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<strong>KleinerKulturKurier</strong><br />

Ausgabe: 3/2004 - kostenlos Sonntag, 17. Oktober 2004<br />

„Oh, oh, gleich kann er sich den<br />

Segen vom Kloster Kamp<br />

abholen“. Sie kennen diese salopp<br />

formulierte Mahnung, wenn<br />

jemand etwas Unerlaubtes oder<br />

Unpassendes tut? Aber woher<br />

rührt es eigentlich, dass der für<br />

unsere Region so sprichwörtlich<br />

gewordenen „Segen vom Kloster<br />

Kamp“ ganz entgegen der sonstigen<br />

Intention des Wortes „Segen“ so negativ behaftet<br />

ist? Nun, der Legende nach wurden im Mittel-<br />

Mörike auf der Reise<br />

nach Wien<br />

Ein fiktiver Brief anlässlich des<br />

200. Geburtstages des Dichters<br />

Ihro hochehrbarer vormals<br />

eminent würdiger Herr Pfarrer<br />

gewesener itzo Lehrer und freier<br />

Schriftstellikus gebender<br />

Herr!<br />

Nebst der Tatsache Euer Gutbürgerlichkeit<br />

allemal angebrachte<br />

Glückwünsche zu dero sich<br />

Eduard Mörike:<br />

„Mozart auf der Reise nach<br />

Prag“<br />

Eduard Mörike war von seiner<br />

Jugend an ein großer Verehrer<br />

Mozarts. In dieser Novelle, seinem<br />

letzten abgeschlossenen Prosawerk,<br />

erzählt er einen Tag im<br />

Leben des Komponisten.<br />

Im Herbst 1787 unternimmt Mozart<br />

gemeinsam mit seiner Frau<br />

Constanze eine Reise nach Prag,<br />

"Gleich gibt's den Segen von Kloster Kamp!"<br />

LesensWert<br />

immenz rundendem Geburtstag<br />

artig zu übermitteln, haben mir<br />

insbesondere der Herr Schriftstellikus<br />

Anlass zu diesem<br />

Schreiben gegeben. In einem gewissen<br />

Opus berichten nämlich<br />

Euer Wohlbeleibtheit Eduardus<br />

Mörikus höchst melodiös, anschaulich<br />

und nota bene formvollendet<br />

über die Reise des<br />

Herrn Compositeur M. und<br />

dessen Gattin zu des ersteren<br />

großer Opera „Don Giovanni“<br />

Uraufführung zu Prag.<br />

So mein Weibchen und ich den<br />

geschilderten Tag auch nicht im<br />

Entferntesten wirklich gelebt<br />

haben, so empfinden wir uns<br />

um dort seine große Oper „Don<br />

Giovanni“ aufführen zu lassen.<br />

Bei einem kurzen Halt gelangt<br />

Mozart auf einem Spaziergang an<br />

einen Garten und wird auf das<br />

Schloss, zu welchem der Garten<br />

gehört, eingeladen. Dort feiert<br />

gerade die gräfliche Familie die<br />

Verlobung der Tochter Eugenie.<br />

Mozart spielt den Gästen aus seiner<br />

Oper vor. Die Zuhörer - und<br />

alter die verschuldeten Pächter<br />

der Abtei Kamp mit<br />

Sanktionen bestraft: dem<br />

„Segen von Kloster Kamp“.<br />

Seither ist der Begriff des<br />

„Segens“ mit einem negativen<br />

Beigeschmack versehen. Wer<br />

jedoch die Geschichte des<br />

Klosters genauer studiert, wird<br />

bald feststellen, dass in den<br />

vergangenen Jahrhunderten in Wirklichkeit viel<br />

Weiter auf Seite 3<br />

Weiter auf Seite 2<br />

doch durch die Möglichkeit, ihn<br />

so und nicht anders hätten begehen<br />

zu können, desselben unwiderruflich<br />

von Euer Gnaden<br />

beraubt.<br />

Allein der Umstand einer<br />

reflektierten Verehrung – für gewöhnlich<br />

jubelt man meinen<br />

Namen ohne Zuhilfenahme der<br />

Hirnwindungen an die Spitze des<br />

Pantheons gewesener Geister –<br />

ergo alleine dieser Umstand einer<br />

reflektierten Verehrung für Werk<br />

und Persönlichkeit des Herrn<br />

Compositeur M., fordert uns bereits<br />

Stolz und Dankbarkeit ab.<br />

Die Treffsicherheit, mit welcher<br />

dero Witz und Erzählkunst manche<br />

charakterliche Eigenschaft<br />

meiner Person darzustellen<br />

vermag, macht mein Weibchen<br />

fürchten. Konstanzen wollte gar<br />

schwören, Ihr müsset uns persönlich<br />

gekannt und vis a vis auch<br />

richtig angeschauet haben, läge<br />

nicht jene unüberwindbare, metaphysische<br />

Schwelle zwischen<br />

unser beider Leben.<br />

In jenen Fällen, wo die charakterliche<br />

Darstellung m. P. über das<br />

Maß hinaus fehlgegangen ist,<br />

mag Euer Talent der Sucht der<br />

Dichter verfallen sein, eigene<br />

Wesenzüge mit jenen des<br />

„Helden“ zu paaren. Wenngleich


Seite 2<br />

Sonntag, 17. Oktober 2004 <strong>KleinerKulturKurier</strong><br />

"Gleich gibt's den Segen von Kloster Kamp!"<br />

wahrhaft Segensreiches von dem<br />

ersten Zisterzienserbau auf deutschem<br />

Boden ausgegangen ist.<br />

Seit seiner Gründung im Jahre<br />

1123 prägte Kloster Kamp das<br />

kulturelle und spirituelle Leben<br />

der gesamten Region entscheidend<br />

mit. Seit 2002 ist das<br />

Kloster nicht mehr von Karmelitern<br />

bewohnt. (Die Karmeliter<br />

lösten nach der langen Phase der<br />

Säkularisation ab 1802 im Jahre<br />

1954 die Zisterzienser ab). Damit<br />

sich der „Segen vom Kloster<br />

Kamp“ in positiver Bedeutung<br />

des Wortes aber weiter verbreiten<br />

kann, wurde im September 2003<br />

der Verein „Geistliches und<br />

ehrlicher als viele meiner nachgeborenen<br />

Biografen (potztausend,<br />

was müssten die Herren mir Salär<br />

schulden!), muss ich mich doch<br />

über gewisse Assoziationen bedenklich<br />

auslassen. So haben<br />

Herr gewesener Pfarrer mich am<br />

Lustgärtlein des Grafen jene vom<br />

Bäumchen des Sonnenkönigs<br />

stammende Pomeranze pflücken<br />

lassen, und mithin deutlichst zur<br />

Eva gemacht. Wenngleich die<br />

Szene mir dem stilistisch<br />

Trefflichsten und Schönsten<br />

anzugehören scheint, was jemals<br />

in unsere Sprache gedichtet<br />

worden ist, so ist mir Euer Gnaden<br />

Spiel mit den Motiven des<br />

Paradieses und des Sündenfalls<br />

keinesfalls entgangen und fordern<br />

mich auf, meiner Entrüstung Ausdruck<br />

zu verleihen. Überdies be-<br />

Da sollten Sie hin:<br />

Fortsetzung von Seite 1<br />

Kulturelles Zentrum Kloster<br />

Kamp“ ins Leben gerufen. So ist<br />

ein einzigartiger Raum der Begegnung<br />

entstanden, der neben<br />

Konzerten, Vorträgen und<br />

Lesungen auch weiterhin Gebetstage<br />

und Segensprozessionen<br />

anbietet. Am 10. September<br />

gestaltet der aragam e.V. gemeinsam<br />

mit dem Geistlichen und<br />

Kulturellen Zentrum einen<br />

außergewöhnlichen Abend im<br />

frisch restaurierten Rokokosaal<br />

von Kloster Kamp. Näheres unter:<br />

Da sollten Sie hin<br />

bzw. auf:<br />

www.aragam.de<br />

trachte ich gewisse, wenngleich<br />

erfundene Details (es erschöpft<br />

sich hierbei nicht in den mir<br />

zugemuteten Lächerlichkeiten<br />

zwischen Puder und Rosenwasser),<br />

als keinesfalls für die<br />

Öffentlichkeit geeignet.<br />

Was würden etwa Euer Gnaden<br />

davon halten, schriebe ich, wenn<br />

es die Korrelation der Schöpfung<br />

erlaube, eine Opera Buffa über<br />

einen Popen und Schriftstellikus<br />

hypersensiblus, welcher aufgrund<br />

seiner psychischen Verfassung<br />

notwendig an den Konflikten des<br />

Alltags scheitert? Voila! Meine<br />

Opera Buffa „Don Eduardo“ wär<br />

gewiss ein großer Erfolg. Ich<br />

ließe sie im Theater an der<br />

Josefsstadt aufführen und Del<br />

Ponte hat noch eine Menge Senf<br />

Impressum<br />

Herausgeber: aragam e.V. - gemeinnütziger<br />

Kunst- und Kulturverein,<br />

Mühlenstrasse 82, 47198 Duisburg,<br />

Tel.: 02066 501965, Fax: 501959,<br />

E-Mail: aragam@web.de<br />

Homepage: www.aragam.de<br />

dazu. Ja, ich ließe Don Eduardo<br />

aus seinem Stuttgarter Kämmerlein<br />

nach Wien ziehen und par<br />

Example auf der Reise ein gewisses<br />

Mädchen Peregrina<br />

kennenlernen. Eine Maid, so<br />

schön, so jung und so verführerisch,<br />

dass einem Pfaff wohl<br />

bange werden müsste, der a causa<br />

di confessione die Beichte nicht<br />

kennte. Ha! Welch ein Stoff!<br />

Pfarrer Schriftstellikus entbrennt<br />

in Liebe zu dem geheimnisvollen,<br />

anmutigen Mädchen. Wäre die<br />

Nummer nicht vergeben, so hieße<br />

ich Peregrina „La ci darem la<br />

mano“ singen. Und Eduardo? -<br />

Don Eduardo erlebt die Liebe als<br />

schicksalhafte Verlockung, als<br />

Gefährdung seiner selbst, ja als<br />

Sünde und - versagt sie sich. Oh,<br />

mir schweben Melodien vor,<br />

mehr noch und schönere als beim<br />

Duft der goldensten Pomeranze!<br />

Doch was schreibe ich? Euer Gutbürgerlichkeit<br />

wissen ja sehr<br />

wohl, dass mir meinerseits die<br />

Fähigkeit mit ähnlichen Motiven<br />

zu spielen von einem gnädigen<br />

Schicksal in die Wiege gelegt<br />

ward; dieses nicht etwa als ein<br />

Dichter – ich kann die Redensarten<br />

nicht so künstlich einteilen,<br />

dass sie Schatten und Licht geben<br />

– sondern als Musikus, was ja in<br />

10.09. - 19.30 Uhr: „Abend für Genießer – Concerto con anima“. - Von lyrischen Texten atmosphärisch<br />

eingeführt spielen Kamilla Matuszewska (Piano) und Johannes Heidt (Violine) Werke von Mozart,<br />

Schuman, Brahms u.a. - Im Eintritt inbegriffen ist ein Glas Wein und ein kleiner Imbiss.<br />

Rokoko-Saal Kloster Kamp, Kamp-Lintfort, 12,50 € Vorverkauf: 02842 / 927540<br />

13.09. - 18.00 Uhr: „Auf tausenfach verschlungenen Wegen – das Labyrinth in Lyrik und Leben“ -<br />

Vortrag. VHS Duisburg-Mitte, König-Heinrich-Platz, Vortragssaal, 3,50 € an der Abendkasse<br />

08.10. - 19.30 Uhr: „Feierabend“ - mit Verleihung der goldenen „Nike“. - Klassik, Kunst und Zaubershow<br />

mit der Konzertgeigerin Christina Asbeck und den Zauberduo Lars&Lady<br />

Bezirksbibliothek Rheinhausen, Händelstr. 6, 47228 Duisburg, 7,50 € an der Abendkasse


Seite 3<br />

Ausgabe: 3/2004 - kostenlos Sonntag, 17. Oktober 2004<br />

dero Ansichten über meinen<br />

„Giovanni“ besonders nachtseitig<br />

erstaunlichen Niederschlag<br />

findet.<br />

Was die Qualität Eures Opus<br />

angeht, so erlaube man nur nicht<br />

ein zu schnelles Urteil. Der<br />

Schnelle verleitet sich dazu, Euch<br />

den Makel besinnlicher Heiterkeit<br />

anzuhaften. Der Langsame jedoch,<br />

der in die Tiefe Eures Opus<br />

dringt, wird die wohlgefügten<br />

Teile in der Gänze als meisterhaft<br />

ansehen müssen. Überdies ergötzt<br />

nicht alleine die Struktur<br />

des Werkes, man möchte sagen,<br />

auch die Melodie ist nicht von<br />

schlechten Eltern. Potzsakrament,<br />

da ist Feuer drin! Ich sage ernstens,<br />

dass solche Sprache mir Bewunderung<br />

abverlangt, wie überhaupt<br />

meine Person sich insgesamt<br />

glücklich schätzen darf, die<br />

Titelpartie in dero so höchst musikalisch<br />

componierten Novelle<br />

zu spielen. Allesamt muss ich<br />

eingestehen, dass ich befriedet<br />

bin.<br />

Nun da ich dieses unordentliche<br />

Schreiben schließen will, fällt mir<br />

doch der artige Grund desselben<br />

wieder auf den Kopf und zwingt<br />

mich allemal, eine Entschuldigung<br />

loszutreten: Als ächter Musikus<br />

wollte ich meine vorangestellte<br />

Gratulation zu dero mir so<br />

wertem Geburtstage auf dem Klaviere<br />

spielen, allein bekannte<br />

Gründe machen es unmöglich und<br />

insgesamt ein wenig lächerlich,<br />

angesichtet der ungeheuren Zahl<br />

Eurer gerundeten Jahre und unser<br />

beider Zustände im Allgemeinen.<br />

Da dieses nun einmal nicht<br />

anders sein kann<br />

empfehle ich mich<br />

Euer hochehrbarer vormals<br />

usw. usw. Herren hochschätzender<br />

Lebensdaten:<br />

(Eduard Mörike)<br />

1804 Am 08.09. in Ludwigsburg<br />

geboren<br />

1817 Tod des Vaters; Umzug<br />

der Familie nach Stuttgart;<br />

Gymnasium<br />

1818 Theologisches Seminar in<br />

Urach<br />

1822 Studium der Theologie in<br />

Tübingen<br />

1823 Liebe zur Kellnerin Maria<br />

Meyer ("Peregrina")<br />

1824 Selbstmord des Bruders<br />

August<br />

1826 "Vikariatsknechtschaft",<br />

kurze Zeit Redakteur der Stuttgarter<br />

Damenzeitung<br />

1829 Verlobung mit Luise Rau<br />

1833 Entlobung<br />

1834 Pfarrer in Cleversulzbach;<br />

Haushalt mit Mutter und<br />

Schwester Klara; fühlt sich seinem<br />

Amt bald nicht mehr gewachsen<br />

LesensWert<br />

Fortsetzung von Seite 1<br />

allen voran Eugenie - sind begeistert.<br />

Sie erkennt seine Genialität,<br />

spürt aber auch, dass er wohl<br />

bald daran zugrunde geht. Am<br />

nächsten Tag reisen Mozart und<br />

seine Frau weiter.<br />

Das Buch ist in jeder Buchhandlung<br />

zu beziehen oder bestimmt<br />

auch ganz altmodisch in Ihrer Bezirksbibliothek<br />

auszuleihen.<br />

ISBN: 3899190491<br />

1841 Tod der Mutter<br />

1843 Versetzung in den Ruhestand<br />

"wegen dauernder Krankheitsumstände";<br />

Schwäbisch Hall<br />

1845 Bad Mergentheim<br />

1851 Hochzeit; Umzug mit<br />

Frau und Schwester nach Stuttgart;<br />

Lehrer am Katharinenstift<br />

(deutsche Literatur); allmähliche<br />

Berühmtheit; Titel "Professor";<br />

Ehrendoktor der Universität Tübingen<br />

1866 Entlassung aus dem<br />

Schuldienst; Übersiedlung nach<br />

Lorch; Freundschaft mit Moritz<br />

von Schwind; später Stuttgart,<br />

Nürtingen, Stuttgart<br />

1873 Trennung von seiner<br />

Frau; ruheloses Leben: Lorch,<br />

Fellbach, Stuttgart<br />

1875 Bettlägerig; Versöhnung<br />

mit seiner Frau am Sterbebett –<br />

Tod am 04. Juni.<br />

(Mörikes Unterschrift)


Seite 4<br />

Sonntag, 17. Oktober 2004 <strong>KleinerKulturKurier</strong><br />

Atlantis in der Ostsee<br />

Kennen Sie die Geschichte: „Es<br />

war einmal vor langer, langer<br />

Zeit, da existierte eine Stadt auf<br />

einer Insel, die reichste und größte,<br />

die man je gesehen hat. Ihre<br />

Einwohner waren gekleidet in<br />

Samt und Seide, trugen schwere<br />

Gold- und Silberketten, übersät<br />

mit Juwelen und lebten in schier<br />

unvorstellbarem Luxus. Selbst die<br />

Schweine, so sagt man, fraßen<br />

aus goldenen Trögen. Die Bauwerke<br />

dieser Stadt waren so vollkommen,<br />

dass es auf der ganzen<br />

bewohnten Erde nichts Vergleichbares<br />

gab. Noch vollkommener<br />

aber war das Staatswesen, welches<br />

den Bürgern ein friedliches<br />

und über die Maßen wohlhabendes<br />

Leben ermöglichte.<br />

Aber eines schrecklichen Tages<br />

versank die ganze Insel durch<br />

eine gewaltige Katastrophe im<br />

Meer. Keine Spur ist seitdem von<br />

ihr geblieben“.<br />

Und? Kennen Sie diese oder<br />

eine ähnliche Geschichte? Natürlich<br />

kennen Sie sie. Es ist einer<br />

der vielen ausschmückenden Berichte<br />

über das sagenumwobene<br />

Atlantis – oder nicht? Aber ich<br />

meine nicht Atlantis. Atlantis war<br />

- weit davon entfernt den großen<br />

Plato der Lüge bezichtigen zu<br />

wollen – Atlantis war nach allen<br />

Erkenntnissen wohl doch nur ein<br />

Mythos. Die Stadt, von der ich<br />

schreibe, heißt Vineta! - Vineta?<br />

Das ist doch dieses leckere, mit<br />

Schokoladensplittern gespickte<br />

Eis von Langnese?! Nein! Das<br />

Speiseeis heißt Vienetta. Die<br />

Stadt, über die ich berichte, aber<br />

trug zumindest in der lateinisierten<br />

Form den Namen<br />

Vineta. Ihre Bewohner jedoch<br />

nannten sie vermutlich Jumne,<br />

Uimne – oder so ähnlich.<br />

Was Vineta gegenüber Atlantis<br />

für uns so interessant macht, ist,<br />

dass diese legendäre Stadt nicht<br />

im hochkulturellen Süden Europas<br />

gelegen haben soll, sondern bei<br />

uns hier vor der Haustür – genau-<br />

er: in bzw. an der Ostsee. Was<br />

aber noch viel interessanter ist –<br />

Vineta gab es wirklich. Die erste<br />

Erwähnung der Stadt, welche<br />

wir heute noch besitzen, stammt<br />

aus einer Abschrift der vierbändigen<br />

Geschichte der Erzbischöfe<br />

von Hamburg-Bremen aus<br />

dem Jahre 1070. Darin berichtet<br />

der Mönch Adam von Bremen,<br />

seines Zeichens Historiker und<br />

erster Geograph Deutschlands:<br />

„Es ist wirklich die größte von<br />

allen Städten, die Europa birgt;<br />

in ihr wohnen Slawen und andere<br />

Stämme, Griechen und Barbaren.<br />

Auch die Fremden aus<br />

Sachsen haben gleiches Niederlassungsrecht<br />

erhalten, wenn<br />

sie auch während ihres Aufenthaltes<br />

ihr Christentum nicht öffentlich<br />

bekennen dürfen.<br />

Dennoch sind alle in heidnischem<br />

Irrglauben befangen;<br />

abgesehen davon wird man<br />

allerdings kaum ein Volk finden<br />

können, das in Lebensart und<br />

Gastfreiheit ehrenhafter und<br />

freundlicher ist. Die Stadt ist<br />

angefüllt mit Waren aller Völker<br />

des Nordens, nichts Begehrenswertes<br />

oder Seltenes fehlt“.<br />

Adam von Bremen lokalisiert<br />

diese Stadt, die bedeutender als<br />

Konstantinopel gewesen sein<br />

soll, an einer Oderarmmündung.<br />

Bis heute aber hat man keine<br />

Überreste, die auf die Existenz<br />

einer solch gewaltigen Metropole<br />

schließen lassen, finden<br />

können. Dennoch sind sich die<br />

Historiker einig: Vineta ist kein<br />

Mythos! Zwar wurde die Stadt<br />

besonders im 19ten Jahrhundert<br />

märchenhaft verklärt, nicht zuletzt<br />

durch Heinrich Heine, Wilhelm<br />

Müller und Johannes<br />

Brahms, aber es gab auch ernsthafte<br />

Versuche, die tatsächliche<br />

Lage Vinetas aufzuspüren. So<br />

entdeckte der berühmte Arzt Rudolf<br />

Virchow etwa große Erdwälle<br />

entlang eines Oderarmes,<br />

und als Ausgrabungen an diesen<br />

Wällen reich ausgestattete Gräber<br />

freilegten, war er überzeugt,<br />

die Stadt gefunden zu haben.<br />

Andere waren der Meinung, Vineta<br />

müsse auf Usedom oder gar<br />

Rügen gelegen haben. Eine noch<br />

recht junge Theorie des Berliner<br />

Wissenschaftlers Klaus Godlmann<br />

besagt, Vineta liege bei Barth,<br />

woraufhin sich der findige<br />

Bürgermeister des Städtchens den<br />

Namen Vineta gleich hat patentieren<br />

lassen. Mittlerweile gibt<br />

es allsommerlich ein Vineta-Festival<br />

und die Tourismusbetriebe<br />

von Usedom und Barth streiten<br />

sich herzhaft um die Echtheit des<br />

Standortes.<br />

Nun, wenn es auch als sicher<br />

gilt, dass es Vineta, dieses „Atlantis<br />

der Ostsee“, wirklich gegeben<br />

hat, so wird, bis eines Tages tatsächlich<br />

die Überreste einer versunkenen<br />

Stadt aus dem Schlamm<br />

der Ostsee geborgen werden,<br />

schon aus touristischem Interesse<br />

weiter Legendenbildung betrieben<br />

werden; doch dieses wohl leider<br />

nicht in der Qualität eines Heine,<br />

Brahms oder Müller.<br />

Vineta<br />

Aus des Meeres tiefem, tiefem Grunde<br />

Klingen Abendglocken dumpf und matt,<br />

Uns zu geben wunderbare Kunde<br />

Von der schönen alten Wunderstadt.<br />

In der Fluten Schoß hinabgesunken,<br />

Blieben unten ihre Trümmer stehn.<br />

Ihre Zinnen lassen goldne Funken<br />

Widerscheinend auf dem Spiegel sehn.<br />

Und der Schiffer, der den Zauberschimmer<br />

Einmal sah im hellen Abendrot,<br />

Nach derselben Stelle schifft er immer,<br />

Ob auch rings umher die Klippe droht.<br />

Aus des Herzens tiefem, tiefem Grunde<br />

Klingt es mir, wie Glocken, dumpf und<br />

matt.<br />

Ach, sie geben wunderbare Kunde<br />

Von der Liebe, die geliebt es hat.<br />

Eine schöne Welt ist da versunken,<br />

Ihre Trümmer blieben unten stehn,<br />

Lassen sich als goldne Himmelsfunken<br />

Oft im Spiegel meiner Träume sehn.<br />

Und dann möcht ich tauchen in die Tiefen,<br />

Mich versenken in den Widerschein,<br />

Und mir ist, als ob mich Engel riefen<br />

In die alte Wunderstadt herein.<br />

(Wilhelm Müller)

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