Aufsätze - PRuF

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08.01.2013 Aufrufe

Aufgespießt Sebastian Roßner – Überraschende Wirkungen des Wahlrechts MIP 2011 17. Jhrg. Überraschende Wirkungen des Wahlrechts – Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung der faktischen Effekte von Sperrklauseln – Dr. Sebastian Roßner, M.A. 1 Das kirgisische Exempel Die Weltöffentlichkeit hat im September und Oktober 2010 nicht eben gebannt nach Kirgisien geschaut, um den dortigen Parlamentswahlkampf zu verfolgen. Zumindest das Ergebnis aber hätte einige Aufmerksamkeit verdient, wie ein genauerer Blick zeigt: Von den knapp 3 Millionen Wahlberechtigten haben 55,9 % den Weg zu den Wahlurnen gefunden. Ihre Stimmen verschafften fünf Parteien Sitze im Parlament von Bischkek. Wahlsiegerin wurde die Partei Ata- Schurt des wenige Monate zuvor gestürzten Präsidenten Bakijew mit 8,89 % der Stimmen 2 . Den zweiten Platz erreichte die Sozialdemokratische Partei Kirgisiens mit 8,03 % der Stimmen. Weitere drei Parteien, deren Stimmanteile zwischen 5,6 und 7,74 % rangierten, konnten ebenfalls Abgeordnete entsenden. Damit haben 37,5 % der abgegebenen Stimmen über die Sitzverteilung in der Volksvertretung entschieden; 62,5 % der Stimmen hingegen blieben ohne direkten Einfluß. Die siegreiche Ata-Schurt erhielt so mit knapp 9 % der Stimmen 28 der 120 Parlamentsmandate, also nahezu ein Viertel der Sitze. Diese deutliche Verzerrung der Sitzverteilung ist nicht auf dubiose Wahl- und Auszählungspraktiken zurückzuführen – die Wahlbeobachter der OSZE berichteten vielmehr von einer freien und demo- 1 Der Verfasser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. 2 Wahlergebnisse nach http://www.gusnews.net/?s=wahlen +kirgisistan&x=0&y=0 sowie nach http://de.wikipedia. org/wiki/Parlamentswahl_in_Kirgisistan_2010, beide recherchiert am 8. März 2011. 160 kratischen Wahl 3 – sondern auf die Anwendung der 5 %-Sperrklausel nach deutschem Vorbild: Tatsächlich entfielen annähernd zwei Drittel der Stimmen auf Parteien, die unterhalb der 5 %- Schwelle blieben. Faktische Wirkungen von Sperrklauseln Die kirgisischen Wahlergebnisse bieten Anlaß, die faktischen Wirkungen der Sperrklausel zu betrachten. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Die Abschätzung der tatsächlichen Wirkungen eines Rechtssatzes für die Zukunft ist mit den Schwierigkeiten der Prognose behaftet: Atypisches Verhalten der Normanwender – so wie es die kirgisischen Wähler gezeigt haben – mag unwahrscheinlich sein, kann aber nicht ausgeschlossen werden. Es können also ausgesprochen überraschende Effekte einer Norm auftreten. Die Flucht in die Vergangenheit hilft ebenfalls nur wenig: Die Wirkung von Sperrklauseln läßt sich auch für historische Wahlergebnisse nicht exakt bestimmen, denn dies erforderte den Vergleich des historischen Wahlergebnisses mit einem hypothetischen Wahlergebnis, wie es unter der jeweils zu testenden anderen Rechtslage zustandegekommen wäre. Die Ermittlung verschiedener Sitzverteilungen für eine gegebene Stimmverteilung durch bloßes Herein- oder Herausrechnen der Sperrklausel läßt hingegen unberücksichtigt, daß Wähler unter Geltung einer Sperrklausel möglicherweise anders abstimmen als sie dies ohne Sperrklausel getan hätten. Damit ist bereits die psychische Vorwirkung von Sperrklauseln als eine ihrer faktischen Wirkungen angesprochen: Die Einschätzung der Wähler über die Wahlaussichten gewinnt im Zusammenhang mit kleinen Parteien wesentliche Bedeutung. Da die Anhänger einer 5,5 %-Partei voneinander nicht sicher wissen, kommt der Effekt des „Ich will meine Stimme nicht verschenken“ zum Tragen. Dies kann zu einer Wahlentscheidung des Wählers nicht gemäß seiner eigentlichen Präferenz, sondern für eine andere, als aussichtsreicher eingeschätzte Partei führen. Es handelt 3 http://orf.at/stories/2019281/, recherchiert am 8. März 2011.

Aufgespießt Sebastian Roßner – Überraschende Wirkungen des Wahlrechts MIP 2011 17. Jhrg. sich also um eine wenig beachtete Erscheinungsform der sogenannten „Leihstimme“. Die psychische Vorwirkung stellt also eine Art Sperrklausel im Kopfe des Wählers dar, der bereits seine Wahlentscheidung dem Sitzverteilungssystem und dem vermuteten Verhalten der anderen Wähler anpaßt. Dadurch wird die nach der Wahl auftretende Verzerrung im Verhältnis von abgegebenen Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen4 gemindert: Die Tendenz der psychischen Vorwirkung geht dahin, nur noch Parteien zu wählen, welche die Sperrklausel überwinden. Der Effekt ist nachweisbar, aber im Einzelnen schwer zu quantifizieren. Immerhin gibt es zu dieser schwierigen Materie Untersuchungen unerschrockener Politikwissenschaftler5 . Das kirgisische Beispiel weist allerdings auf die für das Auftreten der psychischen Vorwirkung notwendigen Lernprozesse der Wähler hin. Denn die wahltaktische Berücksichtigung von Sperrklauseln erfordert zuvor eine Einschätzung der Erfolgsaussichten bestimmter politischer Formationen. Solche Einschätzungen bilden sich beim Wähler kurzfristig vermutlich auch über demoskopische Erhebungen, langfristig und dauerhaft aber wohl nur über die Erfahrung mehrerer Wahlen. Insgesamt ist die psychische Vorwirkung von Sperrklauseln mutmaßlich also ein Effekt, der als Ergebnis einer gewissen historischen Entwicklung und damit nur in hinreichend reifen politischen Systemen auftritt. Die Geschichte des Parteiensystems der Bundesrepublik Deutschland kann hier als Beispiel dienen: Nach Ende der fünfziger Jahre eingetretenen Verfestigung haben es nur die Grünen geschafft, sich aus eigener Kraft als neue Partei auf Bundesebene zu etablieren6 . Neben die psychische Vorwirkung tritt die bekannte wahlrechtsmechanische Wirkung von Sperrklauseln: Stimmen, die auf Wahlvorschläge entfallen, welche weniger als die von der jeweili- 4 Dazu sogleich. 5 Zu Untersuchungen in dieser Richtung Schoen, H.: Wahlsysteme (2005) S. 587 6 Die PDS bzw. Die Linke konnte dagegen in den neuen Bundesländern auf die von der SED übernommene, weit ausgebaute Organisation zurückgreifen und bildet daher einen Sonderfall. gen Sperrklausel geforderten abgegebenen gültigen Stimmen auf sich vereinen können, beeinflussen die Zusammensetzung des Parlaments nicht direkt, das heißt, sie üben keine positive Mandatsverschaffungsmacht aus. Es kommt also zu einer Verzerrung im Verhältnis von abgegebenen Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen. „Erfolglose“ Stimmen beeinflussen die Sitzverteilung im Parlament nur noch indirekt über die Anhebung der Gesamtheit der abgegebenen Stimmen. Sie machen also lediglich das Überspringen der Sperrklausel für andere Wahlvorschläge schwerer. Die geschilderten Effekte erzeugen wiederum verstärkende Folgewirkungen. Am wichtigsten ist wohl die Beachtung einer Partei in den Massenmedien, die sich als eine entscheidende Voraussetzung für politischen Erfolg vor allem an dem Kriterium „Vertretung im Parlament“ entscheidet, wie ein Blick in die Nachrichtensendungen, politischen Magazine oder die Wahlberichterstattung zeigt. Daneben treten auch fragwürdige rechtliche Vorteile wie die Mindestbegünstigungsklausel aus § 5 IV 1 PartG7 für mit Fraktionsstärke im Bundestag vertretene oder die umfangreiche Finanzierung politischer Stiftungen, die stets eng mit Bundestagsparteien verwoben sind. Rechtliche Maßstäbe Die Wahlrechtsgleichheit nach Art. 38 I 1 GG ist der sich aufdrängende Maßstab für Sperrklauseln. Auf die Unterschiede zwischen der langjährigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einerseits und der neueren Rechtsprechung des Zweiten Senates sowie der Ansicht eines großen Teiles der Literatur andererseits bezüglich der Konstruktion der Wahlrechtsgleichheit 8 braucht hier nicht näher eingegangen zu werden; jedenfalls soll die Wahlrechtsgleichheit strikt und formal anzuwenden sein und die Zählwertgleichheit sowie die Erfolgswertgleichheit der Stimmen beinhalten. Diese beiden Begriffe lassen sich zusammenführen im Begriff der glei- 7 Vgl. Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 5 Rn. 10 m.w.N. 8 Eine Wende markiert hier BVerfGE 99, 1 (7 ff.). 161

Aufgespießt Sebastian Roßner – Überraschende Wirkungen des Wahlrechts MIP 2011 17. Jhrg.<br />

sich also um eine wenig beachtete Erscheinungsform<br />

der sogenannten „Leihstimme“. Die psychische<br />

Vorwirkung stellt also eine Art Sperrklausel<br />

im Kopfe des Wählers dar, der bereits<br />

seine Wahlentscheidung dem Sitzverteilungssystem<br />

und dem vermuteten Verhalten der anderen<br />

Wähler anpaßt. Dadurch wird die nach der Wahl<br />

auftretende Verzerrung im Verhältnis von abgegebenen<br />

Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen4 gemindert: Die Tendenz der psychischen Vorwirkung<br />

geht dahin, nur noch Parteien zu wählen,<br />

welche die Sperrklausel überwinden. Der<br />

Effekt ist nachweisbar, aber im Einzelnen<br />

schwer zu quantifizieren. Immerhin gibt es zu<br />

dieser schwierigen Materie Untersuchungen unerschrockener<br />

Politikwissenschaftler5 .<br />

Das kirgisische Beispiel weist allerdings auf die<br />

für das Auftreten der psychischen Vorwirkung<br />

notwendigen Lernprozesse der Wähler hin. Denn<br />

die wahltaktische Berücksichtigung von Sperrklauseln<br />

erfordert zuvor eine Einschätzung der<br />

Erfolgsaussichten bestimmter politischer Formationen.<br />

Solche Einschätzungen bilden sich beim<br />

Wähler kurzfristig vermutlich auch über demoskopische<br />

Erhebungen, langfristig und dauerhaft<br />

aber wohl nur über die Erfahrung mehrerer<br />

Wahlen. Insgesamt ist die psychische Vorwirkung<br />

von Sperrklauseln mutmaßlich also ein Effekt,<br />

der als Ergebnis einer gewissen historischen<br />

Entwicklung und damit nur in hinreichend<br />

reifen politischen Systemen auftritt. Die Geschichte<br />

des Parteiensystems der Bundesrepublik<br />

Deutschland kann hier als Beispiel dienen: Nach<br />

Ende der fünfziger Jahre eingetretenen Verfestigung<br />

haben es nur die Grünen geschafft, sich aus<br />

eigener Kraft als neue Partei auf Bundesebene zu<br />

etablieren6 .<br />

Neben die psychische Vorwirkung tritt die bekannte<br />

wahlrechtsmechanische Wirkung von<br />

Sperrklauseln: Stimmen, die auf Wahlvorschläge<br />

entfallen, welche weniger als die von der jeweili-<br />

4 Dazu sogleich.<br />

5 Zu Untersuchungen in dieser Richtung Schoen, H.:<br />

Wahlsysteme (2005) S. 587<br />

6 Die PDS bzw. Die Linke konnte dagegen in den neuen<br />

Bundesländern auf die von der SED übernommene,<br />

weit ausgebaute Organisation zurückgreifen und bildet<br />

daher einen Sonderfall.<br />

gen Sperrklausel geforderten abgegebenen gültigen<br />

Stimmen auf sich vereinen können, beeinflussen<br />

die Zusammensetzung des Parlaments<br />

nicht direkt, das heißt, sie üben keine positive<br />

Mandatsverschaffungsmacht aus. Es kommt also<br />

zu einer Verzerrung im Verhältnis von abgegebenen<br />

Stimmen zu verteilten Parlamentssitzen.<br />

„Erfolglose“ Stimmen beeinflussen die Sitzverteilung<br />

im Parlament nur noch indirekt über die<br />

Anhebung der Gesamtheit der abgegebenen<br />

Stimmen. Sie machen also lediglich das Überspringen<br />

der Sperrklausel für andere Wahlvorschläge<br />

schwerer.<br />

Die geschilderten Effekte erzeugen wiederum<br />

verstärkende Folgewirkungen. Am wichtigsten<br />

ist wohl die Beachtung einer Partei in den Massenmedien,<br />

die sich als eine entscheidende Voraussetzung<br />

für politischen Erfolg vor allem an<br />

dem Kriterium „Vertretung im Parlament“ entscheidet,<br />

wie ein Blick in die Nachrichtensendungen,<br />

politischen Magazine oder die Wahlberichterstattung<br />

zeigt. Daneben treten auch fragwürdige<br />

rechtliche Vorteile wie die Mindestbegünstigungsklausel<br />

aus § 5 IV 1 PartG7 für mit<br />

Fraktionsstärke im Bundestag vertretene oder die<br />

umfangreiche Finanzierung politischer Stiftungen,<br />

die stets eng mit Bundestagsparteien verwoben<br />

sind.<br />

Rechtliche Maßstäbe<br />

Die Wahlrechtsgleichheit nach Art. 38 I 1 GG ist<br />

der sich aufdrängende Maßstab für Sperrklauseln.<br />

Auf die Unterschiede zwischen der langjährigen<br />

Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts<br />

einerseits und der neueren Rechtsprechung<br />

des Zweiten Senates sowie der Ansicht eines<br />

großen Teiles der Literatur andererseits bezüglich<br />

der Konstruktion der Wahlrechtsgleichheit 8<br />

braucht hier nicht näher eingegangen zu werden;<br />

jedenfalls soll die Wahlrechtsgleichheit strikt<br />

und formal anzuwenden sein und die Zählwertgleichheit<br />

sowie die Erfolgswertgleichheit der<br />

Stimmen beinhalten. Diese beiden Begriffe lassen<br />

sich zusammenführen im Begriff der glei-<br />

7 Vgl. Morlok, M.: Kommentar zum PartG (2007) § 5<br />

Rn. 10 m.w.N.<br />

8 Eine Wende markiert hier BVerfGE 99, 1 (7 ff.).<br />

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