Aufsätze - PRuF
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<strong>Aufsätze</strong> Andrea Bahr/Sabine Pannen – Soziale Wirklichkeit und regionale Herrschaftspraxis der SED MIP 2011 17. Jhrg.<br />
DDR war diese „Schönfärberei“, so der Tenor<br />
der Zeitgenossen, Gegenstand vieler Witze. 18<br />
Diese selektive Berichterstattung wird zum Teil<br />
als Erklärung für die scheinbare Unwissenheit der<br />
obersten Führungsriege über das Ausmaß der Gesellschaftskrise<br />
im Jahr 1989 angeführt 19 . Auch<br />
wenn dies zu hinterfragen ist, so waren die SED-<br />
Kreisleitungen doch eine entscheidende Instanz,<br />
wenn es darum ging, Stimmungen in der Bevölkerung<br />
„vor Ort“ einzufangen, da sie die Forderungen<br />
und Bedürfnisse „ihrer Menschen“ 20 genau<br />
kannten.<br />
2.3 Die Herrschaftspraxis der SED-Kreisleitungen<br />
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt,<br />
dass die SED-Kreisleitungen für das Regime<br />
wichtige Dienste leisteten. Es wäre jedoch verfehlt<br />
von diesen Funktionen für die Herrschaftssicherung<br />
und –aufrechterhaltung umstandslos<br />
darauf zu schließen, dass die örtlichen Funktionäre<br />
lediglich als maschinenhafte Befehlsempfänger<br />
der Parteispitze agiert hätten.<br />
Vielmehr ist zu konstatieren, dass die örtlichen<br />
Parteileitungen die Beschlüsse der Führung<br />
„schöpferisch“ umsetzten. Zwar war inhaltlich<br />
und ideologisch genau vorgegeben, was zu verwirklichen<br />
war, die Methoden der Implementierung<br />
wurden jedoch von den SED-Kreisleitungen<br />
weitgehend selbst gewählt. Dabei ist zu beobachten,<br />
dass sie sich häufiger „weiche“ und<br />
Konsens erzeugende Herrschaftsmechanismen<br />
und subtilere Formen der Repression, denn offen<br />
repressive Maßnahmen zu Nutze machten.<br />
Selbst im Oktober 1989 sah Winfried Mitzlaff,<br />
der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Branden-<br />
18 Insbesondere aus literarischen Erfahrungsberichten<br />
lässt sich dies herauslesen. So z.B. bei Böhme, Irene:<br />
Die da drüben. Sieben Kapitel DDR. Berlin 1983, S. 20.<br />
19 So vertritt etwa Detlef Pollack die These, dass „die SED-<br />
Spitze nur mit geschönten Bildern vom Leben in der<br />
DDR versorgt wurde, [deshalb] verlor diese zunehmend<br />
den Kontakt zur Wirklichkeit und konnte aus ihren<br />
eigenen Fehlern nicht mehr lernen.“ Pollack, Detlef:<br />
Wie modern war die DDR? In: Hockerts, Hans<br />
Günter (Hg.): Koordinaten deutscher Geschichte in der<br />
Epoche des Ost-West-Konflikts. München 2004, S. 187.<br />
20 In vielen SED-Quellen ist immer wieder in Bezug auf<br />
die Bevölkerung von „unseren Menschen“ die Rede.<br />
72<br />
burg, seine Hauptaufgabe noch darin, die Bevölkerung<br />
zufrieden zu stellen:<br />
„In der gegenwärtigen Situation konzentrieren<br />
wir unsere Führungstätigkeit auf jene Fragen, die<br />
zum Wohlbefinden unserer Bürger beitragen sollen<br />
und müssen. Deshalb sind für uns die Versorgung<br />
und Dienstleistungen, das Gesundheitswesen<br />
und der Nahverkehr wichtige Stimmungsbarometer<br />
und Maßstäbe für die eigene, auf Veränderung<br />
gerichtete Wirksamkeit. (…) Erste Ergebnisse<br />
zur besseren Bedürfnisbefriedigung der<br />
Bürger werden sichtbar und werden auf der<br />
Grundlage des Dialogs mit den Menschen und<br />
der noch konsequenteren Wahrnehmung der<br />
Verantwortung der örtlichen Räte weiter stabilisiert.“<br />
21<br />
Natürlich traf dies für regimefeindliche oder als<br />
solche deklarierte Gruppen der Gesellschaft<br />
nicht zu. Es wurde nicht gezögert, gegen Ausreiseantragsteller,<br />
Oppositionelle und kirchliche<br />
Kreise offene Repression anzuwenden. Dennoch<br />
kann hypothetisch davon ausgegangen werden,<br />
dass die SED-Kreisleitungen mit ihrer Herrschaftspraxis<br />
den diktatorischen Charakter des<br />
Regimes überformten und damit zur Stabilität<br />
und Legitimation der SED-Herrschaft beitrugen.<br />
Eine weitere Beobachtung im Hinblick auf die<br />
Herrschaftspraxis der SED-Kreisleitungen zeigt,<br />
dass die örtlichen Funktionäre jenseits der offiziellen<br />
Dienstwege Beziehungen und Strukturen<br />
etablierten, die als funktionale und personale<br />
Netzwerke charakterisiert werden können. Sie<br />
wurden genutzt, um beispielsweise Informationen,<br />
die aufgrund der eigenen Stellung im Herrschaftsgefüge<br />
nicht verfügbar waren, zu beschaffen<br />
oder Probleme auf dem „kleinen Dienstweg“<br />
zu lösen.<br />
Entscheidend waren derartige informelle Arrangements<br />
jedoch bei der Realisierung von Bauprojekten<br />
oder anderen Vorhaben im Territorium,<br />
die vom Zugriff auf knappe materielle und<br />
personelle Ressourcen abhingen. So berichtete<br />
etwa ein 2. Kreissekretär rückblickend, dass eine<br />
21 Monatsbericht des 1. Sekretärs der SED-Kreisleitung<br />
Brandenburg an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung<br />
Potsdam vom 18. Oktober 1989. In: BLHA, Rep.<br />
531 Brandenburg Nr. 2126.