Aufsätze - PRuF
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<strong>Aufsätze</strong> Andrea Bahr/Sabine Pannen – Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED MIP 2011 17. Jhrg.<br />
wie Trunkenheit am Steuer oder bei beruflichen<br />
Versäumnissen wie Alkoholmissbrauch am Arbeitsplatz<br />
ausgesprochen. Die höchste Strafe war<br />
der Parteiausschluss, der bei so genanntem „parteifeindlichen<br />
Verhalten“ erteilt wurde. Eine<br />
konkrete Definition des feindlichen Verhaltens<br />
gab es jedoch nicht, so dass es häufig im Ermessensspielraum<br />
letztlich der Parteikontrollkommission<br />
lag, was als „feindlich“ galt. 35<br />
Parteiverfahren wurden in der Praxis in der Mitgliederversammlung<br />
durchgeführt und verhandelt.<br />
Die dort durch Abstimmung festgelegte<br />
Strafe bedurfte jedoch einer Bestätigung der Parteikontrollkommission<br />
der Kreisleitung als<br />
nächst höherer Instanz. Nicht selten griff die<br />
Kreisparteikontrollkommission in die Praxis der<br />
Grundorganisation ein. Jenseits dieser Disziplinierungspraxis<br />
war ein freiwilliges Ausscheiden<br />
bzw. ein Austritt aus der SED formal erst seit<br />
1976 möglich und wurde in der Praxis entweder<br />
in eine Streichung und nicht selten in einen parteifeindlichen<br />
Ausschluss für den Abtrünnigen<br />
umgewandelt. 36<br />
Parteiverfahren und Strafen bargen hohes Bedrohungspotential<br />
für die Angeklagten. Zunächst<br />
wurde das vermeintliche Fehlverhalten auf der<br />
Mitgliederversammlung im Kreise aller Genossen<br />
und damit auch unter Kollegen und Vorgesetzten<br />
diskutiert und über eine Strafe abgestimmt.<br />
Mit dem Unterwerfungsritual der Kritik<br />
und Selbstkritik konnten die Kläger milde gestimmt<br />
und durch diese Art der Einsicht eine geringe<br />
Parteistrafe erzielt werden. Neben diesem<br />
einschüchternden Ritus konnte eine Parteistrafe<br />
35 Als zentrales Disziplinierungsinstrument war es Aufgabe<br />
der Kontrollkommissionen, Widerspruch und Kritik<br />
so zu behandeln, dass er sich nicht in organisierten politischen<br />
Widerstand umwandelte. Zu Aufgaben und<br />
Entwicklung der Parteikontrollkommissionen: Klein,<br />
Thomas: „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die<br />
innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära<br />
Ulbricht. Köln 2002; Christian, Michel: Ausschließen<br />
und Disziplinieren. Kontrollpraxis in den kommunistischen<br />
Parteien der DDR und der Tschechoslowakei.<br />
In: Kott, Sandrine (Hg.): Die ostdeutsche Gesellschaft.<br />
Eine transnationale Perspektive. Berlin 2006. S. 53-70.<br />
36 Statut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.<br />
Einstimmig angenommen auf dem IX. Parteitag der<br />
Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Berlin,<br />
18. bis 22. Mai 1976. Berlin 1976, S. 10.<br />
76<br />
insbesondere der Parteiausschluss berufliche<br />
Konsequenzen nach sich ziehen oder die Ausbildungschancen<br />
der eigenen Kinder in Gefahr<br />
bringen. 37 Diese Sorge brachte ein Ingenieur des<br />
Tiefbaukombinats Brandenburg zum Ausdruck,<br />
als er im Sommer 1980 im Kontext der Versorgungsknappheit<br />
zu seinem Gartennachbarn sagte,<br />
dass er aus der Partei austreten würde, wenn<br />
seine Kinder schon erwachsen wären. Diese Äußerung<br />
über den Gartenzaun brachte ihm eine<br />
Aussprache vor der Parteikontrollkommission<br />
der Kreisleitung Brandenburg und eine strenge<br />
Rüge ein. 38<br />
Diese Verschränkung von privater, beruflicher<br />
und politischer Ebene war zentrales Funktionsprinzip<br />
der SED und fand im Alltag an der Basis<br />
in vielerlei Hinsicht seine Ausprägung. Im Berufsalltag<br />
beispielsweise gehörten politische Instrumentarien<br />
zur Managementpraxis von Vorgesetzten<br />
bzw. mittleren Leitern. So berichtete<br />
Werner M., der seinen Arbeitsplatz wechseln<br />
wollte, dass sein Meister ihn mit politischen<br />
Mitteln zwang, im Betrieb zu verbleiben. Er<br />
schilderte in seiner Eingabe an die Kreisparteikontrollkommission<br />
Brandenburg: „Der Genosse<br />
M., und dies ist eine schöne Taktik, verlangte<br />
von den anwesenden Genossen, die auf der [Partei]Schulung<br />
erschienen waren eine sofortige<br />
Abstimmung, daß ich einen Parteiauftrag erhalte<br />
im Betrieb zu verbleiben. Ich durfte mich dazu<br />
äußern, aber nur in beschränktem Maße.“ 39 Im<br />
weiteren Verlauf der Eingabe schildert er, dass<br />
er nicht den Betrieb wechseln werde, da er einen<br />
Ausschluss befürchte, falls er sich dem Parteiauftrag<br />
widersetze. Zwar bleibt die Motivation<br />
des Meisters zur Erteilung des Parteiauftrags un-<br />
37 Lutz Niethammer beschreibt die Kaderakte als wichtigstes<br />
Kontrollinstrument der Organisationsgesellschaft.<br />
In diesem Kompendium fanden sich nicht nur<br />
berufliche, sondern auch politische Informationen.<br />
Vgl. Niethammer, Lutz: Die SED und „ihre“ Menschen.<br />
In: Suckut, Siegfried/Süß, Walter (Hg.): Staatspartei<br />
und Staatssicherheit. Zum Verhältnis von SED<br />
und MfS. Berlin 1997, S. 324.<br />
38 Protokoll der Sitzung der KPKK Brandenburg am 27.<br />
August 1980. In: BLHA Rep. 531 Brandenburg Nr.<br />
1821.<br />
39 Eingabe des Genossen M. vom 18. 2.1980 an die<br />
KPKK der KL Brandenburg. In: BLHA Rep. 531<br />
Brandenburg Nr. 1829.