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Verona - Hamburg Ballett

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BALLETT PREMIERE<br />

›LE SACRE DU PRINTEMPS‹BALLETTSCHULE<br />

Die Rückkehr zum Körper<br />

Vaslaw Nijinskys »Le Sacre du Printemps« in der Rekonstruktion<br />

von Millicent Hodson und Kenneth Archer<br />

■ In einem Augenblick visionärer Kraft schreibt<br />

Vaslaw Nijinsky an Igor Strawinsky: »Ich weiß,<br />

dass ›Le Sacre du Printemps‹ einmal sein wird,<br />

wenn alles so ist, wie wir es beide wollen. Für einige<br />

wird es neue Horizonte öffnen, riesige Hori -<br />

zonte, durchflutet von verschiedenen Strahlen<br />

der Sonne. Die Menschen werden neue und an -<br />

dersartige Farben und Linien sehen, alles ist<br />

fremd, unerwartet und schön.« »Le Sacre du<br />

Prin temps« ist ein Mysterium rituellen Zu -<br />

schnitts. Das Werk rührt aus einem Traum, der<br />

Igor Strawinsky umwehte, gründend in einem<br />

vorzeitlichen slawischen Ritus. Der Komponist<br />

sah ein junges Mädchen – später die auserwählte<br />

Jungfrau – umkreist von weisen Männern, den<br />

Ahnen. In zunehmenden ekstatischen Bewegun -<br />

gen tanzt sich das Mädchen in den Tod und opfert<br />

sich dem Frühling. Mit Nijinskys »Sacre«-Cho -<br />

re ografie wird oft eine Rückkehr zum Körper verbunden.<br />

In einer ausführlichen Besprechung<br />

einige Monate nach der Pariser Uraufführung<br />

1913 heißt es bei Jacques Rivière: »Die Ecken und<br />

Brüche in der Choreografie sind dazu da, um der<br />

Emotion, die von der Musik eingefangen und<br />

festgehalten wird, die Flucht aus dem Körper zu<br />

verstellen«.<br />

Nach Jahren intensiver Bemühungen und<br />

For schungen feierte Vaslaw Nijinskys »Le Sacre<br />

du Printemps« am 30. September 1987 seine Wie -<br />

deraufführung durch das Joffrey Ballet in Los<br />

Angeles. Dass Nijinskys verloren geglaubte Cho -<br />

reo grafie vierundsiebzig Jahre nach seiner Ur auf -<br />

führung wieder auf die Bühne kam, ist vorrangig<br />

dem Enthusiasmus und Engagement der<br />

amerikanischen Tanzhistorikerin und Choreo -<br />

gra fin Millicent Hodson und dem britischen<br />

Probenfotos mit Millicent Hodson und Kenneth Archer und dem Ensemble<br />

8 | Journal 6<br />

Kunsthistoriker Kenneth Archer zu verdanken.<br />

1979 begann Millicent Hodson, die gerade an<br />

ihrer Doktorarbeit schrieb, mit ihrer umfangreichen<br />

Recherche, zu der auch das Befragen von<br />

Augenzeugen gehörte. Sie interviewte Léonide<br />

Massine, Mitglieder der Nijinsky-Familie und<br />

Zu schauer, die 1913 die skandalträchtige Produk -<br />

tion in Paris erlebt hatten. Kenneth Archer be -<br />

fragte den Sohn des damaligen Ausstatters<br />

Nicholas Roerich und zahlreiche weitere Mitar -<br />

beiter im Umkreis der Ballets Russes, darunter<br />

auch Boris Kochno, Diaghilews rechte Hand.<br />

An vielen Orten der Welt wurden die For -<br />

schungen weiter betrieben, so auch in London,<br />

wo die ersten Proben von Nijinskys <strong>Ballett</strong> stattgefunden<br />

hatten. »Meine Reise an die Themse<br />

war eine Rückkehr zum Ursprung,« erinnert sich<br />

Millicent Hodson. »Die einzig erhaltenen Inter -<br />

views mit Nijinsky über ›Le Sacre‹ findet man in<br />

der englischen Presse während der Zeit der Ent -<br />

stehung und im Umfeld der Londoner Premiere.<br />

1979 lebte noch Marie Rambert, die seinerzeit von<br />

Diaghilew vermittelt wurde. Sie hatte Nijinsky<br />

während seiner Arbeiten an ›Sacre‹ assistiert.« Sie<br />

half ihm, die komplizierten Counts festzulegen<br />

und diese in der Arbeit mit den Tänzern zu verankern:<br />

»Schließ lich überstand sie die bisher einzigartige<br />

Feuerprobe in der <strong>Ballett</strong>geschichte. Für<br />

mich ist sie die Geburtshelferin dieser Produk -<br />

tion, seine Vertraute und seine erste Verteidi -<br />

gungs linie ge genüber den aufgebrachten Tän -<br />

zern, die natürlich eine völlig andere Technik<br />

gewohnt waren.«<br />

Hodson berichtet, wie sie im Interview mit<br />

der <strong>Ballett</strong>legende im April 1979 einen Film ab -<br />

spielte, der die Massine-Version zeigte, um ihre<br />

Erinnerungen zu reaktivieren und ihre Gedanken<br />

aus der Differenz zur gezeigten Version aufzufrischen:<br />

»Als wir den Film sahen, schüttelte sie ihre<br />

Hände und stand auf. Mit der unglaublichen Gran -<br />

dezza ihrer neunzig Jahre begann sie, Nijinskys<br />

Körperhaltung zu demonstrieren, während sie<br />

gleichzeitig einige Takte von Strawinskys Musik<br />

sang.« Gestenreich erklärte Marie Rambert, so<br />

Hodson, die Basis der Choreografie sei die Hal -<br />

tung mit eingedrehten Füßen: »Gebeugt. Fra -<br />

gend, zweifelnd. Und die Fäuste – nicht mit Kraft,<br />

nicht Kraft zeugend, einfach noch nicht geöffnet.<br />

Er nannte das ›kuluchi‹. Das ist eine Verklei ne -<br />

rungsform und meint Fäustchen. Das war eine<br />

der Posen, und in denen sollte man tanzen! Wenn<br />

sie mit diesen Füßen einwärts springen sollten«,<br />

so erklärte es die alte Dame, während sie die<br />

Haltung zeigte. »Es war sehr schwer, die Position<br />

zu halten, noch dazu, weil sie sich fürchterlich<br />

schwere Rhythmen merken mussten. Es war eine<br />

Tortur.«<br />

ANDRÉ PODSCHUN<br />

fotos: holger badekow

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