den Habitus einer selbstverständlichen<br />

Aufopferung an den Tag legen. Hier spaltet<br />

sich unser Sample in diejenigen, die innerhalb dieser<br />

Aufopferung selbstbewusst <strong>Grenze</strong>n ziehen können<br />

– <strong>Grenze</strong>n in der Organisation ihrer Social Networks<br />

in z.B. Freundinnen/Freunden und Kolleginnen/Kollegen,<br />

<strong>Grenze</strong>n bezüglich ihrer Arbeitszeit<br />

und <strong>Grenze</strong>n, wann sie für wen erreichbar sind –<br />

und denjenigen, die sich davon schlucken lassen. Die<br />

Belastung kann kaum höher sein in einem internationalen<br />

Startup-Unternehmen, in dem verschiedene<br />

Zeitzonen zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten<br />

bedient werden müssen, und auch bei der zeitlich<br />

selbständig und unabhängig organisierten Social<br />

Media Beratung sind Höhepunkte der Entgrenzung<br />

erreicht. Glücklich sind diejenigen, die die Erwerbsar-


eit als verlängerten Bereich ihres Hobbys begreifen:<br />

„Enjoy what you do and you’ll never work one day<br />

in your life” – dieser Satz kann natürlich nur auf die<br />

Menschen zutreffen, die für ihre Arbeit auch entlohnt<br />

werden.<br />

Der Bereich des Webwork bietet viele Chancen, aber<br />

bleibt für manche auch ein prekärer Seiltanz zwi-<br />

schen Selbstverwirklichung und<br />

finanzieller Notlage. Respekt<br />

wird von der Netzgemeinde<br />

oder von den Institutionen<br />

gewährt, die von der (auch<br />

ehrenamtlichen) Arbeit profitieren.<br />

Wenn die Chance ausbleibt,<br />

diesen Respekt zu monetarisieren,<br />

geben die Menschen früher<br />

oder später auf. Wie viel möchte<br />

ich investieren, an Zeit und<br />

Kreativität und wie viel brauche ich, um mich zu<br />

erholen und ein „Privatleben“ zu führen? Fast alle<br />

Bereiche der Webwork sind von einer ständigen<br />

Eigenmobilisierung und Ausdauer, von kontinuierlicher<br />

Kreativität, Qualität und Selbstvermarktung<br />

abhängig und von einer Spur Glück oder Zufall, dass<br />

Menschen gewillt sind, diese Arbeit finanziell zu würdigen.<br />

Das wissen auch die, die aktuell überdurchschnittlich<br />

gut finanziert sind. So formuliert ein<br />

„Großverdiener“ unseres Samples, dass er zwar sein<br />

momentanes Leben sehr genieße, seinen Job aber<br />

nicht als zukunftsträchtig einschätze, und er sich nach<br />

einer soliden Festanstellung in einem etablierten<br />

Unternehmen sehne, statt seine lukrative, aus der<br />

Freizeit entstandene webbasierte Selbständigkeit<br />

ernsthaft weiterzuverfolgen. Das traditionelle Normalarbeitsverhältnis<br />

taucht hier und da am Horizont der<br />

Wünsche unserer Befragten auf, wenn wir sie nach<br />

ihrer Zukunft fragen. Auch wenn es nur ein kleiner<br />

Job neben der Selbständigkeit wäre, so brächte er<br />

doch ein gesichertes monatliches Festeinkommen ein,<br />

und mensch könnte die Verantwortung der Selbstorganisation<br />

und -vermarktung wieder auf die Arbeitgeber<br />

verlagern. Die Vor- und Nachteile von Autonomie<br />

und Hierarchie werden hier neu gemischt.<br />

Öffentlichkeit und Privatsphäre<br />

Zur Selbstorganisation und -vermarktung gehört auch<br />

eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Privatsphäre<br />

und Öffentlichkeit. Das Sich-Äußern in<br />

Weblogs, Wikis, E-Learning-Tools, Themenforen, vor<br />

allem aber über Social Networks ist Ausdruck einer<br />

neuartigen Bekenntniskultur sowie einer neuen<br />

Selbstverständlichkeit, über sich selbst Auskunft zu<br />

Es existiert ein Selbstvermarktungs-<br />

und Selbstpräsentationsdruck,<br />

der besagt, wer nicht online<br />

präsent ist, würde beruflich und<br />

sozial abgehängt, wer nicht mitredet,<br />

hätte nichts zu sagen.<br />

geben und sich selbst als Objekt der Betrachtung in<br />

Szene zu setzen. Die Funktionen sind vielfältig. Es<br />

werden große Netzwerke gebildet, die berufliche<br />

Kontakte und private Freundschaften umfassen. Diese<br />

nutzen der Karriereplanung, spenden Trost in schweren<br />

Zeiten oder dienen einfach der routinierten<br />

Nebenbei-Kommunikation und dem Sich-gegenseitigauf-dem-Laufenden-Halten.<br />

Interessant sind aber hier-<br />

bei nicht die Funktionen an sich,<br />

sondern die Aushandlungsprozesse,<br />

wie weit die berufliche<br />

und/oder private Selbstpräsentation<br />

im Internet gehen kann,<br />

und unter welchem Ausschluss<br />

oder Miteinbezug der Öffentlichkeit<br />

sie stattfindet. Für diese<br />

Auseinandersetzung spielen wie<br />

bei keinem anderen Thema die<br />

öffentlichen Diskurse für die<br />

persönliche Positionierung eine entscheidende Rolle.<br />

Printmedien und Politik übernehmen gern den pessimistischen<br />

Teil und problematisieren, dass Personalchefs<br />

ihre Bewerberinnen und Bewerber googeln<br />

oder bei Facebook ausspionieren. Vertreterinnen und<br />

Vertreter wie Karsten Gerloff von netzpolitik.org thematisieren<br />

innerhalb der Datenschutzdiskurse die<br />

Gefahr der Reduktion der Subjekte auf das marktwirtschaftliche<br />

Produkt oder das Kapital großer Internetkonzerne<br />

und der Jugendschutz streut Bedenken<br />

über jugendliche Freizügigkeit im Netz. Diesen wirkungsmächtigen<br />

pessimistischen Diskursen steht ein<br />

Selbstvermarktungs- und Selbstpräsentationsdruck<br />

gegenüber, der besagt, wer nicht online präsent ist,<br />

würde beruflich und sozial abgehängt, wer nicht mitredet,<br />

hätte nichts zu sagen.<br />

Wie zwischen diesen widersprüchlichen Diskursen zu<br />

agieren ist, liegt nicht gerade auf der Hand. In unserer<br />

Studie äußern fast alle: ja, der gegenwärtige oder<br />

zukünftige Chef könnte mitlesen. Der Umgang mit<br />

diesem Bewusstsein ist aber sehr unterschiedlich. Die<br />

einen schränken ihr Informationsmanagement weit<br />

ein, die anderen stehen selbstbewusst zu ihrem Privatleben<br />

und vertreten die Meinung, dass es einfach<br />

nicht der richtige Chef für sie sei, wenn dieser sich<br />

über ihr Partyleben mokieren würde. Ganz diesem<br />

Umgang entsprechend sind die einen in allen Social<br />

Networks vertreten und die anderen eher schüchtern.<br />

Die Schüchternen stehen oft hinter ihren eigenen<br />

Ansprüchen zurück, möchten kommunizieren, aber<br />

gleichzeitig nicht für immer auf das festgenagelt werden,<br />

was sie einst in einem Webblog posteten. Die<br />

Mutigen und Selbstbewussten entwickeln differenziertere<br />

und sehr genau überlegte Strategien. Beispiels-<br />

grenze


34<br />

grenze<br />

weise werden die Einstellungen der Social Networks<br />

zum Sortieren des Netzwerks in Freundschaften,<br />

Bekannte, Kollegium genutzt. Damit kann sehr viel<br />

spezifischer bestimmt werden, wem welche Informationen<br />

zuteil werden. Mit Hilfe solcher Optionen ist<br />

dann auch das Problem gelöst, wie mensch der Kollegin<br />

erklärt, dass sie sie zwar bei Xing adde, nicht<br />

jedoch bei Facebook. Eine passivere Variante, eine<br />

<strong>Grenze</strong> zu ziehen ist es, wenn das jeweils andere<br />

Elternteil über das Veröffentlichen von Kinderfotos<br />

mitbestimmt, oder die Entscheidung getroffen wird,<br />

nur in dem Social Network die Partyfotos zu posten,<br />

in dem Eltern oder Chef nicht mitlesen. Die Menschen<br />

unseres Samples, die sich eine gewisse gesellschaftliche<br />

Prominenz erarbeitet haben, posten gerne<br />

pseudo-private Informationen zur Selbstvermarktung<br />

(aufregende Freizeiterlebnisse) und richten für die<br />

intimen Informationen Fake- oder Zweitaccounts ein,<br />

die tatsächlich nur von den engsten Freundinnen und<br />

Freunden mitgelesen werden können. Dabei ist nicht<br />

zu negieren, dass eine gut inszenierte Selbstvermarktung<br />

auch völlig Unprominenten zeitweilig oder raketenhaft<br />

zu einer Szeneprominenz verhelfen kann. Und<br />

schließlich gibt es die Vertreterinnen und Vertreter<br />

von Postprivacy-Positionen, die ihr Privatleben völlig<br />

öffentlich darlegen und die emanzipatorischen Chancen<br />

im „Ende der Privatsphäre“ zu erkennen glauben.<br />

<strong>Grenze</strong>nloser technischer Wandel?<br />

Zusätzlich verschärft werden die Anforderungen an<br />

die Subjekte durch die steigende Zahl an Social Net-<br />

works, vielfältige Organisations-,<br />

Präsentations- und Rezeptionstools<br />

und Unmengen an Apps<br />

und Spielereien. Der Ansprache<br />

an die Subjekte, diese zu nutzen,<br />

wird auch hier unterschiedlich<br />

entsprochen: Speziell in unserem<br />

Sample finden sich Subjekte, die<br />

die rasante Entwicklung genießen,<br />

sich in jedem Netzwerk anmelden und immer<br />

die neuesten Geräte nutzen. Sie sind immer noch fasziniert<br />

von jeder neuen technischen Möglichkeit, setzten<br />

sich spielerisch mit allen Feinheiten und Untermenüs<br />

auseinander und bewegen sich in Communities,<br />

die ihnen einen Austausch, manchmal auch einen<br />

spielerischen „Battle“ über ihre technisch gestützte<br />

Selbstperformance ermöglichen. Ein paar von ihnen<br />

sind so technikaffin, dass sie sehnsüchtig auf Möglichkeiten<br />

warten, die in ihren Köpfen schon lange<br />

existieren, bevor sie auf den Markt kommen, und die<br />

den technischen Wandel mit politischen Anliegen<br />

selbst mitgestalten. Doch es gibt auch die, die ange-<br />

Der rasante informationstechnische<br />

Wandel passt nicht zu<br />

unflexiblen Lehrplänen und<br />

starren Wahlpflichtmöglichkeiten.<br />

strengt und überfordert sind vom informationstechnischen<br />

Wandel. Sie fragen, warum sie sich denn nun<br />

auch noch bei Twitter anmelden müssen, wo es doch<br />

schon Facebook und Myspace gibt oder ob sie denn<br />

nun wirklich ein Smartphone brauchen. Die meisten<br />

tun es dann doch. Denn die wenigsten können sich<br />

diesen sich aufdrängenden Entwicklungen widersetzen.<br />

Gerade in ihrem Feld der Internetarbeit sind sie<br />

darauf angewiesen, mit ihren netzaffinen Kundinnen/Kunden,<br />

Kolleginnen/Kollegen und weiteren<br />

Netzwerken online zu interagieren und dabei die<br />

neuesten Entwicklungen mitzumachen. Zudem brauchen<br />

sie ihre Technik- und Medienkompetenz zur<br />

Imagepflege und Distinktion, es gehört zur permanenten<br />

Anforderung an ihre Qualifikation. Auch das<br />

schlechte Gewissen spielt eine Rolle. Über den x-ten<br />

Kanal nicht erreichbar zu sein ist ein „No-Go“ im<br />

Wettbewerb. So erwachsen hier neben Chancen auch<br />

große Problematiken.<br />

Lernen in Institutionen oder autodidaktisch<br />

Den Habitus, im technischen Wandel mitzuhalten,<br />

neugierig und fasziniert oder dem technischen Wandel<br />

sogar schon voraus zu sein, bringen viele der<br />

Interviewten schon aus ihrer Bildungssozialisation<br />

mit. Alle bis auf einen haben Abitur, und fast alle<br />

haben zumindest schon mal an der Universität<br />

geschnuppert. Gleichzeitig ist unser Sample voll von<br />

Schul- und Studiumsabbrüchen. An den herkömmlichen<br />

Bildungsinstitutionen zu scheitern bringt für<br />

unsere Interviewten allerdings kaum Probleme mit<br />

sich. Innerhalb der Berufsfelder<br />

sind schließlich Fähigkeiten und<br />

Praktiken nötig, die herkömmliche<br />

Bildungsinstitutionen kaum<br />

bieten. Wie auch? Der rasante<br />

informationstechnische Wandel<br />

gepaart mit seinen vielen Marktlücken<br />

und neuen Berufsfeldern<br />

passt nicht zu unflexiblen Lehrplänen<br />

und starren Wahlpflichtmöglichkeiten. Die Art<br />

und Weise der Wissensvermittlung hat sich bei unseren<br />

Befragten deutlich verschoben: Die Aneignung<br />

von Wissen erfolgt unhierarchisch, auf verschiedenen<br />

Kanälen zeitlich flexibler, in fluiden Personenkonstellationen<br />

und insgesamt sehr autodidaktisch (online in<br />

Foren, beim Chatten und in Wikis, durch Bücher,<br />

„learning by doing“ etc.). Im Durchschnitt verwehren<br />

sich die Menschen unseres Samples biographisch viel<br />

früher als andere gesellschaftliche Gruppen den Themen,<br />

die ihnen nicht liegen und suchen sich andere<br />

Wege für ihre Interessen. Ihre Art zu lernen, könnte<br />

als Mahnung für die herkömmlichen Bildungsinstitu


tionen dienen, über weitreichende Reformen nachzudenken.<br />

Andere <strong>Grenze</strong>n?<br />

Interessanterweise werden an verschiedenen Stellen<br />

in unseren Interviews auch nationalstaatliche <strong>Grenze</strong>n<br />

debattiert. In unserem fast ausschließlich weißen, gut<br />

ausgebildeten Sample, das sich zu großen Teilen aus<br />

einer oberen Mittelschicht zusammensetzt, ist die<br />

Qualifikation eines Auslandsaufenthaltes für den<br />

Lebenslauf ein biographischer Meilenstein. Meist war<br />

ein Austauschjahr der Anlass, die Beschäftigung mit<br />

dem Internet zu intensivieren. Nur vereinzelt hingegen<br />

berichten unsere Interviewten von grenzüberschreitenden<br />

Solidaritätsaktionen etwa für Freunde<br />

aus der Netzgemeinschaft, die in Bürgerkriegsländern<br />

lebten, bei denen Hilfe über das Netz organisiert<br />

wurde. Doch deutet sich hier zumindest an, dass das<br />

Internet mit seiner <strong>Grenze</strong>nlosigkeit auch dazu dienen<br />

kann, widerständige Praktiken gegenüber nationalstaatlichen<br />

<strong>Grenze</strong>n zu entwickeln.<br />

Und nun?<br />

Es ist deutlich sichtbar, dass gegenwärtig eine Reihe<br />

von <strong>Grenze</strong>n neu verhandelt werden. Innerhalb der<br />

beschriebenen Prozesse der Entgrenzung fehlen (bisher)<br />

neue gesellschaftliche Routinen oder gültige Vorgaben.<br />

Unsere Befragten füllen diese Lücke mit den<br />

unterschiedlichsten Umgangsweisen. Sie handeln zwischen<br />

Selbstvermarktungsdruck, Zeitgeist, inmitten<br />

widersprüchlicher Diskurse, sie sind damit überfordert,<br />

sie sind davon genervt, oder sie schöpfen daraus<br />

Kraft und genießen es. Die Entgrenzung fordert<br />

von den Subjekten eigenverantwortliche Lösungen<br />

und Umgangsweisen. Sie nehmen diese Herausforderung<br />

kreativ an, setzen sich aktiv auseinander und<br />

ziehen für sich neue <strong>Grenze</strong>n. Dies eröffnet einen<br />

Raum für diverse neue Grenzziehungspraktiken,<br />

Handlungsstrategien und Überlegungen. Es ist gleichzeitig<br />

aber auch eine weitere, möglicherweise belastende<br />

Anforderung und Verantwortung, die die Menschen,<br />

auf sich selbst gestellt, erledigen müssen.<<br />

grenze<br />

Jana Ballenthien ist<br />

wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin an der<br />

TU Hamburg-Harburg<br />

und arbeitet im<br />

Projekt „Subjektkonstruktionen<br />

und<br />

digitale Kultur“.<br />

Tanja Carstensen<br />

arbeitet an der TU<br />

Hamburg-Harburg<br />

und leitet dort das<br />

Hamburger Teilprojekt<br />

„Webbasierte<br />

Erwerbsarbeit“ im<br />

Verbundprojekt<br />

„Subjektkonstruktionen<br />

und digitale<br />

Kultur“.


Jede Zelle<br />

meines Körpers<br />

ist glücklich<br />

Jede Zelle<br />

an jeder Stelle<br />

Jede Zelle<br />

ist voll gut<br />

drauf


Mauerpark Germany<br />

Einige Bundesländer haben die Residenzpflicht für Flüchtlinge gelockert. Das Reiseverbot, das seinen<br />

Vorläufer in der „Ausländerpolizeiverordnung“ der Nationalsozialisten hat, verweigert Flüchtlingen elementare<br />

Rechte. Die Abschaffung der entsprechenden Bundesgesetze steht immer noch aus.<br />

Von Anke Schwarzer<br />

deutschen Gesetze haben ,minderwertige’<br />

Menschen entstehen lassen“,<br />

„Die<br />

sagt Christopher Nsoh von der Flüchtlingsinitiative<br />

Brandenburg. Und Yufanyi Mbolo von<br />

der Flüchtlingsorganisation The Voice meint: „Die<br />

Gesetze machen uns Flüchtlinge schwach und so<br />

sehen uns auch die Deutschen. Diese Gesetze sind<br />

der Nährboden für die rechte Gewalt.“<br />

„Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen<br />

Bundesgebiet“, heißt es in Artikel 11 des Grundgesetzes.<br />

Gemeint sind die Rechte auf die freie Wahl des<br />

Wohnortes und die freie Bewegung innerhalb<br />

Deutschlands. Dieser Artikel kommt in Zeiten offener<br />

<strong>Grenze</strong>n innerhalb der Europäischen Union und<br />

angesichts von Millionen von Eingewanderten altbakken<br />

daher. Wer dachte, dass es sich bei der Bewegungsfreiheit<br />

um ein garantiertes Menschenrecht handelt,<br />

wird – zumindest in Deutschland – eines anderen<br />

belehrt: Mit Freundinnen in der Großstadt flanieren,<br />

an einem Schulausflug nach Berlin teilnehmen,<br />

den Vater der Kinder im benachbarten Bundesland<br />

besuchen – all das sind „nur“ Bürgerrechte und lediglich<br />

Menschen mit deutschem Pass und bestimmten<br />

Ausländergruppen vorbehalten.<br />

Genehmigungspflichtiger Sex<br />

Insbesondere für Asylsuchende und Menschen mit<br />

einer Duldung gilt auch heute noch: Ein freies Reisen<br />

innerhalb Deutschlands ist verboten. 1 Wenn Asylsuchende<br />

den Bezirk der für sie zuständigen Ausländerbehörde<br />

verlassen möchten, und sei es auch nur für<br />

wenige Stunden, haben sie ein Problem. Wie Kinder<br />

müssen sie um Erlaubnis fragen. Ein Sachbearbeiter<br />

der Ausländerbehörde entscheidet darüber, ob und<br />

für welchen Zeitraum ein „Urlaubsschein“ ausgestellt<br />

wird. „Bei Ihrem Vortrag Ihre Frau zu treffen um mit<br />

ihr Sex zu haben, [dabei] handelt es sich nicht um<br />

einen Grund, der den (...) Voraussetzungen entspricht“,<br />

urteilte der niedersächsische Landkreis Northeim<br />

im Falle des Metallarbeiters Ghassan El-Zuhairys.<br />

Der geduldete Flüchtling sei, so schrieb die Süd-<br />

deutsche Zeitung, im Oktober letzten Jahres trotzdem<br />

nach Dessau gefahren, wo seine Frau aufgrund der<br />

Verteilungsquote lebe. Zwar habe sie ein Bleiberecht,<br />

dennoch könne sie wegen laufender „Integrationsmaßnahmen“<br />

den Ort in Sachsen-Anhalt nicht ohne<br />

weiteres wechseln.<br />

Gebietserweiterungsbescheinigung, Urlaubschein,<br />

Verlassenserlaubnis<br />

Solche Anträge müssen rechtzeitig gestellt und vor<br />

allem gut begründet werden. Sehnsucht allein hätte<br />

jedenfalls in Northeim nicht ausgereicht. Aber auch<br />

die Teilnahme an Gottesdiensten, Demonstrationen,<br />

Familienfeiern, Kongressen und Sportwettkämpfen<br />

wurde in den ungezählten Ablehnungsbescheiden<br />

versagt. Warum fahren Sie so oft zum Anwalt? Wen<br />

wollen Sie besuchen? Wie lautet die Adresse der Person?<br />

Um was für eine Demonstration handelt es sich?<br />

Wie haben Sie die Bekannte kennengelernt? Fragen<br />

über Fragen, die bis in den Intimbereich der Flüchtlinge<br />

gehen. Fragen, die demütigen und entrechten.<br />

In Beate Selders’ 2009 unter dem Titel Keine Bewegung!<br />

erschienener Studie zur Residenzpflicht erläutert<br />

der Leiter der Ausländerbehörde im baden-württembergischen<br />

Pforzheim die Vorgehensweise: „Wenn<br />

wir nicht den Eindruck haben, jemand reist in der<br />

Weltgeschichte herum, um zum Beispiel Drogen zu<br />

verkaufen, sind wir großzügiger. Wir lassen das dann<br />

schon mal zu, dass jemand den Landkreis verlässt,<br />

um Verwandtschaft oder einen Freund zu besuchen.<br />

Das Gesetz verlangt einen ganz besonderen Grund,<br />

aber den hat man ja normalerweise nicht. Nur jemanden<br />

besuchen zu wollen, das wäre kein besonderer<br />

Grund. Das Gesetz ist ja ganz streng.“<br />

Ausgeliefert sein, sich ohnmächtig, willkürlich behandelt<br />

und schikaniert fühlen – viele Flüchtlinge ersparen<br />

sich das bittere Prozedere, reisen ohne Erlaubnis<br />

und riskieren damit Strafen mit weitreichenden Folgen.<br />

Da sie im Wiederholungsfall als vorbestraft gelten,<br />

haben sie später Probleme etwa bei der Arbeits-<br />

grenze<br />

1 Für Asylsuchende:<br />

§§ 56 bis 58, 85 und<br />

86 Asylverfahrensgesetz.<br />

Es untersagt<br />

ihnen, ohne Erlaubnis<br />

das Gebiet der<br />

für sie zuständigen<br />

Ausländerbehörde<br />

zu verlassen. Für<br />

Menschen mit Duldung:<br />

§§ 12 und 61<br />

Aufenthaltsgesetz.<br />

Der Bewegungsbereich<br />

ist darin auf<br />

das Bundesland<br />

begrenzt, in dem die<br />

Geduldeten gemeldet<br />

sind. Allerdings<br />

beschneiden einige<br />

Bundesländer wie<br />

Sachsen und einzelneAusländerbehörden<br />

den Bewegungsraum<br />

noch enger.


38<br />

grenze<br />

2 „Ilm-Kreis erhebt<br />

für eine Verlassenserlaubnis<br />

für private<br />

Besuche eine<br />

Gebühr in Höhe von<br />

zehn Euro, Landkreis<br />

Weimarer<br />

Land erhebt eine<br />

Gebühr von 2 Euro<br />

und 50 Cent, wenn<br />

es einer Sachprüfung<br />

im Zuge einer<br />

Ermessensentscheidung<br />

bedarf. Landkreis<br />

Sonneberg<br />

erhebt bei erwerbstätigen<br />

Personen für<br />

eine Verlassenserlaubnis<br />

eine Gebühr<br />

in Höhe von zehn<br />

Euro. Bei Antragstellern,<br />

die Sozialleistungen<br />

empfangen,<br />

wird von der Gebührenerhebungabgesehen.<br />

Bei nur geringfügig<br />

beschäftigten<br />

Personen, die ergänzendeSozialleistungen<br />

erhalten, wird<br />

eine ermäßigte<br />

Gebühr von fünf<br />

Euro erhoben“, teilte<br />

das Innenministerium<br />

Thüringen im<br />

Oktober mit. Ob es<br />

für derartige Gebühren<br />

überhaupt eine<br />

Rechtsgrundlage<br />

gibt, ist umstritten.<br />

3 Insbesondere bei<br />

Asylsuchenden überprüft<br />

die Polizei die<br />

Herkunft des Geldes,<br />

das den kargen<br />

Betrag, den Flüchtlinge<br />

im Monat<br />

erhalten, übersteigt<br />

und beschlagnahmt<br />

es bei unklarer Herkunft.<br />

suche oder der Bleiberechtsregelung. In manchen Fällen<br />

müssten Flüchtlinge kuriose und teure Wege<br />

gehen, um eine „Verlassenserlaubnis“ überhaupt nur<br />

zu beantragen. Selders schildert<br />

in ihrer Studie ein Beispiel aus<br />

Hessen, in dem ein Flüchtling<br />

Probleme mit der Residenzpflicht<br />

bekam, weil er orthopädische<br />

Schuhe benötigte: „Das<br />

nächste Sanitätshaus war eine<br />

Bahnstation entfernt, was ihn<br />

freute, schließlich musste er ja<br />

mehrmals zur Anprobe. Untergebracht war er in Neustadt,<br />

das liegt im Regierungsbezirk Gießen. Das<br />

Sanitätshaus war im Nachbarlandkreis und im Regierungsbezirk<br />

Kassel. Um die eine Station zum orthopädischen<br />

Schuhmacher zu fahren, ohne sich strafbar zu<br />

machen, hätte der Mensch mit den kranken Füßen<br />

zunächst auf eigene Kosten 70 Kilometer nach Marburg<br />

zur Ausländerbehörde fahren müssen, um eine<br />

Verlassenserlaubnis zu beantragen.“ Nicht nur die<br />

Fahrt zur Behörde ist mit Kosten verbunden. In manchen<br />

Bundesländern, etwa Bayern und Baden-Württemberg,<br />

müssen Flüchtlinge für die Erlaubnis bezahlen.<br />

Besonders ausgereifte Gebührenlisten hat das<br />

Bundesland Thüringen erstellt. 2 Immerhin: „Die Versagung<br />

von Verlassenserlaubnissen ergeht gebührenfrei“,<br />

teilte das Innenministerium in Erfurt im Oktober<br />

auf Nachfrage mit.<br />

Racial Profiling und emsige Behördenangestellte<br />

Teurer wird es, wenn die Polizei Flüchtlinge ohne<br />

Genehmigung außerhalb der erlaubten <strong>Grenze</strong>n kontrolliert.<br />

Auf Raststätten und Demonstrationen, in<br />

Bahnhöfen und Zügen picken die Polizeikräfte –<br />

auch sie dies stets dementieren – People of Colour,<br />

„ausländisch aussehende“ Menschen heraus, um zu<br />

kontrollieren: Pass, Aufenthaltspapiere, Taschen,<br />

Geld 3 , Kofferraum. Wenn das Glück mit auf dem Weg<br />

war und es keine Polizeikontrolle gab, sorgt<br />

besonders emsiges Behördenpersonal für Ungemach:<br />

Ein Flüchtling aus Sachsen-Anhalt etwa wollte zu seiner<br />

eigenen Hochzeit nach Berlin fahren. Statt die<br />

Reise zu bewilligen, bohrte der Beamte nach und<br />

unterstellte, dass er seine zukünftige Frau nur durch<br />

heimliche Reisen kennengelernt haben könnte. Yufanyi<br />

Mbolo musste vor Gericht, weil sein Sachbearbeiter<br />

in einem Zeitungsartikel gelesen hatte, dass der<br />

Student aus Kamerun an einem Kongress teilgenommen<br />

hatte, deren Teilnahme er zuvor persönlich<br />

untersagt hatte.<br />

In manchen Bundesländern, etwa<br />

Bayern und Baden-Württemberg,<br />

müssen Flüchtlinge für die<br />

„Verlassenserlaubnis“ bezahlen.<br />

Das Gesetz sieht Geldbußen bis zu 2500 Euro vor, im<br />

Wiederholungsfall auch eine Freiheitsstrafe von bis zu<br />

einem Jahr. Und warum? Die Bundesregierung ant-<br />

wortete im Sommer letzen Jahres<br />

auf eine Kleine Anfrage der<br />

„Linken“: Residenzpflicht diene<br />

dazu, das Asylverfahren<br />

schnellstmöglich durchzuführen<br />

und die Antragstellenden jederzeit<br />

an einem bestimmten Ort<br />

erreichen zu können. Außerdem<br />

könnten damit „unzuträgliche<br />

Ballungen von Asylbewerbern“ vermieden werden. Es<br />

geht also um Kontrolle, Macht, Abschreckung und<br />

Generalprävention, wobei bei letzterem – der Rassismus<br />

lässt grüßen – per se ein kriminelles Vorgehen<br />

von Flüchtlingen unterstellt wird. Nach Ansicht der<br />

Ausländerbehörde des Landratsamts Wartburgkreis<br />

beeinträchtigen unerlaubte Reisen gar „die öffentliche<br />

Sicherheit und Ordnung maßgeblich“ und „verletzen<br />

die Interessen der Bundesrepublik erheblich“. So<br />

stand es im Ausweisungsbescheid, den sie 1999 dem<br />

Asylbewerber Jose Maria Jones wegen mehrmaligen,<br />

„vorsätzlichen“ Verstoßes gegen die Residenzpflicht<br />

zustellte. Die Behörde schrieb auch: „Gerade im<br />

Bereich der Verstöße gegen die räumliche Beschränkung<br />

des Bereichs der Aufenthaltsgestattung ist bei<br />

Asylbewerbern zunehmend und in umfangreichen<br />

Maße eine Anhäufung derartiger Straftaten im<br />

Bundesgebiet festzustellen, so dass hier eine Ahndung<br />

mit allen Mitteln durch die Behörde geboten ist,<br />

um andere Ausländer von einem ähnlichen Fehlverhalten<br />

abzuhalten.“<br />

Rund 140.000 Menschen stehen<br />

unter Gebietsarrest<br />

Zahlen, wie viele Flüchtlinge Anzeigen oder Strafen<br />

wegen Verstoßes gegen die Residenzpflicht erhalten,<br />

sind nur schwer zu ermitteln, da sie nicht gesondert<br />

in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) auftauchen.<br />

2008 wurden nach dieser Statistik fast 10.000<br />

Menschen, in den Jahren zuvor noch weit mehr,<br />

wegen Verstößen gegen das Aufenthalts- und das<br />

Asylverfahrensgesetz verurteilt. 2009 saßen deswegen<br />

229 Menschen im Gefängnis. Selders nimmt in ihrer<br />

Studie an, dass es sich 2007 und in den Jahren davor<br />

bei fast einem Viertel aller ausländerrechtlichen<br />

Deliktgruppen um Verstöße gegen die Residenzpflicht<br />

gehandelt hat. Da die meisten Flüchtlinge von den<br />

Kontrollen ein Lied singen können, kann man davon<br />

ausgehen, dass auch die meisten, die sich in Bewegung<br />

setzen, mit Verwarnungen, Bußgeldern oder<br />

Strafanzeigen zu tun haben, die nicht in der PKS auf


tauchen. Ende 2010 zählte das Ausländerzentralregister<br />

87.244 Geduldete, von denen die Hälfte länger<br />

als acht Jahre mit diesem prekären Status lebte und<br />

50.078 Asylsuchende mit Gestattung, die meisten von<br />

ihnen aus Afghanistan, Serbien, dem Irak und dem<br />

Iran.<br />

NS-„Ausländerpolizeiverordnung” und südafrikanische<br />

Passgesetze<br />

Die sozialliberale Koalition hatte die Residenzpflicht<br />

im Juli 1982 als Teil des Asylverfahrengesetzes eingeführt.<br />

Hintergrund war die steigende Zahl an Asylanträgen.<br />

Mit Ausnahme der Zeit des Prager Frühlings<br />

Ende der 1960er Jahre pendelte die Zahl der Anträge<br />

um die 5000. Spätestens mit dem Militärputsch in der<br />

Türkei 1980 begann die Zahl der Anträge auf über<br />

100.000 zu steigen. Das neue Gesetz bescherte den<br />

Flüchtlingen neben der Residenzpflicht die Lagerunterbringung,<br />

Essenspakete, Gutscheine statt Bargeld,<br />

die gesetzliche Regelung des Verteilungsverfahrens<br />

auf die Bundesländer sowie das Arbeitsverbot.<br />

Erinnert sei noch daran, dass die „räumliche<br />

Beschränkung des Aufenthalts“ ihren Vorläufer in der<br />

„Ausländerpolizeiverordnung“<br />

von 1938 hat. Diese galt faktisch<br />

bis 1965, als das Ausländerrecht,<br />

das heutige Aufenthaltsgesetz, in<br />

Kraft trat. Sowohl der Wortlaut<br />

als auch das Strafmaß in jener<br />

Verordnung der Nationalsozialisten<br />

waren fast identisch mit<br />

dem im Asylverfahrensgesetz<br />

von 1982. Der Europäischen Union gelang es 2004<br />

nicht, die Bewegungsfreiheit in den Mindestnormen<br />

für die Anerkennung von Flüchtlingen festzuschreiben<br />

– der Druck aus Deutschland, damals unter dem<br />

Innenminister Otto Schily (SPD), war zu groß. „Die<br />

Residenzpflicht – wie andere Sondergesetze auch –<br />

ordnet sich ein in die bundesdeutschen Etappen der<br />

gesetzlichen Entrechtung von Flüchtlingen und damit<br />

zu den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen<br />

von Rassismus und Gewalt, die bis heute, bundesverfassungsgerichtlich<br />

als grundrechtkonform abgesegnet,<br />

fortdauern“, sagt Dirk Vogelskamp vom Komitee<br />

für Grundrechte und Demokratie. Mark Terkessidis<br />

weist darauf hin, dass die meisten europäischen Länder<br />

eine solche Sondergesetzgebung nicht haben. „Sie<br />

verhindert per se Integration“, so der Migrationsforscher.<br />

Genau die ist aber auch gar nicht gewollt: Die forcierte<br />

Entrechtung und gesellschaftliche Isolation von<br />

Flüchtlingen war 1982 beabsichtigt, die abschreckende<br />

Wirkung auf Flüchtlinge wurde in vielen Begründungen<br />

angeführt. Bis zum heutigen Tag können<br />

übrigens alle Eingewanderten, die einen geringeren<br />

Status als eine unbefristete Niederlassungserlaubnis<br />

haben, laut Gesetz in ihrer Bewegungsfreiheit<br />

beschränkt werden.<br />

Vereinbar mit Menschenrechten<br />

und Grundgesetz?<br />

Die deutsche Sondergesetzgebung<br />

verhindert per se Integration.<br />

Genau die ist aber auch<br />

gar nicht gewollt.<br />

Flüchtlinge wehren sich seit über 30 Jahren gegen<br />

ihren Gebietsarrest und gegen den Eingriff in die<br />

Grundrechte unbescholtener Menschen. Manche<br />

beschränken sich auf individuelle Vorgehensweisen,<br />

indem sie schlicht nicht um Erlaubnis fragen oder –<br />

seltener – auf gerichtlichem Wege eine Genehmigung<br />

erstreiten. Andere schließen sich Flüchtlingsinitiativen<br />

an, die vor rund zwölf Jahren begannen, das Thema<br />

auf ihre Agenda zu setzen. Flüchtlingsselbstorganisationen<br />

wie The Voice, die Brandenburger Flüchtlingsinitiative<br />

(FIB) und die Karawane für die Rechte der<br />

Flüchtlinge und MigrantInnen erinnerte die Residenzpflicht<br />

an die Passgesetze Südafrikas zu Zeiten der<br />

Apartheid. Der Flüchtlingskongress in Jena im Jahr<br />

2000 war der Startschuss für<br />

eine Kampagne gegen die Residenzpflicht:<br />

Flüchtlinge sollten<br />

nicht mehr um Erlaubnis betteln<br />

und nicht auch nur einen Cent<br />

an Strafe zahlen. Die Gesetzesverletzungen<br />

und Prozesse wurden<br />

in die Öffentlichkeit getragen.<br />

Es folgten Aktionstage,<br />

Anfragen, Petitionen, Memoranden und Mobilisierungen<br />

zu Gerichtsprozessen. Massenproteste hat die<br />

Residenzpflicht zwar nie ausgelöst, aber die Aktionen<br />

wirkten wie beharrliche Nadelstiche. Gleichwohl erlitten<br />

sie mit den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts<br />

1997 und des Europäischen Gerichtshof für<br />

Menschenrechte 2007 Niederlagen. Darin entschieden<br />

auch die obersten Gerichte, dass das Reiseverbot mit<br />

dem Grundgesetz bzw. mit der Europäischen Menschenrechtskonvention<br />

vereinbar sei.<br />

Minimale Lockerungen<br />

Noch vor zehn Jahren hätte kaum eine in der Politik<br />

tätige Person gewusst, was es mit der Residenzpflicht<br />

für Flüchtlinge auf sich hat. Seit einigen Jahren ist das<br />

Thema immerhin im Bundestag und in den Landtagen<br />

angekommen. Inzwischen haben einzelne Bundesländer,<br />

darunter Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz<br />

und Schleswig-Holstein, die Residenzpflicht gelockert.<br />

grenze


40<br />

grenze<br />

Anke Schwarzer<br />

ist Journalistin und<br />

lebt in Hamburg.<br />

Dort darf sich ein Teil der<br />

Geduldeten und Asylsuchenden<br />

im ganzen Bundesland bewegen<br />

oder wie in Mecklenburg-Vorpommern<br />

und Bayern in etwas<br />

größeren Gebieten als bisher.<br />

Baden-Württemberg und Niedersachen<br />

wollen folgen. Die Lokkerung<br />

ist wohl weniger der Einsicht geschuldet, dass<br />

auch Flüchtlingen Grundrechte gewährt werden müssen.<br />

Vielmehr dürfte der Grund darin liegen, dass<br />

sich viele Flüchtlinge diese Rechte schon längst<br />

genommen haben und die Residenzpflicht in Verwaltung,<br />

Behörden, Justiz und bei der Polizei Arbeit ver-<br />

Bericht von Sekou Diallo*, Oktober 2011<br />

Die Lockerung der Residenzpflicht in einigen<br />

Bundesländern ist erfreulich. Gleichzeitig<br />

erweitern sie lediglich den Gebietsarrest. Spätestens<br />

an den unsichtbaren <strong>Grenze</strong>n eines Bundeslandes<br />

wird dies deutlich: „Es sitzen so viele Menschen<br />

hier, warum kontrollieren Sie gerade mich? Weil ich<br />

schwarz bin?“ Sekou Diallo* sitzt im Regionalexpress<br />

von Mecklenburg-Vorpommern nach Hamburg,<br />

als wenige Stationen vor dem Hauptbahnhof<br />

drei Beamte der Bundespolizei einsteigen. Eine Antwort<br />

mit Worten erhält der junge Mann aus Westafrika<br />

nicht auf seine Frage. Kontrolliert wird aber<br />

auch eine kleine Gruppe von drei Frauen – alle mit<br />

schwarzer Hautfarbe. Die Beamten bestehen weiter<br />

darauf, seine Papiere sehen zu wollen. Diallo zeigt<br />

seinen Behindertenausweis mit Name und Foto. Die<br />

drei Beamten umringen ihn noch enger. Die anderen<br />

Fahrgäste schauen aus dem Fenster. Diallo<br />

zeigt schließlich weitere Papiere; die Beamten rufen<br />

die zuständige Ausländerbehörde an. Einer der<br />

drei möchte die Duldungsbescheinigung einbehalten,<br />

schließlich habe Diallo gegen die Residenzpflicht<br />

verstoßen. Diallo wehrt sich dagegen,<br />

schließlich braucht er das Papier für weitere Kontrollen,<br />

will er nicht gleich auf der Polizeistation<br />

landen. Einer der Beamten lenkt ein. Ja, ja, er habe<br />

vor, wieder in sein Heim zurückzukehren, antwortet<br />

Diallo auf die weiteren Fragen der Beamten. Ja,<br />

ja, er werde eine Bescheinigung seiner Hamburger<br />

Anwältin besorgen, mit der er das weitere Vorgehen<br />

in seiner Bleiberechtssache besprechen will. Offen<br />

ist für Diallo jedoch, ob diese Terminbescheinigung<br />

der Anwältin eine Strafanzeige wegen Verletzung<br />

der Residenzpflicht abwenden wird.<br />

* Name geändert<br />

Die minimalen Lockerungen der<br />

Residenzpflicht erfolgten insbesondere<br />

auf Bundesebene bislang<br />

nur nach „Nützlichkeitskriterien“.<br />

ursacht, deren Zweck offenbar<br />

nicht mehr überzeugend vermittelbar<br />

ist – schon gar nicht in<br />

Zeiten von Sparmaßnahmen.<br />

Zumindest führte dies das Brandenburgische<br />

Innenministerium<br />

– neben den grundrechtlichen<br />

Aspekten – als Grund an:<br />

„Gleichzeitig entfiel bei den Ausländerbehörden auch<br />

viel bürokratischer Aufwand, der zuvor bei der Bearbeitung<br />

und Entscheidung von entsprechenden Anträgen<br />

getrieben werden musste.“<br />

Thomas Hohlfeld, Referent für Migration und Integration<br />

der Fraktion „Die Linke“ im Bundestag, sieht verschiedene<br />

Faktoren für den Wandel am Werke. Zum<br />

einen sei es das Verdienst der Proteste, zum anderen<br />

wirkten aber einige Gesetze „unverhältnismäßig“,<br />

betrachte man die sinkende Bevölkerungszahl, die<br />

geringer werdende Zahl der Asylanträge und die<br />

geänderte Haltung der Bundesregierung in Einwanderungsfragen.<br />

Hohlfeld betont jedoch, dass die Lockerungen<br />

insbesondere auf Bundesebene bislang nur<br />

nach „Nützlichkeitskriterien“ erfolgten, etwa zum<br />

Schulbesuch oder zur Ausbildung. Auch seien weiterhin<br />

viele Flüchtlinge von der Lockerung ausgeschlossen,<br />

etwa diejenigen, die sich noch in einer Aufnahmeeinrichtung<br />

aufhalten müssen oder diejenigen, die<br />

angeblich ihren „Mitwirkungspflichten“ nicht nachgekommen<br />

oder straffällig geworden seien. Für letztere<br />

Gruppe bedeutet die Residenzpflicht übrigens eine<br />

Doppelbestrafung: Geld oder Gefängnis etwa für<br />

Diebstahl oder Drogenbesitz und zusätzlich die – oft<br />

jahrelang geltende – freiheitsbeschränkende außergerichtliche<br />

Sanktion.<br />

Keine Mehrheiten in Gesellschaft und Parlament<br />

Ende 2010 war eine Bundesratsinitiative gescheitert,<br />

die von Bremen, Brandenburg, Berlin und Nordrhein-<br />

Westfalen ausging zum Ziel hatte, die Residenzpflicht<br />

im ganzen Bundesgebiet weitgehend aufzuheben.<br />

Auch die Anträge der Linkspartei und der Grünen im<br />

Frühjahr 2011 fanden im Bundestag keine Mehrheit.<br />

Damals stimmte die SPD gegen den Antrag der Linkspartei<br />

und enthielt sich beim Antrag der Grünen.<br />

Erstaunlicherweise hat sie dann – wenn auch erfolglos<br />

– im Mai den Bundestag aufgefordert, die Residenzpflicht<br />

bis auf einige Ausnahmen abzuschaffen.<br />

„Die SPD braucht manchmal etwas länger“, so Hohlfelds<br />

Einschätzung. Die Linkspartei werde in den<br />

nächsten Monaten einen weiteren Versuch starten. Sie<br />

fordert die Abschaffung der Residenzpflicht ohne<br />

Ausschlussklauseln und ohne die Zwangsverteilung


auf bestimmte Orte.<br />

Rheinland-Pfalz kündigte zudem eine neue Bundesratsinitiative<br />

an. Doch keines der politischen Lager<br />

verfügt dort derzeit über eine eigene Mehrheit. Weder<br />

Bayern noch Hamburg, Sachsen-Anhalt oder Niedersachsen<br />

planen, sich an einer neuen Gesetzesinitiative<br />

zu beteiligen. „Die Gründe, die seinerzeit den<br />

Gesetzgeber mit breiter Mehrheit dazu veranlasst<br />

haben, die räumliche Beschränkung des Aufenthaltsbereichs<br />

(…) gesetzlich festzulegen, liegen weiterhin<br />

vor. Deshalb werden Gesetzesinitiativen zur Aufhebung<br />

dieser räumlichen Beschränkungen nicht unterstützt“,<br />

heißt es etwa aus dem Niedersächsischen<br />

Innenministerium. Hessen beabsichtigt ebenfalls keine<br />

weiteren Änderungen: „Selbst wenn sich beispielsweise<br />

einmal im Einzelfall ein Bedürfnis ergeben sollte,<br />

in den Aufenthaltsbereich auch ein Gebiet eines<br />

anderen Bundeslandes einzubeziehen, sind entsprechende<br />

Einzelfallregelungen ausreichend“, so das<br />

Innenministerium in Wiesbaden. Dort wird die rheinland-pfälzische<br />

Integrationsministerin Irene Alt wohl<br />

auf Granit beißen. Sie plane Gespräche, um länderübergreifende<br />

Lösungen zu diskutieren. „Es wäre<br />

schon bei der Jobsuche im Rhein-Main-Gebiet oder<br />

im Rhein-Neckar-Raum eine riesige Hilfe, wenn die<br />

Betroffenen ohne Probleme ins Nachbarland fahren<br />

könnten“, so Alt.<br />

So bleibt es wohl in der nächsten Zeit beim Herumdoktern<br />

an einzelnen Lockerungen hier und da, an<br />

ausgefeilten Ausnahmeklauseln und ausgeklügelten<br />

Gebietserweiterungen. Wenn die Flüchtlingszahlen<br />

weiter steigen und dies populistisch ausgeschlachtet<br />

wird, wird es ein Leichtes sein, die Lockerungen<br />

zurückzunehmen. Dirk Vogelskamp vom Komitee für<br />

Grundrechte und Demokratie stellt fest: „Für eine<br />

Abschaffung der Residenzpflicht scheint es in diesem<br />

Land noch keine parlamentarischen Mehrheiten zu<br />

geben, von einer gesellschaftlichen ganz zu schweigen.“


Schwester: „Er schafft es oder nicht.<br />

Er weiß, dass er sterben kann”<br />

Bruder:<br />

„Ich werde weggehen,<br />

wegen der Situation unserer Familie hier"


Die <strong>Grenze</strong>n verbrennen<br />

Tunesien, Lampedusa, Schengen<br />

In der Folge der Ereignisse in Nordafrika im Frühjahr dieses Jahres kam es zu Aufsehen erregenden und<br />

erfolgreichen Überschreitungen der europäischen Außengrenze im Mittelmeer. Es waren die ersten Ausläufer<br />

der Revolution, die Europa erreichten. Das Aufbegehren in der Krise der Staatsfinanzen hat sich<br />

danach auch im südlichen Europa formiert. Die Forderungen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit<br />

sind über den Umweg Nordamerika mittlerweile auch in Nordeuropa angekommen. Doch auch die<br />

erste – nennen wir sie ruhig migrationäre – Bewegung hat grundlegende Politiken des Ein- und Ausschlusses<br />

in Europa in Frage gestellt und Reaktionen herausgefordert. Von Bernd Kasparek<br />

Harraga – die die <strong>Grenze</strong>n verbrennen – heißen<br />

die klandestinen Migrierenden in Nordafrika.<br />

Der Name kann auch gelesen werden<br />

als „jene, die die Straßen hinter sich verbrennen“, also<br />

ihre Verbindungen abbrechen und bewusst in Kauf<br />

nehmen, dass es kein Zurück gibt. Der Name charakterisiert<br />

treffend den Akt der Migration nach Europa,<br />

den undokumentierten Sprung<br />

über das Mittelmeer. Denn die<br />

<strong>Grenze</strong>n Europas werden nur<br />

selten mehrfach überschritten.<br />

Wer es schafft, setzt alles daran<br />

zu bleiben, wer einmal zurückkehrt<br />

aus Europa, der hat seine<br />

Chance verspielt. Die Effekte<br />

sind bekannt, oftmals werden sie<br />

von den Regierungen, die sie verursachen, zumindest<br />

billigend in Kauf genommen. Die Illegalisierung, der<br />

prekäre Aufenthalt, das Entstehen einer weitgehend<br />

ausbeutbaren Arbeiter- und Arbeiterinnenklasse in<br />

Europa, die weitgehende Absenz von sozialen und<br />

politischen Rechten, all dies, aber auch viele kleine<br />

und größere Kämpfe dagegen wurden vielfach dokumentiert.<br />

Boualem Sansal lässt in seinem Roman Harraga von<br />

Sofiane, dem Bruder der Protagonistin, erzählen:<br />

„[Sie] enthüllten mir, dass Sofiane den Weg der Harragas<br />

genommen hatte, derer, die die Straße verbrennen.<br />

Ich kannte den Ausdruck, es ist der am meisten<br />

bekannte des Landes, aber ich hörte ihn zum ersten<br />

Mal aus dem Mund eines echten Irren, da läuft es<br />

einem kalt den Rücken herunter. Sie sprachen ihn<br />

voller Stolz aus, die Straße zu verbrennen war ein<br />

Wunder, das nur sie zu vollbringen vermochten. […]<br />

Was soll man solchen Dummköpfen entgegnen […]?<br />

Die Beweggründe sind klar:<br />

Der Armut, der Perspektivlosigkeit<br />

zu entfliehen und die Familie<br />

durch Arbeit in Europa<br />

zu ernähren.<br />

Ich hätte sie ohne weiteres bei der Polizei denunziert,<br />

wäre die nicht gerade der Grund für ihre Demenz<br />

gewesen, weil sie sie immer kontrollierte, abtastete,<br />

ihnen ins Gesicht spuckte, sie manipulierte. Auf dem<br />

Weg der Harragas kehrt man nicht um, ein Sturz<br />

zieht den nächsten nach sich, härter, trauriger, bis<br />

zum finalen Sprung. Wir bekommen es zu sehen, die<br />

Satellitensender bringen die Bilder<br />

von ihren Körpern in die<br />

Heimat zurück, auf die Felsen<br />

gespült, von den Wellen hin<br />

und her geworfen, erfroren,<br />

erstickt, zerquetscht, im Fahrwerksschacht<br />

eines Flugzeugs,<br />

im Laderaum eines Schiffes<br />

oder auf der Ladefläche eines<br />

verplombten Lastwagens. Die Harragas haben für uns<br />

neue Arten des Sterbens erfunden, als ob wir nicht<br />

schon genug hätten. Und diejenigen, denen die Überfahrt<br />

gelingt, verlieren ihre Seele im schlimmsten<br />

Königreich, das es gibt, in der Heimlichkeit. Was für<br />

ein Leben ist das Leben im Untergrund?“<br />

Doch der revolutionäre Aufbruch (im wörtlichen<br />

Sinne) aus Tunesien gen Europa war selbstbewusster,<br />

fordernder. Die Revolution in Tunesien, die das Regime<br />

Ben Alis hinwegfegte und weltweite weitere Aufstände<br />

und Revolten inspirierte, wurde im Süden<br />

gemacht, den armen ländlichen Gegenden, in denen<br />

es zwar am Zugang zu Bildung nicht unbedingt mangelt,<br />

aber an Arbeitsplätzen. Gepaart mit einem korrupten,<br />

diktatorischen Regime, welches im Alltag allgegenwärtig<br />

war, erzeugte dies die explosive<br />

Mischung, die zur Revolution führte.<br />

grenze


44<br />

grenze<br />

„Wir wollen kein Asyl. Wir wollen arbeiten“<br />

Auch die tunesische Migration nach Europa nimmt<br />

vor allem im Süden ihren Ausgang. Es sind oftmals<br />

ganze Gruppen männlicher Jugendlicher, die – häufig<br />

von der Familie gedrängt – ihr Glück versuchen, nach<br />

Zarzis oder Sfax, zwei Hafenstädte im Süden Tunesiens,<br />

gehen und dort ihre Überfahrt nach Lampedusa<br />

oder Sizilien organisieren. Die Beweggründe sind<br />

klar: Der Armut, der Perspektivlosigkeit zu entfliehen<br />

und die Familie durch Arbeit in Europa zu ernähren.<br />

Sicherlich ist auch immer ein Schuss Abenteuerlust<br />

mit dabei. Denn die Gefahr, bei der Überfahrt das<br />

Leben zu verlieren, im Mittelmeer zu ertrinken, ist<br />

bekannt. Niemand macht sich Illusionen, welch<br />

gefährliches Unterfangen die Migration ist.<br />

„Er sprach kaum, aß kaum und kam nur heim, um<br />

über seinem Zorn zu brüten. Und dann, klick, der<br />

Auslöser. Eines Morgens in aller Frühe ging er fort.<br />

Über die Westroute, die gefährlichste […]. Ich erfuhr es<br />

spät am Abend, von einem seiner Kompagnons, ebenfalls<br />

ein Selbstmordkandidat, den ich in einer geheimen<br />

Beschwörungsversammlung aufstöberte, nachdem<br />

ich wie eine Verrückte das Viertel durchsucht<br />

hatte. Sie waren zu mehreren, ein ganzes Kontingent,<br />

schon berauscht vom Gejammer, sie träumten laut<br />

und überzeugten sich gegenseitig davon, dass die Welt<br />

sie mit Blumen erwarte und ihr Exodus der Laufbahn<br />

des Despoten einen tödlichen Schlag versetzen würde.<br />

Kurz, sie hatten Fieber.“<br />

Der Sturz des Regimes Ben Alis<br />

am 14. Januar 2011 zog auch<br />

eine kurzzeitige Aufhebung des<br />

europäischen Grenzregimes im<br />

Mittelmeer nach sich. Rund<br />

25.000 Tunesier nutzten die<br />

neue Freiheit, verbrannten die<br />

<strong>Grenze</strong> und setzten nach Lampedusa<br />

über. Diese Ankunft war<br />

der italienischen Regierung<br />

Anlass, über einen „Exodus biblischen Ausmaßes“ zu<br />

fabulieren, es war die Rede von einem „menschlichen<br />

Tsunami“. Auch die deutschen Medien interpretierten<br />

die Situation als den Beginn einer neuen „Flüchtlingswelle“<br />

und machten damit Assoziationen mit der<br />

Situation nach dem Ende des Ostblocks in den 1990er<br />

Jahren auf. Damals begann als Reaktion die Verschärfung<br />

der Einwanderungs- und Asylgesetzgebung<br />

(„Asylkompromiss“) und der Aufbau des europäischen<br />

Grenzregimes.<br />

In der Demokratisierung Nordafrikas<br />

liegt auch die Chance, dass<br />

sich die neuen Regierungen letztendlich<br />

doch einer Bevölkerung<br />

verpflichtet fühlen, in der Bewegungsfreiheit<br />

– auch gen Europa –<br />

ein wichtiges Anliegen ist.<br />

Doch die tunesischen Migrierenden machten von<br />

Anfang an klar, dass es ihnen nicht um Asyl ginge,<br />

sondern dass sie Arbeit und ein Auskommen in Europa<br />

suchten. Diese klare Linie, verbunden mit der<br />

neuen Position der tunesischen Übergangsregierung,<br />

die Kooperation in Sachen <strong>Grenze</strong> und Migration mit<br />

Europa ohne weiteres fortzusetzen, zwang die italienische<br />

Regierung, sechsmonatige Aufenthaltstitel zu<br />

vergeben. Diese Titel boten zwar kein Recht auf<br />

Arbeit, ermöglichten aber immerhin die Reise innerhalb<br />

der EU. Dies führte zu einer schweren Irritation<br />

des Schengen-impliziten Vertrauens. Frankreich reagierte<br />

zunächst mit einer kurzfristigen, teilweisen<br />

Schließung der <strong>Grenze</strong> zu Italien und führte danach<br />

wieder Grenzkontrollen ein, worauf die Europäische<br />

Kommission ein Vertagsverletzungsverfahren prüfte.<br />

Auch in Deutschland wurde die Wiedereinführung<br />

von Grenzkontrollen diskutiert, und Dänemark setzte<br />

diese Pläne – bis zur Abwahl der von der rechtspopulistischen<br />

Volkspartei gestützten Regierung im<br />

Herbst – auch um.<br />

Die Migration von Tunesien nach Europa hat sich<br />

auch nach der Unterzeichnung eines Rückübernahmeabkommens<br />

zwischen Italien und der tunesischen<br />

Übergangsregierung fortgesetzt. Erst im Oktober kam<br />

es im Auffanglager in Lampedusa, aber auch an anderen<br />

Orten zu Aufständen von Migrierenden, die sich<br />

ihr Recht auf Freizügigkeit erkämpfen wollten. Auch<br />

wenn sich Italien, Frankreich und die EU bemühen,<br />

die <strong>Grenze</strong> im Mittelmeer wiederherzustellen, scheint<br />

dies nicht so leicht zu bewerk-<br />

stelligen zu sein. Mit den Aufständen<br />

in Nordafrika sind der<br />

EU wichtige autokratische Partner<br />

auf der anderen Seite der<br />

<strong>Grenze</strong> abhanden gekommen.<br />

Derzeit deutet zwar einiges darauf<br />

hin, dass die EU ihre Einflussmöglichkeiten<br />

in Nordafrika<br />

voll ausspielt. So hatte etwa der<br />

libysche Übergangsrat noch vor<br />

dem Sturz Gaddafis eine Fortführung der Zusammenarbeit<br />

in Grenz- und Migrationsfragen zugesagt. Dennoch<br />

liegt in der Demokratisierung Nordafrikas auch<br />

die Chance, dass sich die neuen Regierungen letztendlich<br />

doch einer Bevölkerung verpflichtet fühlen<br />

müssen, in der Bewegungsfreiheit – auch gen Europa<br />

– ein wichtiges Anliegen ist. Erfolgreich kann dieses<br />

Projekt der Demokratisierung der <strong>Grenze</strong> jedoch nur<br />

sein, wenn sich auch auf der anderen Seite des<br />

Mittelmeers, in Europa, eine starke Bewegung für<br />

Demokratie und Gerechtigkeit herausbildet.


Das Massengrab im Mittelmeer<br />

Der libysche Bürgerkrieg hat jedoch in der Zwischenzeit<br />

zu ganz anderen Dramen geführt. Abseits von<br />

Zerstörung und Tod im Land hat es insbesondere die<br />

Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Libyen getroffen.<br />

Sie gerieten oftmals zwischen die Fronten und<br />

mussten – häufig nach jahrelangem Aufenthalt in<br />

Libyen – ihr Heil in der Flucht suchen. Im Süden von<br />

Tunesien existiert immer noch das Lager Choucha, in<br />

dem zeitweise mehrere Tausend Menschen in Zelten<br />

in der Wüste lebten, ohne Perspektive, da ihnen alle<br />

Wege versperrt sind. Aber auch jene, die die Überfahrt<br />

nach Europa wagten – oder von Gaddafis Truppen<br />

auf die Schiffe gezwungen wurden – mussten oft<br />

mit ihrem Leben bezahlen. Nach Schätzungen starben<br />

in diesem Jahr über 2.000 Menschen im Mittelmeer,<br />

und dies trotz einer lückenlosen Überwachung des<br />

Meeres vor Libyen aufgrund der internationalen Militärblockade<br />

im Rahmen des NATO-Einsatzes in<br />

Libyen.<br />

Schengenreform<br />

Weder in diesem konkreten Fall noch im Allgemeinen<br />

hat in Europa ein Umdenken über die Migration und<br />

die <strong>Grenze</strong> eingesetzt. Die innereuropäischen Auseinandersetzungen<br />

um die Wiedereinführung von Grenzkontrollen<br />

im Schengenraum haben zu einem Entwurf<br />

der Europäischen Kommission geführt, wie<br />

Schengen reformiert werden könnte. Zwar ist der Entwurf<br />

nach heftigem Widerstand aus Deutschland wieder<br />

in der Schublade verschwunden, aber es ist<br />

bekannt, dass Bürokratien ein langes Gedächtnis<br />

haben und den Entwurf im opportunen Moment wieder<br />

hervorzaubern können. So weist der Entwurf<br />

auch die Richtung, in die Schengen gehen könnte.<br />

Wenig überraschend fordert die Kommission erweiterte<br />

Rechte für sich selbst: Sie soll etwa die Aufsicht<br />

über die Umsetzung des Schengener Grenzkodex an<br />

sich ziehen und EU-Mitgliedsstaaten verklagen können,<br />

wenn diese, etwa durch Binnengrenzkontrollen,<br />

den Standard unterlaufen. Auch sollen die Möglichkeiten<br />

für eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen<br />

weiter eingeschränkt werden und der Zustimmungspflicht<br />

eines europäischen Gremiums unterliegen.<br />

Wie die Schengen-Freizügigkeit als Preis die verhärteten<br />

Außengrenzen mit sich bringt, so hat auch der<br />

Kommissionsentwurf, der bis hierhin eher positiv<br />

anmutet, seine Schattenseite. Aufmerksam Lesende<br />

bemerkten bald eine Klausel, die es erlaubt, einen<br />

Mitgliedsstaat des Schengenraums temporär aus dem<br />

Schengenraum auszuschließen, sollte dieser Staat seinen<br />

Anteil an der europäischen Außengrenze nicht<br />

unter Kontrolle haben. Diese „Griechenlandklausel“<br />

befördert die Erosion des europäischen Zusammenhalts,<br />

wie er sich im Umgang mit der Krise der Staatsfinanzen<br />

schon länger abzeichnet. Sie befördert Ausschlussgelüste,<br />

die nicht mehr auf einzelne Individuen<br />

(Migrierende, „Terroristinnen“ und „Terroristen“,<br />

„Kriminelle“) abzielen, sondern auf die gesamte<br />

Bevölkerung eines EU-Mitgliedsstaats. Auch wenn<br />

diese Klausel nicht die allgemeine Personenfreizügigkeit<br />

und die Niederlassungsrechte berührt, die sich<br />

aus den EU-Verträgen ergeben, so ist es doch ein<br />

hochsymbolischer Schritt. Er klingt wie ein Nachhall<br />

der Debatte um den Ausschluss Griechenlands aus<br />

der Euro-Zone, und es wäre ein weiterer Schritt in<br />

Richtung der Fragmentierung der Rechtelandschaft<br />

innerhalb der EU. Gegenüber der migrantischen<br />

Bevölkerung Europas schon lange praktiziert, würde<br />

das Prinzip des graduellen Ausschlusses nun auch auf<br />

jene Bevölkerung, die sogar eine EU-Staatsbürgerschaft<br />

innehat, ausgeweitet werden.<br />

Doch in der Rückschau bietet das Jahr 2011 immer<br />

noch Grund für Optimismus. Wer hätte im Dezember<br />

2010 ein solch turbulentes Jahr vorhergesehen? Die<br />

Revolutionen in Nordafrika haben uns allen ins<br />

Bewusstsein zurückgerufen, dass auch die zementiertesten<br />

sozio-politischen Systeme ins Wanken gebracht<br />

werden können. Im Aufbruch rund um das Mittelmeer,<br />

in den Bewegungen gegen Diktatur und Spardiktat,<br />

liegt eine Chance und äußert sich eine Hoffnung<br />

auf eine Vision der sozialen und politischen<br />

Teilhabe, die bisher nicht existierte.<<br />

Videostills aus dem Film „Liberté 302“ (2011, Walid Fellah,<br />

Zarzis TV). Der Film handelt von einem Schiffsunglück, als<br />

ein Boot mit tunesischen Harraga nahe Lampedusa von<br />

einem Schiff der tunesischen Küstenwache versenkt wurde.<br />

grenze<br />

Zum Weiterlesen<br />

bordermonitoring.eu<br />

(Hg.): Tunesien<br />

zwischen Revolution<br />

und Migration.<br />

Eindrücke und Fragmente<br />

einer Delegationsreise<br />

im Mai<br />

2011. Broschüre.<br />

Cuttitta, Dietrich,<br />

Kasparek, Speer, Tsianos:<br />

Die <strong>Grenze</strong><br />

demokratisieren!<br />

In: Kritische Justiz<br />

3/2011<br />

Bernd Kasparek<br />

ist aktiv in der Karawane<br />

für die Rechte<br />

der Flüchtlinge,<br />

Migrantinnen und<br />

Migranten und<br />

forscht zu Aspekten<br />

des europäischen<br />

Grenz- und Migrationsregimes.


Gedenken gesperrt:<br />

Schuhmahnmal für die Toten<br />

an der europäischen Außengrenze.


Wir schengen euch nix<br />

Fünf Tage für Bewegungsfreiheit, fünf Tage gegen <strong>Grenze</strong> und Nation, fünf Tage Aktionen, Demos, Workshops,<br />

Diskussionen und Selbstorganisation: Herzlich Willkommen auf dem NoBorder-Camp. Das letzte<br />

hat Ende August in Bulgarien, im kleinen Dorf Siva Reka nahe der <strong>Grenze</strong>n zu Türkei und Griechenland<br />

stattgefunden. Von Nikolai Schreiter<br />

Eine Kreuzung, eine Kneipe, ein paar Häuser,<br />

ein paar Höfe, ein kleines Dorf in der südbulgarischen<br />

Peripherie nahe der <strong>Grenze</strong> zur Türkei.<br />

Rundherum Landschaft, alle halbe Stunde ein<br />

Auto. Was dieses Dorf von so vielen anderen unterscheidet:<br />

Ein nagelneuer, großer, grüner Jeep, drei<br />

Bedienstete der Border Police sitzen daneben und<br />

essen gelangweilt Aprikosen von einem kleinen<br />

Baum. Noch haben sie offensichtlich wenig zu tun,<br />

die bulgarischen Grenzschützer. Noch, denn der<br />

Schengenbeitritt steht an und wirft seine Sicherheitsschatten<br />

voraus. Sobald Bulgarien teil des Schengenraumes<br />

sein wird, werden mehr<br />

Menschen als bisher undokumentiert<br />

über die bulgarische<br />

<strong>Grenze</strong> wollen. Das ist der<br />

Grund für die massive Präsenz<br />

der Sicherheitskräfte, für den<br />

Bau von Abschiebeknästen, für<br />

schärfere Grenzkontrollen, für<br />

die Entsendung von Experten<br />

und Expertinnen von Frontex, der Europäischen<br />

Agentur für operative Zusammenarbeit an den<br />

Außengrenzen. Und dies wiederum sind die Gründe,<br />

warum das NoBorder-Camp in Siva Reka stattgefunden<br />

hat, in einem anderen kleinen Dorf, zehn Kilometer<br />

von der Grenzstadt Svilengrad entfernt. 250 bis<br />

300 Aktive kamen dort vom 25. bis 29. August<br />

zusammen, um ihrem Protest gegen das europäische<br />

Grenzregime, gegen <strong>Grenze</strong>n, Nationen und Abschiebungen<br />

Ausdruck zu verleihen.<br />

Frontex kills!<br />

Erklärte Ziele des Camps waren es, die Aufmerksamkeit<br />

der örtlichen Bevölkerung, der Medien und der<br />

so genannten internationalen Gemeinschaft zu erregen,<br />

das NoBorder-Netzwerk auszuweiten, lokale<br />

Solidarität zu wecken und zu vertiefen und Einzelfälle<br />

von Migranten und Migrantinnen zu erfassen. Das<br />

Camp wurde von Anfang an als dezidiert gewaltfrei<br />

angekündigt und durchgeführt, um Solidarität und<br />

positive Assoziationen mit Migration zu erzeugen,<br />

Foto: Christoph Staber<br />

Aus Gedenken an die Toten des<br />

Grenzregimes, machte eine große<br />

bulgarische Zeitung den Versuch,<br />

Polizeiautos mit Kerzen<br />

anzuzünden.<br />

außerdem sind Strategien der Polizei im protestunerfahrenen<br />

Bulgarien schwer einzuschätzen – gerade<br />

kurz vor dem anstehenden Beitritt zum Schengen-<br />

Abkommen. Denn jeder Anschein von Kontrollverlust<br />

über die Sicherheit der <strong>Grenze</strong>n könnte den Beitritt<br />

weiter hinauszögern. Die Entscheidung zur Gewaltfreiheit<br />

war im Vorhinein vom Organisationsteam<br />

getroffen worden und sorgte erwartungsgemäß auf<br />

dem Camp für Diskussionen. Manche wollten<br />

gewohnte Aktionsformen angesichts der drohenden<br />

und unabschätzbaren Repression nicht ändern; im<br />

Verlauf des Camps allerdings entwickelte sich doch<br />

so etwas wie eine allgemeine<br />

Akzeptanz und Verständnis für<br />

den Verzicht auf Gewalt in diesem<br />

Kontext.<br />

Die erste Demonstration fand in<br />

Svilengrad statt, in der Fußgängerzone<br />

gab es viele kleine<br />

Aktionen. Schließlich zog die<br />

Demonstration durch die Stadt, vor das Hauptquartier<br />

der bulgarischen Grenzpolizei. Die Abschlusskundgebung<br />

mit der Aussage: „Frontex kills!“ war begleitet<br />

vom Niederlegen alter Schuhe und Teelichter in Erinnerung<br />

an die vielen Toten, die das europäische<br />

Grenzregime schon gefordert hat. Aus dem absolut<br />

gewaltfreien Gedenken machte eine große bulgarienweit<br />

erscheinende Zeitung den Versuch, Polizeiautos<br />

mit Kerzen anzuzünden und dichtete den Aktiven<br />

unter anderem den Gebrauch von Molotowcocktails<br />

an. Vor dem Hintergrund, dass dies alles frei erfunden<br />

war, schien das enorme Polizeiaufgebot mehr als<br />

übertrieben: Bei jeder der Aktionen waren martialische<br />

Riot Cops anwesend – meist versteckt, Wasserwerfer<br />

wurden in Bereitschaft gehalten und teilweise<br />

auch Hundestaffeln.<br />

„Now is the time to go back“<br />

Am zweiten Tag, bei den beiden Aktionen an der<br />

bulgarisch-türkischen und der bulgarisch-griechischen<br />

<strong>Grenze</strong>, konnte zweimal – ohne von der Gewaltfrei-<br />

grenze


48<br />

grenze<br />

heit abzuweichen – auf der Straße ein „Die-In“<br />

gespielt werden. Mehrere Dutzend der Aktivisten und<br />

Aktivistinnen stellten sich tot, eingerahmt von Transparenten<br />

mit der Aufschrift: „War Zone – This Border<br />

Kills People“. An den <strong>Grenze</strong>n fiel aber insbesondere<br />

auf, dass die Methoden der Migrationssteuerung weit<br />

über pure Kontrolle, Inhaftierungen und Abschiebungen<br />

hinausgehen. Richtiggehende Abschreckungskampagnen<br />

gegen Migrantinnen<br />

und Migranten sind im Gange.<br />

Einige hundert Meter hinter der<br />

<strong>Grenze</strong> beispielsweise steht auf<br />

einer großen Werbetafel: „If you<br />

are illegal, you‘re just a shadow.<br />

The only way is the legal way.“<br />

Den dazugehörigen Flyer, mehrsprachig,<br />

gibt’s gratis am Grenzhäuschen.<br />

Ein Auszug:<br />

„In their homeland, everyone is somebody. What do<br />

you rely on here? (…) How can we help you if you<br />

are just a shadow? And we can’t know each other.<br />

You have no documents. No money. Everything could<br />

be different. Everything could be legal.<br />

While you are wandering around, your country is<br />

getting modernized. While you are roaming around,<br />

your countrymen are building your country. Their<br />

children learn, they get treatment when they are sick,<br />

and get pension when they get old.<br />

This is what you left for, right? Now is the time to go<br />

back. There is no better way to go back to your country<br />

than the voluntary way.“<br />

Ein neues „detention centre“<br />

Am Sonntag, dem dritten Tag des Camps, standen<br />

Workshops, Vernetzung und Berichte aus den unterschiedlichen<br />

Gegenden und Aktionsfeldern auf dem<br />

Programm sowie, nach den beiden sehr anstrengenden<br />

Tagen bei brütender Hitze auf Asphalt, ein wenig<br />

Erholung. E-Mail-Adressen wurden ausgetauscht, Kontakte<br />

geknüpft und weitere Zusammenarbeit koordiniert.<br />

Die wahrscheinlich wichtigste und direkt wirksamste<br />

Aktion fand am Montag statt, dem letzten Tag des<br />

offiziellen Camps. In der nahen Kleinstadt Lyubimets<br />

wurde im März ein „detention centre“ eröffnet, dessen<br />

Mauern, Stacheldraht und Gitterstäbe weitgehend<br />

aus EU-Mitteln finanziert wurden. Die Delegation, die<br />

das Gefängnis besichtigt hatte, berichtete von Standards<br />

„wie in einer Jugendherberge“, mit Bibliothek,<br />

Fernsehräumen und grünem Gras. Das ändert aber<br />

nichts daran, dass es ein Knast ist, in dem Menschen<br />

In der Nähe des Camps wurde vor<br />

kurzem ein „detention centre“<br />

eröffnet, in dem Menschen, noch<br />

dazu ohne gerichtliche Anweisung,<br />

für bis zu 18 Monate am<br />

Stück eingesperrt werden.<br />

– noch dazu ohne gerichtliche Anweisung – für bis<br />

zu 18 Monate am Stück eingesperrt werden.<br />

Antiziganistische Pogrome nach dem Camp<br />

Zwischen den Eingesperrten und der Kundgebung<br />

war über Transparente und Megaphon eine eingeschränkte<br />

Kommunikation möglich, neben Winken,<br />

Rufen nach Freiheit und Solida-<br />

ritätsbekundungen konnten in<br />

mehreren Sprachen eine Rechtshilfenummer<br />

und ganz rudimentäre<br />

Rechte mitgeteilt werden.<br />

Unter den Protestierenden<br />

waren auch einige Ortsansässige,<br />

insbesondere Menschen aus<br />

der nahe gelegenen Roma-Siedlung,<br />

die selbst am unteren<br />

Ende der sozialen Hierarchie<br />

stehen. Einen Monat später wurde deutlich, wie ausgeprägt<br />

Antiziganismus –Teil europäischer Normalität<br />

– auch in Bulgarien ist. Am 23. September war in der<br />

Nähe von Plovdiv ein junger Mann durch die örtliche<br />

Mafia ums Leben gekommen. Daraufhin instrumentalisierten<br />

faschistische Gruppen und andere den Vorfall,<br />

um Mafiastrukturen zu ethnisieren und Proteste<br />

gegen diese in Pogrome gegen Roma umzumünzen.<br />

Es gab im ganzen Land Ausschreitungen gegen Roma,<br />

Häuser wurden angezündet und Romaviertel mit<br />

Waffen angegriffen.<br />

Minimale bulgarische Antira-Szene<br />

Trotz gewisser Differenzen, nicht nur bezüglich der<br />

Militanzfrage, muss dass NoBorder-Camp alles in<br />

allem als großer Erfolg gewertet werden. Erstmals<br />

gelang es, nicht nur auf bereits existierende Situationen<br />

hinsichtlich massenhafter informeller Grenzübertritte<br />

zu reagieren, sondern bereits im Vorfeld wahrscheinlich<br />

Kommendes zu beschreiben und zu kritisieren<br />

und darüber hinaus auch physische Präsenz zu<br />

zeigen. Ob das NoBorder-Camp dazu beigetragen hat,<br />

die minimale bulgarische Antira-Szene dauerhaft zu<br />

stärken, bleibt abzuwarten. Zu hoffen wäre es, denn<br />

sie besteht momentan aus fünf bis zehn Personen. Ihr<br />

Anteil am Erfolg des Camps ist kaum zu überschätzen.<br />

Vorbereitung und Organisation sowie Kommunikation<br />

nach außen während des Camps, Aushalten<br />

von Repression und juristische Nachbereitung wurde<br />

und wird fast ausschließlich von ihnen gestemmt.<<br />

Nikolai Schreiter arbeitete beim Bayerischen Flüchtlingsrat<br />

und studiert Internationale Entwicklung in Wien<br />

Foto: Luise Schröder


Eingeschränkte Sichtweisen<br />

Vom Märchen der „Festung Europa“ und anderen Grenzziehungen in Wort und Bild. Von Luise Marbach.


Raum oder Nicht-Raum?<br />

Die Installation der Ausstellung „re_mapping the<br />

border“ zeigt einen voll möblierten Raum von exakt<br />

fünf qm. Fünf qm entsprechen der Mindestanforderung<br />

bei der Unterbringung eines Flüchtlings ins<br />

Sachsen-Anhalt.


Die <strong>Grenze</strong>n haben sich verschoben. Deutschland<br />

thront umgeben von anderen EU-Ländern<br />

in der Mitte Europas. In der Konsequenz<br />

heißt das, legal nach Deutschland als Asylsuchende<br />

einzureisen, ist derzeit so gut wie unmöglich. In der<br />

zweiten Konsequenz bedeutet die Verschiebung der<br />

<strong>Grenze</strong>n nicht nur eine Entfernung im Raum. Sie ist<br />

auch zu einer Entfernung in den Köpfen geworden.<br />

Die (sichtbaren) <strong>Grenze</strong>n sind dem Blick der deutschen<br />

Mehrheitsgesellschaft entrückt. Und obwohl<br />

das Interesse an den Themen <strong>Grenze</strong> und Migration<br />

als solches nur noch gering erscheint, werden die<br />

Mechanismen von Ein-und Ausgrenzung im medialen<br />

Raum tagtäglich reproduziert. Um diese nachvollziehen<br />

zu können, muss gefragt werden, in welchen<br />

Bereichen, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen,<br />

<strong>Grenze</strong>n und Menschen in grenzüberschreitender<br />

Bewegung in der deutschen Medienlandschaft<br />

repräsentiert werden. Repräsentation ist dabei aber<br />

nicht als bloße Spiegelung oder direkte Wiedergabe<br />

einer bestehenden Wirklichkeit oder eines bestehenden<br />

Gegenstandes zu betrachten, sondern vielmehr<br />

als Herstellung einer Wirklich-<br />

keit durch die Art und Weise<br />

der Darstellung.<br />

Die Festungs-Metapher<br />

Immer wieder ist die Rede von<br />

der „Festung Europa“, wenn<br />

über den Ausbau der EU-<br />

Außengrenze und deren tödlichen Folgen berichtet<br />

wird. Geprägt wurde der Begriff „Festung Europa“<br />

1942 durch die Nationalsozialisten als Propagandaschlagwort<br />

für deren neue Großraumpolitik. Neben<br />

militärischen trug der Begriff auch rassistische Konnotationen.<br />

Eine Neubelebung erfuhr die Festungs-Metapher<br />

mit der Europäisierung der Grenz- und Migrationspolitik<br />

in den 1990er Jahren. Bedienten sich<br />

zuerst einmal vor allem linke Kritikerinnen und Kritiker<br />

dieser, um ihre Ablehnung gegenüber der voranschreitenden<br />

Abschottung Europas zu verdeutlichen,<br />

ist der Begriff heute im allgemeinen Sprachgebrauch<br />

fest verankert. Angefangen von antirassistischen<br />

Gruppierungen bis hin zu Konservativen, überall ist<br />

die Rede von der Festung, die ihre Tore geschlossen<br />

hat und ihre Mauern immer höher zieht.<br />

Die Festungs-Metapher suggeriert, dass die migrationspolitischen<br />

Strategien der EU allein auf die<br />

Abschottung gegenüber Migrationsbewegungen und<br />

die Militarisierung der Außengrenze zielt. Zweifellos<br />

gilt es diesen – zweifellos zu skandalisierenden –<br />

Aspekt der Migrationspolitik. Der Opferdiskurs, der<br />

Foto: Luise Marbach<br />

Das Bild von der „Festung Europa“<br />

suggeriert, dass die EU ein homogenes,<br />

geschlossenes Ganzes ist.<br />

dem Blick aus der „Festung Europa“ hinaus auf das<br />

Geschehen an ihren Rändern inhärent ist, stellt aber<br />

auch eine stark eingeschränkte Sichtweise auf den<br />

komplexen Zusammenhang von grenzüberschreitender<br />

Bewegung und Regulierung dar und wird den<br />

paradoxen Wirkungsweisen und Effekten des europäischen<br />

Grenzregimes nicht gerecht. Das Bild von der<br />

Festung suggeriert darüber hinaus, dass die EU ein<br />

homogenes, geschlossenes Ganzes ist und nährt die<br />

Vorstellung, einer einheitlichen Politik, obwohl gerade<br />

die EU auf vielen Ebenen von miteinander kollidierenden<br />

Interessen durchzogen ist.<br />

Mediale Berichterstattung und sprachliche<br />

Repräsentation<br />

Auffallend in Berichten zur Grenz- und Migrationspolitik<br />

sind insbesondere zwei Phänomene: zum einen<br />

die sprachliche Gleichsetzung von Migrationsbewegungen<br />

mit Naturkatastrophen und zum anderen der<br />

viktimisierende Blick. Immer wieder lässt sich von<br />

der „Welle“ oder einer „Überflutung“ lesen, die<br />

angeblich auf Europa zu rollt,<br />

von einem „Ansturm auf die<br />

Union des Wohlstands“ sprach<br />

etwa die Sueddeutsche.<br />

Der entpersonalisierte<br />

Blick drückt sich aber<br />

ebenso in der Bezeichnung von<br />

„Flüchtlingsströmen“ aus. Vermittelt<br />

wird hier der Eindruck,<br />

Migration wäre ein technisches und zu steuerndes<br />

Phänomen. Manifestiert wurde die Trope des „Stroms“<br />

auch in der von UN, UHNCR und IOM verwendeten<br />

Bezeichnung „mixed flows“ für Flüchtlingsbewegungen,<br />

die sich sowohl aus „echten“ politischen Asylsuchenden<br />

als auch aus „Wirtschaftsmigrantinnen und -<br />

migranten“ zusammensetzen. Mit der Gleichsetzung<br />

von Migration mit Naturereignissen lassen sich aber<br />

nicht nur die politischen und globalen Zusammenhänge,<br />

in denen Migrations- und Fluchtbewegungen<br />

stattfinden, einfach ausblenden. Sondern das diffuse<br />

Bild einer Katastrophe hinterlässt auch immer ein<br />

Gefühl der Bedrohung und der Angst beim Adressaten<br />

der Botschaft.<br />

Wiederkehrend bekommen wir auch Bilder präsentiert,<br />

die dokumentieren sollen, mit welchen Mitteln<br />

der „Ansturm“ auf die „Festung Europa“ versucht wird<br />

und mit welchen Mitteln ihm begegnet wird: Boote,<br />

Leitern, Handschellen auf der einen und natürliche<br />

Zäune, Mauern, Stacheldraht auf der anderen Seite.<br />

Beinhalten diese Szenarien auch Migrierende, sind sie<br />

entweder zusammengepfercht auf einem Holzkahn zu<br />

grenze


52<br />

grenze<br />

sehen, tot in einem Leichensack verpackt oder werden<br />

im Moment der Aufnahme von einer humanitären<br />

Hilfsorganisation umsorgt. Als Teil des „Stroms“<br />

werden sie „mitgerissen“ und „angeschwemmt“ und<br />

auf diese Weise zu Körpern ohne eigenen Willen<br />

kodiert. In Aktion dagegen sieht man meist nur die<br />

Helfenden oder aber das Sicherheits- und Grenzschutzpersonal.<br />

Diese tragen fast immer Mundschutzmasken<br />

und Gummihandschuhe als handle es sich<br />

bei den Ankommenden um Menschen mit einem<br />

ansteckenden Virus.<br />

Die „schönsten“ Unwörter der letzten Jahre<br />

Bleiben wir bei den Wortschöpfungen und verbalen<br />

Missgriffen aus dem deutschsprachigen Raum und<br />

schauen auf die vergangenen Wahlen zum „Unwort<br />

des Jahres“. 2004 haben es gleich zwei Ausdrücke auf<br />

die Liste geschafft, die paradigmatisch für die deutsche<br />

Migrationspolitik gelesen werden können: der<br />

„Bestandsausländer“ und das „Begrüßungszentrum“.<br />

Als „Bestandsausländer“ gelten all diejenigen, die vor<br />

dem 31. Dezember 2004 in die BRD eingereist sind.<br />

Also vor dem Inkrafttreten des neuen Zuwanderungsgesetz<br />

am 1.Januar 2005. An die zweite Stelle wählte<br />

die Jury den Begriff „Begrüßungszentrum“, womit<br />

Bundesinnenminister Otto Schily sein geplantes Auffanglager<br />

für afrikanische Flüchtlinge bezeichnete.<br />

Geistesverwandt ist diese Wortbildung zu der offiziel-<br />

len Bezeichnung „Ausreisezentrum“<br />

für Lager, in denen Menschen<br />

zwangsweise untergebracht<br />

werden, die nicht abgeschoben<br />

werden können und<br />

die durch die schlechten Lebensbedingungen<br />

in eben diesen<br />

Lagern zur „freiwilligen“ Ausreise<br />

gezwungen werden sollen.<br />

„Flüchtlingsbekämpfung“ gelangte 2009 auf den zweiten<br />

Platz, eine Wortschöpfung, mit der niemand<br />

geringeres als die christsoziale Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkel den deutschen Beitrag an Europas <strong>Grenze</strong>n<br />

würdigte. In ihre Listung sprachlicher Missgriffe nahm<br />

die Gesellschaft für deutsche Sprache weiterhin programmatische<br />

Schlagwörter wie „freiwillige Ausreise“,<br />

„Leitkultur“, „Überfremdung“, „ausländerfrei“ oder die<br />

„durchrasste Gesellschaft“ auf.<br />

Stereotyp Flüchtling<br />

Die visuelle Repräsentation des schutzbedürftigen<br />

Flüchtlings und insbesondere des Not leidenden Kindes<br />

erfährt regelmäßig große Beachtung als preisge-<br />

kröntes Motiv der Pressefotografie. Mit diesen Bildern<br />

lässt sich nicht nur das „kosmopolitische Gewissen“<br />

Europas erschüttern, sondern sie sollen auch an die<br />

guten, alten Werte des Humanismus erinnern. Der<br />

viktimisierende Blick möchte die Betrachtenden auf<br />

das Schicksal Einzelner hinweisen; in der stetigen<br />

Wiederholung dieses Blicks aber verkehrt sich das<br />

Anliegen in sein Negativ. Der „Opferblick“ ermöglicht<br />

eine Universalisierung: die Ent-Individualisierung des<br />

Menschen auf der Flucht. Dies schafft ein Stereotyp,<br />

an dessen Anblick wir uns längst gewöhnt haben. Als<br />

politisch handlungsunfähig und hilflos abgestempelt<br />

fehlt es dem Flüchtling angeblich auch an Selbstrepräsentation,<br />

die bereitwillig durch NGOs oder die<br />

großen humanitären Organisationen wie der UNHCR<br />

übernommen wird. Der Zusammenschluss und die<br />

Proteste von Flüchtlingen gegen das Wirken des<br />

UNHCR in Ländern wie Marokko verdeutlichen, wie<br />

durch eine Selbstermächtigung im Sinne des Sprechaktes<br />

und des politischen Handelns die Monopolrolle<br />

des UNHCR als angeblich einzige rechtmäßige Interessenvertretung<br />

von den Flüchtlingen in Frage gestellt<br />

werden kann.<br />

Identitäten in bewegten Bildern<br />

Das Wort Flüchtlingsbekämpfung<br />

wurde von niemand geringeren<br />

als Angela Merkel ins Leben<br />

gerufen.<br />

Wie in der Fotografie zeigen sich solche Phänomene<br />

auch in Film- und Videoproduktionen: Die dem filmischen<br />

Bild inhärente Dynamik, Zeitlichkeit und<br />

Gleichzeitigkeit von Bild und<br />

Ton bietet aber im Gegensatz<br />

zum statischen Bild die Möglichkeit<br />

einer erweiterten<br />

Erzählperspektive, in der die<br />

Konstellationen und Interaktionen<br />

von Raum, Körper und<br />

Bewegung vielfältig gedacht<br />

und gezeigt werden können.<br />

Zwei Arten der räumlichen Verortung, der Ausgangsperspektive<br />

und der Narration kommen dabei<br />

wiederkehrend in Reportagen, Dokumentar- aber<br />

auch Spielfilmen zur Anwendung: Das ist zum einen<br />

die Fokussierung des Geschehens an der <strong>Grenze</strong><br />

(meist an den „Hot spots“ des Schengen-Raums) in<br />

TV-Formaten, wie Nachrichten-Clips und Reportagen,<br />

aber auch in unabhängigen Produktionen[FUßNOTE1]<br />

wird dabei auf die Konstellation von sich konträr<br />

gegenüberstehenden Subjekten zurückgegriffen,<br />

sprich Flüchtlinge versus Grenzschützende. Aus dieser<br />

dualistisch konstruierten Beziehung lassen sich<br />

eine Vielzahl von Kameraperspektiven generieren, mit<br />

der das „tatsächliche“ Geschehen an <strong>Grenze</strong>n in seiner<br />

Symbolik des Ein- und Ausschlusses direkt ins<br />

Wohnzimmer oder auf die Leinwand transportiert


wird. Besonders variationsreich baut sich dabei die<br />

Blickachse Zuschauer-Kamera-Grenzschützer-Kontrollobjekt<br />

auf, wie etwa der Kontrollblick in Ausweispapiere<br />

durch die Kamera. Der Blick über die Schulter<br />

des Grenzbeamten impliziert auch den Blick durch<br />

das Fernglas, das Nachtsichtgerät und die Überwachungs-<br />

und Wärmebildkamera.<br />

In seiner wiederkehrenden Rhe-<br />

torik vom „tapferen“ Grenzschützer,<br />

seiner technischen<br />

Erklärungen und Begeisterung<br />

für eben diese Technologisierung,<br />

spiegelt sich eine visuelle<br />

Kriegs-Rhetorik, die als solche<br />

kaum wahrgenommen wird, da<br />

der zu bekämpfende Feind (der Flüchtling, der „Illegale“,<br />

aber auch der Schleuser und Menschenhändler)<br />

klar ausgemacht wurde. Es gilt also nicht nur das<br />

Medium Film und seine ästhetischen Strukturen zu<br />

be- und hinterfragen, sondern auch die Medialisierung<br />

von <strong>Grenze</strong> als solches.<br />

Eine weitere gängige Form der Narration verlässt den<br />

Grenzraum und begleitet die Passage im Transit,<br />

begibt sich mit auf die Reise und in die Bewegung,<br />

um dessen Rhythmen und die subjektive Logiken von<br />

Migration aufzunehmen. Auch wenn hier die Protagonistinnen<br />

und Protagonisten die Migrierenden selbst<br />

sind, deren Routen auf „Augenhöhe“ verfolgt werden,<br />

ist der dokumentarische Migrationsfilm dem Genre<br />

des Road Movie[FUßNOTE2] und dem Reise- bzw.<br />

Abenteuerfilm nicht fern. Das authentische „Dabeisein“<br />

scheint hier Credo zu sein. Ein Anspruch, der<br />

allerdings Fragen aufwirft bezüglich des Verhältnisses<br />

von Protagonistin/Protagonist zu Produzentin/Produzent,<br />

von vorgefundener Realität zu filmischer Realität<br />

sowie von der Form der Darstellung zum Gegenstand<br />

als solchem.<br />

Die <strong>Grenze</strong> als (Kinder-)Spiel<br />

Das Thema <strong>Grenze</strong>, ihre Kontrolle sowie Grenz-<br />

Geschehnisse im Allgemeinen sind seit einigen Jahren<br />

auch in der interaktiven, multimedialen Welt der<br />

Computerspiele angekommen. Ein Spiel, beim dem<br />

sich die Spielenden in die Rolle des Grenzschutzpersonals<br />

begeben, ist das 2008 erschienene 3D-Spiel<br />

„Grenzpatrouille – Die Simulation“, das an der <strong>Grenze</strong><br />

zwischen Mexiko und den USA angesiedelt ist. Die<br />

untere Altersbegrenzung für das Spiel liegt bei 12 Jahren.<br />

Die Rolle der Migrierenden dagegen kann in<br />

dem vom UNHCR 2006 veröffentlichtem Onlinespiel<br />

„Last Exit Flucht. Das Spiel bei dem du der Flüchtling<br />

bist“ eingenommen werden. „Die Kombination von<br />

Flüchtling oder Grenzposten?<br />

Du hast die Wahl.<br />

spielerischer Erfahrung und detaillierter Information<br />

soll ein Bewusstsein für die Schutzbedürftigkeit von<br />

Flüchtlingen und die Notwendigkeit von Lösungen<br />

für deren Probleme schaffen“, heißt es auf der Homepage.<br />

„Last Exit Flucht“ ist als comichafte Flashanimation<br />

angelegt und für Spielende ab 13 Jahre gedacht.<br />

Wichtigster Teil des Spiels ist<br />

laut UNHCR das Quiz „Flücht-<br />

ling oder Einwanderer?“.<br />

Ein weiteres kostenloses 3D-<br />

Onlinespiel für Jugendliche und<br />

Erwachsene ist „Frontiers – You-<br />

've reached Fortress Europe“,<br />

entwickelt von der Künstlergruppe<br />

„gold extra“ aus Salzburg. Bei „Frontiers“ können<br />

die Spielenden zu Beginn zwischen der Rolle<br />

eines Flüchtlings und der eines Grenzposten wählen.<br />

Auf der Website der Gruppe heißt es: „Mit den<br />

Flüchtlingen sehen wir Europa von außen – den<br />

Zaun, die Mauer, die „Festung“ – und gewinnen eine<br />

neue Innenansicht von Europa. Orte, Schicksale,<br />

Hintergründe, die man in den Nachrichten längst<br />

gesehen hat, werden zum zusammenhängenden<br />

Bild.“ Zusätzlich zur Spielebene wird eine Website<br />

mit interaktiven Features und Interviews mit Migrierenden<br />

und anderen Akteuren, wie z.B. vom Verein<br />

borderline-europe angeboten. „Frontiers“ hat mit seinem<br />

„social mod“-Prinzip, das die Spielenden in die<br />

klassischen Perspektive eines Ego-Shooters versetzt,<br />

der aber bei Anwendung von Gewalt mit Punktabzug<br />

bestraft wird, für einige Furore in der Kunst- und<br />

Medienwelt gesorgt und wird von dieser gerne als<br />

Paradebeispiel für ein „serious game“ herangezogen.<br />

Während „Grenzpatrouille“ und „Last Exit Flucht“ den<br />

konzeptuellen Zusammenhang von Territorium, Staat,<br />

Nation und die Abschottung der <strong>Grenze</strong>n grundsätzlich<br />

nicht in Frage stellen, versucht „Frontiers“ zumindest<br />

zum Nachdenken über diese Verkettungen anzuregen.<br />

Dass das Spiel „Grenzpatrouille“ in keinerlei<br />

kritischem Kontext eingebettet wurde, ist weiter kein<br />

Wunder. Dagegen untermauert das UNHCR mit seinem<br />

offensichtlich pädagogischen Konzept seinen<br />

„humanitären“ Ansatz von Flüchtlingsschutz, der ohne<br />

die Funktion der <strong>Grenze</strong> als solches nicht denkbar<br />

wäre.<br />

Karte, Atlas, Globus<br />

Die Geschichte der Kartografie spiegelt nicht nur die<br />

Geschichte um machtpolitische und territoriale Kämpfe<br />

und Verschiebungen wider, sondern auch die<br />

Geschichte technischer und ästhetischer Entwicklun-<br />

grenze


grenze<br />

Die ausführlichere<br />

Version von „Die<br />

<strong>Grenze</strong> als Randnotiz“<br />

kann im <strong>Magazin</strong><br />

„re_mapping the<br />

border. Über Grenzregime<br />

und Blickbeziehungen“nachgelesen<br />

werden.<br />

Bestellbar unter<br />

re_mapping@gmx.de<br />

Luise Marbach<br />

ist Künstlerin, aktiv<br />

in antirassistischen<br />

Zusammenhängen<br />

und Herausgeberin<br />

des <strong>Magazin</strong>s<br />

„re_mapping the<br />

border.“<br />

gen und den Wandel vom Verständnis von Raum,<br />

Struktur und Fläche. Neben der angeblich immanenten<br />

Objektivität, beanspruchen Landkarten eine politische<br />

Neutralität. Eine kritische Hinterfragung dieser<br />

Behauptung kann auf drei Ebenen ansetzen: der kartografische<br />

Prozess der Entstehung der Karte, die ideologische<br />

Rolle des Endprodukts und der Aspekt, auf<br />

welche Art und Weise Karten nach ihrer Produktion<br />

innerhalb einer Gesellschaft zirkulieren und verwendet<br />

werden. Auch Karten können letztlich kein exaktes<br />

Abbild der Wirklichkeit darstellen; sie können nur<br />

ein Abbild, eine Interpretation dieser sein und als solche<br />

müssen sie auch gelesen werden.<<br />

1 Aktuell insbesonders in Filmen<br />

zum Thema Frontex,<br />

Vgl zum Beispiel „FRONTEX:<br />

the movie 2.0“, www.youtube.com/watch?v=Pk0SAPqLUJI"http://www.youtube.co<br />

m/watch?v=Pk0SAPqLUJI<br />

2 Zum Beispiel „In this<br />

world“ von Michael Winterbottom<br />

(GB, 2002) oder<br />

„Mirages“ von Olivier Dury<br />

(F, 2008).


Spiel mit <strong>Grenze</strong>n*<br />

*mit räumlichen, körperlichen, sozialen und staatlichen, mit vernünftigen, normalisierenden, wahnsinnigen.<br />

Wir sind eine Gruppe von Aktivistinnen und Aktivisten, die seit einiger Zeit theoretisch und praktisch zum<br />

Thema <strong>Grenze</strong> arbeiten. Wir versuchen die Abgrenzungen, Ausgrenzungen, Eingrenzungen und Begrenzungen<br />

zu verstehen, die sich anhand unterschiedlicher Diskurse, Orte, Dinge und Praktiken manifestieren<br />

und die durch die Praxis des Überschreitens sowohl reproduziert als auch in Frage gestellt werden. Wir<br />

gehen der Frage nach, wie mit Hilfe von <strong>Grenze</strong>n Macht ausgeübt wird, Hierarchien hergestellt und Kräfteverhältnisse<br />

reguliert werden.<br />

Film: Spiel mit <strong>Grenze</strong>n<br />

Workshop Ladyfest München 2010<br />

... <strong>Grenze</strong> hat erst mal was abschreckendes ... also<br />

ich finde es gibt ja meine persönlichen <strong>Grenze</strong>n, die<br />

ich ja gewahrt haben möchte und Grenzüberschreitungen<br />

die für mich überhaupt nicht positiv sind ...<br />

das ist mein Wort: Abgrenzen – das finde ich wichtig,<br />

weil es ist wichtig sich und anderen <strong>Grenze</strong>n zu setzen,<br />

um nicht Gefahr zu laufen manipuliert zu werden<br />

... das ist meine <strong>Grenze</strong> und das ist meine Macht<br />

zu bestimmen und festzulegen wo die ist. Aber<br />

manchmal habe ich das Gefühl, dass meine <strong>Grenze</strong><br />

nicht da ist, wo ich sie gerne hin bestimmen möchte<br />

... also ich glaube, wenn man die <strong>Grenze</strong>n anderer<br />

überschreitet, dann wird einem das erst später klar<br />

und dann ist das ein extrem unangenehmes Gefühl ...<br />

ich glaube, dass <strong>Grenze</strong>n immer neu aufgemacht<br />

werden ... ich kann Menschen einteilen in Frauen<br />

und Männer aber das muss nicht unbedingt eine<br />

große Konsequenz haben ... was ist das für eine<br />

Sorge wie ich eingeordnet werde, werde ich jetzt als<br />

Frau eingeordnet oder als Mann wahrgenommen oder<br />

grenze<br />

Foto: Carl Obereisenbuchner (cc)


56<br />

grenze<br />

als Freak... <strong>Grenze</strong>n ziehen hat oft etwas mit Ausschluss<br />

von anderen zu tun ... ich fänd‘s auch schwer<br />

mir vorzustellen, was wäre, wenn es keine <strong>Grenze</strong>n<br />

geben würde. vor allem in Bezug auf Geschlechtergrenzen.<br />

Einerseits ist es schon so meine Idealvorstellung<br />

oder so ne Utopie, dass es wahnsinnig toll wäre,<br />

wenn es sie nicht geben würde, andererseits macht<br />

es mir total Spaß sie zu übertreten und damit zu spielen<br />

und zu provozieren...<br />

Der Film ist zu sehen unter:<br />

www.oeku-buero.de/grenzen.html<br />

Mach[t] Platz!<br />

Gärtnerplatz im Juni 2009<br />

Zwölf mit Warnwesten bekleidete Aktivistinnen und<br />

Aktivisten beginnen den Gärtnerplatz mit rot-weißen<br />

Bändern abzusperren. Sie wirken routiniert und gelassen.<br />

Die Aktion dauert höchstens fünf bis zehn Minuten<br />

– genug, um den kompletten<br />

Platz mit Bank, Bäumen und<br />

Bronzebüste von Friedrich von<br />

Gärtner großzügig rot-weiß zu<br />

verzieren. Erst bei näherem<br />

Betrachten fällt auf, dass die<br />

Absperrbänder beschriftet sind:<br />

„<strong>Grenze</strong>“ / „ausgrenzen“ / „entgrenzen“<br />

/ „Traust Du dich weiter?“ / „Sicherheit“ /<br />

„Rassismus“. Die Warnwesten sichern der Gruppe<br />

zunächst einen seriösen Auftritt, verweist doch die<br />

Kleidung auf das Bild von städtischen Bauarbeiterinnen<br />

und Bauarbeitern. Doch irgendwie agieren die<br />

Beteiligten seltsam. Wieso besteigen diese zwei<br />

Damen die Büste von Friedrich von Gärtner? Warum<br />

werden Mülleimer mit Flatterband umwickelt? Diese<br />

Überschreitung einer unsichtbaren Zeit-Raum-Konstante,<br />

in der die Aktivistinnen und Aktivisten Flugblätter<br />

an die vorbeigehenden Leute verteilen, führt<br />

zum Bruch mit der Erwartung hier arbeitende Personen<br />

zu beobachten. „Es gibt nichts Natürliches an der<br />

<strong>Grenze</strong>, sie ist ein höchst konstruierter Ort, der durch<br />

über-schreitende Leute reproduziert wird, denn ohne<br />

das Überschreiten haben wir keine <strong>Grenze</strong>. Dann ist<br />

sie nur eine imaginäre Linie, ein Fluss oder einfach<br />

eine Wand.“ (Bertha Jottar) – lesen Interessierte auf<br />

den zu Flyern umfunktionierten Absperrbändern. Das<br />

„Theater“ entlarvt sich selbst. Einige Passantinnen und<br />

Passanten werden aufmerksam. Die Gruppe wird<br />

angesprochen, eine Genehmigung wird gefordert. Ein<br />

Mann zückt sein Handy. Auf schnellem Wege räumen<br />

die Aktivistinnen und Aktivisten das Feld.<br />

Die Aktion „Macht Platz – Gärtnerplatz!“, die von der<br />

Es gibt nichts Natürliches an<br />

der Grenz, sie ist ein höchst konstruierter<br />

Ort.<br />

Aktion Grenzposten veranstaltet wird, beraubt den<br />

Gärtnerplatz für zwei Stunden seiner funktionalen<br />

Öffentlichkeit und stellt eine andere Öffentlichkeit<br />

bereit. Die funktionale und institutionell gekennzeichnete<br />

Öffentlichkeit (Bänke, gepflegte Blumen und<br />

Beete) wird durch die Absperrbänder verhindert. Die<br />

Bank wird als Gefahrenzone markiert, statt Beruhigung<br />

übernimmt Unruhe die Gedanken. Was machen<br />

die denn da? Verstärkt durch die Gedankenfetzen auf<br />

den Absperrbändern aktiviert diese Intervention in<br />

dem öffentlichen Raum Grenzziehungen, die man im<br />

Alltag vornimmt: Ein verliebtes Pärchen auf der Parkbank<br />

ist in Ordnung, zehn Pärchen, die Flaschenbier<br />

trinken und auf der Wiese liegen nicht mehr – ein<br />

alter Herr, der für einen halben Tag Rast auf einer<br />

Bank macht, ist in Ordnung, eine Obdachlose eine<br />

Bank weiter, die sich zum Schlafen für die Nacht<br />

bereitet, nicht usw. Zugleich stellt die Aktion den<br />

Gärtnerplatz als öffentlichen Raum in Frage. Statt Aufenthalt<br />

und Entspannung anzubieten, warnen die<br />

Absperrbänder davor, den Platz zu betreten. Die Textstücke<br />

auf den rot-weißen Bän-<br />

dern rahmen einen neuen<br />

öffentlichen Raum, der zu flüstern<br />

scheint: Wen grenzen wir<br />

jenseits des Gärtnerplatzes noch<br />

aus? Welche rassistischen <strong>Grenze</strong>n<br />

gibt es in der Gesellschaft?<br />

Welche unausgesprochenen<br />

Normen durchziehen den öffentlichen Raum und<br />

schränken unsere Bewegungsfreiheit ein?<<br />

[Auszug aus einem Text von Julia Jäckel: Von Kampffliegern<br />

in der Fußgängerzone und Piratensendern in der Tagesschau.<br />

Wie sich öffentliche Räume und Gegenöffentlichkeiten<br />

herstellen können, in: Zara Pfeiffer (Hg.): Auf den Barrikaden.<br />

Proteste in München seit 1945, München 2011]


<strong>Grenze</strong>n des Wachstums<br />

Pflanzen sind in einer vom Klimawandel gebeutelten Welt die Antwort auf alle Fragen – zumindest auf<br />

sehr viele. Pflanzliche Energie als Alternative zu fossilen Brennstoffen, gentechnisch veränderte Pflanzen,<br />

die verseuchte Böden wieder in saubere Flächen verwandeln sollen oder Pflanzen, deren Wasserverwertung<br />

effizienter ist und die so weniger zusätzliche Bewässerung brauchen. Die <strong>Grenze</strong>n des Wachstums,<br />

die sich der ökonomischen Entwicklung in Form von Natur in den Weg stellen, sollen mit effizienteren,<br />

mit ertragreicheren oder sonst wie besser angepassten Pflanzen überwunden werden.<br />

Von Barbara Brandl<br />

grenze


58<br />

grenze<br />

Sieht man sich die Geschichte der Industrialisierung<br />

der landwirtschaftlichen Produktion an,<br />

entdeckt man viele dieser <strong>Grenze</strong>n, aber auch<br />

wie es immer wieder gelang diese natürlichen <strong>Grenze</strong>n<br />

durch technische Innovationen zu überwinden.<br />

Jedoch tauchten – oft an anderen Stellen – neue,<br />

durch die Natur selbst hervorge-<br />

brachte <strong>Grenze</strong>n auf, für deren<br />

Überwindung dann erneut technische<br />

Lösungen gesucht werden,<br />

beispielsweise die Produktivität<br />

des derzeit verwendeten<br />

Saatguts, die nun mit Hilfe der<br />

Molekularbiologie gesteigert<br />

werden soll. So ist der Leitspruch<br />

vieler Projekte und Initiativen,<br />

ob sie nun den Welthunger<br />

bekämpfen oder für saubere<br />

Energie sorgen wollen: Pflanzen, fit für die Zukunft,<br />

sollen her! Für die Entwicklung von „zukunftstauglichen“<br />

Pflanzen nehmen staatliche Institutionen, globale<br />

Life-Science-Konzerne und auch die Vermischung<br />

aus beiden – mit, neutral gesagt, unklaren<br />

Interessenlagen – sowie die Private-Public-Partnerships<br />

viel Mühe und vor allem hohe Kosten in Kauf.<br />

Mit ‚zukunfts-fitten‘ Pflanzen sind landwirtschaftliche<br />

Nutzpflanzen gemeint, welche sich an durch Klimawandel<br />

oder Rohstoffknappheit veränderte Umweltbedingungen<br />

der landwirtschaftlichen Produktion besser<br />

anpassen können. Womit schlicht gemeint ist,<br />

dass die Pflanzen ohne Ertragseinbußen Ernte produzieren.<br />

So gibt es beispielsweise Programme zum Entwickeln<br />

von Maissorten, die trotz Dürre und Hitze ihren<br />

Ertrag ausbilden. Reissorten sollen gezüchtet werden,<br />

die den neuerdings stärkeren Regenfällen trotzen<br />

oder Weizensorten, die mehr von dem knapp werdenden<br />

Düngemittel Nitrat verwerten können.<br />

Umwelteinflüsse, die sich auf die Entwicklung von<br />

Pflanzen, vor allem deren Früchte, schädlich auswirken,<br />

bezeichnet die Biologie als „abiotischen Stress“.<br />

Damit sind Belastungen für die Pflanzen gemeint wie<br />

Dürre, versalzene Böden oder Hitze, die nicht durch<br />

Krankheiten (biotischer Stress) erzeugt werden. Saatgut<br />

für besonders dürre- oder hitzeresistente Pflanzen<br />

oder für Pflanzen, die trotz versalzener Böden und<br />

überfluteter Landstriche ihren Ertrag produzieren, ist<br />

in den letzten Jahren die (PR-) Strategie aller großen<br />

Saatgutkonzerne sowie das Losungswort der Entwicklungshilfe,<br />

die sich auf ländliche Gebiete spezialisiert<br />

hat.<br />

Die gesteigerte Produktivität<br />

eigneten sich fast ausschließlich<br />

die Länder des Nordens an,<br />

während die negativen Folgen der<br />

industrialisierten Landwirtschaft<br />

in den Ländern des Südens<br />

verblieben.<br />

Gigantische Ertragssteigerungen<br />

– die Industrialisierung der Landwirtschaft<br />

Die Geschichte der modernen Pflanzenzüchtung ist<br />

die Geschichte eines ungeheuren Erfolgs – wenn man<br />

diesen in quantitativen Ertragszuwächsen misst: Die<br />

Entdeckung des Stickstoffes in<br />

seiner Funktion als Kunstdünger<br />

gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />

sowie wegweisende<br />

Erkenntnisse aus dem Bereich<br />

der Pflanzengenetik, die maßgeblich<br />

zur Entwicklung der<br />

Hochleistungssorten beitrugen,<br />

führten dazu, dass der Ertrag bei<br />

einzelnen Fruchtarten (beispielsweise<br />

Mais) bis zu 300 Prozent<br />

gesteigert werden konnte. Diese<br />

Sorten sind somit extrem ertragreich, jedoch im Vergleich<br />

zum Wildtyp der Pflanze nicht besonders<br />

widerstandsfähig. Sie brauchen deshalb zusätzliche<br />

Input-Faktoren wie zusätzliche Bewässerung oder<br />

Agrochemie (beispielsweise Herbizide). Die größten<br />

Ertragssteigerungen erreichte man mit dem so<br />

genannten „Hybridsaatgut“. Hybridsorten sind Sorten,<br />

die durch die Kreuzung von zwei unterschiedlichen<br />

reinerbigen (homozygoten) Inzuchtlinien entstehen.<br />

Die erste Generation ist dann besonders ertragreich,<br />

die nachfolgenden Generationen jedoch in der Regel<br />

weniger. Aufgrund dieser spezifischen Eigenschaften<br />

von Hybridsorten sind Bauern und Bäuerinnen<br />

gezwungen, ihr Saatgut jedes Jahr neu zu kaufen. Bei<br />

einzelnen Fruchtarten wie zum Beispiel Mais oder<br />

Reis liegt der Anteil an Hybridsorten bei über 80 Prozent.<br />

Die Kehrseite dieser immensen Ertragssteigerungen<br />

war, dass die Bauern sich immer stärker von<br />

industriellen Gütern wie Düngemitteln, industriell<br />

hergestelltem Saatgut oder der Agrochemie (etwa in<br />

Form von Herbiziden oder Pestiziden) abhängig<br />

machten. Zudem waren sie immer stärker auf stetig<br />

knapper werdende Rohstoffe wie Wasser oder Nitrate<br />

angewiesen. Außerdem beschränkte sich die landwirtschaftliche<br />

Produktion auf immer weniger Fruchtarten,<br />

die so genannten ‚major crops‘ (Mais, Soja,<br />

Baumwolle oder Raps), da sie sich besonders für eine<br />

industrialisierte Form der Landwirtschaft eignen. Die<br />

Züchtungsforschung der Saatgutkonzerne und zunehmend<br />

auch die Forschung der staatlichen Institute<br />

konzentrieren sich nun in erster Linie auf die genannten<br />

Fruchtarten, während sie andere, kommerziell<br />

weniger interessante wie Hirse oder Hafer systematisch<br />

vernachlässigt.


Der politische Ausdruck für diese Entwicklungen, die<br />

insbesondere die Vereinigten Staaten vorantrieben, ist<br />

die „Green Revolution“. Die landwirtschaftliche Produktion<br />

in den Ländern des<br />

Südens wurde durch die Maßnahmen,<br />

die im Zuge dieser<br />

Programme ab den 1950er Jahren<br />

stattfanden, in ungeheurem<br />

Maße produktiver. Die gesteigerte<br />

Produktivität eigneten sich<br />

jedoch fast ausschließlich die<br />

Länder des Nordens an, während<br />

die negativen Folgen der industrialisierten Landwirtschaft<br />

– die ausgelaugten Böden, die Wasserknappheit,<br />

die geschwundene Biodiversität oder die<br />

von der Agroindustrie abhängig gemachte Bauernschaft<br />

– in den Ländern des Südens verblieben und<br />

in der Folge neue Ungleichheitsdynamiken bildeten.<br />

In der Grünen Revolution waren die Hochleistungssorten<br />

Teil der entscheidenden technischen Innovationen,<br />

die eine stark industrialisierte Form der Landwirtschaft<br />

möglich machten. Eine weitere Technologie,<br />

welche die Pflanzenzüchtung und damit die landwirtschaftliche<br />

Produktion nachhaltig veränderte, war<br />

die Mitte der 1980er Jahre entstehende Grüne Gentechnik.<br />

Deren molekularbiologische Methoden<br />

ermöglichten es, transgene Pflanzen herzustellen, also<br />

Pflanzen, bei denen ein einzelnes oder mehrere (in<br />

der Regel aber wenige) Gene der pflanzlichen DNA<br />

verändert wurden. Aktuell werden allerdings nur<br />

transgene Nutzpflanzen kommerziell und in großem<br />

Maßstab angebaut, die entweder resistent gegen Herbizide<br />

oder/und resistent gegen bestimmte Schadinsekten<br />

sind. Der kommerzielle Anbau von transgenen<br />

Pflanzen beschränkt sich dabei weitgehend auf die<br />

kommerziell wichtigen Pflanzen wie Mais, Soja, Raps<br />

und Baumwolle sowie fast ausschließlich auf USA,<br />

Kanada, die Länder Lateinamerikas (vor allem Argentinien<br />

und Brasilien) und teilweise auch Indien und<br />

China.<br />

Die Verwandlung von Feldern und Äckern<br />

in global vereinheitlichte Areale<br />

Die umfassende Einführung von Hochleistungssorten<br />

veränderte die landwirtschaftliche Produktion auf<br />

schwer wiegende Weise. Um die Tiefe dieses Einschnittes<br />

zu verstehen, sei darauf verwiesen, dass bis<br />

in die Mitte des 19. Jahrhunderts die Pflanzenzüchtung<br />

größtenteils in der Hand der Bauernschaft lag.<br />

Sie wählten aus den in ihren Gärten und Äckern<br />

angebauten Pflanzen diejenigen aus, welche die<br />

gewünschten Eigenschaften am stärksten ausgeprägt<br />

hatten und brachten die Samen im nächsten Jahr wie-<br />

Ende der 1980er Jahre avancieren<br />

die großen Saatgutkonzerne wie<br />

Monsanto oder Syngenta zu<br />

bedeutenden Playern.<br />

der neu aus. Durch dieses Vorgehen entstanden im<br />

Laufe der Jahrhunderte viele unterschiedliche Landsorten,<br />

die an die jeweilige lokale Region angepasst<br />

waren. In diesem Sinne brachte<br />

die Grüne Revolution nicht nur<br />

neues Saatgut mit sich, sondern<br />

auch eine andersartige Logik<br />

der landwirtschaftlichen Produktion,<br />

die ihrerseits vollständig<br />

der industriellen Produktion von<br />

Nahrungsmitteln verpflichtet<br />

war. Der Prozess der Pflanzenzüchtung<br />

hatte nun nicht mehr das Ziel, Sorten zu<br />

entwickeln, die optimal an die jeweilige Region anzupassen<br />

waren, sondern die Entwicklung verkehrte<br />

sich ins Gegenteil. Die Äcker und Felder wurden<br />

durch zusätzliche Bewässerung und durch den Einsatz<br />

von Dünge- und Schädlingsbekämpfungsmitteln<br />

für den Einsatz der in Gewächshäusern und Laboren<br />

entstanden Hochleistungssorten konfiguriert. Es fand<br />

eine Kolonialisierung der Natur durch die Technik<br />

statt, wie der Soziologe Bruno Latour sagen würde.<br />

Oder um es anders zu sagen, der Kapitalismus konfigurierte<br />

die Landwirtschaft und stellt damit seine<br />

eigene Reproduktion sicher.<br />

Kapitalistische Logik der<br />

landwirtschaftlichen Produktion<br />

Ein weiter Aspekt, den die Industrialisierung der<br />

Landwirtschaft mit sich brachte war, dass sich die<br />

landwirtschaftliche Produktion zunehmend arbeitsteilig<br />

organisierte und zugleich immer mehr Bereiche<br />

der landwirtschaftlichen Produktion einer kapitalistischen<br />

Logik unterworfen wurden. Mit der Etablierung<br />

von Märkten für Saatgut wurden Güter, die vorher<br />

– wenn überhaupt – nur unter Nachbarinnen und<br />

Nachbarn getauscht wurden, zur Ware, die auf dem<br />

Markt gekauft werden muss. Ist die Grüne Gentechnik<br />

als Fortführung der mit dieser Entwicklung verbunden<br />

Logik zu verstehen? Einerseits, und dies ist<br />

wohl die offensichtliche Antwort: Ja. Die Herbizidresistenz<br />

als erstes und (kommerziell) wichtigstes Produkt<br />

der Grünen Gentechnik entspringt voll und ganz<br />

der Logik einer bis ins Extrem getriebenen Form der<br />

industrialisierten Landwirtschaft. Durch die Einführung<br />

von herbizidresistentem Saatgut stehen sich der<br />

maximale Einsatz von Technik und der minimale Einsatz<br />

von menschlicher Arbeitskraft gegenüber. Die<br />

Felder, die mit herbizidresistentem Saatgut bestellt<br />

werden, müssen meist nicht einmal mehr gepflügt<br />

werden, was besonders im US-amerikanischen Kontext<br />

aufgrund der hohen Bodenerosion ein Vorteil ist.<br />

Durch die Komplementarität der Güter und Herbizide<br />

grenze


60<br />

grenze<br />

Barbara Brandl<br />

ist Diplom-Soziologin<br />

und wissenschaftlicheMitarbeiterin<br />

am Institut für<br />

Soziologie der LMU<br />

München.<br />

erreichte die Abhängigkeit der Bauern und Bäuerinnen<br />

von industriellen Produkten ein nie geahntes<br />

Ausmaß. War das Wissen über<br />

die Pflanzenzüchtung zur Zeit<br />

der Grünen Revolution noch<br />

hauptsächlich in staatlichen<br />

Institutionen wie Universitäten<br />

gebunden, ändert sich dies unter<br />

der global durchgesetzten neoliberalen<br />

Agenda. Nun ist auch<br />

das zur Herstellung von Saatgut<br />

nötige Wissen warenförmig organisiert. Die großen<br />

Saatgutkonzerne wie Monsanto oder Syngenta avancierten<br />

in dieser Zeit Ende der 1980er Jahre zu<br />

bedeutenden Playern. Dies gelang ihnen einerseits,<br />

indem sie in ihren Unternehmen riesige Abteilungen<br />

für Forschung und Entwicklung aufbauten und so<br />

einen großen Teil der Wissensproduktion, der vormals<br />

an öffentlichen Universitäten stattfand, in ihre<br />

Konzerne integrierten. Monsanto und Co. kauften<br />

jedoch auch die meisten mittelständischen Pflanzenzüchtungsbetriebe<br />

in den USA auf, um sich den<br />

Zugang zum genetischen Material zu sichern.<br />

Eine Fair-Use-Bewegung der Grünen Gentechnik?<br />

Anderseits, und dies ist der zweite Teil der Antwort:<br />

Ist nicht die Bewertung von Umweltfaktoren wie<br />

Hitze, Trockenheit oder Überflutung als die entscheidenden<br />

Determinanten für landwirtschaftliche Produktion,<br />

ein Hinweis auf eine Entwicklung in eine<br />

andere Richtung? Geht es bei der Entwicklung von<br />

dürre- oder hitzeresistentem Saatgut nicht darum, den<br />

regionalen oder den natürlichen Gegebenheiten wieder<br />

mehr Gewicht beizumessen, anstatt die Natur mit<br />

allen Kräften durch Technik und den übermäßigen<br />

Einsatz von Rohstoffen aus der landwirtschaftlichen<br />

Produktion auszuschließen? Auch auf diese Frage ist<br />

die Antwort: Ja, jedoch mit einem großen Aber. Denn<br />

die Entwicklung dieses Saatguts (ob gentechnisch verändert<br />

oder nicht) findet in einem vorstrukturierten<br />

Raum statt. Zum Einen ist die Saatgutbranche eine<br />

der am stärksten konzentrierten Branchen weltweit.<br />

Machten 1985 die zehn größten Saatgutkonzerne<br />

zusammen einen Anteil von unter 20 Prozent am<br />

Markt für geschütztes Saatgut aus, waren es im Jahr<br />

2007 bereits 67 Prozent. Betrug der Anteil der drei<br />

größten Konzerne Monsanto, Dupont (beide USA)<br />

und Syngenta (Schweiz) 1985 noch ungefähr 7 Prozent,<br />

war dieser bis zum Jahr 2007 auf 47 Prozent<br />

angestiegen. Zum Anderen unterwerfen sich die Universitäten<br />

zunehmend dem Regime der Wettbewerbsfähigkeit<br />

und damit dem Ziel, vor allem für den<br />

Markt verwertbares Wissen zu produzieren. So konn-<br />

Universitäten unterwerfen sich<br />

zunehmend dem Regime der Wettbewerbsfähigkeit<br />

und damit dem<br />

Ziel, für den Markt verwertbares<br />

Wissen zu produzieren.<br />

ten einige Studien aus dem US-amerikanischen Kontext<br />

zeigen, dass die Forschung an kommerziell unin-<br />

teressanten Pflanzen sowie an<br />

kommerziell uninteressanten<br />

pflanzlichen Eigenschaften in<br />

den letzten zehn Jahren stark<br />

rückläufig war und dass sich in<br />

diesem Sinne die Forschungsprofile<br />

von staatlicher und privatwirtschaftlicher<br />

Forschung<br />

stark angeglichen haben. Insofern<br />

ist zu fragen, in welchem Umfang tatsächlich an<br />

dürre- oder hitzeresistentem Saatgut geforscht wird,<br />

oder an Kulturarten, die zwar für die Ernährung<br />

wichtig sind, jedoch kommerziell wenig rentabel wie<br />

beispielsweise Hirse. Laut einer Schätzung von Nature<br />

Biotechnology über die Züchtungsziele von transgenen<br />

Pflanzen zwischen 2008 und 2015 ist die Toleranz<br />

gegenüber abiotischem Stress in nur 5 Prozent<br />

der Fälle ein Züchtungsziel, während Insektenresistenz<br />

mit 45 Prozent das wichtigste Züchtungsziel ist,<br />

gefolgt von der Resistenz gegen Herbizide mit 25 Prozent.<br />

Trotz all dem sichern sich die großen Konzerne<br />

schon mal vorsorglich die Rechte auf die so genannte<br />

klimarelevante Gene. Bereits im Jahr 2008 gab es<br />

über 500 Patentanmeldungen auf Gene oder Gensequenzen,<br />

die als „klimarelevant“ eingestuft wurden,<br />

also beispielsweise auf Gensequenzen, die den Wasserhaushalt<br />

in einer Pflanze regeln. Zwei Drittel dieser<br />

Anträge kamen, wie eine Studie der ETC-Group –<br />

eine international arbeitende NGO im Agrarbereich –<br />

zeigen konnte, von Monsanto oder BASF.<br />

Wie aber wäre es mit der Etablierung einer Fair-Use-<br />

Bewegung der Grünen Gentechnik? Also nach dem<br />

Vorbild der Fair-Use-Bewegung im Software-Bereich:<br />

Biologen und Biologinnen, Agrarwissenschaftler und<br />

Agrarwissenschaftlerinnen oder Pflanzenzüchter und<br />

Pflanzenzüchterinnen, die Saatgut entwickeln, das<br />

wirklich gebraucht wird, nicht durch Patente<br />

geschützt ist und so von allen weiterentwickelt werden<br />

kann.


Ungenügend<br />

Zu Beginn dieses Jahres wurden mit sofortiger Wirkung wesentliche Teile des sogenannten Transsexuellengesetzes<br />

außer Kraft gesetzt. Das Gesetz verletze das Recht auf körperliche Unversehrtheit, urteilte<br />

das Bundesverfassungsgericht. Gleichzeitig schwächt das Urteil aber andere wichtige Rechte transsexueller<br />

Menschen. Von Till Schmidt<br />

Im Januar 1981 führte die Bundesrepublik<br />

Deutschland das so genannte Transsexuellengesetz<br />

ein. Zustande gekommen durch eine Entscheidung<br />

des Bundesverfassungsgerichts, wurden<br />

damit zwei Verfahren für Transsexuelle – Menschen,<br />

deren eigentliches Geschlecht nicht ihrem genitalen<br />

Geschlecht entspricht, auf Grund dessen sie bei der<br />

Geburt geschlechtlich eingeordnet wurden – festgelegt:<br />

Eine „kleine Lösung“, durch die der Vorname<br />

geändert werden konnte, und eine „große Lösung“,<br />

die eine rechtliche Anerkennung als Mann beziehungsweise<br />

Frau erwirkte. Gekoppelt wurde eine<br />

Anerkennung an verschiedene Bestimmungen, die<br />

seitdem jedoch teilweise abgeschafft beziehungsweise<br />

entschärft wurden. Menschen, die unmittelbar nach<br />

der Einführung 1981 ihr eigentliches Geschlecht ins<br />

Personenstandsregister eintragen lassen wollten, mussten<br />

unter anderem älter als 25 Jahre, unverheiratet<br />

und „dauerhaft fortpflanzungsunfähig“ sein. Ein Jahr<br />

später, 1982, wurde die Altersgrenze von 25 Jahren<br />

aufgehoben, 2008 die Ehelosigkeit als Voraussetzung<br />

für die rechtliche Anerkennung. Im Januar 2011 fällte<br />

das Karlsruher Gericht ein weiteres Grundsatzurteil.<br />

Von nun an müssen Transsexuelle, die nicht nur den<br />

Vornamen ändern, sondern in ihrem eigentlichen<br />

Geschlecht auch rechtlich anerkannt werden wollen,<br />

endlich nicht mehr unter das Skalpell: Der Zwang zur<br />

geschlechtsangleichenden Operation und dauerhaften<br />

Fortpflanzungsunfähigkeit wurde mit sofortiger Wir-<br />

kung aufgehoben – wenn auch gegen die Stimmen<br />

von zwei der acht Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter.<br />

Die operative Geschlechtsanpassung, durch die etwa<br />

bei Trans-Frauen der Penisschaft und Hoden amputiert<br />

sowie äußere primäre weibliche Geschlechtsorgane<br />

hergestellt werden, sollte bisher als Garantie für<br />

„die Ernsthaftigkeit und Dauerhaftigkeit“ der Transsexualität<br />

herhalten. Mit der Operation verknüpft war<br />

eine lebenslange Hormontherapie, die gesundheitliche<br />

Risiken wie zum Beispiel erhöhtes Thrombose-<br />

Risiko, Diabetes und Leberschäden einschließt. Dieser<br />

unmenschliche Zwang verletzte das Recht auf körperliche<br />

Unversehrtheit dreißig Jahre lang.<br />

Schwule Frauen, lesbische Männer<br />

Bezeichnend ist, dass es meist von den diskriminierenden<br />

gesetzlichen Bestimmungen direkt Betroffene<br />

waren, die über eine erfolgreiche Klage vor dem Verfassungsgericht<br />

die Parlamente dazu zwangen, das<br />

„Transsexuellengesetz“ Schritt für Schritt zu reformieren.<br />

Das war auch im jüngsten Fall so. Anlass für die<br />

Entscheidung vom Januar dieses Jahres war die Klage<br />

einer 62-jährigen Trans-Frau aus Berlin. In ihrem<br />

Selbstverständnis als Homosexuelle wollte sie mit<br />

ihrer Partnerin eine eingetragene Lebenspartnerschaft<br />

eingehen. Diese wurde der Berlinerin aber durch das<br />

grenze


62<br />

grenze<br />

Zusätzliche Informationen<br />

finden sich<br />

auf der Hompepage<br />

der NGO Aktion<br />

Transsexualität und<br />

Menschenrecht,<br />

unter anderem auch<br />

deren aktueller Menschenrechtsbericht<br />

„Transsexuelle Menschen<br />

in Deutschland“:http://atmeev.de/<br />

Till Schmidt<br />

lebt und studiert in<br />

München.<br />

Standesamt verweigert. Zwar hatte sie nach den<br />

gesetzlichen Vorschriften der „kleinen Lösung“ ihre<br />

Vornamen in weibliche umändern lassen, personenstandsrechtlich<br />

galt sie jedoch<br />

immer noch als Mann. Anstatt<br />

der Lebenspartnerschaft wäre<br />

somit nur eine – hierzulande<br />

freilich heterosexuell konnotierte<br />

– Eheschließung möglich gewesen;<br />

es sei denn, die 62-Jährige<br />

hätte eine teure und nicht ungefährlichegeschlechtsangleichende<br />

Operation durchführen lassen. Das wollen entgegen<br />

gängiger Klischees allerdings nicht alle transidentitären<br />

Personen.<br />

Wie eine solche Eheschließung durchaus enden<br />

konnte, verdeutlicht der Fall einer Trans-Frau aus<br />

dem Jahr 2005. Mit der Begründung, dass es keine<br />

„lesbischen Männer“ geben könne, verwehrte ihr das<br />

Hamburger Standesamt die eingetragene Lebenspartnerschaft.<br />

Nachdem sie eine Ehe einging, um ihre<br />

Beziehung rechtlich abzusichern, wurde die Vornamensänderung<br />

– für die die Frau zwei teure, zeitund<br />

arbeitsaufwendige Gutachten aufweisen musste,<br />

die garantieren sollten, dass sie „sich dem anderen<br />

Geschlecht zugehörig empfindet“, „seit mindestens<br />

drei Jahren unter Zwang steht, ihren Vorstellungen<br />

entsprechend zu leben“ und sich „mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

[...] ihr Zugehörigkeitsempfinden zum<br />

anderen Geschlecht nicht mehr ändern wird“ –<br />

jedoch wieder rückgängig gemacht. Die Begründung:<br />

Wenn jemand eine Frau heirate, könne sich die Person<br />

nicht mehr als Frau „fühlen“. Damit sei auch die<br />

Vornamensänderung hinfällig.<br />

Von „Neigungen“ und „Veranlagungen“<br />

Diese heteronormative Konzeption von Geschlecht<br />

und Begehren trifft sich in ihrer Logik mit der<br />

Begründung der vermeintlichen Notwendigkeit<br />

geschlechtsangleichender Operationen. Dem Entwurf<br />

des „Transsexuellengetzes“ der damaligen Bundesregierung<br />

zufolge wäre es etwa „nicht angängig [...]<br />

jemandem die Eheschließung mit einer anderen Person<br />

männlichen Geschlechts zu ermöglichen, solange<br />

er sich geschlechtlich noch als Mann betätigen kann“.<br />

Stärker transphob äußerte sich der Bundesrat in seiner<br />

Stellungnahme. Er hielt dazu an, die gesetzliche<br />

Möglichkeit einer Vornamenswahl in keinem Fall so<br />

zu konzipieren, dass sie „transsexuelle Neigungen fördert“.<br />

Ohnehin führe die „kleine Lösung“ dazu, dass<br />

„Personen, bei denen eine gewisse transsexuelle Veranlagung<br />

vorhanden ist, voreilig den ‚Umstieg’ zum<br />

Transsexuelle gelten nach wie vor<br />

als krankhaft und von der Norm<br />

abweichend.<br />

anderen Geschlecht versuchen, obwohl andere Auswege<br />

gegeben wären“.<br />

An der in diesem Statement enthaltenen<br />

Pathologisierung von<br />

Transsexualität hat sich heute,<br />

knapp dreißig Jahre später,<br />

nichts geändert – erst Recht<br />

nicht durch das jüngste Urteil<br />

des Bundesverfassungsgerichts.<br />

Menschen, deren eigentliches<br />

Geschlecht nicht ihrem genitalen<br />

Geschlecht, auf Grund dessen sie bei der Geburt<br />

eingeordnet wurden, entspricht, gelten nach wie vor<br />

als krankhaft und von der Norm abweichend. Davon<br />

zeugt nicht zuletzt die Aufführung von Transsexualität<br />

als vermeintliche „Geschlechtsidentitätsstörung“ in der<br />

„Internationalen Klassifizierung von Krankheiten“ der<br />

Weltgesundheitsorganisation (WHO). Eingeordnet<br />

unter der Rubrik „psychische und Verhaltensstörungen“,<br />

war sie übrigens lange Zeit auch neben der<br />

Homosexualität gelistet, die Anfang der 1990er aus<br />

dem wichtigsten, weltweit anerkannten Diagnoseklassifikations-<br />

und Verschlüsselungssystem der Medizin<br />

entfernt wurde.<br />

Barbie und Ken<br />

Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />

ist nichtsdestotrotz natürlich ein Erfolg. Als<br />

„einen Schritt in die richtige Richtung“, wertete das<br />

Urteil auch Kim Schicklang von der Aktion Transsexualität<br />

und Menschenrecht e.V. Dennoch betonte die<br />

NGO in einer Pressemitteilung, dass das Bundesverfassungsgericht<br />

durch sein Urteil zugleich aber andere<br />

wichtige Rechte transsexueller Menschen schwäche.<br />

Neben dem eindeutigen Festhalten an der Psychopathologisierung<br />

von Transsexualität kritisierte die Menschenrechtsorganisation<br />

das stereotype Geschlechterbild<br />

des Verfassungsgerichts. Im Kleingedruckten des<br />

Urteils, das in der ohnehin dünnen Medienberichterstattung<br />

meist unberücksichtigt blieb, heißt es – ganz<br />

dem Barbie-und-Ken-Geschlechterbild verhaftet: „Für<br />

ein Leben des Betroffenen [sic!] im anderen<br />

Geschlecht ist eine Angleichung seiner äußeren<br />

Erscheinung und Anpassung seiner Verhaltensweise<br />

an sein empfundenes Geschlecht erforderlich. Dies<br />

wird zunächst nur durch entsprechende Kleidung,<br />

Aufmachung und Auftretensweise herbeigeführt, um<br />

im Alltag zu testen, ob ein dauerhafter Wechsel der<br />

Geschlechterrolle psychisch überhaupt bewältigt werden<br />

kann.“


Mythen vom Chinesen-Maier<br />

Der brutale Krieg einer multinationalen Kolonialarmee in China 1900/01 wurde als zivilisatorische europäische<br />

und nationale Mission bejubelt. Die Vereine der Kolonialkriegsveteranen spielten noch Jahrzehnte<br />

nach Verlust der Kolonien eine wichtige Rolle für die Aufrechterhaltung sowohl militärischer Mythen<br />

als auch kolonialer Propaganda. Von Martin W. Rühlemann [muc]<br />

„Der Chinesen-Maier hat Geburtstag“ war die Überschrift<br />

eines Artikels im Münchner Merkur am 21.<br />

März 1964. Dass der von seinen Freunden so betitelte<br />

„rüstige alte Herr“ aus dem Münchner Westend an der<br />

Niederwerfung des Boxeraufstandes in China teilgenommen<br />

hatte und nun seinen 85. Geburtstag feierte,<br />

stand dort weiter zu lesen. 1900/01 kämpfte er als<br />

junger Mann in der bayerischen Abteilung des 4. Ostasiatischen<br />

Infanterie-Regiments an der Seite einer<br />

multinationalen Kolonialarmee: „der Amerikaner, der<br />

Franzos’, der Japanes’, der Türk’ und der Engländer“<br />

waren an dieser Streitmacht beteiligt, erzählte der<br />

„einstige Chinakrieger“ und spätere Münchner<br />

Bezirkskaminkehrermeister, was den Autor des<br />

Münchner Merkur an „eine Art vorzeitiger UN“ denken<br />

ließ.<br />

Mission: christliche Expansion<br />

Tatsächlich hatten sich 1900 etliche Kolonialmächte –<br />

darunter auch Russland, Italien und Österreich-<br />

Ungarn – verbündet, um China mit einem für diese<br />

Zeit neuartigen multinationalen Militäreinsatz zu<br />

zwingen, sich entsprechend der westlichen Vorstel-<br />

Foto: [muc] Archiv


64<br />

postkolonial<br />

lungen und Regeln zu verhalten. Die imperialistischen<br />

Mächte Europas hatten sich im „Kampf für die Sache<br />

der Zivilisation und des<br />

Christentums“ vereinigt gegen<br />

„fremdenfeindliche Boxer und<br />

Chinesen“, so lautete die zeitgenössische<br />

Propaganda. Der<br />

Name „Boxer“ leitet sich von<br />

einer Gruppe ab, die an die<br />

Traditionen verschiedener<br />

Faustkampfschulen anknüpfte.<br />

Das chinesische Kaiserreich war keine Kolonie im<br />

klassischen Sinne, vielmehr sicherten sich die verschiedenen<br />

Kolonialmächte ihren Einfluss durch kleine<br />

Stützpunktkolonien. Schon 1889 war die Deutsch-<br />

Asiatische Bank gegründet worden. Den Zugang zum<br />

chinesischen Markt sicherte sich das Deutsche Reich<br />

1897, als deutsche Truppen die nordchinesische<br />

Bucht von Kiautschou mit dem Hafen Tsingtau<br />

besetzten und die Region formal für 99 Jahre pachteten.<br />

Die 50-Kilometer-Zone um die Bucht wurde später<br />

zur „Musterkolonie“ erklärt. Die Inbesitznahme der<br />

neuen Kolonie traf in Deutschland auf breite Zustimmung.<br />

Damit erklärte die Abteilung München der<br />

Deutschen Kolonialgesellschaft etwa auch den<br />

Anstieg ihrer Mitgliederzahlen 1897/98.<br />

Boxerkrieg 1900/01<br />

Seit Sommer 1898 nahmen die Spannungen unter der<br />

bäuerlichen Bevölkerung Nordchinas zu. Hungersnöte<br />

und Auflösungsprozesse der traditionalen chinesischen<br />

Gesellschaftsordnung, vorangetrieben durch<br />

aggressive christliche Missionierung führten dazu,<br />

dass sich ab 1899 die soziale Bewegung der Boxer<br />

schnell in einigen Provinzen Nordchinas ausbreitete.<br />

Sie richtete sich hauptsächlich gegen die wirtschaftliche<br />

Betätigung von Nicht-Chinesen, aber auch gegen<br />

Chinesen christlichen Glaubens.<br />

Dem Widerstand der bäuerlich geprägten Boxerbewegung<br />

gegen die Kolonialmächte schloss sich, nach<br />

anfänglichem unentschlossenem Vorgehen gegen die<br />

Aufständischen, auch die chinesische Regierung am<br />

21. Juni 1900 an.<br />

Demütigungen und Massaker<br />

Die folgende 55-tägige Belagerung des Gesandtschaftsviertels<br />

in Peking durch Boxer und chinesische<br />

Soldaten dauerte bis zum 14. August. Nachdem<br />

Peking erobert, in einer Gewaltorgie geplündert und<br />

ganze Stadtviertel niedergebrannt worden waren,<br />

Die Züge, die die künftigen<br />

„Kolonialkrieger“ in die Hafenstädte<br />

brachten, waren mit<br />

rassistischen Karikaturen von<br />

Chinesen versehen.<br />

begannen die multinationalen Truppen militärische<br />

Strafexpeditionen gegen die Bevölkerung durchzuführen.<br />

Grobe Schätzungen gehen<br />

von 100.000 Menschen aus, die<br />

allein in Peking getötet worden<br />

sind. Der kaiserliche Hof hatte<br />

Peking verlassen und die chinesische<br />

Armee die Kampfhandlungen<br />

eingestellt. Graf von Waldersee,<br />

der deutsche Oberbefehlshaber<br />

der internationalen Armee,<br />

forcierte ab September die Strafexpeditionen, um Mitglieder<br />

der besiegten Boxer aufzuspüren. Bei den<br />

Expeditionen wurden ganze Städte und Dörfer<br />

niedergebrannt, in den schlimmsten Fällen endeten<br />

sie in Massakern. An 35 von 53 Militärexpeditionen,<br />

die zwischen Dezember 1900 und Mai 1901 stattfanden,<br />

nahmen ausschließlich deutsche Truppen teil,<br />

die von der chinesischen Bevölkerung als besonders<br />

brutal und grausam wahrgenommen wurden. Im September<br />

1901 musste die chinesische Regierung dann<br />

einen Vertrag unterzeichnen, der neben demütigenden<br />

Regelungen auch hohe Entschädigungszahlungen<br />

an die beteiligten acht Staaten vorsah.<br />

Heimatfront<br />

„Der Kampf mit den Boxern war sehr hart“, erinnerte<br />

sich der Münchner „Chinakrieger“ 1964. Als letzte<br />

Andenken präsentierte er einen „winzigen Schuh”<br />

und „eine verblichene chinesische Geldbörse und<br />

eine Schärpe“.<br />

Das deutsche Ostasiatische Expeditionskorps bestand<br />

aus Freiwilligen des Heeres, die zusammen mit Marinesoldaten<br />

und in der deutschen Kolonie Kiautschou<br />

stationierten Soldaten über 20.000 Mann der knapp<br />

90.000 alliierten Soldaten ausmachten. Die Anzahl der<br />

Freiwilligen war angeblich weit größer als der Bedarf<br />

gewesen. Die sozialdemokratische Münchener Post<br />

behauptete allerdings, dass viele Soldaten des bayerischen<br />

Bataillons sich nicht freiwillig gemeldet hätten,<br />

was zu empörten Angriffen gegen die „vaterlandslose<br />

Presse“ führte. Ebenso wurden die ersten Berichte<br />

über Plünderungen der multinationalen Truppe während<br />

der Rekrutierungsphase im Juli aufgeregt<br />

zurückgewiesen: „denn es ist bei der deutschen Disziplin<br />

[…] völlig ausgeschlossen, dass deutsche Mannschaften<br />

an solch ehrlosen Treiben theilgenommen<br />

haben! […] Sollte sich die Meldung der Plünderung<br />

Tientsins bestätigen, dann wäre das Ansehen der<br />

‚zivilisirten’ Mächte auf das Schwerste geschädigt“,<br />

stellten die Münchener Neuesten Nachrichten (MNN)<br />

am 25. Juli 1900 fest.


Ausverkauft! Ein Volksfest der Kriegsbegeisterten<br />

Die Verabschiedungen der deutschen Soldaten waren<br />

überschwänglich gefeierte nationale Ereignisse. Die<br />

Züge, die die künftigen „Kolonialkrieger“ aus ganz<br />

Deutschland in die Hafenstädte brachten, waren mit<br />

rassistischen Karikaturen von Chinesen und Aufschriften<br />

wie „Pardon wird nicht gegeben!“ oder „Li Hungtschang<br />

Du ahnst es nicht!“ versehen. In München<br />

sorgte der von Kapellen begleitete Marsch des bayerischen<br />

Bataillons von der Max-II-Kaserne zum Laimer<br />

Bahnhof am 3. August um zwei Uhr morgens für<br />

einen nächtlichen Volksauflauf. Nach einem Bericht<br />

der MNN säumten Menschenmassen mit Laternen den<br />

Weg, alle Gasthäuser auf dem Weg waren dicht mit<br />

Gästen besetzt und im „Kurgar-<br />

ten“ wurde ein Feuerwerk abgebrannt.<br />

Die Menge verabschiedete<br />

die „Chinakrieger“ am Laimer<br />

Tunnel. Am Bahnhof selbst<br />

waren Eintrittskarten für 1.300<br />

Personen ausgegeben worden,<br />

die die Abfahrt des Sonderzuges<br />

mit 40 Wagons nach Bremerhaven<br />

bejubelten. Passend zur<br />

Kriegsbegeisterung publizierte<br />

der Münchner Bruckmann-Verlag ein Album mit Porträts<br />

der Offiziere und Ärzte des bayerischen Kontingents,<br />

das für zwei Mark in allen Buchhandlungen zu<br />

erwerben war. Des Weiteren wurde ein „Bayerisches<br />

Hilfskomitee für Ostasien“ ins Leben gerufen, um die<br />

deutschen Truppen in China durch reichhaltige Spenden<br />

zu unterstützen.<br />

Lyrikpropaganda<br />

Auch der Münchner Stadtarchivar Ernst von Destouches<br />

begeisterte sich in seinem Gedicht „Die China-<br />

Heerfahrt“ für die koloniale Sache. Er dichtete den<br />

Kriegszug als heilige, christliche Mission. Überhaupt<br />

scheint die Beteiligung bayerischer Soldaten an dem<br />

Kriegszug einige Zeitgenossen zum Dichten animiert<br />

zu haben. Felix Dahn, Erfolgsautor aus Hamburg, versuchte<br />

nach Meinung von Yixu mit dem Gedicht<br />

„Bayerischer Hunnenbrief“ den Sieg des Deutschen<br />

Reiches im deutsch-französischen Krieg 1870 bei<br />

Sedan „nach China zu verpflanzen“. „Der bescheidene<br />

Beitrag der deutschen Streitkräfte […]“, so Yixu,<br />

„wurde in der Populärliteratur zu einer zweiten<br />

Sedan-Schlacht aufgebauscht, so dass die Aura eines<br />

großartigen militärischen Triumphes Deutschlands<br />

Taufe als Kolonialmacht umgab.“<br />

Kritik an der menschenverachtenden Kriegsführung<br />

des deutschen Militärs gab es von sozialdemokratischer<br />

Seite. Ab August 1900 veröffentlichte der Vorwärts<br />

Briefe deutscher Soldaten an ihre Angehörigen<br />

(ohne Namen), die auch das äußerst brutale Vorgehen<br />

gegen chinesische Gefangene und Zivilisten<br />

schilderten. Etliche Redakteure sozialdemokratischer<br />

Zeitungen, in denen die sogenannten „Hunnenbriefe“<br />

erschienen, wurden angeklagt und auch verurteilt.<br />

Der Kampf mit dem Iltis<br />

Vor allem den Vorwurf, die Deutschen<br />

wären nicht fähig gewesen,<br />

Kolonien zu betreiben, empfanden<br />

weite Kreise der Gesellschaft als<br />

Demütigung.<br />

Die Berichterstattung über China war schon vor dem<br />

Krieg geprägt von negativen Stereotypen und Klischees,<br />

die ein europäisches Überlegenheitsgefühl<br />

und Rassismus zum Ausdruck<br />

brachten. Die Auswertung von<br />

Feldpostbriefen aus China bestätigt,<br />

dass viele deutsche Soldaten<br />

schon fertige Bilder wie etwa<br />

das vom verschlagenen und<br />

hinterlistigen Chinesen mit sich<br />

herumtrugen. Auch das Reden<br />

von der „gelben Gefahr“ stammt<br />

aus dieser Zeit, weckte das riesige<br />

Land mit der großen Bevölkerung<br />

doch Begehrlichkeiten als ökonomisches<br />

Expansionsgebiet und Ängste zugleich.<br />

Einige Ereignisse des Krieges wurden zu ruhmvollen,<br />

heldenhaften Taten deutscher Soldaten verklärt: Am<br />

Angriff auf die den Zugang nach Peking sichernden<br />

„Dagu-Forts“ an der Küste am 17. Juni 1900 beteiligte<br />

sich das deutsche Kanonenboot „Iltis“. Die Eroberung<br />

der Festung wurde im Deutschen Reich euphorisch<br />

gefeiert und es gab seitenlange Berichte über die<br />

Rolle des Kanonenbootes bei den Kämpfen. Noch<br />

heute loben rechte Kreise die Eroberung als nationale<br />

Heldentat. In München-Trudering erinnern seit 1933<br />

die Taku-Fort-Straße und die Iltisstraße an die deutsche<br />

Beteiligung, wobei die Erläuterung der Iltisstraße<br />

später offiziell geändert wurde: Heute ist sie nach<br />

dem „heimischen Raubtier Iltis aus der Familie der<br />

Marder“ benannt.<br />

„The Germans To The Front!“<br />

Ein weiterer Mythos des Boxerkriegs war der angebliche<br />

Ruf des britischen Admirals Seymour: „The Germans<br />

To The Front“, der in Deutschland so interpretiert<br />

wurde, als sei das deutsche Truppenkontingent<br />

wegen besonderer Tapferkeit nach vorne beordert<br />

worden. Tatsächlich versuchte eine multinationale<br />

Einheit unter britischer Führung im Juni 1900 nach<br />

postkolonial


66<br />

postkolonial<br />

Martin W.<br />

Rühlemann<br />

ist Historiker aus<br />

München. Die Gruppe<br />

[muc] München<br />

Postkolonial setzt<br />

sich mit den Spuren<br />

des Kolonialismus in<br />

der Stadt München<br />

auseinander.<br />

www.muc.postkolonial.net<br />

Peking vorzustoßen, musste sich aber bald zurückziehen.<br />

Erst der Befehl zum Umdrehen beförderte vermutlich<br />

die deutschen Soldaten an die Spitze. Vor<br />

allem das massenhaft reproduzierte Gemälde „The<br />

Germans To The Front“ (1902) von Carl Röchling als<br />

Postkarte verbreitete in den Folgejahrzehnten die<br />

Deutung des Befehls als Anerkennung des Mutes und<br />

der Bestätigung des deutschen Strebens nach „Weltgeltung“<br />

durch das mächtige britische Empire.<br />

Besonders im Zuge des Kampfes gegen die sogenannte<br />

„Kolonialschuldlüge“ in den 1920er Jahren<br />

wurde das Bild wieder aktuell.<br />

Die „Kolonialschuldlüge“<br />

In den Jahren der Weimarer Republik sank zwar die<br />

Mitgliederzahl kolonialer Gruppen, aber dennoch<br />

hielten sie eine erstaunliche Aktivität aufrecht. Erklärbar<br />

ist dies nur vor dem Hintergrund der populären<br />

Kampagne gegen die sogenannte „Kolonialschuldlüge“<br />

und für die Rückgabe der „geraubten“ Kolonien.<br />

Deutschland musste im Versailler Vertrag 1918 alle<br />

Kolonien abgeben, mit der Begründung, das Land<br />

hätte sich als unfähig zum Führen von Kolonien<br />

erwiesen. Zudem herrschte Deutschland grausam und<br />

schlecht in den Kolonien. Vor allem den Vorwurf, die<br />

Deutschen wären nicht fähig gewesen, Kolonien zu<br />

betreiben, empfanden weite Kreise der Gesellschaft<br />

als Demütigung. Zur Widerlegung der Vorwürfe<br />

erschienen in den 1920er Jahren zahlreiche Publikationen,<br />

Romane, Erinnerungsbücher oder Filme, die<br />

ein idyllisches Bild der grausamen Kolonialherrschaft<br />

zeichneten. Diese massive Propaganda prägte in<br />

Folge lange das Selbstbild der Deutschen als „gute<br />

Kolonisatoren“.<br />

Münchens Kolonialkrieger<br />

– Münchens Kolonialstraßen<br />

Die ehemaligen Kolonialsoldaten trugen nicht unwesentlich<br />

zu dieser Propaganda bei. Die „Kriegerschaft“<br />

war eine der aktivsten Organisationen in München.<br />

Sie pflegte nicht nur Erinnerungen an die Kolonialkriege,<br />

sondern engagierte sich auch für die Rückgabe<br />

der Kolonien und popularisierte weiterhin koloniale<br />

Phantasien. 1926 feierten die ehemaligen „Kolonialkrieger“<br />

im Rahmen eines Kolonialgedenktages ihr<br />

25-jähriges Bestehen in Anwesenheit des bayrischen<br />

Innenministers und Polizeipräsidenten. Die Ansprache<br />

hielt am Abend der berüchtigte Kolonialveteran und<br />

„Chinakrieger“, Freikorpsgründer und Putschist Ritter<br />

Franz Xaver von Epp in seiner Funktion als Ehrenpräsident<br />

der „Kriegerschaft deutscher Kolonialtruppen<br />

München“. An den Gedenktagen, die die „Kolonialkrieger“<br />

veranstalteten, nahm immer viel Prominenz<br />

teil und auch wenn die einzelnen Organisationen<br />

zahlenmäßig nicht besonders stark waren, hatte die<br />

koloniale Bewegung doch einen beträchtlichen<br />

gesellschaftlichen Einfluss: Die Benennung von Straßen<br />

und Plätzen in unzähligen deutschen Städten<br />

nach Namen aus den ehemaligen deutschen Kolonien<br />

in den 1920er Jahren erfolgte beispielsweise nicht<br />

zuletzt durch anhaltenden Lobbyismus der kolonialen<br />

Gruppen. In München wurden ab 1925 Straßen mit<br />

Namen der „verlorenen“ Kolonien und nach Kolonialpolitikern<br />

und -militärs versehen, zuerst im Münchner<br />

Westen und 1932 in München-Zamdorf. Mit der<br />

Ehrung von grausamen Kriegsherren wie Hans Dominik<br />

oder Hermann von Wißmann wurde der positive<br />

Blick auf koloniale Machtverhältnisse offiziell festgeschrieben.<br />

Der Einfluss der Kolonialrevisionisten zeigte<br />

sich auch anlässlich der kolonialen Straßenbenennungen<br />

bei der Eingemeindung Truderings 1932/33.<br />

1964 lebten außer ihm noch drei China-Veteranen in<br />

München, erzählte der „Chinesen-Maier“. Er gehörte<br />

der Vereinigung der „Kolonial-Kameraden“ in München<br />

an. Die „Kolonialkrieger“ sind inzwischen längst<br />

verstorben. Die hitzige Debatte um die Umbenennung<br />

der Münchner „Kolonialstraßen“ vor einigen<br />

Jahren weist aber darauf hin, dass ein Bewusstsein<br />

über Deutschlands koloniale Verbrechen nach wie<br />

vor kaum verbreitet ist.


Der Bauchredner aus dem Allgäu<br />

Regionale Kriminalromane haben derzeit Hochkonjunktur. Besonders erfolgreich ist das Autorenduo<br />

Klüpfel und Kobr. Ihr Erstlingswerk Milchgeld mit dem mürrischen Kommissar Kluftinger führte vom Fleck<br />

weg die Bestsellerlisten an. Welche Bedürfnisse die Autoren damit befriedigen und warum das nicht auf<br />

die leichte Schulter zu nehmen ist, ermittelt Caspar Schmidt.<br />

Die aktuelle Schwemme regionaler Kriminalromane –<br />

von Hamburg bis ins Allgäu – ist überwältigend. Der<br />

Branchenprimus Emons Verlag („Wir machen alles,<br />

was die großen Verlage machen, allerdings mit regionalem<br />

Bezug“) führt mittlerweile über 40 Serien in<br />

seinem Sortiment. Regionale Kulinaria, bekannte Plätze<br />

und bewegende Ereignisse der örtlichen<br />

Geschichtsschreibung bilden die Kulisse um den<br />

jeweiligen Kriminalfall, sodass sich die Ortskundigen<br />

beim Lesen an ihrem Spezialwissen erfreuen können.<br />

Dabei wird der Charakterzug der Region stark überzeichnet,<br />

stärker noch als beim „Tatort“. Bei der<br />

öffentlich-rechtlichen TV-Krimi-Reihe begnügt man<br />

sich in der Regel damit, eine Mundart-Nebenrolle zu<br />

besetzen – einen Deppen vom Dienst sozusagen –<br />

und die Ermittelnden kommen mehrheitlich weniger<br />

verwurzelt daher. Bei den regionalen Kriminalromanen<br />

hingegen bilden der Depp vom Dienst und der<br />

zumeist männliche Kommissar eine Personalunion.<br />

Das Buch Milchgeld der Hobbyautoren Klüpfel und<br />

Kobr ist das erste Werk einer mittlerweile siebenbändigen<br />

Serie. Diese Bucherscheinung eignet sich gut,<br />

um die Erfolgsfaktoren der regionalen Kriminalroma-<br />

ne darzustellen. Milchgeld beginnt mit einer ersten<br />

Charakterstudie des ermittelnden Kommissars Kluftinger<br />

beim Verzehr von Käsespatzen, die er sich jeden<br />

Montag von seiner Frau servieren lässt. Um Essen<br />

dreht es sich auch erschöpfend auf den 300 folgenden<br />

Seiten. Kluftinger ernährt sich fast ausschließlich<br />

von regionaler Kost. Das einzige als „exotisch“<br />

beschriebene Gericht, für das er sich in Ausnahmefällen<br />

erwärmen kann, sind Spaghetti-Fertigpackungen.<br />

Rucola, Latte Macchiato und Balsamico hält Kluftinger<br />

für „Modetrends, die man mitmachen muss, wenn<br />

man den Anschein machen will, dass man beim<br />

Essen international, weltoffen und genießerisch“ ist.<br />

International, weltoffen und genießerisch ist Kluftinger<br />

aus Überzeugung nicht. Lokalpatriotismus, Argwohn<br />

gegenüber allem „Fremden“ und eine ausgesprochene<br />

Lustfeindlichkeit zeichnen ihn aus.<br />

Parmesan, der „Italiener ihr alter Bröckelkäse“, sollte<br />

seiner Meinung nach im Allgäu nicht hergestellt werden,<br />

da „man so guten einheimischen Käse im Allgäu“<br />

hat. Selbst Semmeln erscheinen Kluftinger zu<br />

abgehoben. Früher sei „man ja auch ohne Semmeln<br />

ausgekommen“, belehrt der Kommissar und zieht das<br />

debattencaspar<br />

Caspar Schmidt<br />

ist freier Journalist<br />

und Intelektueller<br />

aus München


68<br />

debattencaspar<br />

1 Im 18. Jahrhundert<br />

wurden Aufständische<br />

in den<br />

antihabsburgischen<br />

Kriegen als Kuruzen<br />

bezeichnet. Die Aufständischenunterstützten<br />

die Türken,<br />

und der Ruf „Die<br />

Kuruzen und die<br />

Türken kommen“<br />

wurde irgendwann<br />

zum Fluch „Kruzitürken!“.<br />

Schwarzbrot der Semmel vor. Wer es bis zur Seite 54<br />

des Romans geschafft hat, bekommt zu lesen, wie<br />

sich Kluftinger in eine Dönerbude verirrt. Dort rutscht<br />

dem Kommissar – da ihm der Döner zu scharf ist –<br />

ohne Hintergedanken der rassistische bayerische<br />

Fluch „Kruzitürken“ 1 heraus. Das ist ihm vor den<br />

anwesenden türkischen Bauarbeitern im Nachhinein<br />

zwar peinlich, aber sicher nicht den meisten Lesenden,<br />

denen er seinen Ruhm zu verdanken hat und<br />

die ein „Kruzitürken“ im Dönerladen vermutlich für<br />

eine gelungene Pointe halten werden.<br />

Kluftinger und die Frauen<br />

Im Roman Milchgeld gibt es zwei grundsätzlich verschiedene<br />

Frauentypen. Eine Gruppe besteht aus<br />

Mutterfiguren, die das Bestreben<br />

eint, den Kommissar mit Essen<br />

zu versorgen, sowie sie bemüht<br />

sind, dass im Kluftinger-Haushalt<br />

alles klappt. Zuvörderst ist da die<br />

Ehefrau, deren Hauptaufgabe zu<br />

sein scheint, ihr „Butzele“ zu versorgen.<br />

Selbst wenn sie auf eine<br />

Reise geht, kocht sie ihm für<br />

eine Woche vor und fühlt sich<br />

dennoch nicht wohl dabei, würde „am lieben hier<br />

bleiben, bei Dir [Kluftinger]. Du weißt doch gar nicht,<br />

wo alles ist.“ Eine weitere Frau in Kluftingers Leben<br />

ist seine Mutter, die ihm in der Zeit der Abwesenheit<br />

seiner Ehefrau die Käsespatzen zubereitet, die ihr<br />

freilich noch besser gelingen. Gleichwohl aufmerksam<br />

zeigt sich die Sekretärin Frau Henske. Sie bringt<br />

chronisch Kaffee und auch Quarktaschen. Als sie von<br />

der Abwesenheit von Kluftingers Frau erfährt, bietet<br />

sie ihm an: „Ach herrje, da müssen Sie ja jetzt selber<br />

kochen und waschen und so? Also wenn Sie wollen,<br />

nehme ich Ihnen gerne einmal einen Korb ab.<br />

Wäsche meine ich.“ Das gefällt Kluftinger. Zu Anfang<br />

hatte er Frau Henske noch für eine „Tussi“ gehalten,<br />

womit im Grunde die zweite Frauengruppe grob<br />

gefasst werden könnte.<br />

In diese Kategorie fällt zum Beispiel teilweise die<br />

„Künstlernatur“ Theresa, deren Haare „völlig chaotisch<br />

und zufällig ihrem am Hinterkopf verankert“<br />

sind und deren Kleidung Kluftinger an die „Öko-Weiber“<br />

vom alternativen Markt erinnert. Oder auch die<br />

„südländisch aussehende Surferin im knappen Bikini“,<br />

die auf einem Poster für Allgäuer Käse wirbt. „Früher<br />

hat man mit Kühen und Älplern für Käse geworben,<br />

und jetzt mit nackerte Weiber. Na dann Mahlzeit.“,<br />

kommentiert Kluftinger, seinem Schema stets treu.<br />

Sein Kampf gegen das „Fremde”,<br />

Abstrakte sowie Nicht-Konforme<br />

Die Leitmotive des Plots lassen<br />

sich auf zwei Paradigmen reduzieren:<br />

„Früher war alles besser“ und<br />

„Alles Böse kommt von Außen.“<br />

Abweichler, die aus seinem strengen Rollenschema<br />

fallen, sind Kluftinger regelrecht verhasst: „Bartsch<br />

war Kluftinger auf den ersten Blick unsympathisch. Er<br />

trug eine rosa Krawatte. Eine rosa Krawatte! Sein<br />

Vater hätte ihn früher für so etwas verprügelt. Kluftinger<br />

bremste sich selbst.“ Keinen Spaß versteht der<br />

Regionalpatriot auch bei allem Amerikanischen, insbesondere<br />

bei Anglizismen. Begriffe wie „Flipchart“<br />

korrigiert er demonstrativ und umständlich mit „die<br />

Tafel mit Papier drauf“, Kollegen ermahnt er, das<br />

Wort „auschecken“ nicht zu verwenden und am<br />

Begriff „Relaunch“ stößt sich der Kommissar ebenfalls.<br />

Er vermeidet im Allgemeinen „ausländisch zu<br />

reden“, es sei denn, es dient<br />

seiner eigenen Belustigung.<br />

Während einer langwierigen<br />

Obduktion vertreibt er sich<br />

seine Zeit beispielsweise mit<br />

der Mittelwelle: „Er musste<br />

lachen, als er offenbar eine<br />

Nachrichtensendung hörte, die<br />

wie eine Mischung aus Russisch,<br />

Chinesisch und den Lauten,<br />

die Zeichentrickfiguren im Fernsehen immer von<br />

sich gaben, klang. Er machte sich einen Spaß daraus,<br />

immer ein paar Wortfetzen nachzusprechen.“ (Das<br />

war kurz nachdem er den Sender mit „Experimentalmusik“<br />

abgedreht hatte, die er für Musik nicht halten<br />

mag). Ein Auszug:<br />

„,Weiber’ [Anm.: damit ist die Ehefrau gemeint], sagte<br />

er schließlich laut und schüttelte den Kopf [...] Er griff<br />

zur Fernbedienung und ,zappte’, wie sein Sohn es<br />

nannte. Programm zwanzig, der amerikanische<br />

Sportkanal brachte Baseball. So ein Schmarr’n, dachte<br />

er bei sich, das Spiel kapiert doch wirklich keiner, die<br />

stehen ja nur rum.“<br />

Man könnte meinen, Kluftinger würde mit seiner<br />

Feindlichkeit allem Fremden gegenüber so überspitzt<br />

dargestellt, dass die Lesenden nicht mit, sondern über<br />

ihn lachen. Dem entgegen steht aber, dass die Story,<br />

die literarische Objektive sozusagen, das Bauchgefühl<br />

des Kommissars vollends bestätigt. Der Inhalt des<br />

Buches Milchgeld ist schnell zusammengefasst: Die<br />

Käserei Schönmanger – im Zentrum der Handlung –<br />

war ein ehrwürdiges Familienunternehmen mit einem<br />

harten, aber gerechten Senior. Der alte Patriarch<br />

behandelte „seine“ Bauern und Angestellten stets gut.<br />

Seitdem sich aber sein Sohn einmischt, also die<br />

moderne Betriebswirtschaft Einzug erhält, gerät das


Familienunternehmen in Gefahr. Hinter dem Rücken<br />

des Seniors lässt der Sohn heimlich Milchpulver aus<br />

Russland importieren. Das Pulver ist billig, weil es<br />

nicht eigens produziert, sondern von Hilfslieferungen<br />

für Afrika abgezweigt wird. Ein Lebensmitteldesigner<br />

sorgt daraufhin mit viel Chemie dafür, dass der Käse<br />

mit dem beschafften Milchpulver sogar schneller reift<br />

als mit landläufiger Milch. Dank der erhöhten Grenzwerte<br />

durch die Europäische Union ist das illegale<br />

Verfahren im Käse nicht mehr nachweisbar. Jemand<br />

entdeckt die Machenschaften des Sohnes und erpresst<br />

den Lebensmitteldesigner. Als dieser die Nerven verliert,<br />

wird der alte Unternehmer eingeweiht. Getrieben<br />

von „Wut, Verzweiflung und unsäglicher Angst<br />

um sein Lebenswerk“, der Käserei, schlägt der Senior<br />

den Lebensmitteldesigner sowie den Erpresser tot.<br />

Die Leitmotive des Plots lassen sich auf zwei Paradigmen<br />

reduzieren: „Früher war alles besser“ und „Alles<br />

Böse kommt von Außen“ – womit dem Bauchgefühl<br />

Kluftingers eine ungeahnte Versachlichung zuteil<br />

wird. Gegen das feindlich gesonnene Außen wird der<br />

regional verwurzelte Unternehmer ins Feld geführt,<br />

der wertkonservative Kapitalist, der Fels in der Brandung,<br />

ein Schön manager eben, der so anständig ist,<br />

dass ihn seine positiven Eigenschaften sogar zum<br />

Mord treiben. Der Rheinische Kapitalismus eines<br />

Schönmanger wird damit positiv einem modernen, als<br />

entwurzelt markierten Kapitalismus entgegen gehalten,<br />

so als wären das wirkliche Gegensätze und als<br />

wären Betrügereien erst mit der modernen Betriebswirtschaft<br />

in die Ökonomie geraten. Dass die konkreten<br />

Feindbilder in Milchgeld dann von Russen und<br />

einer vereinten europäischen Bürokratie besetzt werden,<br />

fügt sich so nahtlos ins klischeehafte Elaborat<br />

wie Kluftingers gestandener Antiamerikanismus.<br />

Heimatkrimi und die alten Leute<br />

Das wirft die Frage auf, welche Bedürfnisse mit solch<br />

einem Buch befriedigt werden, weshalb es zum Kassenschlager<br />

wurde. Sicher haben die Autoren Klüpfel<br />

und Kobr damit ihre Vorstellung von einem<br />

„ursprünglichen“ Allgäu – scharf getrennt von einem<br />

neumodischen Allgäu – ausleben können. Als Referenzen<br />

für ihre Ursprünglichkeit zogen sie aber<br />

scheinbar die noch lebenden Alten beziehungsweise<br />

ihre Erinnerungen an ihre eigenen Großeltern heran.<br />

Sie berücksichtigten dabei nicht, dass diese Generation<br />

im Schatten des Nationalsozialismus und deren<br />

Vorfahren von völkischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts<br />

geprägt wurden, diese Anschauungen nicht<br />

das Allgäu an sich widerspiegeln, sondern eine<br />

moderne und finstere Etappe. Es könnte nämlich<br />

selbst in der Einöde des Allgäus durchaus eine Zeit<br />

gegeben haben, in der man sich „international, weltoffen<br />

und genießerisch“ gab – um Kluftingers verhasste<br />

Attribute noch einmal aufzunehmen –, als man<br />

zum Beispiel eine Allianz zusammen mit Frankreich<br />

gegen Österreich einging, aber auch schon zuvor.<br />

Das heutige Referenzieren auf das 19. und frühe 20.<br />

Jahrhundert als Quelle des vermeintlich Ursprünglichen<br />

kann als eine schlechte Angewohnheit angesehen<br />

werden. Tatsächlich herrschten im Allgäu weltoffenere<br />

sowie sehr reaktionäre Zeiten und die letzte<br />

Kriegsgeneration wurde sicher in einer sehr reaktionären<br />

geprägt. Um es kurz zu formulieren: Kommissar<br />

Kluftinger ist kein „Original“ sondern typisches<br />

Kind einer faschisierten Generation, die durch seinen<br />

Bauch weiter spricht. Dass ihn viele Lesenden gerade<br />

für dieses Bauchgefühl so lieben, ist alarmierend. Es<br />

wäre ein gutes Zeichen, wenn derlei Romane keine<br />

Erfolge zu verbuchen hätten.<<br />

debattencaspar


70<br />

bitte mitte<br />

Herrschaft des Verdachts<br />

Bayern macht mobil. Es geht gegen den „Extremismus“. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz<br />

spielt mit dem antifaschistischen Archiv a.i.d.a. Hase und Igel. Von Fred König<br />

Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich’s weiter ungeniert.<br />

Mit dieser scherzhaften Redewendung könnte<br />

sich auch das a.i.d.a.-Archiv<br />

über den Ärger hinwegtrösten,<br />

den es seit bald drei Jahren mit<br />

dem Bayerischen Landesamt für<br />

Verfassungsschutz (VS) hat.<br />

a.i.d.a. ist die „Antifaschistische<br />

Informations-, Dokumentationsund<br />

Archivstelle“ in München, die<br />

nach fast 20-jähriger anerkannter<br />

und mit zahlreichen Auszeichnungen bedachter Tätigkeit<br />

gegen Neonazi-Umtriebe in Süddeutschland 2009<br />

erstmals im Verfassungsschutzbericht des bayerischen<br />

Geheimdienstes für das Jahr 2008 auftauchte und dort<br />

als „linksextremistisch“ eingeordnet wurde. Am Beispiel<br />

der Münchener Faktensammler gegen Rechts<br />

lässt sich in besonders drastischer Weise nachzeichnen,<br />

was passiert, wenn man im Zuge der neuen<br />

„Extremismus“-Konjunktur als „linksextrem“ gebrandmarkt<br />

wird und wie schwer es ist, sich dagegen zu<br />

wehren und den eigenen Ruf zu retten.<br />

„Unterwanderungsversuche“<br />

zur „Beseitigung unserer Grundordnung“<br />

Es sei Abwägungssache, wann es eine Verfassungsschutzbehörde<br />

für angesagt und verhältnismäßig<br />

erachte, eine Gruppierung in den Verfassungsschutzbericht<br />

aufzunehmen, bei der „Anhaltspunkte“ für<br />

verfassungsfeindliche und „gegen die freiheitlichdemokratische<br />

Grundordnung gerichtete“ Betätigung<br />

erkannt würden. So erklärt der stellvertretende Pressesprecher<br />

des Bayerischen Innenministeriums, Peter<br />

Hutka, weshalb a.i.d.a erst 19 Jahre nach Vereinsgründung<br />

ins Visier des Landesamtes geraten sei. Innenminister<br />

Joachim Herrmann wurde, was den Zeitpunkt<br />

der Aufnahme in den VS-Bericht betrifft, bei<br />

dessen Präsentation im März 2009 deutlicher: A.i.d.a.<br />

versuche „verstärkt bei demokratisch initiierten Projekten<br />

gegen Rechtsextremismus Fuß zu fassen und<br />

hier Einfluss zu gewinnen“. In letzter Konsequenz, so<br />

Herrmann, gehe es a.i.d.a. bei solchen „Unterwanderungsversuchen“<br />

um die „Beseitigung unserer Grundordnung“.<br />

Starker Tobak. Die wahren Gründe für diese rabiaten<br />

Anwürfe des Innenministers<br />

sieht die Rechtsanwältin von<br />

a.i.d.a., Angelika Lex, ganz<br />

woanders: Sie habe mit ihrer<br />

Mandantin lange über diese<br />

Kampagne des Verfassungsschutzes<br />

gegrübelt, deren Hartnäckigkeit<br />

zumal nach einem<br />

vernichtenden Gerichtsurteil<br />

kaum noch nachvollziehbar sei. Das Innenministerium<br />

wolle sich, so Lex’ These, die Definitionsmacht<br />

über das Thema „Rechtsextremismus“ nicht von<br />

einem derart erfolgreichen Akteur wie a.i.d.a. streitig<br />

machen lassen, bei dem selbst Verfassungsschützer<br />

anderer Bundesländer wegen Informationen vorstellig<br />

würden. A.i.d.a. rede einfach dort Tacheles über Ausmaß<br />

und Strukturen der rechten Szene in Bayern, wo<br />

die Innenbehörden gerne behaupten, das Thema sei<br />

weit unbedeutender und man habe alles im Griff,<br />

vermuten die Betroffenen und ihre Anwältin. Als<br />

a.i.d.a. dann auch noch im Rahmen des Bundesprogramms<br />

„kompetent für Demokratie“ im Beratungsnetzwerk<br />

der „Landeskoordinierungsstelle Bayern<br />

gegen Rechtsextremismus“ auftauchte, war das Maß<br />

für den Verfassungsschutz wohl voll: Das Innenministerium<br />

ließ a.i.d.a. aus dem Gremium entfernen und<br />

sorgte mit der Nennung der Archivstelle im Verfassungsschutzbericht<br />

auch dafür, dass der kleine Verein<br />

mit rund dreißig Fördermitgliedern und einer Handvoll<br />

Aktiver seine Gemeinnützigkeit einbüßte.<br />

Der Verfassungsgericht sieht in<br />

einer Linksammlung auf der Website<br />

von a.i.d.a. einen „tatsächlichen<br />

Anhaltspunkt” für dessen<br />

„Linksextremismus”.<br />

Bayerische Halsstarrigkeit<br />

Seither gleicht der gerichtliche Wettlauf von a.i.d.a.<br />

mit dem Innenministerium dem Rennen zwischen<br />

Hase und Igel: Noch während das Verfahren gegen<br />

die erste Nennung im VS-Bericht 2008 lief, wiederholte<br />

der Geheimdienst den Vorwurf in seinem Bericht<br />

für 2009. Und obwohl am 23. September 2010 ein für<br />

den Verfassungsschutz vernichtendes Urteil des Verwaltungsgerichtshofes<br />

(VGH), des bayerischen Äquivalents<br />

zu einem Oberverwaltungsgericht (OVG),<br />

zum VS-Bericht 2008 erging (Az 10 CE 10.1830),


wiederholte der VS seine Vorwürfe – etwas vorsichtiger<br />

– in seinem Bericht für 2010, der im März dieses<br />

Jahres erschien. In einer detaillierten Erörterung<br />

erläutert der VGH Maß und Ziel der Unterrichtung<br />

der Öffentlichkeit über „verfassungsfeindliche Bestrebungen“<br />

und den stigmatisierenden und rufschädigenden<br />

Charakter der Nennung im VS-Bericht, der<br />

„die politische und gesellschaftliche Isolierung der als<br />

extremistisch bezeichneten Gruppierung“ bezwecke.<br />

Dieser gravierende Eingriff in die Rechte der Genannten<br />

dürfe deshalb kein „nicht durch belegbare Tatsachen<br />

gestützter ‚bloßer Verdacht’“ sein. Und dass der<br />

bayerische Verfassungsschutz a.i.d.a. hier lediglich<br />

„etiketthaft“ dem Verdacht des „Linksextremismus“<br />

aussetzt, fasst das Gericht so zusammen: „... der<br />

Bericht enthält über den Antragsteller [a.i.d.a.] ein<br />

auch nicht ansatzweise durch tatsächliche Anhaltspunkte<br />

nachvollziehbar belegtes Negativurteil“, weshalb<br />

a.i.d.a aus dem Bericht 2008 gänzlich zu entfernen,<br />

die entsprechenden Stellen in der Druckversion<br />

zu schwärzen seien.<br />

Das ficht den bayerischen Verfassungsschutz nicht an:<br />

Im Gespräch mit Pressesprecher Hutka ist kein Zweifel<br />

hörbar, dass es sich bei a.i.d.a. um eine „linksextremistische“<br />

Organisation handele. Dabei bezieht<br />

sich Hutka auch auf das jüngste, nun wieder auf den<br />

VS-Bericht 2009 bezogene Urteil des Verwaltungsgerichts<br />

(VG) München vom 26. Mai 2011, das beide<br />

Parteien als Teilerfolg reklamieren. Das VG sieht in<br />

einer Linksammlung auf der Website von a.i.d.a.<br />

einen „tatsächlichen Anhaltspunkt“ für dessen „linksextremistische“<br />

Ausrichtung, verbietet dem Innenministerium<br />

jedoch, die a.i.d.a.-Aktiven als „dem linksextremistischen<br />

Spektrum zuzurechnen“ zu bezeichnen.<br />

Gegen das Urteil haben beide Seiten Beschwerde eingelegt.<br />

Jetzt und in den kommenden Verfahren –<br />

Angelika Lex hat bereits Beschwerde gegen die<br />

Erwähnung a.i.d.a.s im VS-Bericht für 2010 eingelegt<br />

– geht es also nur noch um die Frage der Haftung für<br />

auf einer Homepage im Internet veröffentlichte Links.<br />

Die bayerische Verfassungsschutzbehörde hat mehr<br />

als 400 Mitarbeiter, a.i.d.a. ist ein kleiner, auf Spenden<br />

angewiesener Verein, dessen nun angeschlagene<br />

Reputation den Spendenfluss vermutlich nicht beflügelt<br />

hat: Warum verfolgt der Verfassungsschutz diesen<br />

Verein trotz ziemlich eindeutiger Gerichtsbeschlüsse,<br />

die a.i.d.a. vor der Etikettierung als „linksextremistisch“<br />

in Schutz nehmen, weiter so halsstarrig? Unterdessen<br />

taucht die Archivstelle mit geradezu besserwisserischer<br />

Genugtuung im Internet auch im Halbjahres-VS-Bericht<br />

2011 wieder auf : „Ick bün al dor!“<br />

ruft der VS-Igel.<<br />

Nachtrag vom Ober-Igel<br />

nach Redaktionsschluss:<br />

Die Mord- und Anschlagserie<br />

durch die rechtsextremistische<br />

Terrorzelle in Thüringen dürfe<br />

keine Verharmlosung des Linksextremismus<br />

zur Folge haben, kommentierte<br />

Bayerns Innenminister<br />

Joachim Herrmann (CSU) den<br />

aktuellen Beschluss des Verwaltungsgerichts<br />

München. Der Teil<br />

im Verfassungsschutzbericht 2010<br />

zu a.i.d.a wurde vor wenigen<br />

Tagen zum dritten Male in drei<br />

Jahren vom Verwaltungsgericht<br />

korrigiert. Die komplette Streichung<br />

des Abschnitts will a.i.d.a<br />

vor dem Verwaltungsgerichtshof<br />

erreichen.<br />

bitte mitte<br />

Fred König<br />

ist Philosoph und<br />

freier Autor. Er lebt<br />

und arbeitet in Wurmannsquick.


72<br />

bitte mitte<br />

Extrem unbrauchbar<br />

Die Bundesregierung legt Programme zur allgemeinen Extremismusbekämpfung auf, die Bayerische<br />

Staatsregierung schaltet die Website „Bayern Gegen Linksextremismus“ und auch der Kampf gegen<br />

rechts bedient sich gerne des Labels „rechtsextrem“. Doch was ist eigentlich „Extremismus”? Eine Kritik<br />

eines inhaltsleeren Begriffs der Normierung von Nikolai Schreiter<br />

Die „Extremismusklausel“ von Familienministerin<br />

Schröder hat viel Protest hervorgerufen,<br />

Bündnisse und Organisationen haben sich<br />

„gegen Misstrauen, Bekenntniszwang und Generalverdacht“<br />

gewandt, die die Zusammenlegung der Programme<br />

gegen „Links- und Rechtsextremismus“ und<br />

die Forderung nach dem Bekenntnis zum Grundgesetz<br />

hervorrufen. Gleichzeitig geht die Bayerische<br />

Staatsregierung mit der Seite „Bayern Gegen Linksextremismus“<br />

online, eine je nach Perspektive unterhaltsame<br />

oder gefährliche, in jedem Fall aber interessante<br />

Seite. Der Protest und die Auseinandersetzung mit<br />

dem Extremismusdiskurs war und ist also offensichtlich<br />

notwendig. Allerdings wird auch im Rahmen der<br />

Proteste die grundsätzliche Notwendigkeit einer<br />

„Extremismusbekämpfung“ häufig nicht hinterfragt<br />

und der Extremismusdiskurs bildet den Rahmen. Welche<br />

Folgen dieser aber eigentlich hat, wem er nützt<br />

und warum er von der Bundesregierung befeuert<br />

wird, geht unter. Um was geht es also, wenn jemand<br />

wie Kristina Schröder „Extremismus jeglicher Couleur“<br />

bekämpfen will?<br />

„Neutralität der Mitte“<br />

Kristinas kleine Fingerübung<br />

Soviel von der Mettwurst, aber bitte ohne Ende<br />

Das Wort Extremismus sagt zunächst einmal nämlich<br />

nichts aus. Es beschreibt lediglich eine Relation und<br />

kann verstanden werden als „am äußersten Rand“,<br />

„sehr weit außen“, und muss immer als Verhältnis zu<br />

einer Referenz gedacht werden. „Extremismus“ allein<br />

ist ein inhaltsleeres Wort, man könnte sagen, es gibt<br />

den „Extremismus“ nicht. Und gerade darin liegt die<br />

große Gefahr seiner Verwendung. Der Extremismusdiskurs<br />

zieht eine <strong>Grenze</strong>, sie schafft zwei Kategorien.<br />

Die „gute Mitte“ einerseits, und die „bösen Extreme“<br />

andererseits, die zu bekämpfen seien. Diese „Mitte“<br />

definiert sich selbst als „normal“, „neutral“ und „richtig“,<br />

doch es geht unter, dass die „Mitte“ nur die<br />

„Mitte“ ist, weil sie historisch so gewachsen ist,<br />

umkämpft war und sowie aus den unterschiedlichsten<br />

Gründen so hegemonial wurde, um heute ungeachtet<br />

der tatsächlichen Inhalte wirkungsvoll die eigene<br />

„Ausgewogenheit“, „Neutralität“ und „Richtigkeit“ propagieren<br />

zu können. Denn genau das tut der Extremismusdiskurs:<br />

Aus der „Mitte“ heraus wird der Status<br />

Quo zur „besten Möglichkeit“ erhoben, jegliches<br />

Nachdenken über fundamentale Probleme dieses Status<br />

Quo und radikale Kritik daran wird in die „extremistische“<br />

Ecke gestellt, mit Repression und Ausgrenzung,<br />

mit Stigmatisierung und Diffamierung belegt.


Die doppelte Leere des Hufeisens<br />

Wesentliches Merkmal des Extremismusdiskurses ist<br />

die Verhinderung inhaltlicher Auseinandersetzung<br />

sowohl mit hegemonialen Strukturen als auch mit<br />

den als „extremistisch“ bezeichneten, davon abweichenden<br />

Positionen. Ihm liegt die Vorstellung einer<br />

hufeisenförmigen Gesellschaft zugrunde; diese impliziert<br />

ein Kontinuum, etwa von „linksextrem“ über<br />

sozialdemokratisch, liberal, konservativ bis zu „rechtsextrem“.<br />

Schon diese Vorstellung macht überhaupt<br />

keinen Sinn, denn diese Kategorien sind allesamt<br />

heterogen und schwammig. In dieser Logik werden<br />

„links“ beispielsweise der Stalinismus, die „Globalisierungskritik“,<br />

Antifa-Gruppen, Anarchismus und<br />

Queer-Feminismus in eine Ecke gestellt, „rechts“ gibt<br />

es einen ähnlich willkürlich zusammengewürfelten<br />

Topf voller Widerwärtigkeiten wie dem „autonomen<br />

Nationalismus“, Burschenschaften, „Die Freiheit“ und<br />

Neonazis. Der Extremismusdiskurs führt also zu<br />

inhaltlicher Leere auf zwei Ebenen: Einerseits werden<br />

die unterschiedlichen Inhalte „innerhalb“ der jeweiligen<br />

„extremistischen“ Positionen als homogen dargestellt.<br />

Außerdem werden mit der Verwendung des<br />

Extremismusbegriffs gar alle diese nicht-hegemonialen<br />

Positionen zusammengefasst, obwohl sie selbst in<br />

der Vorstellung der Hufeisengesellschaft diametral<br />

entgegengesetzt zu einander stehen, sich gegeneinander<br />

abgrenzen und teils aktiv bekämpfen. Die Folge<br />

sind Gleichsetzung von so unterschiedlichen politischen<br />

Inhalten wie dem emanzipatorischen Streben<br />

nach der Freiheit von Herrschaft einerseits und dem<br />

Ruf nach einem Führer der Nation andererseits.<br />

Scheuklappen des Extremismusdiskurses<br />

Gleichzeitig dient der Extremismusdiskurs der „Mitte“<br />

dazu, sich selbst Kritik zu entziehen: Durch die Konstruktion<br />

des „bösen, extremistischen“ Anderen, die<br />

Abgrenzung davon und seine Verurteilung werden<br />

beispielsweise Rassismen innerhalb der „Mitte“ und<br />

der Gesellschaft als Ganzes de-thematisiert und als<br />

„rechtsextremistisch“ gelabelt. Es werden Ausgrenzungs-<br />

und Unterdrückungsmechanismen ausschließlich<br />

bestimmten „extremistischen“ Akteuren zugeschrieben,<br />

diese verurteilt und damit der Eindruck<br />

erweckt, die „Mitte“ wäre grundsätzlich frei davon. Es<br />

ist deshalb nicht zufällig, dass der Extremismusbegriff<br />

von hegemonialen Kräften benutzt wird. Damit bleibt<br />

die Deutungshoheit über die Legitimität von Positionen<br />

bei ihnen und eine inhaltliche Auseinandersetzung<br />

bleibt aus. Der Extremismusbegriff führt zu<br />

einer Norm(alis)ierung von Gesellschaft, einer Verengung<br />

des Korridors der gesellschaftlich akzeptierten<br />

Positionen; es ist der Versuch eines Auf-Linie-Bringens.<br />

Seine Verwendung unterstützt immer den Mainstream,<br />

der als „positive“ Referenz, gegen den die<br />

„negativen Extremismen“ abgegrenzt werden, fungiert.<br />

Dass nun hegemoniale gesellschaftliche Kräfte, Staat<br />

und Regierung ihre Position durch die Verwendung<br />

des Extremismusbegriffs stärken wollen, verwundert<br />

wenig. Wenn aber Gruppen, die sich gegen diesen<br />

Hegemon, gegen den Staat und seine „Mitte“, seine<br />

„Normalität“ stellen und von ihm dem „Linksextremismus“<br />

zugerechnet werden, sich des Begriffs des<br />

„Rechtsextremismus“ bedienen, agieren sie genau<br />

innerhalb des Deutungsmusters der selbsternannten<br />

„Mitte“, akzeptieren das Konzept der hufeisenförmigen<br />

Gesellschaft und machen sich damit auf die gleiche<br />

Weise angreifbar. Sie stellen sich implizit selbst in<br />

die „extremistische“ Ecke, allein durch deren grundsätzliche<br />

Akzeptanz. Außerdem wird dann auch nicht<br />

klar, ob es sich bei den „Rechtsextremen“ um Neonazis,<br />

Burschenschaftler, „Neue Rechte“, den „Ring<br />

nationaler Frauen“ oder holocaustleugnende katholische<br />

Priester handelt. Diese Unterscheidungen sind<br />

aber für die politische Arbeit von großer Bedeutung,<br />

denn werden die anzugreifenden Gruppen und ihre<br />

Inhalte näher benannt als allgemein „rechtsextrem“,<br />

kann auch deren Kritik und die eigene Argumentation<br />

genauer und individueller zugeschnitten werden.<br />

Die Bereitschaft zur exakten Benennung eigener und<br />

fremder Positionen, die Streichung von „Extremismus“<br />

aus dem eigenen Wortschatz führt zu mehr Klarheit<br />

und – wichtiger – zur Rückgewinnung der Deutungshoheit.<br />

Solidarisierung sieht anders aus<br />

Die „Extremismusklausel“, die von Organisationen die<br />

vom Familienministeriums eine Förderung möchten,<br />

unterzeichnet werden muss, hat außerdem den Effekt<br />

einer Entsolidarisierung unter Gruppen, denen diese<br />

vorgelegt wird, und deren Partnerorganisationen. Es<br />

wird wieder die <strong>Grenze</strong> gezogen zwischen denen, die<br />

sich verpflichten mit „dem Grundgesetz konforme“<br />

Politik zu machen und denen, die es verweigern. Da<br />

kann es ganz schnell passieren, dass die „gute, demokratische<br />

Mitte“ gegen den „bösen, umstürzlerischen<br />

Extremismus“ ausgespielt werden und Bündnisse zerbrechen,<br />

sich Akteurinnen und Akteure mit eigentlich<br />

ähnlichen Zielen von einander distanzieren oder<br />

unter Druck geraten, dies zu tun. Der Versuch, Kritik<br />

unter staatlicher Aufsicht zu üben wird spätestens<br />

dann ad absurdum geführt, wenn die Kritik sich, wie<br />

so oft, gegen den Staat richten muss.<<br />

bitte mitte<br />

Weiterlesen:<br />

Gegen jeden Extremismusbegriff:www.inex.blogsport.de/"http://inex.b<br />

logsport.de/<br />

Bayern Gegen<br />

Linksextremismus:<br />

www.bayern-gegenlinksextremismus.ba<br />

yern.de<br />

www.bayern-gegenlinksextremismus.ba<br />

yern.de/<br />

Nikolai Schreiter<br />

studiert Internationale<br />

Entwicklung<br />

und Politikwissenschaften<br />

in Wien.


74<br />

fragmente<br />

vom außenlicht verfolgt<br />

laufen sie in scharen<br />

unablässig nach norden<br />

zum weißgewaschenen kontinent<br />

im schatten der bestandslisten<br />

warten sie<br />

geduldig ohne schrift ohne papier<br />

bis die zähmung sie erfaßt<br />

SAID<br />

SAID wurde 1947 in Teheran geboren und kam 1965 nach<br />

München. Nach dem Sturz des Schah 1979 betrat er zum<br />

ersten mal wieder iranischen Boden, sah aber unter dem<br />

Regime der Mullahs keine Möglichkeit zu einem Neuanfang.<br />

Seither lebt er wieder im deutschen Exil. Sein literarisches<br />

Werk wurde vielfach ausgezeichnet. SAIDs Bücher sind in<br />

mehreren Sprachen erschienen.<br />

Impressions<br />

The worst thing for me is not that we get beaten by the<br />

police, but that they treat us like animals. When they<br />

arrest us, when they have to touch us or our belongings,<br />

they wear plastic gloves. After using them on us they<br />

through them into the garbage bin.<br />

We go to the toilette and they arrest us. We go to the beach<br />

to wash ourselves or our clothes and they arrest us. We go<br />

the pharmacy and they arrest us. We go to the hospital and<br />

they arrest us. We go to a phone cell to call our family and<br />

they arrest us.<br />

Today I went to LIDL to buy food, when suddenly two officers<br />

caught me. One of them was holding me while the<br />

other was beating my head and my body. Close to us<br />

some Greek people were standing and watching, but<br />

nobody said anything. Finally I could escape.<br />

We live in construction sites, on the street, in provisory nylon<br />

shelters in the middle of the jungle, in and under old trains<br />

and everywhere. We wait to see what will happen with us. If<br />

the police will come and arrest us. If they will deport or only<br />

beat some of us. The ones of us who are here now, we have<br />

no other choice. That’s how it is. This is our life.<br />

Step by step our problems rose and grew to become a<br />

huge wall separating us from you.<br />

Birds of immigrants<br />

Das Blog Birds of immigrants gibt unbegleiteten minderjährigen<br />

Flüchtlingen ein Forum. Auf griechisch, englisch oder<br />

arabisch erzählen die Flüchtlinge in Berichten, Gedichten<br />

und Zeichnungen von sich und ihren Wünschen und zeigen<br />

ihren Blick auf Europa. (http://birdsofimmigrants.jogspace.net/)


Nationale Hysterie<br />

Seit 2007 kommt es auch bei der Budapest Pride zu massiven Übergriffen. Die jährlich stattfindende Parade<br />

für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, transidentitären Personen, Intersexuellen und<br />

Queers (LGBTIQ) muss von der Polizei beschützt werden. Judith Götz und Rosemarie Ortner berichten<br />

von den Ereignissen während der diesjährigen, 16. Budapest Pride.<br />

Fotos: radicalqueer.blogsport.eu


76<br />

queer<br />

Die aktuellen politischen und gesellschaftlichen<br />

Entwicklungen in Ungarn erlangen, insbesondere<br />

im Nachbarland Österreich, erhöhte<br />

mediale Aufmerksamkeit. Seit ihrer Regierungsübernahme<br />

im Frühjahr 2010 betreibt<br />

die Partei Fidesz unter dem Vorsitz<br />

des Ministerpräsidenten Viktor<br />

Orbán den Abbau demokratischer<br />

Rechte. Dies ist verknüpft<br />

mit einem - in vielen Bereichen<br />

deutlich spürbaren - völkischnationalen<br />

Diskurs, der seinen<br />

Ausdruck etwa in der symbolträchtigen<br />

Umbenennung von<br />

Straßen und Plätzen, der Außenpolitik<br />

(Konflikte mit der Slowakei<br />

und Rumänien; der provokative Großungarnteppich<br />

der Ratspräsidentschaft in Brüssel) oder der Minderheitenpolitik<br />

im Land findet (Arbeitslager für Sozialhilfeabhängige,<br />

was zum Großteil Roma betrifft; vgl.<br />

<strong>Hinterland</strong> #17) findet.<br />

Dieser völkisch-nationale Diskurs wird von der neofaschistischen<br />

Oppositionspartei Jobbik tatkräftig<br />

unterstützt. Jobbik, die in ihrer Symbolik und Selbstdarstellung<br />

an die nationalsozialistischen Pfeilkreuzler<br />

anknüpft, konnte sich bei den letzten Wahlen mit<br />

knapp 17 Prozent der Stimmen als drittstärkste parlamentarische<br />

Kraft etablieren. Viktor Orbán und die<br />

Fidesz, die eine parlamentarische Zwei-Drittel-Mehrheit<br />

erlangen konnten, verdanken ihren deutlichen<br />

Wahlerfolg auch dem Spiel mit dem Feuer solcher<br />

Gruppen. Jobbik, die einen militanten Antiziganismus<br />

propagiert, gegen „raffendes, jüdisches Kapital“ wettert<br />

und den nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg<br />

unterzeichenten Friedensvertrag von Trianon annulieren<br />

und damit „Großungarn“ wiederherstellen will,<br />

grenzt sich jedoch heute vehement von der amtieren-<br />

den Regierung ab. Diese gilt den Neo-Faschist_innen<br />

als nur scheinbar national. Jobbik setzt ihre Kontakte<br />

in das gut organisierte rechtsextreme Netzwerk<br />

öffentlich in Szene und unterstützt auch die Gegenmobilisierung<br />

zur Budapest Pride.<br />

LGBTIQ-Community in Budapest<br />

In der LGBTIQ-Community in<br />

Budapest steht Zugehörigkeit von<br />

Roma ebenfalls zur Debatte.<br />

Auch die LGBTIQ-Community in Budapest steht nicht<br />

außerhalb des völkisch-nationalen Diskurses. Beim<br />

Pride-Festival 2011 kristallisierten sich die Debatten<br />

diesbezüglich um einen von den Organisator_innen<br />

verteilten Anstecker, einer Kokarde, die zur Hälfte die<br />

Farben der ungarischen Flagge, zur anderen Hälfte<br />

die Regenbogenfarben zeigte. Mit dem Anstecker soll,<br />

so eine_r der Organisator_innen, die Hegemonie<br />

einer rechten Definition von Zugehörigkeit in Frage<br />

gestellt werden, wie Fidesz sie popularisiere. Ungarisch<br />

zu sein bedeute „viel mehr“ und nicht die Regierungspartei<br />

dürfe vorgeben, wie ungarische Menschen<br />

zu leben hätten. Kritiker_innen<br />

wiesen hingegen auf die Gefahren<br />

des - immer auf Ausschlüssen<br />

basierenden - Nationenkonzepts<br />

hin. „Ich bin nicht ungarisch“,<br />

sagt ein ungarischer Aktivist<br />

und bastelt sich eine Regenbogenkokarde<br />

ohne ungarische<br />

Farben. Zwei politische Strategien,<br />

auf einen Diskurs zu reagieren,<br />

in dem LGBTIQ-Menschen<br />

mit „nem vagy magyar“<br />

(„Du bist nicht ungarisch“) beschimpft werden. Eine<br />

dritte wäre die Emigration: „Ach wenn es nur so<br />

wäre!“, meint eine an der Pride teilnehmende Person.<br />

Die ungarische Nation produziert ihre Figuren „nationaler<br />

Anderer“. Dieser Diskurs macht nicht halt vor der<br />

LGBTIQ-Community und erschwert es, sich zusammen<br />

zu tun. Dabei scheint eine Strategie der „joint forces“<br />

doch naheliegend. Auf der Parade fand sich jedoch<br />

auch eine Gruppe, die sich „Pink Block“ nannte. Einer<br />

der Slogans: „Solidarity with Roma-LGBTIQ!“ Damit<br />

reagierten sie auf einen Vorfall bei einer Festival-Party<br />

am Vorabend, wo drei Roma Transgender-Personen<br />

der Einlass verweigert wurde. Daraufhin kam es zu<br />

einem Streit in der Organisationsgruppe. Die drei Personen<br />

kommen angeblich aus dem Dorf Gyöngyöspata<br />

und haben dort sowohl die aufmarschierten Bürgerwehrtruppen<br />

zu fürchten (vgl. <strong>Hinterland</strong> #17) als<br />

auch von der Roma-Gemeinschaft wenig Unterstützung<br />

zu erwarten. In der LGBTIQ-Community in Budapest<br />

steht ihre Zugehörigkeit nun ebenfalls zur Debatte.


Antisemitismus und<br />

Homophobie<br />

Um ein solidarisches Zeichen<br />

gegen diese aktuellen und sich<br />

immer mehr zuspitzenden Entwicklungen<br />

in Ungarn zu setzen,<br />

fand sich in diesem Jahr eine Gruppe von Aktivist_innen<br />

des wiener Bündnisses radicalqueer (radicalqueer.blogsport.eu)<br />

zusammen, um die Pride in<br />

Budapest zu unterstützen. Die seit den 1990ern auch<br />

in der ungarischen Hauptstadt stattfindende Parade<br />

konnte lange Zeit ohne größere Schwierigkeiten veranstaltet<br />

werden. Erst seit 2007 ist sie zum Angriffspunkt<br />

von rechten und neonazistischen Gruppen<br />

geworden, die die Teilnehmenden physisch angriffen,<br />

mit Steinen und Eiern bewarfen und einschüchterten.<br />

Ähnlich wie in den Vorjahren wurde auch heuer<br />

bereits im Vorfeld versucht, die Pride mit Hilfe von<br />

fadenscheinigen Vorwänden und Argumenten zu verbieten.<br />

Die Parade selbst konnte nur durch ein massives<br />

Polizei- und Security-Aufgebot und weiträumige<br />

Absperrungen von Straßen entlang der Route durch<br />

Zäune ermöglicht werden. Auch in diesem Jahr nahmen<br />

Mitglieder der inzwischen eigentlich verbotenen<br />

paramilitärischen „Ungarischen Garde” an der Gegendemonstration<br />

teil, die von der Gruppe „Jugendbewegung<br />

der 64 Burgkomitate“ zusammen mit Jobbik-Parlamentarier_innen<br />

angemeldet worden war. Es kam<br />

zu Flaschen- und Steinwürfen. Einige Gegendemonstranten<br />

störten die Pride am Rand mit homophoben<br />

und antisemitischen Aktionen. Sie zeigten den „Hitler-<br />

Gruß“, hielten Plakate in die Luft, auf denen rosa<br />

Winkel mit Galgenstrick und der Text: „So gehört mit<br />

Schwulen umgegangen!“ zu sehen waren, artikulierten<br />

andere verbale Morddrohungen und Drohungen<br />

in Form von gestikuliertem Durchschneiden der<br />

Kehle. Auf Videos von der Gegendemonstration sind<br />

Sprechchöre zu hören: „Verdreckte Schwuchteln! Verdreckte<br />

Juden!“.<br />

Angriffe auf die Parade<br />

An einem zentralen Platz entlang der Route hatten<br />

zudem an die 100 Neonazis einen Durchbruchversuch<br />

gestartet, der von der Polizei durch den Einsatz von<br />

Pfefferspray abgewendet werden konnte und zu einer<br />

kurzfristigen Routenänderung der Parade führte. Nach<br />

Ende der Pride stürmten etwa 15 Neonazis aus einer<br />

Seitenstraße auf die Aktivist_innen aus Österreich.<br />

Neben einem Angriff mit einem bestialisch stinkendem<br />

Reizspray, der von zwei Frauen durchgeführt<br />

wurde, kam es erneut zu Morddrohungen und Hitlergrüßen.<br />

Beim Eintreffen der Polizei behaupteten die<br />

So gehört mit Schwulen<br />

umgegenagen<br />

Neonazis jedoch, sie wären von<br />

den LGBTIQ-Aktivist_innen angegriffen<br />

worden. Daraufhin wurden<br />

alle Aktivist_innen von der<br />

Polizei aus dem Bus gezerrt, in<br />

den sie geflüchtet waren. Ihnen<br />

wurden die Pässe abgenommen<br />

und anschließend einzeln den Neonazis vorgeführt.<br />

Diese identifizierten willkürlich zwei Teilnehmer_<br />

innen als vermeintliche Täter_innen, die in weiterer<br />

Folge auf eine Polizeistation mitgenommen, in<br />

Gefängniszellen gesperrt und in den frühen Morgenstunden<br />

vernommen und angezeigt wurden. Dass es<br />

dabei Aktivist_innen traf, die aus Österreich angereist<br />

waren, kann als reiner Zufall gesehen werden, da<br />

auch andere Teilnehmer_innen der Parade auf dem<br />

Heimweg bedroht und eingeschüchtert wurden. Der<br />

Angriff war nach weiteren Erkenntnissen eine gut<br />

geplante und vorbereitete Aktion. Involviert waren<br />

offensichtlich Mitglieder der „64 Burgkomitate Jugendbewegung“<br />

(HVIM) sowie der Abgeordnete der Partei<br />

Jobbik, Gyula Györyg Zagyva, der gleichzeitig auch<br />

als Vorsitzender der HVIM fungiert und die Anwältin<br />

Andrea Borbély vom Jobbik-Rechtshilfedienst, die<br />

auch die paramilitärische „Ungarische Garde” vertritt.<br />

Solidarität mit dem Budapest Pride!<br />

Trotz der vorangegangenen Angriffe stilisierten sich<br />

die Täter_innen als Opfer. Die Polizei behandelte die<br />

Gruppe aus Wien, offenbar aufgrund einer Intervention<br />

des Jobbik-Abgeordneten, forthin als Verdächtige.<br />

Diese Umkehrung von Schuld setzt Jobbik systematisch<br />

ein, um auch auf juristischem Wege gegen Teilnehmer_innen<br />

der Pride vorzugehen. Wenngleich die<br />

beiden Aktivist_innen aus Österreich noch in den frühen<br />

Morgenstunden wieder frei gelassen wurden, ist<br />

bislang noch unklar, ob tatsächlich ein Verfahren<br />

gegen sie eingeleitet wird. In jedem Fall zeigt sich<br />

jedoch wie in Budapest von unterschiedlichen Seiten<br />

versucht wird, Teilnehmer_innen der Pride zu kriminalisieren<br />

und einzuschüchtern und wie notwendig<br />

gleichzeitig deren Unterstützung ist.<<br />

queer<br />

Judith Goetz und<br />

Rosemarie Ortner-<br />

leben in Wien und<br />

engagieren sich<br />

queer/feministisch<br />

gegen Rechts


78<br />

queer<br />

NEIN heißt NEIN!<br />

Freizügig bekleidet und mit der stolzen Selbstbezeichnung „Schlampe” gegen Sexismus und Vergewaltigungsmythen<br />

zu demonstrieren ist umstritten. Ein Plädoyer für den „Schlampenmarsch” (SlutWalk)<br />

Von Judith Völkel<br />

Auslöser des globalen Aufstandes der „Schlampen“<br />

war die Bemerkung eines kanadischen<br />

Polizisten, Frauen sollten sich nicht wie<br />

„Schlampen“ anziehen, wollten sie nicht zu Opfern<br />

sexueller Übergriffe werden. In Folge dieses Präventionsvorschlags<br />

– der eine Mitverantwortung der Frau<br />

an der an ihr verbrochenen sexualisierten Gewalt aufgrund<br />

ihrer Kleidung behauptet und somit die Täter-<br />

Opfer-Beziehung umkehrt – fand der erste Protestmarsch<br />

im April 2011 in Toronto statt. Empörte riefen<br />

mit Hilfe sozialer Netzwerke dazu auf, weltweit<br />

Widerstand gegen eine solche Mythisierung von Vergewaltigung<br />

zu leisten. Slutwalks wurden beispielsweise<br />

in Ottawa, Vancouver, Miami, Seattle, Melbourne,<br />

Amsterdam, Stockholm, London,<br />

Paris, Glasgow, São Paulo,<br />

Tegucigalpa und Matagalpa<br />

organisiert. Nach dem ersten<br />

Slutwalk in Deutschland am 23.<br />

Juli dieses Jahres im niederbayerischen<br />

Passau fand die deutschlandweite<br />

Demonstration am 13.<br />

August städteübergreifend im<br />

Ruhrgebiet, in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main,<br />

Stuttgart und München und am 15. Oktober in<br />

Leipzig statt.<br />

Weltweit eint das Aufbegehren gegen die Schuldzuschreibung<br />

an die Opfer sexualisierter Gewalt die<br />

Teilnehmer_innen der Slutwalks. Daneben verfolgen<br />

die verschiedenen Demonstrationen auch lokale<br />

Ziele. So setzt der Slutwalk in Honduras – einem<br />

Land, in dem offene Gewalt gegen Frauen alltäglich,<br />

die Mordrate an Frauen enorm ist und Abtreibung mit<br />

Gefängnis bestraft wird – an einem anderen Punkt<br />

an, als in „westlichen“ Ländern, wo zumindest auf<br />

gesetzlicher Ebene die Gleichberechtigung von Mann<br />

und Frau weitgehend verwirklicht ist.<br />

In München demonstrierten etwa 500 Personen jeden<br />

Alters und Geschlechts – teilweise leicht bekleidet,<br />

teilweise in gewöhnlicher Alltagskleidung. Nach einer<br />

Auftaktkundgebung am Goetheplatz, bei der auch<br />

Cordula Weidner vom Frauennotruf und Maraike<br />

Der Slutwalk ist eine Nicht-<br />

Institution, die aufgrund<br />

ihrer Offenheit Raum für<br />

Engagement bietet.<br />

Stuffler zum Thema LGBT (Lesben, Schwule, Bisexuelle<br />

und Trans) sprachen, zog die Versammlung<br />

durch das Bahnhofsviertel und die Innenstadt auf den<br />

Marienplatz. Dort brachten Katharina Schulze, Vorsitzende<br />

der Münchener Grünen, Juliane von Krause,<br />

Terre des Femmes e.V., Thomas Lechner, Veranstalter<br />

des Candy Clubs, und Simone Kraft, Pressesprecherin<br />

des Antisexistischen Aktionsbündnisses München, in<br />

Redebeiträgen ihre Anliegen zum Ausdruck.<br />

This is not my I-want-you-face<br />

Slutwalk ist Grenzüberschreitung und genau deshalb<br />

eine geeignete Form des Widerstandes. Wenn Menschen<br />

als „Schlampen“ auf die<br />

Straße gehen, wird ein Spiel mit<br />

dem Begriff möglich. Die Definitionsmacht<br />

liegt nun bei den<br />

Bezeichneten selbst. Nachdem<br />

man sich den Begriff angeeignet<br />

hat, kann sich seine Bedeutung<br />

verschieben. „Schlampe“ muss<br />

nicht negativ konnotiert sein.<br />

„Schlampe“ wird zur Forderung nach (sexueller)<br />

Selbstbestimmung, körperlicher Unversehrtheit und<br />

dem Recht auf persönliche <strong>Grenze</strong>n. Allerdings gibt<br />

es auf den Slutwalks keine Kleiderordnung. Um mit<br />

dem Konzept der „Schlampe“ zu spielen muss keine<br />

Selbstidentifikation als „slut“ gegeben sein.<br />

Die große Chance des Slutwalks liegt in der Möglichkeit,<br />

breite Bevölkerungsschichten anzusprechen.<br />

Dies zeigt sich bereits im Organisationsteam, das sich<br />

aus Mitgliedern ganz verschiedener gesellschaftlicher<br />

Gruppierungen zusammensetzt, die sich zu diesem<br />

Anliegen zusammengefunden haben. Der Slutwalk ist<br />

eine Nicht-Institution, die aufgrund ihrer Offenheit<br />

auf vielfältige Art und Weise Raum für Engagement<br />

bietet. Die Demonstrierenden fungieren als Multiplikator_innen<br />

in ihrem Bekanntenkreis, verbreiten das<br />

Anliegen und unterstützen so die Dekonstruktion von<br />

Vergewaltigungsmythen. Der Charakter einer Graswurzel-Bewegung,<br />

die direkt aus der Bevölkerung<br />

erwächst, ist die große Chance die der Slutwalk mit


sich bringt. Die Slutwalk-Bewegung besitzt zudem<br />

das Potential, Menschen anzusprechen, die sich sonst<br />

vom Feminismus – aufgrund der für viele eher negativen<br />

Konnotation des Begriffes – abgrenzen.<br />

Der Slutwalk ist medienwirksam. Ein Anliegen wie<br />

das hier Beschriebene, das eine Veränderung in den<br />

Denkstrukturen der Menschen und im gesellschaftlichen<br />

Diskurs herbeiwünscht, erfordert eine auffällige,<br />

laute, kreative und provozierende Protestform,<br />

die allen Interessierten offen steht, die von Vielen<br />

gesehen und gehört wird. Er kommt jedoch an seine<br />

<strong>Grenze</strong>n, wenn Zeitungen und Online-Plattformen<br />

nur noch Fotostrecken erstellen, auf Untertitel und<br />

erläuternde Texte jedoch verzichten. Leider interpretieren<br />

die Medien den Slutwalk oft als Protest für das<br />

Recht auf Sexyness und stellen in ihren Bildern die<br />

Kleidung in den Vordergrund.<br />

Pass auf, wenn du auf die Straße gehst.<br />

queer<br />

Der Schwerpunkt des Slutwalks in München lag in<br />

der Dekonstruktion von Vergewaltigungsmythen, die<br />

sich trotz augenscheinlicher Diskrepanz zu Kriminalstatistiken<br />

und wissenschaftlicher Forschung hartnäckig<br />

in den Köpfen der Menschen halten. Vergewaltigungen<br />

werden nämlich in den seltensten Fällen<br />

von „bösen Männern“ begangen, die nachts minirocktragenden<br />

weiblichen Opfern hinter Büschen auflauern.<br />

Der Großteil der Vergewaltigungen – je nach<br />

befragter Statistik zwischen 70 und 90 Prozent – wird<br />

im nahen sozialen Umfeld oder Familienkreis begangen;<br />

die Opfer sind nicht nur Frauen, sondern genauso<br />

Kinder, Männer, Trans, alte Menschen oder Personen<br />

mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung.<br />

Die Dekonstruktion des Mythos vom fremden Täter<br />

zeigt auch die Absurdität des Gedankens, der Kleidungsstil<br />

einer Person könne das ausschlaggebende<br />

Moment für eine Vergewaltigung sein. Der Slutwalk in<br />

München spricht sich durch die Offenlegung dieses<br />

Nicht-Zusammenhangs auch ganz klar dafür aus, dass<br />

Präventionsmaßnahmen bei der Person ansetzen müssen,<br />

die das Selbstbestimmungsrecht einer anderen<br />

Person hinsichtlich Körper, Gender, Sexualität und<br />

Begehren nicht respektiert.<br />

„NEIN heißt NEIN“ lautet daher auch ein Motto der<br />

Slutwalks. Dieses Selbstbestimmungsrecht über die<br />

eigene Person ist unabhängig davon, ob Sexualität in<br />

privaten Beziehungen stattfindet oder in Berufen, in<br />

denen Sex zum Arbeitsalltag gehört. Der zum Opfer<br />

gewordene Mensch hat keinen Grund für Schuld,<br />

Scham oder Angst. Es soll ins Gedächtnis gerufen<br />

werden, dass das zentrale Element einer Vergewalti-<br />

gung Macht ist, die durch sexualisiertes Handeln über<br />

eine andere Person ausgeübt wird. Darüber hinaus<br />

richtet sich der Slutwalk gegen die patriarchalischen<br />

und sexistischen Strukturen, die Vergewaltigungsmythen<br />

stützen, Rollenbilder vorgeben und das Selbstbestimmungsrecht<br />

beschränken. Prävention bei denjenigen<br />

anzufangen, die zu Opfern gemacht werden,<br />

ihnen eine Mitschuld zuzusprechen, Tatsachen und<br />

Zusammenhänge zu verschleiern ist Unrecht. Die<br />

Unversehrtheit und das freie Selbstbestimmungsrecht<br />

jedes und jeder Einzelnen ist ein schützenswertes<br />

Ziel. Also: Empört euch!<<br />

Judith Völkel<br />

Foto: Niko (cc)<br />

ist Mitglied des Slutwalk-Organisationsteams<br />

in München<br />

und studiert Ethnologie<br />

an der Ludwig-<br />

Maximilians-Universität<br />

in München.


80<br />

lesen<br />

Silja Klepp: Europa<br />

zwischen Grenzkontrolle<br />

und<br />

Flüchtlingsschutz.<br />

Eine Ethnographie<br />

der Seegrenze auf<br />

dem Mittelmeer.<br />

Transcript Verlag.<br />

Bielefeld 2011. 424<br />

Seiten. 34,80 Euro.<br />

Stephan Dünnwald<br />

ist Ethnologe, freier<br />

Journalist und<br />

forscht derzeit in<br />

Mali.<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

Ethnographie am Ufer<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

Silja Klepp ist mit Europa zwischen<br />

Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz<br />

eine sehr lesenswerte Ethnographie<br />

der Seegrenze gelungen. Eine Rezension<br />

von Stephan Dünnwald<br />

Das Mittelmeer als umkämpfter<br />

Grenzraum zog in den letzten<br />

Jahren immer wieder Aufmerksamkeit<br />

auf sich. Gegen irreguläre Einwanderung<br />

nach Europa wurden<br />

zunehmend militärische Maßnahmen<br />

ergriffen. Die eingesetzten<br />

Einheiten hatten einerseits damit<br />

umzugehen, Migrantinnen und<br />

Migranten nach Möglichkeit nicht<br />

in die Nähe europäischen Territoriums<br />

gelangen zu lassen, andererseits<br />

schiffbrüchige Migrantinnen<br />

und Migranten zu retten und in<br />

den nächstgelegenen sicheren<br />

Hafen zu bringen. Dies gelingt<br />

nicht immer, und so kursieren verschiedene,<br />

aber gleichermaßen<br />

erschreckende Zahlen und Schätzungen<br />

über diejenigen, die auf<br />

See umgekommen sind, ertrunken,<br />

verhungert, verdurstet. Zu den<br />

Gründen zählt nicht allein das<br />

Unvermögen, das Mittelmeer lückenlos<br />

zu überwachen, sondern<br />

auch ein Zuständigkeitsproblem. Es<br />

liegt im Interesse aller involvierten<br />

Staaten, möglichst wenige Migrantinnen<br />

und Migranten aufnehmen<br />

zu müssen; da auf See die Zuständigkeit<br />

nicht immer deutlich geregelt<br />

werden kann, sterben immer<br />

wieder Menschen, weil ihnen niemand<br />

beherzt zu Hilfe eilt.<br />

Das Dilemma, gleichzeitig zu retten<br />

und abzuwehren, wird inzwischen<br />

häufig dadurch „gelöst“,<br />

dass zunehmend an afrikanischen<br />

Küsten und in enger Kooperation<br />

mit den jeweiligen afrikanischen<br />

Staaten Migrantinnen und Migranten<br />

schon im küstennahen Bereich<br />

zur Umkehr gezwungen werden.<br />

So kann die Bilanz der abgewehrten<br />

Flüchtlinge gleichzeitig als eine<br />

Bilanz der auch vor den Gefahren<br />

des Seewegs nach Europa<br />

geschützten Personen interpretiert<br />

werden. Auch diese Praxis zieht<br />

die Kritik von Menschenrechtsorganisationen<br />

auf sich, da unter<br />

den Zurückgewiesenen regelmäßig<br />

Personen sind, die Anspruch auf<br />

internationalen Schutz beanspruchen<br />

können, und die nicht in<br />

Staaten zurückgewiesen werden<br />

dürften, in denen dieser Schutz<br />

nicht einzufordern ist.<br />

Schwierige Recherchebedingungen<br />

Dies sind nur einige Facetten dieses<br />

umfangreichen Themas, das<br />

von Silja Klepp gekonnt aufgegriffen<br />

und beschrieben wird. Sie<br />

bedient sich dabei einer rechtsanthropologischen<br />

Perspektive, die<br />

zwar von bestehenden Rechtsnormen<br />

ausgeht, aber deren Anwendung<br />

als je lokale Aushandlungsprozesse<br />

begreift. Der Zugang<br />

zum Recht, sei es die seerechtliche<br />

Verpflichtung zur Rettung Schiffbrüchiger,<br />

das Asylrecht oder<br />

internationale Rechte zum Schutz<br />

der Menschenwürde, ist gerade<br />

auf dem offenen Meer nicht per se<br />

gegeben, sondern seine Durchsetzung<br />

wird situativ, lokal und temporär<br />

ausgehandelt, wobei Grenzschutzpersonal,Menschenrechtsorganisationen<br />

sowie Migrantinnen<br />

und Migranten über sehr unterschiedliche<br />

Möglichkeiten verfügen.<br />

Erschwerend kommt hinzu,<br />

dass der Grenzschutz über ein<br />

Beinahe-Monopol hinsichtlich der<br />

Berichterstattung über eigene Aktivitäten<br />

verfügt. In nur wenigen<br />

Fällen gelingt es Migrantinnen und<br />

Migranten oder Menschenrechtsorganisationen,<br />

alternative Darstellungen<br />

von Vorgängen auf See an<br />

die Öffentlichkeit zu bringen.<br />

In dieser Situation tut sich auch<br />

die Ethnographin schwer, an Informationen<br />

zu gelangen. Was auf<br />

See passiert, erschließt sich ihr<br />

nicht unmittelbar, weil es weder<br />

möglich ist, mit den Migrantinnen<br />

und Migranten ins lebensgefährliche<br />

Boot zu steigen, noch, auf<br />

den Patrouillebooten der Grenzwachen<br />

mitzufahren. Die Ethnographin<br />

bleibt an Land (nur ein<br />

einziges Mal darf sie mit einem<br />

Boot der italienischen Küstenwache<br />

hinaus aufs Meer), um dort<br />

das Geschehen zu verfolgen, das<br />

Vertrauen von Hafenangestellten<br />

und Matrosen zu gewinnen,<br />

Gespräche und Geschwätz zu<br />

notieren, und sich daraus eine<br />

Vorstellung dessen zu machen,<br />

was auf See vor sich geht. Sie versucht,<br />

Verantwortungstragende zu<br />

treffen, und mehr als einmal<br />

notiert Klepp, dass bei diesen<br />

Gelegenheiten peinlich darauf<br />

geachtet wurde, dass Gespräche<br />

nicht aufgezeichnet werden. So ist<br />

es verdienstvoll, dass es Silja<br />

Klepp gelungen ist, zahlreiche<br />

Interviews und Gespräche mit<br />

Marineoffizieren, Polizeipersonal<br />

und Behördenvertretungen zu führen,<br />

und von ihnen teils sehr offene<br />

Stellungnahmen zu erhalten.<br />

Auch in Libyen Kontakt mit<br />

Migrantinnen und Migranten aufzunehmen,<br />

ist keine Selbstverständlichkeit.<br />

Man kann nur erahnen,<br />

wie viel Hartnäckigkeit und<br />

Umsicht dieses Vorgehen erfordert<br />

hat, denn all die erfolglosen Kontaktversuche<br />

tragen ja nicht zum<br />

Thema bei und bleiben deshalb<br />

weitgehend unerwähnt.<br />

Vom Recht und dessen<br />

lokaler Durchsetzung<br />

Die Studie von Silja Klepp behandelt<br />

das Thema nicht erschöpfend:<br />

sie konzentriert sich auf den Raum<br />

zwischen Italien, Malta und<br />

Libyen, drei Länder, in denen sie<br />

Feldforschungen durchgeführt hat.


Aber gerade die Konzentration auf<br />

einen Ausschnitt erlaubt eine eingehende<br />

Betrachtung und Analyse<br />

der Dynamiken, die über Wohl<br />

und Wehe der Migrantinnen und<br />

Migranten entscheiden. Inhaltlich<br />

folgt das Buch dem Weg der<br />

Migration vom afrikanischen Kontinent<br />

und der Situation in Libyen<br />

über das Meer nach Süditalien,<br />

Lampedusa und Sizilien, sowie<br />

nach Malta, von einem Ufer zum<br />

anderen. Auch die Situation nach<br />

der Landung und die Unterbringung<br />

in Haftzentren werden<br />

behandelt. Doch folgt die Darstellung<br />

weniger dem linearen oder<br />

prozessualen Modell, sondern<br />

beschreibt zugleich politische<br />

Kraftfelder, die von verschiedenen<br />

Akteuren und Akteurinnen gestaltet<br />

werden. Libyen, Malta und Italien<br />

samt den dazugehörigen Seegebieten<br />

werden zueinander in<br />

Beziehung gesetzt und jeweils einzeln<br />

im Hinblick auf ihr Verhalten<br />

gegenüber Migrantinnen und<br />

Migranten sowie Flüchtlingen und<br />

gegenüber geltenden Rechten analysiert.<br />

So entsteht ein Gesamtbild,<br />

das zahlreiche Widersprüche<br />

sowohl innerhalb der einzelnen<br />

Felder als auch im Verhältnis zwischen<br />

ihnen aufzeigt. Erreicht wird<br />

dies durch die Gegenüberstellung<br />

von internationalen Rechten und<br />

Gesprächen mit Flüchtlingen und<br />

Behörden, in denen deutlich wird,<br />

dass die Geltung dieser Rechte<br />

immer auf lokale Verhältnisse heruntergebrochen<br />

wird. Das Buch<br />

lebt aus dieser Spannung zwischen<br />

Recht und den Möglichkeiten,<br />

Rechte in Grenzräumen auch<br />

durchzusetzen.<br />

Es ist für den Wert der Studie<br />

unerheblich, dass der „Arabische<br />

Frühling“ einige der autokratischen<br />

Systeme in Nordafrika hinweggefegt<br />

hat. Zwar wird sich erst zeigen<br />

müssen, wie die neuen Regierungen<br />

in Tripolis und Tunis sich<br />

zu Transitmigrantinnen und -<br />

migranten stellen, die sich in Richtung<br />

Europa einschiffen. Die<br />

grundlegende Problematik bleibt<br />

dennoch bestehen und Silja Klepp<br />

ist vom Ufer aus eine sehr lesenswerte<br />

Ethnographie der Seegrenze<br />

gelungen.<<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

„Mach doch mal einer den<br />

Kulturkack aus!“<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

… „Ach geht ja gar nicht, lass<br />

bloß an, bin ja selber drin“, sangen<br />

Blumfeld auf ihrer Platte<br />

„Ich-Maschine“ (1992). Dieses<br />

schöne Zitat ziert den Einband<br />

des kürzlich erschienenen Sammelbandes<br />

Pop Kultur Diskurs.<br />

Aber auch drinnen, in den Tiefen<br />

des Buches, wird es durchaus<br />

lesenswert – meint Thomas Atzbacher<br />

Doch zunächst der erste Eindruck:<br />

Die Comicfigur Theodor<br />

Adornos gedankenversunken<br />

und scratchend am Turntable; die<br />

Zeichnung einer jungen Frau, die<br />

sich dem muffigen Talar zum Trotz<br />

als Punkrockerin zu erkennen gibt;<br />

im farblich davon abgesetzten<br />

Hintergrund, neben anderen Produkten,<br />

ein Sammelsurium an<br />

Schallplatten unter anderem von<br />

Run DMC, den Pet Shop Boys und<br />

AC/DC; die „Kutte“ eines Bier trinkenden<br />

Fußball-Fans, auf deren<br />

Rückenseite neben einem Aufnäher<br />

mit dem Schriftzug „Südkurve“<br />

ein weiterer angebracht ist. Auf<br />

diesem ist jedoch kein FC-Bayern-<br />

Wappen, sondern eine dickrandige<br />

Brille abgebildet. Umrahmt wird<br />

das Logo vom Schriftzug „Frankfurter<br />

Schule“. Dies alles ist auf<br />

dem Einband eines kürzlich im<br />

Mainzer Ventil Verlag erschienenen<br />

Sammelbandes zu sehen.<br />

Pop Kultur Diskurs ist dem vor<br />

einem Jahr verstorbenen Autor<br />

und Verleger Martin Büsser gewid-<br />

met und setzt sich mit (Pop-)Kultur<br />

im Allgemeinen, stärker jedoch<br />

im Besonderen auseinander. Das<br />

Buch versammelt vielfältige<br />

Zugänge. Geeint werden die verschiedenen<br />

Themen und Betrachtungsweisen<br />

von gemeinsamen<br />

Fragestellungen, die eben auch<br />

schon jene Theoretiker der „Frankfurter<br />

Schule” wie Theodor Adorno<br />

und Walter Benjamin umtrieben:<br />

Wo liegen die subversiven<br />

Momente von (Pop-)Kultur? Gibt<br />

es bzw. kann es so etwas überhaupt<br />

geben? Worin sind die<br />

bestehenden Verhältnisse affirmierender<br />

Momente von (Pop-)Kultur<br />

zu sehen?<br />

Dass sich durch die Wahl der vermeintlich<br />

richtigen Produkte und<br />

Lifestyles gar ein erfülltes Leben<br />

verwirklichen lasse, wird bereits in<br />

der Einleitung von Pop Kultur<br />

Diskurs verneint. Allerdings weisen<br />

die Verfassenden darauf hin,<br />

dass popkulturelle Ereignisse und<br />

Erzeugnisse durchaus im progressiven<br />

Sinn widerständig sein können.<br />

Das müssen sie aber nicht<br />

automatisch. Ganz im Gegenteil.<br />

Die Rechtsrockband Störkraft etwa<br />

sang Anfang der 90er, als in<br />

Deutschland Unterkünfte von Asylsuchenden<br />

brannten: „Nieder mit<br />

dem Misch-Masch Blut, das tut<br />

dem Vaterland nicht gut“.<br />

„Is this it?“<br />

Was ist das eigentlich: Pop? Mit<br />

dieser Fragestellung setzt sich<br />

Roger Behrens im ersten Buch-<br />

Beitrag auseinander. Auf zugegeben<br />

nicht immer leicht zu lesende,<br />

essayistische Weise wirft er ein<br />

Schlaglicht auf die „traditionelle<br />

Poptheorie“. Die Ergebnisse der<br />

heute „fröhlichsten Wissenschaft“<br />

seien für die Rankings der neoliberalen<br />

Bachelor-Universität zwar<br />

positiv, letztlich jedoch belanglos.<br />

Dementgegen plädiert er dafür, die<br />

Thesen von Adorno und Co. nicht<br />

lesen<br />

Holger Adam, Yaflar<br />

Aydin, Zülfukar<br />

Cetin, Mustafa Doymus,<br />

Jonas Engelmann,<br />

Astrid Henning,<br />

Sonja Witte<br />

(Hg.): Pop Kultur<br />

Diskurs. Zum Verhältnis<br />

von Gesellschaft,Kulturindustrie<br />

und Wissenschaft.<br />

Ventil Verlag.<br />

Mainz 2010. 15 Beiträge.<br />

288 Seiten.<br />

14,90 Euro.


82<br />

lesen<br />

zu verwerfen, sondern zeitgemäß,<br />

als „kritische Poptheorie“ zu aktualisieren.<br />

Gerade in Zeiten von<br />

Bologna seien die Möglichkeiten,<br />

das auch tatsächlich in Angriff zu<br />

nehmen, jedoch sehr begrenzt.<br />

Behrens herausstechender Artikel<br />

hinterlässt einen deprimierenden<br />

Beigeschmack. Das spricht nicht<br />

gegen seine Thesen, sondern<br />

gegen die Verhältnisse.<br />

Anschließend stellen sich Holger<br />

Adam und Jonas Engelmann die<br />

Frage nach der Bedeutung von<br />

Popkultur für die eigene politische<br />

Sozialisation. Welche Rolle kann<br />

bzw. konnte insbesondere Musik<br />

für das politische Denken und<br />

Handeln junger linker Menschen<br />

spielen, die in deutschen Kleinstädten<br />

oder auf Dörfern leben<br />

und sich fernab von Antifa- oder<br />

Gewerkschaftszusammenhängen<br />

bewegen?<br />

„Arme kleine Deutsche“<br />

Auch wird die Frage nach dem<br />

„Pop im Dienste der Nation“<br />

gestellt. Vor diesem Hintergrund<br />

setzt sich Sonja Witte mit dem<br />

2003 erschienenen Spielfilm „Das<br />

Wunder von Bern“ auseinander.<br />

Sie vertritt die These, dass Sönke<br />

Wortmanns Film von einem Programm<br />

der nationalen Versöhnung<br />

im letztlich angeblich schuldfreien<br />

deutschen Kollektiv bestimmt sei.<br />

Witte zeigt anhand der filmischen<br />

Darstellung der Fußballweltmeisterschaft<br />

von 1954 den Wunsch<br />

nach einer Geburtsstunde eines<br />

„neuen Deutschlands“ auf. Die<br />

„Idee einer Versöhnung der Generationen<br />

und Geschlechter“ fungiere<br />

laut Witte als kollektiver Kitt.<br />

Der Beitrag ist ausgesprochen<br />

lesenswert, allerdings wäre mit<br />

einem stärker vergleichenden<br />

Ansatz, der in die Analyse zusätzlich<br />

Filme wie beispielsweise „Der<br />

Untergang“ (2004) und „Der Vorleser“<br />

(2008/2009) miteinbezieht,<br />

mehr Neues zu erfahren gewesen.<br />

Um die nationale Inanspruchnahme<br />

von Popkultur im Deutschland<br />

nach 1945 geht es auch in Martin<br />

Büssers Beitrag „Made in Germany“.<br />

Thematisiert werden der<br />

Mythos von Popmusik als genuin<br />

linker Ausdrucksform sowie die<br />

von einer antiamerikanischen<br />

Stoßrichtung bestimmten Diskussionen<br />

um eine gesetzliche Radioquote<br />

für „deutsche Musik“ Mitte<br />

der 90er und 00er. Der Lobhudelei<br />

für den „Popstandort Deutschland“<br />

und die „eigene kulturelle Identität“<br />

schlossen sich nicht nur Altbekannte<br />

wie Heinz-Rudolf Kunze<br />

an. Auch junge Kunstschaffende<br />

wie Smudo von den Fantastischen<br />

Vier oder der als politisch links<br />

geltende Jan Delay traten für die<br />

Deutsch-Quote ein. Die Quote<br />

gegen die „beispiellose Vernichtungsaktion<br />

gegen unsere einheimische<br />

Musikszene“ (Musiker<br />

Achim Reichel) und „die Allmacht<br />

des amerikanischen Kulturimperialismus“<br />

(Wolfgang Thierse) wurde<br />

nie verwirklicht. Allerdings sorgte<br />

allein das permanente Reden vom<br />

angeblich gebeutelten „Popstandort<br />

Deutschland“ für dessen immer<br />

stärkere Aufwertung.<br />

Es ging dabei weniger um rein<br />

wirtschaftliche Standortlogik, als<br />

vielmehr um den Ausdruck und<br />

die Festigung des veränderten<br />

nationalen Selbstbewusstseins in<br />

der Berliner Republik. Das zeigt<br />

Büsser insbesondere anhand der<br />

Berliner Elektropop-Band MIA auf.<br />

Diese verdeutlichen laut Büsser<br />

den „Wandel von den mit Tabus<br />

spielenden Bands wie Rammstein<br />

hin zu einem enttabuisierten<br />

Patriotismus.“ MIA veröffentlichten<br />

2003, unter dem Eindruck des<br />

„Neins“ der deutschen Bundesregierung<br />

zum Irak-Krieg, ihren<br />

Song „Was es ist“. Darin warben<br />

sie dafür, nach Jahren der angeblichen<br />

Verkrampfung ein „neues<br />

deutsches Land“ zu betreten. Im<br />

dazugehörigen Musikvideo zeigten<br />

sich die Bandmitglieder lebensfroh-augenzwinkernd,<br />

tanzend,<br />

weltoffen, flippig-individuell,<br />

irgendwie „links“ und last but not<br />

least: jeweils in die Farbe schwarz,<br />

rot oder gold gehüllt. Jetzt, wo<br />

man „nicht mehr fremd im eigenen<br />

Land“ (MIA) sei, wäre ein<br />

„unverkrampfter Patriotismus“<br />

(Roland Koch) angebracht – freilich<br />

auch wegen Ökostrom.<br />

„Ich wünschte, ich würde mich<br />

für Tennis interessieren“<br />

Darüber hinaus finden sich in Pop<br />

Kultur Diskurs weitere Beiträge,<br />

die mal mehr essayistisch, mal<br />

mehr in wissenschaftlichem Jargon<br />

verfasst sind. Unter anderem setzt<br />

sich Yaflar Aydin anhand des<br />

Romans „Su Cilgin Türkler“ mit<br />

nationalen Mythen in der türkischen<br />

Literatur auseinander. Matthias<br />

Rauch fragt nach den Identitätsentwürfen<br />

von deutschen Mainstream<br />

Rappern mit „Migrationshintergrund“<br />

(Rauch). Als Fallbeispiele<br />

wählt er Samy Deluxe, den<br />

als „Der N...“ auftretenden Aggro-<br />

Berlin Rapper B!Tight, Azad sowie<br />

Eko Fresh. Zülfukar Cetin beleuchtet<br />

auf leider oberflächliche Weise<br />

die transnationale massenmediale<br />

Darstellung von Lesben, Schwulen,<br />

Transvestiten und Transgendern.<br />

Arne Schröder setzt sich leider mit<br />

ebenso wenig Tiefgang mit der<br />

Aushandlung sexueller Identitätskonzepte<br />

in den US-Fernsehserien<br />

„Queer as Folk“ und „The L Word“<br />

auseinander. In einem spannenden<br />

Beitrag im letzten Teil des Buches<br />

fragt Jan Haut danach, „was Sport<br />

über die Gesellschaft ,verrät’“.<br />

Dabei diskutiert er die Thesen und<br />

Konzepte der „soziologischen<br />

Klassiker“ Norbert Elias, Pierre<br />

Bourdieu und Theodor Adorno.<br />

Pop Kultur Diskurs ist ganz gewiss<br />

kein Meilenstein in der Ausein


andersetzung mit (Pop-)Kultur.<br />

Welche Bedeutungen und Funktionen<br />

Pop heute im kapitalistischen<br />

Hier und Jetzt ganz grundsätzlich<br />

hat – darauf finden sich in Pop<br />

Kultur Diskurs kaum Antworten;<br />

man bleibt stattdessen oftmals rein<br />

beschreibend im empirischen<br />

Kleinklein. Immerhin entstehen<br />

durch viele Beiträge neue Fragen,<br />

die anregen, tiefer zu gehen, weiter<br />

zu denken, zu diskutieren.<br />

Auch merkt man dem Sammelband<br />

teilweise an, dass er als<br />

Ergebnis einer Promovierenden-<br />

Tagung der an den DGB angeschlossenen<br />

Hans-Böckler-Stiftung<br />

entstanden ist und weniger in den<br />

Zusammenhängen der emanzipatorischen<br />

Linken. Das Buch ist<br />

nichtsdestotrotz durchaus lesenswert.<<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

Man wird doch wohl noch<br />

sagen dürfen<br />

::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::::<br />

Im August 2010 erschien Thilo<br />

Sarrazins Untergangsparanoia<br />

„Deutschland schafft sich ab“.<br />

Daraus entwickelte sich die<br />

sogenannte Sarrazindebatte,<br />

eine in ganz Deutschland virulent<br />

und medial geführte Auseinandersetzung.<br />

Der kürzlich<br />

erschienene Sammelband Rassismus<br />

in der Leistungsgesellschaft<br />

widmet sich dem „was aus<br />

Sarrazin und den Debatten<br />

sprach und spricht“. Eine Rezension<br />

von Thomas Atzbacher<br />

Thilo Sarrazins Bestseller<br />

„Deutschland schafft sich ab“ wirkt<br />

nach – nicht zuletzt auch auf die<br />

Anzahl anschließend veröffentlichter<br />

kritischer Analysen. Mit Rassismus<br />

in der Leistungsgesellschaft<br />

ist soeben ein Sammelband<br />

erschienen, der unterschiedliche<br />

theoretische Perspektiven aus verschiedenen<br />

wissenschaftlichen Dis-<br />

ziplinen versammelt. Im Zentrum<br />

der insgesamt 15 Beiträge steht<br />

weniger die Person Sarrazin oder<br />

die Widerlegung seiner Behauptungen.<br />

Zwar bilden diese den<br />

Bezugsrahmen, doch sollen vor<br />

allem die ihnen inhärenten kollektiven<br />

Vorstellungen kritisch in den<br />

Blick genommen werden, also das<br />

„was aus Sarrazin und den Debatten<br />

sprach und spricht“. Dazu<br />

unterteilt sich das Buch in vier<br />

thematische Teile: „Migration und<br />

Rassismus“, „Bevölkerungs- und<br />

Biopolitik“, „Kapital und Nation“<br />

und „Interventionen und Perspektiven“.<br />

Von „Rasse“ zu „Kultur“<br />

Ausgangspunkt eines Beitrags von<br />

Yasemin Shooman im ersten Thementeil,<br />

ist die Annahme, dass es<br />

sich bei dem in Sarrazins Behauptungen<br />

enthaltenen antimuslimischen<br />

Rassismus um eine „Form<br />

des Kulturrassismus“ handle. Vor<br />

diesem Hintergrund analysiert sie<br />

dessen Inhalte, Funktionen und<br />

Legitimationsstrategien. Dazu liefert<br />

Shooman auch statistische<br />

Daten aus repräsentativen Umfragen.<br />

Man erfährt etwa, dass knapp<br />

58% der Deutschen Ende 2010 die<br />

Forderung nach einer erheblichen<br />

Einschränkung der Religionsausübung<br />

für Menschen islamischen<br />

Glaubens befürworteten. Ein Jahr<br />

später behaupteten rund 76% der<br />

Deutschen, dass „die muslimischen<br />

Ansichten über Frauen“ „unseren<br />

Werten“ widersprechen – um zu<br />

einem Großteil im Anschluss die<br />

Meinung zu vertreten, „Frauen<br />

sollten ihre Rolle als Ehefrau und<br />

Mutter ernster nehmen“. Leider<br />

verzichtet Shooman darauf, die<br />

historischen Konstruktions- und<br />

Entstehungsprozesse der gegenwärtigen<br />

Vorstellungen von „dem<br />

Orient“ und „dem Islam“ nachzuzeichnen<br />

– ein spannender<br />

Aspekt, der wichtiger gewesen<br />

wäre, als der knappe Verweis auf<br />

Parallelen zwischen antimuslimischem<br />

Rassismus und Antisemitismus,<br />

für dessen Bestimmung sie<br />

gar nicht über das 19. Jahrhundert<br />

hinausgeht. Wenn sie in ihrem<br />

Beitrag auf Parallelen zum Antisemitismus<br />

hinweist, sollte sie auch<br />

die klar erkennbaren Unterschiede<br />

herausarbeiten.<br />

Vom Kopf auf die Füße<br />

Wie neo- bzw. kulturrassistische<br />

Begriffe und Konzepte den wissenschaftlichen<br />

Diskurs um den<br />

Themenkomplex Migration im<br />

Nachkriegsdeutschland bestimmen,<br />

verdeutlicht Sabine Hess in ihrem<br />

Beitrag „Welcome to the container“.<br />

Sie argumentiert, dass die<br />

deutsche Mainstream-Migrationsforschung<br />

Migration grundsätzlich<br />

als Problem konzipiere sowie der<br />

mythologischen, faktenresistenten<br />

Vorstellung eines „stabil-homogenen<br />

Gesellschaftscontainers“ verhaftet<br />

sei. Auch werde Migration<br />

insbesondere als „kulturelle Differenz-Erfahrung“<br />

gedeutet, womit<br />

der „Kulturalisierung der Migration“<br />

beziehungsweise der „Desozialisierung<br />

des Sozialen“ Vorschub<br />

geleistet werde. Dem stellt<br />

Hess alternative Sicht- und Herangehensweisen<br />

gegenüber. Sie tritt<br />

insbesondere dafür ein, „die bisherige<br />

Blickrichtung vom Kopf auf<br />

die Füße zu stellen“ und „aus der<br />

Perspektive der Migration“ zu forschen.<br />

Was das aber für die Forschungspraxis<br />

konkret bedeuten<br />

könnte, thematisiert Hess leider<br />

nur sehr ungenau.<br />

Wo, wie auch im Falle Sarrazins,<br />

bevölkerungspolitische Argumente<br />

Einzug in die Debatten um Migration<br />

erhalten, geht es immer auch<br />

um Frauen als Reproduzentinnen.<br />

Juliane Karakayali vertritt in ihrem<br />

herausstechenden Aufsatz die<br />

These, dass die bevölkerungspolitischen<br />

Überlegungen Sarrazins<br />

gerade nicht „Ausdruck eines<br />

lesen<br />

Sebastian Friedrich<br />

(Hg.): Rassismus in<br />

der Leistungsgesellschaft.Analysen<br />

und kritische<br />

Perspektiven zu<br />

den rassistischen<br />

Normalisierungsprozessen<br />

der „Sarrazindebatte“.Edition<br />

Assemblage.<br />

Münster 2011. 15<br />

Beiträge. 264 Seiten.<br />

19,80 Euro.


84<br />

lesen<br />

Thomas Atzbacher<br />

lebt und arbeitet in<br />

München.<br />

dumpfen Konservativismus“ seien,<br />

wie er etwa von der ehemaligen<br />

Fernsehmoderatorin Eva Herrmann<br />

vertreten wird. In seinem „Interesse<br />

am Uterus der Akademikerin“<br />

träfe er sich vielmehr mit Ursula<br />

von der Leyen; beide deuten soziale<br />

Ungleichheit „als Folge individueller<br />

oder kultureller Leistungsschwäche“<br />

– und nicht als Folge<br />

kapitalistischer Produktionsweise.<br />

Am Beispiel des 2007 eingeführten<br />

Elterngeldes, das Besserverdienende<br />

zum Kinderkriegen ermutigen<br />

und Arme davon abhalten soll,<br />

streicht Karakayali heraus, dass<br />

sich die aktuelle deutsche Bevölkerungspolitik<br />

in ihrer Logik lediglich<br />

in einem Punkt von den Überlegungen<br />

Sarrazins unterscheide,<br />

nämlich der Begründung. Denn<br />

obwohl der SPD-Politiker behauptet,<br />

Intelligenz werde durch Gene<br />

vererbt, eint beide Perspektiven<br />

ein „radikalisierter Erfolgsindividualismus“.<br />

Die von Sarrazin pauschal<br />

angenommene Traditionalität<br />

muslimischer Migrantinnen stehe<br />

mit diesem Konzept des „neoliberalen<br />

Leistungssubjekts“ in doppelter<br />

Hinsicht im Widerspruch.<br />

Mit Bevölkerungs- und Biopolitik<br />

setzt sich auch Elke Kohlmann in<br />

ihrem spannenden Beitrag „Die<br />

Ökonomie lügt doch … und zur<br />

Hölle mit Goethe!“ auseinander.<br />

Hier analysiert sie den Stellenwert<br />

der Ökonomie in „Deutschland<br />

schafft sich ab“ und wirft die<br />

Frage auf, inwieweit die dort enthaltenen<br />

Kategorisierungen noch<br />

als Form des (Neo-) Rassismus<br />

gefasst werden können und ob es<br />

nicht schon passender wäre, von<br />

Post-Rassismus zu sprechen.<br />

Was dem Buch fehlt<br />

In ihren Beiträgen unter der Rubrik<br />

„Kapital und Nation“ widmen sich<br />

Jürgen Link, Christoph Butterwege<br />

und Jörg Kronauer den nationalistischen<br />

Großmachtvorstellungen,<br />

Kapitalinteressen und den<br />

Zusammenhängen der von Sarrazin<br />

bedienten Diskurse. Es wird<br />

betont, dass dessen problematische<br />

Haltung gegenüber der „Unterschicht“<br />

in der „Sarrazindebatte“<br />

bezeichnenderweise nahezu ausgeklammert<br />

wurde. Auch wird kritisiert,<br />

dass ebenso wenig die symptomatische<br />

Aussage Christian<br />

Wulffs anlässlich des Tags der<br />

Deutschen Einheit im Oktober<br />

2010 zur Diskussion gestellt wurde.<br />

Der Bundespräsident forderte<br />

damals: „Deutschland – mit seinen<br />

Verbindungen in alle Welt – muss<br />

offen sein gegenüber denen, die<br />

aus allen Teilen der Welt zu uns<br />

kommen. Deutschland braucht sie!<br />

Im Wettbewerb um kluge Köpfe<br />

müssen wir die Besten anziehen<br />

und anziehend sein, damit die<br />

Besten bleiben.“<br />

Dass ein Großteil der Beiträge in<br />

Rassismus in der Leistungsgesellschaft<br />

in einer sehr trockenen, den<br />

universitären Darstellungskonventionen<br />

verhafteten Sprache verfasst<br />

ist, ist schade, wenn auch gewissermaßen<br />

nachvollziehbar. Mehr<br />

polemische oder essayistische<br />

Farbtupfer hätten dem Sammelband<br />

auf jeden Fall gut getan. Zu<br />

guter Letzt wäre es spannend<br />

gewesen, nach den historischen<br />

Vorläufern deutscher Untergangsliteratur<br />

vom Schlage Sarrazins zu<br />

fragen, wie dies etwa Volker Weiß<br />

in seinem 2011 erschienenen Essay<br />

„Deutschlands Neue Rechte.<br />

Angriff der Eliten – Von Spengler<br />

bis Sarrazin“ getan hat. Alles in<br />

allem ist Rassismus in der Leistungsgesellschaft<br />

aber auf jeden<br />

Fall eine Lektüre wert.


Eine deutsche Botschaft<br />

Flüchtlingsfamilien sind oftmals hunderte Kilometer voneinander getrennt. Sie verlieren einander auf der<br />

Flucht oder nur ein Teil macht sich auf den langen und gefährlichen Weg nach Europa. Wenn es ihr Aufenthaltsstatus<br />

erlaubt, haben sie das Recht, ihre Partner und minderjährigen Kinder nachzuholen. Doch<br />

die Familienzusammenführung scheitert oft an den bürokratischen und finanziellen Hürden, die in den<br />

letzten Jahren sukzessive aufgebaut wurden. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei die deutsche<br />

Botschaft in Nairobi. Von Tobias Klaus und Anna-Katinka Neetzke<br />

Seit vier Jahren ist Herr Jeylaani aus Somalia von<br />

Frau und Kindern getrennt. In Somalia war er<br />

als Goldschmied tätig bis zu dem Tag, an dem<br />

die Al-Schabab-Miliz ihm verbot, weiterhin sein<br />

Handwerk auszuüben und ihm mit Verstümmelung<br />

und Tod drohte. In Deutschland fand er Schutz, doch<br />

seine Frau und seine drei Kinder schafften es nur bis<br />

nach Nairobi, wo sie nun unter katastrophalen Bedingungen<br />

in einem Slum leben. Der somalische Flüchtling<br />

leidet sehr unter der Trennung und seine<br />

Gesundheit verschlechtert sich von Tag zu Tag. Zwei<br />

Bypass-Operationen hat er bereits hinter sich. Aufgrund<br />

seiner Flüchtlingsanerkennung hat er das<br />

Recht, seine Familie nach Deutschland zu holen und<br />

zu schützen. Dazu musste seine Frau bei der deutschen<br />

Botschaft in Nairobi die<br />

Visa beantragen. Doch einen<br />

Termin zu bekommen ist mittlerweile<br />

fast unmöglich. „Das<br />

Hauptproblem liegt ganz klar<br />

bei der deutschen Botschaft in<br />

Nairobi“, sagt die Münchner<br />

Rechtsanwältin Ingvild Stadie.<br />

„Seit geraumer Zeit ist die faktische<br />

Visaantragstellung kaum<br />

noch möglich“. Über ein Online-<br />

Terminvergabesystem wird der Anspruch auf Familienzusammenführung<br />

ausgehebelt: Neue Termine<br />

werden, wenn überhaupt, nur ab 24:00 Uhr freigeschaltet<br />

und sind innerhalb kürzester Zeit vergeben.<br />

Nur wer Glück hat erhält einen Termin. Insgesamt<br />

gibt es viel zu viele Bewerberinnen und Bewerber<br />

um einen Platz. Die Folge: Termine sind ein knappes<br />

Gut, mit dem Handel getrieben wird und die oft auf<br />

Vorrat gebucht werden. Ingvild Stadie hat das<br />

Vergabesystem beim Auswärtigen Amt angemahnt.<br />

Die Antwort: Zu viele Leute möchten einen Termin,<br />

dieser Andrang sei mit dem wenigen Personal der<br />

deutschen Botschaft einfach nicht zu bewältigen.<br />

„Seltsam ist, dass die Vergabe von Terminen für Kurzzeitvisa<br />

für die Deutsche Botschaft in Nairobi jedoch<br />

kein Problem darstellt. Dass es möglich ist, innerhalb<br />

weniger Tage hierfür einen Termin zu bekommen,<br />

steht im Gegensatz zur Argumentation des Auswärtigen<br />

Amtes, da ein Termin zur Familienzusammenführung<br />

mit 30 Minuten genau denselben Arbeitsaufwand<br />

darstellt“, sagt die Rechtsanwältin. „Außerdem<br />

könnte problemlos die Deutsche Botschaft in Addis<br />

Abeba (Äthiopien) für die Bearbeitung von Visaanträgen<br />

hinzugezogen werden“.<br />

DNA-Tests als Beweis<br />

Die deutsche Botschaft in Nairobi<br />

verlangt DNA-Tests zum Beweis,<br />

dass es sich auch tatsächlich um<br />

Familienmitglieder handelt.<br />

Für Familie Jeylaani fallen<br />

dafür etwa 500 Euro an.<br />

Über seine Rechtsanwältin hat Herr Jeylaani mittlerweile<br />

einen Termin erstritten, doch die Verschärfung<br />

der Terminvergabepraxis ist nur eine von vielen Hürden,<br />

die darauf abzielen, den<br />

Familiennachzug von somali-<br />

schen Flüchtlingen zu unterbinden.<br />

Seit geraumer Zeit verlangt<br />

die Botschaft DNA-Tests zum<br />

Beweis, dass es sich auch tatsächlich<br />

um Familienmitglieder<br />

handelt. Diese sind teuer und<br />

die Flüchtlinge müssen sie selbst<br />

bezahlen. Für Familie Jeylaani<br />

fallen dafür etwa 500 Euro an.<br />

Herr Jeylaani wird mit 350 Euro monatlich unterstützt.<br />

Davon überweist er Dank eisernen Sparens 300 Euro<br />

an seine Familie. Sie muss davon 100 Dollar Miete,<br />

das Schulgeld für die älteste Tochter sowie Schutzgelder<br />

bezahlen. Neben den DNA-Tests müssen die<br />

Anwältin und der Flug bezahlt werden. Diese immensen<br />

Kosten sind alleine kaum zu stemmen, selbst<br />

wenn Herr Jeylaani nicht mehr zum Integrationskurs<br />

muss und arbeiten dürfte.<br />

Das Scheitern an den bürokratischen Hürden<br />

Die 15-jährige Aziza steht vor demselben Problem<br />

wie die Familie Jeylaani. Aziza kommt aus Somalia<br />

und lebt seit einem Jahr in München. Ihre Tante und<br />

nachgehakt


86<br />

nachgehakt<br />

Tobias Klaus und<br />

Anna-Katinka<br />

Neetzke leben in<br />

München und arbeiten<br />

beim Bayerischen<br />

Flüchtlingsrat.<br />

ihr Onkel hatten sie auf ihrer<br />

Flucht mitgenommen, in der<br />

Hoffnung auf ein Leben in Frieden.<br />

Aziza litt an einem Tumor,<br />

der in München erfolgreich operiert<br />

wurde. Heute lebt Aziza in<br />

einer Gemeinschaftsunterkunft,<br />

sie hat eine Aufenthaltserlaubnis<br />

bekommen, darf also bleiben. Sie besucht die achte<br />

Übergangsklasse an der Hauptschule, lernt mit großem<br />

Eifer und spricht schon recht gut deutsch. Azizas<br />

Vater ist vor Jahren im Bürgerkrieg ums Leben<br />

gekommen, ihr großer Wunsch ist es, ihre Mutter<br />

nach Deutschland zu holen. Flugkosten und DNA-<br />

Tests kann sie jedoch von der Jugendhilfe, die sie<br />

erhält, nicht bezahlen.<br />

Auf private Unterstützung angewiesen<br />

Nadif A. floh vor zwei Jahren aus Somalia nach München.<br />

Er wurde als Flüchtling anerkannt und hatte<br />

damit das Recht auf erleichterten Familiennachzug.<br />

Seiner Frau und den sechs Kindern gelang die Flucht<br />

aus Somalia nach Äthiopien. Dort meldeten sie sich<br />

bei der Deutschen Botschaft in Addis Abeba, wurden<br />

aber abgewiesen: Für Visa von Somaliern sei die<br />

Deutsche Botschaft in Nairobi, Kenia, zuständig. Als<br />

Frau A. und ihre Kinder nach einer Odyssee durch<br />

mehrere afrikanische Staaten einige Wochen später<br />

endlich in Nairobi ankamen, war die Frist für den<br />

Visumsantrag um zwei Wochen überschritten. Jetzt<br />

musste der Vater die üblichen Voraussetzungen für<br />

den Familiennachzug erfüllen: Eine ausreichend<br />

große Wohnung und die eigenständige Sicherung des<br />

Lebensunterhalts. Er fing an, in zwei Jobs zu arbeiten.<br />

Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Münchner<br />

Flüchtlingsrats fand eine bezahlbare Wohnung, andere<br />

sammelten Spenden für die Flugkosten. Am 1. Juli<br />

2010 kam die Familie glücklich in München an. Die<br />

vier älteren Kinder besuchen seit September die<br />

Schule. Eine ehrenamtliche Patin unterstützt die Kinder<br />

beim Deutschlernen. Der zweitälteste Sohn wird<br />

voraussichtlich im Herbst auf die Realschule wechseln<br />

könnten. Die beiden Jüngsten gehen in den Kindergarten.<br />

Die Eltern werden demnächst mit dem Integrationskurs<br />

beginnen.<br />

Ausgehöltes Grundrecht<br />

Diese Beispiele zeigen, wie schwer es ist, tatsächlichen<br />

Recht auf Familienzusammenführung Gebrauch<br />

zu machen. Durch Terminvergabeverfahren, Antragsfristen<br />

und finanzielle Hürden wird das Grundrecht<br />

auf Familieneinheit faktisch verwehrt. Das Recht auf<br />

Durch Terminvergabeverfahren,<br />

Antragsfristen und finanzielle<br />

Hürden wird das Grundrecht<br />

auf Familieneinheit<br />

faktisch verwehrt.<br />

Familienzusammenführung leitet<br />

sich aus Artikel 6 des<br />

Grundgesetzes her. Danach stehen<br />

Ehe und Familie unter dem<br />

besonderen Schutz der staatlichen<br />

Ordnung. Aus diesem<br />

Grund stellt der Wille zur Aufnahme<br />

oder Fortsetzung der<br />

Führung einer familiären Lebensgemeinschaft die<br />

Grundvoraussetzung für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts<br />

dar. Dass dieses Grundrecht durch bürokratische<br />

Hürden sukzessive ausgehöhlt wurde, als<br />

die Zahl der somalischen Flüchtlinge, die in Deutschland<br />

Schutz suchen, kontinuierlich stieg, ist sicherlich<br />

kein Zufall. Zumindest für Familie Jeylaani besteht<br />

mittlerweile jedoch Hoffnung auf ein baldiges<br />

Wiedersehen. Als der Bayerische Flüchtlingsrat ihr<br />

Schicksal bekannt machte und einen Spendenaufruf<br />

für die Familie startete, kam tatsächlich so viel Geld<br />

zusammen, dass die Kosten für den Flug und die<br />

DNA-Tests der Familie gedeckt sind. Vier Jahre Trennung<br />

gehen nun dem Ende entgegen. Der Bayerische<br />

und der Münchener Flüchtlingsrat haben einen Fonds<br />

zur Familienzusammenführung ins Leben gerufen, mit<br />

dem auch weiteren Familien ein gemeinsames Leben<br />

ermöglicht werden soll.<<br />

Spendenfonds zur Familienzusammenführung<br />

Bayerischer Flüchtlingsrat<br />

Bank für Sozialwirtschaft<br />

BLZ: 700 205 00<br />

Konto Nr: 88 32 602<br />

Stichwort:„FZ Fonds“

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