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Verona - Hamburg Ballett

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Eine aufregende Entdeckungsreise<br />

Gedanken von John Neumeier sechs Wochen vor der Premiere von »Le Pavillon d’Armide«<br />

■ »Le Pavillon d’Armide« nimmt ballettgeschichtlich<br />

eine einzigartige Stellung ein, es war<br />

das erste Werk der Ballets Russes, das zur Gene -<br />

ralprobe am 18. Mai 1909 und dann einen Tag<br />

später in seiner Premiere in Paris aufgeführt<br />

wurde. Durch den Auftritt von Vaslaw Nijinsky,<br />

Tamara Karsa wina und Alexandra Baldina in<br />

dem Pas de trois wurde es zu einem unglaublichen<br />

Erfolg, mehr noch: zu einer regelrechten<br />

Offenbarung. Aber eigentlich kennt man dieses<br />

Stück kaum, obwohl es ziemlich lange im<br />

Repertoire der Diaghilew-Compagnie blieb.<br />

Seine letzte Vorstellung erlebte es 1916 in New<br />

York. Interessant dabei ist, dass damals ein Teil der<br />

Musik aufgenommen wurde und dennoch kaum<br />

jemand etwas mit diesem <strong>Ballett</strong> verbindet. Es ist<br />

eine Mu sik der Ballets Russes, die nie eine neue<br />

choreografische Fassung erfahren hat. Meine<br />

Neugier war schon 1975 in der ersten Nijinsky-<br />

Gala ge weckt. Damals war ich überzeugt, dass es<br />

irgendwo jemanden geben müsste, der eine<br />

Ahnung von diesem Werk hätte. 1975 lebten noch<br />

mehrere Russen, die in Diaghilews <strong>Ballett</strong> getanzt<br />

hatten. Eine von ihnen, Alexandra Danilova – die<br />

seiner zeit an der School of American Ballet in<br />

New York unterrichtete –, erklärte sich bereit, eine<br />

Fassung des Pas de trois aus »Le Pavillon<br />

d’Armide« zu er stellen. Sie behauptete, sie würde<br />

das <strong>Ballett</strong> kennen, da sie damals in St. Petersburg<br />

in dem Werk einen kleinen Mohren dargestellt<br />

und da durch viele Vorstellungen erlebt hatte.<br />

Alexandra Danilova wurde 1904 geboren, sie war<br />

demnach zur Zeit der ursprünglichen Fassung<br />

von »Le Pavillon d’Armide« 1907 drei Jahre alt.<br />

Wir wissen aber, dass das <strong>Ballett</strong> weiterhin im<br />

Repertoire des Mariinsky-Theaters blieb; sicher<br />

hat sie darin in einer der späteren Wiederauf -<br />

nahmen mitgetanzt.<br />

Meine erste Nijinsky-Gala wollte ich natürlich<br />

sensationell gestalten und hatte das Glück,<br />

Michail Baryshnikov in Nijinskys Rolle zu präsentieren.<br />

Es war sein erster Auftritt in Deutsch -<br />

land und zu jener Zeit einer der wenigen in Euro -<br />

pa. Die Unklarheiten von »Le Pavillon d’Armide«<br />

fingen schon damit an, dass zwar jedes Buch von<br />

dem Pas de trois spricht, aber unterschiedliche<br />

Besetzungen angibt. Die zweite Frau ist manchmal<br />

von Alexandra Baldina getanzt worden,<br />

manchmal aber auch von Sofia Fedorova. Nach<br />

Meinung von Alexandra Danilova handelt es sich<br />

hier um keinen Pas de trois, sondern um einen Pas<br />

de quatre, also drei Frauen und ein Mann.<br />

Folglich schuf sie eine Choreografie für drei<br />

Frauen und einen Mann, besetzt mit Michail<br />

Baryshnikov, Marianne Kruuse, Marina Eglevsky<br />

und Zhandra Rodriguez. Dieser kleine Pas de<br />

quatre war ein riesiger Erfolg. Als wir im Jahr<br />

2000 das fünfzigste Todesjahr von Nijinsky<br />

bedachten, nahm ich ihn wieder in der XXVI.<br />

Nijinsky-Gala auf, choreografierte ihn als Pas de<br />

trois und entwickelte ihn unter Verwendung des<br />

bildlichen Materials von Fokines ursprünglicher<br />

Choreografie weiter. Denn wenn man die zahlreichen<br />

Bühnenbildentwürfe von Alexandre<br />

Benois betrachtet, die teilweise nach 1907/09 entstanden<br />

sind, so muss man von einem Pas de trois<br />

ausgehen. Auch unterschied sich die Dekoration<br />

in St. Petersburg von der in Paris. Denn kurz vor<br />

dem Auftritt der Ballets Russes in Paris am 19.<br />

Mai 1909 verweigerte das Mariinsky-Theater<br />

seine Unterstützung. Diaghilew war gezwungen,<br />

eine neue Ausstattung in Auftrag zu geben, was<br />

Alexandre Benois offensichtlich nur recht kam,<br />

denn er wollte seine ersten Entwürfe verbessern<br />

– mit dem Ergebnis einer stark veränderten De -<br />

koration. Man sieht Bilder von Nijinsky in St. Pe -<br />

tersburg, die den Tänzer in einem anderen Kos -<br />

tüm zeigen als später in Paris. Trotz ausführlicher<br />

Berichte und Fotos bleibt vieles unklar.<br />

Mit »Le Pavillon d’Armide« wurde das erste<br />

Gast spiel der Ballets Russes in England 1911<br />

eröffnet. Das Programmheft von damals vermerkt<br />

vier Freundinnen von Armida. Doch geht<br />

daraus nicht hervor, wer den Pas de trois getanzt<br />

hat. Auch hier bleibt einiges offen. Die wichtigs -<br />

ten Quellen über »Le Pavillon d’Armide« sind die<br />

Aufzeichnungen von Benois. Er hat es als abendfüllendes<br />

<strong>Ballett</strong> konzipiert, es war sein Libretto,<br />

sein Lieblingswerk. Benois schreibt in seinen<br />

Reminiszenzen über das Russische <strong>Ballett</strong>, dass<br />

in Paris 1909 selbst die Musik umstrukturiert<br />

worden sei, und nennt einige Nummern, von<br />

denen er meint, sie gehörten zu dem berühmten<br />

Pas de trois – der sich als Kern des <strong>Ballett</strong>s herauskristallisierte<br />

und den man dann in einer<br />

Dauer von etwa fünfzehn Minuten allerdings<br />

wegließ. Dabei umfasst Tscherepnins Musik mindestens<br />

eine Stunde und zwanzig Minuten, sodass<br />

man durchaus von einem zweiaktigen <strong>Ballett</strong><br />

sprechen könnte, welches in Paris jedoch in ge -<br />

kürzter, einaktiger Form wiedergegeben wur de.<br />

Meine Faszination wächst, je mehr ich mich mit<br />

diesem Werk beschäftige. Für mich ist es eine aufregende<br />

Entdeckungsreise, ich ergründe eine alte<br />

Partitur neu. Dieses Werk reizt mich, weil es einen<br />

wichtigen Teil im Œuvre der Ballets Russes ausmacht,<br />

der zudem völlig unbekannt ist. Es gibt<br />

zahllose <strong>Ballett</strong>e zur Musik von Strawinskys »Le<br />

Sacre du Printemps«, aber keine der neueren<br />

Choreografien greift auf »Le Pavillon d’Armide«<br />

zurück. Gerade seine historischen »Lücken« faszinieren<br />

mich.<br />

John Neumeier probt mit dem Ensemble und mit Thiago Bordin, Joëlle Boulogne, Otto Bubenícˇek und Ivan Urban<br />

fotos: holger badekow<br />

Jounal 6 | 7

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