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BEST OF Otto Brenner Preis 2007 - Otto Brenner Shop

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Gewiss, die Bild-Zeitung hat mehr Auflage, das Fernsehen mehr Publikum. Der<br />

Spiegel aber entwickelt die größte Wucht, trillert mit der Pfeife des Schiedsrichters,<br />

liefert gern finale Urteile über diesen, jenes und alles. Er wird noch immer<br />

gefürchtet. Zwar hört man rundum öfter: „Den lese ich kaum mehr“ und „Das<br />

brauche ich nicht mehr“. Viele schütteln den Kopf ob der politischen Irrungen<br />

und Wirrungen des Blattes. Doch selbst bei Ex-Lesern schwingt oft ein Erstaunen<br />

darüber mit, dass sie sich gelöst haben von der Droge namens Spiegel.<br />

Ich gestehe: Auch ich war ein Junkie. Schon als Knabe verschlang ich das Blatt.<br />

Nicht so sehr, weil der Spiegel besonders klug, analytisch und weitblickend war.<br />

Mehr wegen seiner Grundhaltung. Der Spiegel entzauberte die Wichtigtuer, er<br />

war die freche Antimacht, die das allzu zwielichtige, dreiste und bigotte Personal<br />

im Land bloßstellte. Wenn Deutschland Montag morgens erwachte, lag da ein<br />

Magazin, das Parteichefs, Manager und Bischöfe zum Stammeln brachte. Wer<br />

log oder sich die Taschen vollmachte, wurde verlässlich abgewatscht. In besten<br />

Zeiten war der Spiegel der wöchentliche Einlauf fürs stinkende Gedärm der<br />

Republik. Ein Akt der Hygiene. Und insofern tatsächlich, wie Herausgeber Rudolf<br />

Augstein einst prahlte, ein „Sturmgeschütz der Demokratie“.<br />

Ich hatte tiefen Respekt vor so viel Respektlosigkeit, fand dieses Blatt so bewundernswert,<br />

dass ich mich als junger Mann in den Siebzigern des Nachts regelmäßig<br />

in den Haufen der Hamburger Altpapiersammlung wiederfand. Nach<br />

langem Suchen und Wühlen hatte ich eine fast komplette Sammlung, bis zurück<br />

in die Fünfziger, hübsch sortiert, mit Jahresregistern. Die Freunde hassten mich,<br />

weil sie den schweren Papierkram bei jedem Umzug von Dachwohnung zu Dachwohnung<br />

schleppen mussten. Doch der Sammler war unbelehrbar. Ein Fan.<br />

Der Spiegel war einfach einzigartig. Er hatte die kesseste Lippe.<br />

Natürlich war ein Trick dabei. Eine Masche, den Leser in den Text hineinzuziehen.<br />

„Sanft anschneiden und dann zustechen“ hieß die Regel, wie ich später lernen<br />

durfte. Die Architektur ist eigentlich simpel: Ein guter erster Satz, ein hübscher<br />

szenischer Einstieg. Im dritten Absatz dann der Kern des Themas, gefolgt von<br />

allerlei Beispielen, gewürzt mit Einsprengseln wie „vielerorts“ und „immer<br />

mehr“, und einem flotten Für und Wider voller Zitatkonfetti, das den Anschein<br />

von Abgewogenheit wahrt, letztlich aber nur das Ziel verfolgt, die im Vorspann<br />

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