Typisch evangelisch. - Christoph Fleischmann
Typisch evangelisch. - Christoph Fleischmann
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L e b e n s z e i c h e n<br />
Sprecher:<br />
<strong>Typisch</strong> Evangelisch –<br />
Was prägt Protestanten wirklich?<br />
Autor: <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Am Anfang waren zwei Ausschnitte aus meinen alten Aufnahmen. Sie waren mir<br />
besonders im Gedächtnis geblieben. Als ich sie mir nochmal angehört habe, dachte<br />
ich wieder wie damals: Das ist doch typisch <strong>evangelisch</strong>, furchtbar <strong>evangelisch</strong> – so<br />
reden nur <strong>evangelisch</strong>e Pfarrer.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Der Tod ist eine sehr individuelle Angelegenheit, er befreit mich von allen<br />
Ansprüchen Anderer, die über mich verfügen möchten, er gibt mir insofern<br />
auch Freiheit. Die Unterordnung unter Gott, die ich im Tod erfahre und das<br />
Gelegtsein in seine gute Hand bedeutet auf der anderen Seite für mich, eine<br />
Befreiung von allen Ansprüchen, die Andere an mich stellen und insofern ist<br />
eine Frage der Würde, dass ich meine Totenruhe haben darf.<br />
O-Ton:<br />
Die Losung für heute steht bei Jesaja im 45. Kapitel: „Fürwahr Du bist ein<br />
verborgener Gott, Du Gott Israels, der Heiland.“ Liebe Gemeinde, hier vor der<br />
EKD-Synode eine Andacht zu halten, ist eine schwierige Aufgabe. Sie wissen<br />
gar nicht, wie viele Leute mir heute Morgen alles Gute gewünscht haben.<br />
[Lachen] Ich kann mir theologischen Ärger einhandeln, wenn ich den<br />
biblischen Text mit Hermisson und nicht mit Balzer interpretiere oder<br />
systematisch-theologisch nicht die Kurve bekomme. Ich kann mir<br />
menschlichen Ärger einhandeln, wenn ich zu abgehoben, zu geschliffen oder<br />
zu distanziert rede. Aber es hilft alles nichts, und überhaupt, ich rede schon.<br />
Und ich will heute von Gott reden: „Fürwahr Du bist ein verborgener Gott, Du<br />
Gott Israels, der Heiland.“<br />
Das Leben scheint für die beiden eine Last zu sein. Das ist jedenfalls das, was mir<br />
aus diesen Worten aufscheint. Der eine sieht sich mit Ansprüchen konfrontiert, von<br />
denen ihn erst der Tod befreit. Die andere scheint nicht stolz darauf zu sein, dass sie<br />
vor der Synode reden darf, sie sieht darin nur einen Haufen Probleme. Dieses<br />
Gefühl, dass das Leben eine Last ist, das man nur mit Furcht und Zittern bestehen<br />
kann, so dass der Tod am Ende sogar als Erlösung erscheint – ist das typisch<br />
<strong>evangelisch</strong>? Und wenn ja, bin ich auch so? Sind die beiden mir im Gedächtnis<br />
geblieben, weil sie mich an mich selbst erinnert haben?<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />
Dieses Manuskript einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen<br />
Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des WDR unzulässig. Insbesondere darf das Manuskript weder<br />
vervielfältigt, verbreitet noch öffentlich wiedergegeben (z.B. gesendet oder öffentlich zugänglich gemacht) werden.
L e b e n s z e i c h e n<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Dieses lutherische Sündenbekenntnis dieses: „Ich armer, elendiger, sündiger<br />
Mensch bekenne, dass ich gesündigt habe mit Gedanken, Worten und<br />
Werken und auch von Grund auf sündig und unrein bin.“ Ich kann das<br />
deswegen gut auswendig, weil es in Bethel, wo ich lange gearbeitet habe,<br />
gesprochen wurde, und ich es unerträglich fand, dass zum Beispiel schwer<br />
behinderte Menschen diese Art von Sündenbekenntnis mitsprechen sollten.<br />
Michael Klessmann ist emeritierter Professor für Pastoralpsychologie, und war lange<br />
in der Krankenhausseelsorge in Bethel tätig. Ist das Sündenbekenntnis nur ein alter<br />
Zopf, der von diversen Liturgiereformen inzwischen entsorgt wurde, oder zeigt sich<br />
darin etwas, was den Protestanten in Fleisch und Blut übergegangen ist?<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Die Bescheidenheit ist Ausweis, auch in gewisser Weise des rechten<br />
Glaubens: „Ich armer, elendiger, sündiger Mensch“, also sich selbst klein<br />
machen, um dann um so mehr, bereit und offen zu sein, die Gnade zu<br />
empfangen. Das entspricht sich ja.<br />
Das Sich-Kleinmachen des Menschen hat also durchaus mit dem Kern der<br />
protestantischen Lehre zu tun: Der Mensch kann nichts für seine Erlösung tun, er ist<br />
durch und durch Sünder – aber Gott nimmt ihn allein aus Gnade an und rechnet dem<br />
Menschen die Verdienste Christi zu. Je nachdem, ob man den ersten oder zweiten<br />
Teil stärker betont, kann diese Vorstellung sehr unterschiedliche Lebenshaltungen<br />
prägen.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Also da ist im Grunde das, woran ich am meisten arbeite, um dass doch sehr,<br />
sehr in Frage zu stellen: Ob die Anthropologie im Christentum, vor allem im<br />
Protestantismus, nicht doch etwas zu depressiv ist, um es so zu formulieren.<br />
Wir müssen von dieser depressiven Anthropologie raus: Wir können immer<br />
scheitern, das wissen wir, aber diese Gleichung gewissermaßen zu sagen:<br />
der Mensch ist ein Sünder, und er ist immer nur auf die Gnade angewiesen,<br />
das würde ich heute theologisch so gar nicht mehr unterschreiben, sondern da<br />
würde ich vielmehr sagen: Na, es gibt schon auch die Möglichkeit, dass man<br />
bei richtigem ethischen Verhalten, diese Keule aus dem Kopf rausbekommt.<br />
Klaas Huizing, Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg,<br />
meint, dass im Protestantismus das Sündersein des Menschen überbetont wird.<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />
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Sprecher:<br />
<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Er wuchs in einer reformierten Familie in der Grafschaft Bentheim auf. Die<br />
Vorstellung, dass alles an Gottes Gnade hänge und die Leistung des Menschen nicht<br />
zähle, war nicht nur eine Glaubensaussage, sondern hatte auch Konsequenzen für<br />
das alltägliche Leben:<br />
Musik:<br />
O-Ton:<br />
Erfolgreich zu sein, ist eigentlich doch ein Geschenk Gottes, da muss man<br />
sich gar nichts drauf einbilden: Meine Mutter hat im Freundeskreis nie erzählt,<br />
wenn wir irgendwie eine gute Arbeit geschrieben haben oder ein Spitzen-<br />
Abitur oder promoviert, sondern das hielt sie immer unter der Decke: ja, ja,<br />
jetzt ist er promoviert, ja jetzt ist er Professor, ja, ja. Ja, hat alles funktioniert,<br />
aber da wurde nie im Freundeskreis mit angegeben. [lacht] das war wirklich<br />
etwas ganz seltsames.<br />
Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren, es streit' für uns der<br />
rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren, fragst Du wer der ist, er heißt Jesus Christ,<br />
der Herr Zebaoth und ist kein and'rer Gott, das Feld muss er behalten.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Wenn ich auf meine eigene Biografie so zurückschaue: So richtig stolz auf die<br />
Sachen war ich nie, sondern wenn ich das eine fertig habe, habe ich gedacht:<br />
Okay fertig, schreibste das nächste Buch. Und im Grunde genommen<br />
versuche ich das heute etwas besser, auch psychisch geschult, etwas besser<br />
zu machen. Aber es gelingt auch nur sehr begrenzt.<br />
O-Ton:<br />
Und das war das Gleiche in meiner Erziehung:<br />
Der holländische Theologe Douwe Visser wuchs ebenfalls in einer reformierten<br />
Familie auf.<br />
O-Ton:<br />
Man kann niemals stolz sein auf seine Arbeit, man kann auch nie sagen: Oh,<br />
das war so gut, was ich gemacht habe, oder das war so super. Nein, man tut<br />
das nur, und man ist nicht stolz darauf: Wir sind gerufen hier zu arbeiten. Das<br />
war richtig Teil meiner Erziehung, und das hab ich noch immer. Das verliert<br />
man nie …<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />
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Sprecher:<br />
<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Da kommen wir auf ein weiteres Thema, das die Protestanten auszeichnet: Die<br />
Arbeit, die aber keine schöpferische Entäußerung des menschlichen Lebens ist,<br />
etwas, worin der Mensch sich spiegeln kann, sondern einfach seine Pflicht.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
… das verliert man nie. Die Freude im Leben, ja die hab ich sicher, aber das<br />
erste ist doch die Arbeit, ja. Das kann ich doch wohl sagen. Und das bleibt<br />
auch immer das Gefühl.<br />
O-Ton:<br />
Ich war gerade im Urlaub und ich hab mich wieder beobachtet, dass ich<br />
wirklich fast jeden Morgen, um Viertel nach Fünf aufgestanden bin und<br />
wirklich erstmal zweieinhalb Stunden gearbeitet habe. Der Tag lebt sich dann<br />
sehr viel angenehmer für mich – ich bin dann auch für meine Partnerin sehr<br />
viel besser zu ertragen, wenn ich morgens zweieinhalb Stunden gearbeitet<br />
habe, auch im Urlaub.<br />
Die Botschaft von der freien Gnade und vom geschenkten Leben brachte nicht nur<br />
Menschen hervor, die sich kleinmachen, sondern noch eine zweite Paradoxie: Die<br />
Lehre, dass der Mensch sich das Heil nicht erarbeiten könne, führte ironischerweise<br />
dazu, dass die Menschen extrem arbeitsam wurden.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Die Ur- oder Grundgeste des Calvinismus ist die Arbeit von morgens bis<br />
spätabends. Ich glaube, so definiert sich in der Regel doch der Calvinist, auch,<br />
denke ich, noch in der Gegenwart. Man glaubt zwar nicht mehr an die<br />
metaphysischen Hinterwelten, die dieses Projekt aus sich herausgelassen<br />
haben – also die alte These, wer erfolgreich arbeitet, sicher sein könne, dass<br />
Gott ihn erwählt habe – daran glaubt heute kein aufgeklärter Calvinist mehr.<br />
Aber offenbar ist in den Genen doch so etwas abgespeichert wie, dass Arbeit<br />
irgendwie etwas grundsätzlich Gutes ist.<br />
Der Theologe Klaas Huizing wohnt inzwischen im Saarland. Dort, in einer katholisch<br />
geprägten Gegend, erlebt er eine andere Mentalität gegenüber Arbeiten und Feiern.<br />
O-Ton:<br />
Die sind hier – ich will nicht sagen: genusssüchtig, das wäre jetzt schon<br />
wieder sehr calvinistisch gedacht – aber sagen wir mal genussfreudig: Man<br />
isst gerne, man isst gerne gut, hat dafür auch sehr viel geldliche Ressourcen<br />
übrig, was an anderer Stelle gespart wird, an den Inneneinrichtungen, zum<br />
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<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Teil auch an den Autos, aber das Essen ist schon sehr wichtig. Wie sagt der<br />
Saarländer immer: Gschafft ist schnell, Hauptsach gut gess. Man arbeitet<br />
schnell, Hauptsache ist, man isst ordentlich. Eine große Esskultur hat es im<br />
Protestantismus über viele Jahrhunderte so gar nicht gegeben; im Gegenteil,<br />
das war doch eher reduziert. Ich glaube, einen Drei-Sterne-Koch aus dem<br />
Protestantismus kann ich mir kaum vorstellen, und hier im Saarland haben wir<br />
gleich zwei Drei-Sterne-Köche, die sind natürlich gut katholisch.<br />
Wer etwas in der Welt schafft, in dem er sich selbst entäußert und wer sich<br />
genussvoll einverleibt, was die Welt ihm bietet, wer also in einem Stoffwechsel mit<br />
der Welt lebt – der wird in der Welt keine Last sehen. Die Protestanten aber<br />
kontrollieren sich selbst in der Welt, sie arbeiten in unwirtlicher Umgebung.<br />
O-Ton:<br />
Die Rede von Gott will grade im Alltag, mitten im Leben also, in einer<br />
alltagstauglichen Sprache gewagt werden. Ich muss es wagen mitten im<br />
Leben theologische Deutungen von Gott her zu versuchen. Das ist nicht leicht,<br />
weil ich dabei ungeschützt von Liturgie und Theologie aus meinem Leben<br />
heraus von Gott erzähle und damit erzähle ich immer auch von mir.<br />
O-Ton:<br />
Das finde ich auch sehr typisch <strong>evangelisch</strong>. Einmal der Verweis: Wir haben<br />
nur das Wort, und zum anderen, diese radikale Subjektivität: ich kann nur<br />
sprechen für mich. Nicht: Die Kirche spricht durch mich.<br />
O-Ton:<br />
Zitator:<br />
Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott sich erwählt, damit er die<br />
Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt, das hat<br />
Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist; und das Geringe<br />
vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, das, was nichts ist,<br />
damit er zunichte mache, was etwas ist.<br />
Dieses Explizite, das betont sie ja auch immer wieder: ich kann das und das<br />
nur sagen, ich kann meinen Glauben nur zum Ausdruck bringen mit den<br />
Zweifeln die dazu gehören, das ist sicher ein typisch protestantisches Motiv,<br />
ja.<br />
O-Ton:<br />
Schließlich auch von Gott reden, in dem ich meine Zweifel benenne, ob es ihn<br />
gibt, ob er sich verborgen hält oder ob er untätig schweigt angesichts des<br />
Leides in der Welt. Auch in dem ich meine Zweifel an meinem eigenen<br />
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<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Glauben benenne, meine Angst von Gott zu reden, meine Scheu, fromm zu<br />
sein. All dies gehört auch zu einer Verantwortlichen Rede von Gott.<br />
Die Pfarrerin, die mir so verhuscht erschienen ist, wird mir beim erneuten Anhören<br />
ihrer Andacht, immer sympathischer. Vielleicht sind Furcht und Zittern ehrlicher als<br />
den Herrn Jesus in einer Monstranz vor sich herzutragen oder in der Nestwärme<br />
einer Heils-Institution zu leben, die weiß, was richtig und falsch ist. Michael<br />
Klessmann weist aber auch auf protestantische Probleme hin:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Also Fulbert Steffensky, der ja eine katholische Vergangenheit hat, hat das<br />
immer wieder sehr schön gesagt, dass die eigene Subjektivität zum Maßstab<br />
auch des religiösen Redens zu machen, sehr bald an Grenzen führt. Und ob<br />
es nicht auch ein Weg ist, dass man sich erstmal in vorgegebene Formen<br />
sozusagen einbinden lässt und sie mitspricht, und sich einem dann vielleicht<br />
im Laufe dieses Mitsprechens und Mitfeierns ein Sinn öffnet. Obwohl das<br />
andere ist nicht aufgebbar: ich kann nicht hinter meine Subjektivität zurück,<br />
natürlich nicht. Insofern entspricht der Protestantismus auch sehr stark einer<br />
modernen oder postmodernen Orientierung.<br />
Michael Klessmann betont einmal mehr die ambivalenten Wirkungen<br />
protestantischer Mentalität.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Das Stichwort Protestantismus ist ja erst aus dem 18. Jahrhundert, bezieht<br />
sich aber auf eine sogenannte Protestation von Speyer von 1529, wo es<br />
heißt, in Sachen des Glaubens und wenn es um Gott geht und so weiter, ist<br />
jeder allein vor Gott. Und das, finde ich, ist eine sehr prägnante<br />
Ausdrucksform für das, was Protestantismus bedeutet: Es gibt kein Lehramt,<br />
sondern jeder ist allein vor Gott, jeder muss seinen Glauben suchen und<br />
versuchen auszudrücken, und so weiter.<br />
O-Ton:<br />
Das protestantische Aufbegehren, das gibt es auch, dass man sehr freimütig<br />
sagt: „Nein ich stehe hier, und kann wirklich jetzt nicht anders. Da geh ich jetzt<br />
nicht mit!“<br />
Klaas Huizing benutzt das alte Wort freimütig. Wächst aus dem Auf-sich-alleingestellt-sein<br />
der freie Mut des Eigensinns?<br />
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Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Wir haben zum 80. Geburtstag von Karl Barth eine Festschrift herausgegeben<br />
mit dem Titel Parrhesia.<br />
Eberhard Busch war einer der letzten Assistenten des Schweizer Theologen Karl<br />
Barth und ist inzwischen selber emeritierter Theologieprofessor.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Und dieses Wort lässt sich mit verschiedenen Worten übersetzen, die alle in<br />
die gleiche Richtung weisen: Also Freimut oder Unerschrockenheit, oder<br />
Unbekümmertheit oder [...] frohe Zuversicht. Und mit diesen Übersetzungen<br />
damit deute ich an, wie ich diesen Begriff des Freimut gern verstehen möchte:<br />
Als frohe Zuversicht, als Freiheit, wenn es sein darf mit vielen und wenn es<br />
sein muss gegen den Strom zu schwimmen. Aber Freimut, ohne dass man<br />
bekümmert dabei ist. Wenn man überzeugt ist: So muss der Weg gehen, dann<br />
geht man ihn.<br />
Eberhard Busch erinnert sich, dass Karl Barth am Ende eines Arbeitstages eine<br />
Mozart-Patte auflegte.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Er verstand Mozart nie als einen vertändelten Rokoko-Musiker, sondern als<br />
einer, der am Abgrund steht und doch nicht verzagt ist, weil er am Abgrund<br />
noch singen darf und musizieren darf. Und dieses Musizieren im Wissen, dass<br />
das Leben sehr ernst und hart ist. Die Fröhlichkeit, die trotzdem und<br />
angesichts dessen nicht aufhören muss, das hat ihn an Mozart angesprochen.<br />
O-Ton:<br />
Aus der Gewissheit, ich bin von Gott geliebt, ist mir die Zuwendung und<br />
Anerkennung anderer Menschen und anderer Autoritäten zweitrangig, dass ist<br />
sicher der Grundgedanke dieses Freimutes, deswegen kann ich diesen Mut<br />
haben, so frei zu reden und mich in Widerspruch zu allen möglichen<br />
Positionen zu setzen; aber nochmal: Das gelingt immer nur begrenzt.<br />
Der Pastoralpsychologe Michael Klessman relativiert das stolze protestantische<br />
Selbstbewusstsein:<br />
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<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
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28.10.2012<br />
Die andere Seite besteht darin, dass sich jeder natürlich auch irgendwie an<br />
den Zeitgeist und an die Strömungen der jeweiligen Kultur anpasst, anpassen<br />
muss, um verständlich zu sein in dem, was man spricht, auch um der eigenen<br />
Identität willen. Man kann nicht allein und völlig isoliert irgendwie leben,<br />
sondern braucht ständig ja den Austausch mit Anderen, und damit verändert<br />
man sich schon und passt sich an.<br />
Immerfort hier zu stehen und nicht anders zu können, ist anstrengend; wir brauchen<br />
auch Andere, um Mensch zu sein.<br />
Aber kommen wir ein letztes Mal auf die Andacht der Pfarrerin vor der Synode zurück<br />
– im Online-Archiv der EKD-Synoden finde ich auch ihren Namen; es ist Kerstin<br />
Gäfgen-Track. Michael Klessmann hat nicht nur ihre radikale Subjektivität als typisch<br />
<strong>evangelisch</strong> bezeichnet, sondern auch ihre Betonung des „nackten Wortes“:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Ich habe es in dieser Andacht riskiert von Gott zu reden, wie ich es getan<br />
habe, weil ich hier vorne eben nichts anderes habe als eben diese Rede von<br />
Gott. Das Christentum ist eine schwierige Religion, und der Protestantismus<br />
ist seine schwierigste Form. Der Protestantismus ist schwierig, weil wir<br />
Protestanten radikal nur das Wort, die Rede von Gott haben – und auch das<br />
Sakrament ist auf das Wort verwiesen. Wir haben nur das nackte Wort, da<br />
helfen auch alle Symbole, alle gestalteten Mitten, alle Kollarhemden und auch<br />
alle liturgischen Riten nicht. Wir haben nur das Wort und sollen reden von<br />
dem Gott, der uns liebt und den wir lieben, voller Zweifel und Zaghaftigkeit,<br />
voller Leidenschaft und Kraft, voller Mut es riskieren, Gott und uns selbst mit<br />
der Rede von ihm aufs Spiel zu setzen – und genau so <strong>evangelisch</strong>es Profil<br />
zeigen.<br />
O-Ton:<br />
Dass man wirklich glaubt, dass Texte so etwas wie Mittlerschaft darstellen,<br />
dass man sie deshalb sehr seriös nehmen muss. Und daraus hat sich dann<br />
eine Literatur entwickelt, die im Grunde genommen immer auch vertikal und<br />
horizontal verspannt war.<br />
Der Theologieprofessor Klaas Huizing ist selbst auch Schriftsteller; er glaubt, dass<br />
die protestantische Konzentration auf das Wort aus der Kirche heraus weit in die<br />
Kultur hineingewirkt hat; er erinnert an die These des Germanisten Heinz Schlaffer:<br />
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<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Gott sei Dank hat das nicht ein Theologe entdeckt, sondern ein Germanist,<br />
der gesagt hat, die Geschichte der deutschen Literatur ist mehr oder minder<br />
im Pfarrhaus erfunden worden. Das geht schon los bei den […] theologischen<br />
Meisterdenkern, bei Hamann etwa, der hat schon gesagt: „Gott ist ein<br />
Schriftsteller“. Und das war, wenn man heute auf diese These zurückblickt, die<br />
ja nun weit 200 Jahre zurückliegt, das war sehr, sehr, sehr hellsichtig. Ich<br />
glaube, da hat sehr früh ein Verständnis eingesetzt, dass man sagt: „Wir<br />
haben es hier in der Bibel mit literarischen Texten zu tun.“ Und man ist völlig<br />
frei, gewissermaßen diese Spur aufzunehmen und selbst neue Texte zu<br />
schreiben. Diese Entdeckung der literarischen Qualität der Bibel hat<br />
freigesetzt die Produktivität bei den Schriftstellern und Schriftstellerinnen. Und<br />
das ist wirklich empirisch deutlich nachweisbar, dass das im deutschen<br />
Protestantismus, in der deutschen Literatur so gewesen ist, und dann kamen<br />
nachher noch einige österreichischen Katholiken dazu und sehr viele jüdische<br />
Schriftsteller, aber im Grund muss man sagen: Es ging zunächst mal mit dem<br />
protestantischen Pfarrhaus los.<br />
Das erinnert mich an mein Theologiestudium, an einen meiner Kommilitonen: Der hat<br />
den Weg von der protestantischen Wortkultur zur Schriftstellerei in seinem Leben<br />
nachvollzogen. Timo Brunke brach das Studium ab und wurde einer der<br />
Protagonisten der Poetryslam-Szene. Er arbeitet bis heute als Sprachkünstler in<br />
Stuttgart.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Wenn ich an mein eigenes Theologiestudium zurückdenke und an die<br />
ungeheure Wucht des Die-Bibel-von-Innen-her-Kennenlernens: Bibelkunde,<br />
Ursprachen lernen – auch im Vergleich dann zu Kommilitonen im katholischen<br />
Bereich dann. Da wurde ja schon extremer Wert auf das iota gelegt, das dann<br />
auf dem Papier steht.<br />
Der Ursprung der Literatur aus dem Pfarrhaus lässt sich vielleicht auch als Auszug<br />
aus dem Pfarrhaus beschreiben – im Namen des freimütigen Eigensinns:<br />
O-Ton:<br />
Deshalb sind wahrscheinlich auch sehr viele protestantische Pfarrer entweder<br />
Politiker, oder Schriftsteller geworden, weil sie von dort her im Grunde<br />
genommen, freimütig zu allen Themen Stellung nehmen können.<br />
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O-Ton:<br />
<strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> – Was prägt Protestanten wirklich?<br />
von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Der Ausstieg aus dem Theologiestudium war für mich eine Krise, weil ich<br />
gemerkt habe – auch physisch – dass das, was ich eigentlich verbinde mit<br />
dem Predigen, mit dem Beten, öffentlichen Beten, das tut man ja in der<br />
Kirche; dass die intellektuelle Durchdringung der Materie zu Recht einen<br />
großen Rang einnimmt im Studium, dass mit aber dabei aber durchaus so ein<br />
künstlerischerer Umgang mit dem Stoff gefehlt hat – und zwar massiv. So<br />
massiv, das ich einfach gedacht habe, ich bin in der falschen Liga gelandet.<br />
Ich kann zwar fühlen, was ich sagen möchte, das hat aber – zu Recht – in<br />
diesem Studium an der Universität nicht viel Geltung.<br />
Als Poet hat Brunke über seinen Abschied vom Theologiestudium damals ein Sonett<br />
verfasst; er kramt ein schwarzes Buch heraus, das mit seinem roten Schnitt aussieht<br />
wie ein Gesangbuch. Darin hat er seine Verse geschrieben:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Das war damals wichtig, das stimmt schon, das musste irgendwie sein, willst<br />
Du das nochmal einleitend anfragen, dass ich vorher noch was sage dazu?<br />
Nein, Timo, wir sollten nur erklären, dass ein Cab ein Cabriolet ist.<br />
O-Ton:<br />
Abschied vom Pfarrberuf<br />
Ich pflegte mir ein Cab von schwarzem Lacke,<br />
aus guter alter Zeit, wie ich's polierte,<br />
bei jeder Sonntagsfahrt zaghaft probierte,<br />
dass ja im Triebwerk keine Schraube knacke<br />
ich pflag der Wissenschaft vom Bäffchenfracke<br />
aus guter alter Zeit, wie ich studierte<br />
und Wisselchen nebst Wisselchen rangierte,<br />
ich fraß Gelehrsamkeit im Zehnerpacke.<br />
Nun habe ich sie verkauft in heit'rem Sinnen,<br />
da ich der Pflege müde bin geworden,<br />
veräußer' ich die ehrwürd'ge Carosse<br />
und zog im Geist das Bäffchen mir vom Kinne,<br />
die Versesskizzen sind am Überborden<br />
und schreien stumm nach ihrem alten Bosse.<br />
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von <strong>Christoph</strong> <strong>Fleischmann</strong><br />
28.10.2012<br />
Inzwischen ist Brunke neben seinen Bühnenprogrammen auch in einer<br />
Sprachwerkstatt engagiert. Zusammen mit Deutschlehrerinnen hat er Schüler einer<br />
sogenannten Brennpunktschule unterrichtet und ihnen Wörter und Redewendungen<br />
beigebracht:<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Weil sie, wenn sie die Schule verlassen, sie in die erwachsene Welt entlassen<br />
werden und spätestens dann, aber weit vorher, erleben sie ja, dass die Welt<br />
mit ihnen umgeht, auf sie einwirkt, manchmal brutal einwirkt. Eine<br />
Redewendung zu haben für Erlebnisse, die man bei anderen oder bei sich<br />
selbst erlebt, das in ein Wort packen zu können, das ist – wie es beim kleinen<br />
Prinzen heißt – er zähmt, er zähmt sich ja dadurch auch die Welt. Das tut<br />
Sprache ständig.<br />
Das protestantische Erbe der deutschen Literatur begründet vielleicht ihre Suche<br />
nach Tiefe und Sinn oder den Glauben, dass man mit Geschichten die Welt ordnen<br />
könne – oder noch schlichter: <strong>Typisch</strong> <strong>evangelisch</strong> ist das Vertrauen auf das<br />
freimütige und eigensinnige Wort als wirkmächtigen Mittler zwischen den Menschen,<br />
aber auch zwischen Menschen und Gott.<br />
Sprecher:<br />
O-Ton:<br />
Das, was ich jetzt höre, das vergeht, auch die Schrift, das wird Altpapier –<br />
früher oder später. Die Endlichkeit der Sprachen – auch das ist ja ein Fakt,<br />
dass auch die deutsche Sprache irgendwann nicht mehr sein wird zum<br />
Beispiel: Irgendwann wird man Luther nur noch als Fremdsprachentext lesen<br />
in Tausenden von Jahren, irgendwann wird das der Fall sein. Was bleibt? Es<br />
bleibt letztendlich diese Gabe des Wortes an sich. Ich glaube, dass Gottes<br />
Geschenk an uns letztendlich das Wort überhaupt ist. Die Sprache ist ein<br />
Geschenk vom Himmel, das Vermögen Worte zu machen.<br />
Wer Worte für die Welt hat, dem könnte das Leben in der Welt leichter werden.<br />
© Westdeutscher Rundfunk Köln 2012<br />
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