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08.01.2013 Aufrufe

Aufsätze Stephan Klecha – Minderheitsregierungen und Wahlerfolge MIP 2011 17. Jhrg. Debatte um Minderheitsregierungen wird zumindest wiederholt von den Akteuren wie von Beobachtern die These aufgestellt, dass Minderheitsregierungen den Parlamentarismus wieder lebendiger werden ließen (Renzsch/Schieren 1997: 406; Christiansen/Togeby 2006; Höppner 2003: 114ff). Einigkeit besteht darüber, dass sich die „gestalterische Mitwirkung des Parlaments“ verstärkt (Kropp 2001: 218; s.a. o.V. 1996; Grunden 2009: 168). Die Formen der Einwirkung sind freilich – und damit nicht anders als in Mehrheitsregierungen – informeller Natur (Kropp 2001: 223; Fikentscher 1999: 240; Wollkopf- Dittmann 2002: 36; Dobner 2004: 440; s.a. Grunden 2009: 168). Deswegen ist nicht automatisch ein Zuwachs an Öffentlichkeit zu erwarten. Doch die Form der Mehrheitsfindung verlangt einer Minderheitsregierung einige zusätzliche Ressourcen hinsichtlich Koordination und Kommunikation ab. Die Willensbildung vollzieht sich nämlich nicht mehr abschließend horizontal zwischen den beteiligten Parteien, sondern muss eher stufenleiterförmig strukturiert werden. Einer Willensbildung im Kabinett und in Abstimmung mit den Regierungsfraktionen folgt dann ein Interessensausgleich mit Teilen der Opposition, der seinerseits mit den Regierungsfraktionen und der Regierung rückgekoppelt wird. Möglicherweise sorgt diese Zerlegung des Mehrheitsbildungsprozesses für mehr Transparenz in Bezug auf die politischen Inhalte. Dadurch wird der politische Prozess und Diskurs möglicherweise offener, erkennbar sachorientierter und damit für die Wähler auch attraktiver. Vor diesem Hintergrund gibt es aus der vergleichenden Perspektive Hinweise auf steigende oder hohe Wahlbeteiligungen bei Minderheitsregierungen (Christiansen/Togeby 2006). Dieses kann im deutschen Parlamentarismus so nun nicht unbedingt belegt werden. Nachstehende Tabelle zeigt, dass bei den 15 Wahlen, denen sich eine Minderheitsregierung bislang stellen musste, in sieben Fällen die Wahlbeteiligung anstieg, wohingegen sie acht Mal zurückging. 34 Tabelle 2: Wahlbeteiligung vor und nach Minderheitsregierungen Bundesland vor ZustandekommenMinderheitsregierung nach Ende der Wahlperiode Bund 86,7% (1969) 91,1% (1972) Hamburg 85,9% (1982 I) 89,9% (1982 II) Hessen 86,4% (1982) 83,5% (1983) Hessen 83,5% (1983) 80,3% (1987) Hamburg 83,6% (1986) 85,5% (1987) Schleswig-Holstein 76,6% (1987) 77,4% (1988) Niedersachsen 77,4% (1986) 74,6% (1990) Berlin 79,6% (1989) 80,8% (1990) Brandenburg 67,1% (1990) 56,3% (1994) Sachsen-Anhalt 54,8% (1994) 71,7% (1998) Berlin 65,6% (1999) 68,1% (2001) Sachsen-Anhalt 71,7% (1998) 56,5% (2002) Hamburg 71,0% (2001) 68,7% (2004) Hessen 64,3% (2008) 61,0% (2009) Schleswig-Holstein 66,6% (2005) 73,6% (2009) Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein o.J.; Reutter 2004; Holtmann 2003; Höppner 2003: 94; Koß/Spier 2008: 294; v. Blumenthal 2004: 200; Wolfrum 2007: 591; Hessisches Statistisches Landesamt o.J., Stöß 2008: 179; Reichert-Dreyer 2008: 149. Eigene Darstellung. Insgesamt weichen die Werte selten sonderlich stark von den Wahlbeteiligungen des unmittelbar vorangehenden Urnengangs ab. Lediglich vier Wahlen fallen stark auf. Negativ und entgegen der These verhalten sich dabei Brandenburg 1994 und Sachsen-Anhalt 2002. In einem Falle (Schleswig-Holstein 2009) erklärt sich der deutliche Anstieg damit, dass zeitgleich eine Bundestagswahl abgehalten wurde. Nur in einem Fall (Sachsen-Anhalt 1998) liegt eine steigende Wahlbeteiligung vor, die sich unter Umständen positiv auf das Format der Minderheitsregierung zurückführen ließe. Allerdings geht die erhöhte Partizipation mit Stimmengewinnen für die zuvor außerparlamentarische rechtsextreme DVU einher. Deswegen könnte man dazu verleitet werden, aus dem Wahlerfolg der DVU den Schluss zu ziehen, dass Minderheitsregierungen eine Politi-

MIP 2011 17. Jhrg. Stephan Klecha – Minderheitsregierungen und Wahlerfolge Aufsätze sierung ganz anderer Form nach sich ziehen, nämlich einen Zuwachs der politischen Extreme. Verweise auf die Weimarer Republik mit ihren zahlreichen Minderheitsregierungen stützen dieses Argument ebenso vordergründig wie die Tatsache, dass in der Bundesrepublik nach Minderheitsregierungen immerhin sieben Mal, also ungefähr jedes zweite Mal, eine Partei in das jeweilige Parlament einzog, die zuvor nicht darin vertreten war. Außer für Sachsen-Anhalt 1998 lassen sich jedoch keine Hinweise für eine besondere Protesthaltung der Wähler finden. Der Erfolg der Linken 2009 in Schleswig-Holstein geht einher mit deren erfolgreicher Ausdehnung in Westdeutschland und wäre auch ohne vorherige Minderheitsregierung zu erwarten gewesen. In den übrigen fünf Fällen handelte es sich durchgängig um die FDP, die im Anschluss an eine Minderheitsregierung ein zwischenzeitliches außerparlamentarisches Dasein beendete (Hessen 1983, Hamburg 1987, Berlin 1990, Berlin 2001 und Sachsen-Anhalt 2002). Die FDP genießt anscheinend wegen ihrer tradierten Scharnierfunktion im Parteiensystem nach Minderheitsregierungen eine besondere Aufmerksamkeit der Wähler. Ein Grund könnte sein, dass man der FDP möglicherweise am ehesten zutraut, an einer Mehrheitsbildung wieder mitzuwirken. Erfüllt die FDP diese Funktion nicht, so droht ihr nämlich auch leicht der Absturz aus der parlamentarischen Sphäre. Immerhin drei Mal (Schleswig- Holstein 1988, Brandenburg 1994 und Hamburg 2004) flog die FDP nämlich aus einem Parlament, als eine Minderheitsregierung zur Wahl stand. Durch ein anderes Koalitionsverhalten hätte die Partei eine neue Mehrheitsregierung herbeiführen können. Dieses deutet daraufhin, dass die Zuweisung der Funktion als Scharnierpartei durchaus das Wählervotum mit beeinflusst. Ansonsten lässt sich also weder eine erhöhte Politisierung beobachten noch eine besondere Protestneigung der Wähler als Folge einer Minderheitsregierung ausmachen. Vielmehr kann eine besondere Stabilität des Parteiensystems sogar nachgewiesen werden, wenn man zunächst den Pedersenindex (Pedersen 1979) als Maß für die aggregierte Volatilität heranzieht. Er wird be- rechnet aus der durch zwei geteilten Summe der Beträge aller Stimmengewinne und -verluste. In der nachfolgenden Tabelle wird der durchschnittliche Pedersenindex denjenigen Werten gegenübergestellt, die bei Wahlen im Anschluss an Minderheitsregierungen ermittelbar sind. Land Durchschnittlicher Pedersenindex Sachsen- Anhalt Pedersenindex nach Minderheitsregierungen 20,4 16,9 (1998) 32,4 (2002) Hamburg2 11,9 9,2 (1982 II) 5,1 (1987) 30,6 (2004) Berlin 13,0 15,1 (1990) 21,4 (2001) Hessen 10,1 8,0 (1983) 6,4 (1987) 14,8 (2009) Niedersachsen 10,5 4,4 (1990) Brandenburg 17,2 23,1 (1994) Schleswig- Holstein 11,0 11,3 (1988) 26,5 (2009) Bund 8,5 5,7 (1972) Eigene Berechnung Die Empirie zeigt erneut, dass es keinen so eindeutigen Befund gibt. Immerhin sieben Mal lagen die Werte bei Wahlen, denen sich eine Minderheitsregierung stellen musste, unterhalb des jeweiligen Durchschnitts und acht Mal darüber. Insofern wäre auch hier die Stabilität des Wählerverhaltens gegeben beziehungsweise eine anscheinend normale Abweichung vom Durchschnitt festzustellen. Minderheitsregierungen ziehen auf den ersten Blick also keine erhöhte Volatilität nach sich. Doch dieser Befund ist etwas zu oberflächlich. Bemerkenswert ist nämlich bereits die Streuung. So wurden in Sachsen-Anhalt (2002), in Hamburg (2004), in Brandenburg jeweils absolute Maximalwerte erzielt. In Berlin (2001) und Schleswig-Holstein (2009) lässt sich zudem der zweithöchste Wert überhaupt messen. Dem steht gegenüber, dass in Hamburg (1987) und in Nie- 2 Der Hamburgblock ist dabei so einbezogen worden, dass als Referenz die Summe der beteiligten Quellparteien berücksichtigt wurde. 35

<strong>Aufsätze</strong> Stephan Klecha – Minderheitsregierungen und Wahlerfolge MIP 2011 17. Jhrg.<br />

Debatte um Minderheitsregierungen wird zumindest<br />

wiederholt von den Akteuren wie von Beobachtern<br />

die These aufgestellt, dass Minderheitsregierungen<br />

den Parlamentarismus wieder lebendiger<br />

werden ließen (Renzsch/Schieren 1997:<br />

406; Christiansen/Togeby 2006; Höppner 2003:<br />

114ff).<br />

Einigkeit besteht darüber, dass sich die „gestalterische<br />

Mitwirkung des Parlaments“ verstärkt<br />

(Kropp 2001: 218; s.a. o.V. 1996; Grunden<br />

2009: 168). Die Formen der Einwirkung sind<br />

freilich – und damit nicht anders als in Mehrheitsregierungen<br />

– informeller Natur (Kropp<br />

2001: 223; Fikentscher 1999: 240; Wollkopf-<br />

Dittmann 2002: 36; Dobner 2004: 440; s.a.<br />

Grunden 2009: 168). Deswegen ist nicht automatisch<br />

ein Zuwachs an Öffentlichkeit zu erwarten.<br />

Doch die Form der Mehrheitsfindung verlangt<br />

einer Minderheitsregierung einige zusätzliche<br />

Ressourcen hinsichtlich Koordination und Kommunikation<br />

ab. Die Willensbildung vollzieht<br />

sich nämlich nicht mehr abschließend horizontal<br />

zwischen den beteiligten Parteien, sondern muss<br />

eher stufenleiterförmig strukturiert werden. Einer<br />

Willensbildung im Kabinett und in Abstimmung<br />

mit den Regierungsfraktionen folgt dann<br />

ein Interessensausgleich mit Teilen der Opposition,<br />

der seinerseits mit den Regierungsfraktionen<br />

und der Regierung rückgekoppelt wird. Möglicherweise<br />

sorgt diese Zerlegung des Mehrheitsbildungsprozesses<br />

für mehr Transparenz in Bezug<br />

auf die politischen Inhalte.<br />

Dadurch wird der politische Prozess und Diskurs<br />

möglicherweise offener, erkennbar sachorientierter<br />

und damit für die Wähler auch attraktiver.<br />

Vor diesem Hintergrund gibt es aus der vergleichenden<br />

Perspektive Hinweise auf steigende<br />

oder hohe Wahlbeteiligungen bei Minderheitsregierungen<br />

(Christiansen/Togeby 2006). Dieses<br />

kann im deutschen Parlamentarismus so nun<br />

nicht unbedingt belegt werden. Nachstehende<br />

Tabelle zeigt, dass bei den 15 Wahlen, denen<br />

sich eine Minderheitsregierung bislang stellen<br />

musste, in sieben Fällen die Wahlbeteiligung anstieg,<br />

wohingegen sie acht Mal zurückging.<br />

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Tabelle 2: Wahlbeteiligung vor und nach Minderheitsregierungen<br />

Bundesland vor ZustandekommenMinderheitsregierung<br />

nach Ende der<br />

Wahlperiode<br />

Bund 86,7% (1969) 91,1% (1972)<br />

Hamburg 85,9% (1982 I) 89,9% (1982 II)<br />

Hessen 86,4% (1982) 83,5% (1983)<br />

Hessen 83,5% (1983) 80,3% (1987)<br />

Hamburg 83,6% (1986) 85,5% (1987)<br />

Schleswig-Holstein 76,6% (1987) 77,4% (1988)<br />

Niedersachsen 77,4% (1986) 74,6% (1990)<br />

Berlin 79,6% (1989) 80,8% (1990)<br />

Brandenburg 67,1% (1990) 56,3% (1994)<br />

Sachsen-Anhalt 54,8% (1994) 71,7% (1998)<br />

Berlin 65,6% (1999) 68,1% (2001)<br />

Sachsen-Anhalt 71,7% (1998) 56,5% (2002)<br />

Hamburg 71,0% (2001) 68,7% (2004)<br />

Hessen 64,3% (2008) 61,0% (2009)<br />

Schleswig-Holstein 66,6% (2005) 73,6% (2009)<br />

Quelle: Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein<br />

o.J.; Reutter 2004; Holtmann 2003; Höppner<br />

2003: 94; Koß/Spier 2008: 294; v. Blumenthal 2004: 200;<br />

Wolfrum 2007: 591; Hessisches Statistisches Landesamt<br />

o.J., Stöß 2008: 179; Reichert-Dreyer 2008: 149. Eigene<br />

Darstellung.<br />

Insgesamt weichen die Werte selten sonderlich<br />

stark von den Wahlbeteiligungen des unmittelbar<br />

vorangehenden Urnengangs ab. Lediglich vier<br />

Wahlen fallen stark auf. Negativ und entgegen<br />

der These verhalten sich dabei Brandenburg<br />

1994 und Sachsen-Anhalt 2002. In einem Falle<br />

(Schleswig-Holstein 2009) erklärt sich der deutliche<br />

Anstieg damit, dass zeitgleich eine Bundestagswahl<br />

abgehalten wurde. Nur in einem Fall<br />

(Sachsen-Anhalt 1998) liegt eine steigende<br />

Wahlbeteiligung vor, die sich unter Umständen<br />

positiv auf das Format der Minderheitsregierung<br />

zurückführen ließe. Allerdings geht die erhöhte<br />

Partizipation mit Stimmengewinnen für die zuvor<br />

außerparlamentarische rechtsextreme DVU<br />

einher.<br />

Deswegen könnte man dazu verleitet werden,<br />

aus dem Wahlerfolg der DVU den Schluss zu<br />

ziehen, dass Minderheitsregierungen eine Politi-

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