Der Blick zurück – die Geschichte des industriellen Ruhrgebiets 2
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51°25.171’N, 7°28.914’E<br />
Abb. 2.1<br />
Das im neobarocken Stil<br />
erbaute alte Schiffshebewerk<br />
Henrichenburg am Dortmund-Ems-Kanal<br />
wurde<br />
1899 eröffnet und repräsentiert<br />
<strong>die</strong> Binnenschifffahrt<br />
und den Bau der Kanäle im<br />
Ruhrgebiet. Das als technisches<br />
Wunderwerk gefeierte<br />
Hebewerk überwand bis zu<br />
seiner Stilllegung 1970 einen<br />
Höhenunterschied von<br />
14 Metern. Seit der Restaurierung<br />
1992 ist <strong>die</strong> denkmalgeschützte<br />
Anlage Standort<br />
<strong>des</strong> Westfälischen Industriemuseums<br />
und eingebettet in<br />
den Schleusenpark Waltrop,<br />
der aktuell ein Projekt <strong>des</strong><br />
Emscher Landschaftsparks<br />
2010 ist. Foto: Boldt/Gelhar<br />
2<br />
<strong>Der</strong> <strong>Blick</strong> <strong>zurück</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>die</strong> <strong>Geschichte</strong><br />
<strong>des</strong> <strong>industriellen</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong>
Abb. 2.2<br />
Schloss Lauersfort in<br />
Moers. Foto: Boldt/<br />
Gelhar<br />
51°24.243’N, 6°36.202’E<br />
36<br />
Von der Steinzeit bis zum Beginn<br />
der <strong>industriellen</strong> Revolution<br />
Als <strong>die</strong> neolithische Revolution Mitteleuropa in<br />
der Jungsteinzeit erreichte, war der wichtigste Meilenstein<br />
der kulturellen Evolution gelegt: Jäger und<br />
Sammler wurden zu sesshaften Landwirten, <strong>die</strong><br />
unter anderem <strong>die</strong> fruchtbaren Lössgebiete der<br />
Hellwegzone zwischen Lippe und Haarstrang als<br />
Heimat wählten.<br />
Bereits in der Eisenzeit wurden in den Mittelgebirgen<br />
Erzgänge ausgebeutet und in Rennfeueröfen<br />
zu Eisen verarbeitet; Schlacken belegen<br />
unter anderem auch eine germanische Produktionsstätte<br />
bei Waltrop. Die Produktion von landwirtschaftlichen<br />
Geräten und Waffen aus Eisen<br />
kurbelte den Handel an und revolutionierte den<br />
Ackerbau. Für <strong>die</strong> Umwelt bedeutete der Fort-<br />
2 DIE GESCHICHTE DES INDUSTRIELLEN RUHRGEBIETS<br />
schritt jedoch eine zunehmende Belastung durch<br />
Schwermetalle.<br />
Um <strong>die</strong> Zeitenwende war das Ruhrgebiet<br />
Schauplatz mehrmaliger Versuche Roms, eine<br />
rechtsrheinische Provinz Germania dauerhaft an<br />
Gallien anzuschließen. <strong>Der</strong> Plan scheiterte spätestens<br />
9 n. Chr. in der Schlacht am Teutoburger<br />
Wald.<br />
Im frühen Mittelalter waren zunächst <strong>die</strong> Völkerwanderung<br />
und <strong>die</strong> Ausdehnung <strong>des</strong> Frankenreichs<br />
im Fokus der <strong>Geschichte</strong>. Die Königshöfe<br />
(Pfalzen), aber auch Burgen und Klöster an den<br />
Handelswegen sind Kristallisationspunkte, <strong>die</strong><br />
sich bis heute in der Siedlungsstruktur <strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong><br />
abzeichnen: zum Beispiel Duisburg, Es-
sen und Dortmund entlang <strong>des</strong> Hellwegs. Die<br />
bekannte Abtei Werden in Essen wurde zum religiösen<br />
Zentrum <strong>–</strong> ihre weitreichende Einflussnahme<br />
zeigt sich nicht zuletzt an zahlreichen Lehen,<br />
unter anderem das Schloss Lauersfort in Moers<br />
(Abb. 2.2).<br />
Das Hoch- und Spätmittelalter vom 11. bis 15.<br />
Jahrhundert wird durch einen wirtschaftlichen<br />
Aufschwung und geistige Emanzipation gekennzeichnet.<br />
Wesentliche Impulse gingen von den<br />
Klöstern aus, <strong>die</strong> mit ihren Innovationen wie der<br />
planmäßigen Dreifelderwirtschaft <strong>die</strong> Landwirtschaft<br />
revolutionierten (Abb. 2.3).<br />
Die Gewinnung von Salz, Erz und der Steinkohle<br />
wurde verstärkt; der Tagebau hinterließ<br />
vielerorts zunächst schurfartige Pingen im Relief.<br />
Später gruben <strong>die</strong> Menschen senkrechte Schächte,<br />
sogenannte Pütts (lat. puteus = Brunnen; namensgebend<br />
für den Ruhrpott) in den Untergrund. Als<br />
Wiege <strong>des</strong> Steinkohlebergbaus gilt das Muttental<br />
bei Witten.<br />
Neue Verhüttungstechniken (unter anderem<br />
in Stucköfen) ebneten allmählich den Weg zum<br />
modernen Hochofenbetrieb. Für das boomende<br />
Handwerk rückten <strong>die</strong> Städte als Absatzmärkte nun<br />
immer stärker in den Mittelpunkt <strong>des</strong> Interesses.<br />
Zur wichtigen Institution avancierte vom 13. bis<br />
16. Jahrhundert das Städtebündnis der Hanse, der<br />
auch viele <strong>Ruhrgebiets</strong>städte wie Dortmund angehörten.<br />
<strong>Der</strong> Beginn der Neuzeit an der Wende zum<br />
16. Jahrhundert glich einem Erdbeben, Reformation<br />
und Glaubenskriege hielten <strong>die</strong> deutsche<br />
Bevölkerung in Atem und gipfelten schließlich im<br />
30-jährigen Krieg (1618 <strong>–</strong>1648). Wirtschaftliche<br />
Stagnation lähmte jede Entwicklung. Obwohl das<br />
Ruhrgebiet auch in der Folgezeit immer wieder<br />
in kriegerische Auseinandersetzungen wie <strong>die</strong> verschiedenen<br />
Erbfolgekriege verwickelt war, wurden<br />
im 17. und in der ersten Hälfte <strong>des</strong> 18. Jahrhunderts<br />
Meilensteine für seine Zukunft gelegt: Die Industrialisierung<br />
stand vor der Tür und wurde 1758<br />
mit der Inbetriebnahme der St.-Anthony-Hütte<br />
in Oberhausen manifestiert (Harenberg 1987,<br />
Schulze 2000).<br />
Abb. 2.3<br />
Ein Aushängeschild klösterlicher<br />
Kultur ist bis<br />
heute das 1123 gegründete<br />
Zisterzienserkloster<br />
Kamp in Kamp-Lintfort.<br />
Foto: Boldt/Gelhar<br />
51°30.164’N, 6°30.949’E
Abb. 2.4<br />
Die St.-Anthony-Hütte in<br />
Oberhausen-Osterfeld<br />
wurde 1756 gegründet.<br />
Typisch für erfolgreiche<br />
frühindustrielle Standorte<br />
sind <strong>die</strong> Lage an einem<br />
kleinen Fließgewässer<br />
(Stauteich) und <strong>die</strong> Nähe<br />
zum Wald (Brennholz)<br />
sowie zu Verkehrswegen<br />
(Rhein, Landstraße).<br />
1810 erfolgte der Zusammenschluss<br />
mit zwei<br />
benachbarten Eisenhütten<br />
zum späteren Weltkonzern»Gutehoffnungshütte«.<br />
Foto: Boldt/<br />
Gelhar<br />
51°31.155’N, 6°52.353’E<br />
38<br />
Back to the roots <strong>–</strong><br />
auf den Spuren der Industriepioniere<br />
Die industrielle Revolution brachte radikale Veränderungen<br />
der sozialen, wirtschaftlichen, technischen<br />
und politischen Verhältnisse in Deutschland<br />
mit sich. Sie hatte eine nachhaltige Bedeutung für<br />
<strong>die</strong> Entstehung neuer räumlicher Strukturen und<br />
leitete <strong>die</strong> Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat<br />
ein. Wirtschaftszentren entstanden aus dem<br />
Nichts: so auch das damals bedeutendste, das<br />
Ruhrgebiet.<br />
Vielfach wird das Jahr 1756 und damit <strong>die</strong><br />
Gründung der St.-Anthony-Hütte als Geburtsdatum<br />
<strong>des</strong> <strong>industriellen</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong> benannt<br />
(Abb. 2.4), aber eine »Revolution« mit den charakteristischen<br />
flächenhaften Auswirkungen fand<br />
noch nicht statt. Als Abgrenzung geeigneter ist<br />
daher eher das Jahr 1834, als es Franz Haniel auf<br />
der Zeche Franz (Essen-Borbeck) erstmalig gelang,<br />
<strong>die</strong> Mergelschicht zu durchteufen. Damit fiel der<br />
Startschuss für den Tiefbau auf Fettkohle unter der<br />
2 DIE GESCHICHTE DES INDUSTRIELLEN RUHRGEBIETS<br />
Mergeldecke und <strong>die</strong> Nordwanderung der Zechen.<br />
Dadurch und mit der zeitgleichen Erschließung<br />
<strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong> durch <strong>die</strong> Eisenbahn (1846/47<br />
Köln-Mindener-Eisenbahn) wurden ab etwa 1850<br />
flächenhaft wirksame Prozesse sichtbar: Jetzt begann<br />
<strong>die</strong> industrielle Revolution im eigentlichen<br />
Sinne: Sie wurde beherrscht vom Zechenboom an<br />
Hellweg und Emscher, der Entfaltung der Eisen-,<br />
Stahl- und chemischen Industrie, von Bevölkerungsexplosion,<br />
Industriedörfern, Werkssiedlungen<br />
und der »sozialen Frage«. Doch <strong>die</strong>s geschah<br />
nicht ohne Rückschläge und Schwierigkeiten. Symbolisch<br />
dafür sind <strong>die</strong> misslungenen ersten Versuche<br />
auf Kohlenförderung in Tiefbauzechen. Besagte<br />
Zeche Franz kam nicht zur Förderung, weil<br />
<strong>die</strong> Dampfmaschine am Standort bald mehr Kohlen<br />
verbrauchte, als gefördert werden konnte.<br />
Eine Einteilung der Industrialisierung in Entwicklungsphasen,<br />
<strong>die</strong> in ihrer exakten zeitlichen
Rhein<br />
Issel<br />
Rhein<br />
Lippe<br />
Rhei n-Herne-Kanal<br />
Abgrenzung allerdings diskutiert werden können,<br />
ermöglicht <strong>die</strong> Orientierung über <strong>die</strong> industrielle<br />
Entwicklung (Abb. 1.10). <strong>Der</strong> phasenhafte Ablauf<br />
der <strong>industriellen</strong> Entwicklung und das phasenhafte<br />
Vorrücken der Bergbaufront spiegeln sich<br />
bis heute in west-östlich verlaufenden, wirtschaftsräumlichen<br />
Strukturzonen wider (Abb. 2.5), <strong>die</strong><br />
sich an den durch <strong>die</strong> naturräumliche Gliederung<br />
vorgegebenen Teilräumen orientieren (Abb. 1.4):<br />
Die zuerst von der Industrialisierung erfasste Ruhrzone<br />
im Süden (Werden-Hattingen-Witten-Hagen-Schwerte),<br />
nach Norden anschließend <strong>die</strong><br />
Hellwegzone (Duisburg-Mülheim-Essen-Bochum-<br />
Dortmund-Unna), <strong>die</strong> südliche und nördliche Emscherzone<br />
(Oberhausen-Bottrop-Gelsenkirchen-<br />
Herne; <strong>die</strong> nördliche wird auch Vestische Zone<br />
genannt) und <strong>die</strong> Lippezone (Wesel-Dorsten-Marl-<br />
Haltern-Lünen-Hamm). Die Rheinzone im Westen<br />
nimmt eine entwicklungsgeschichtliche Sonderstellung<br />
ein. Die Siedlungsentwicklung <strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong><br />
orientierte sich dagegen noch lange an<br />
den Nord-Süd verlaufenden historischen Straßen,<br />
sodass Siedlungsachsen <strong>die</strong>se Strukturzonen von<br />
West nach Ost in einen Wechsel von bebautem und<br />
unbebautem Gebiet einteilen. Erst nördlich der<br />
Emscher lösen sich <strong>die</strong>se Achsen auf (Wehling<br />
1998a).<br />
Obwohl mit der Dampfmaschine, der Ruhrund<br />
Rheinschifffahrt, ersten Industriepionieren<br />
Ruhr<br />
Emscher<br />
Wese l-Dattel n-Kanal<br />
Lenne<br />
Ruhr<br />
Lippe<br />
Datteln -H amm- Kanal<br />
Ruhrgebiet<br />
Ruhrzone<br />
Hellwegzone<br />
Emscherzone<br />
Lippezone<br />
Rheinzone<br />
05 1015 20 km<br />
Quelle: Kommunalverband Ruhrgebiet<br />
2003, Regionalverband<br />
Ruhr 2007<br />
Kartographie: R. Spohner<br />
(Abb. 2.6) und politischen Reformen am Anfang<br />
<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts entscheidende Voraussetzungen<br />
für den Take-off der Industrialisierung (wirtschaftlicher<br />
Aufstieg nach Rostow) gegeben waren,<br />
glich das Ruhrgebiet <strong>die</strong>ser Tage noch einem<br />
»schlafenden Wirtschaftsriesen« (Schlieper 1986).<br />
Eine maßgebliche Schuld an <strong>die</strong>sem »Tiefschlaf«<br />
hatte <strong>die</strong> ambivalente Wirtschaftspolitik <strong>des</strong> preußische<br />
Staates: Einerseits wurde der Steinkohlenbergbau<br />
vor dem Hintergrund <strong>des</strong> Holzkohlenmangels<br />
gefördert, gleichzeitig aber seine technische<br />
Weiterentwicklung aus Furcht vor einer<br />
Überproduktion behindert (Schlieper 1986).<br />
Dies wirkte sich auch auf <strong>die</strong> Eisen- und Stahlindustrie<br />
aus, deren Hochöfen durch den technischen<br />
Rückstand der Zechen keine Fettkohlen<br />
bekamen. Was an frühindustrieller, kleingewerblicher<br />
Wirtschaft vorhanden war, konzentrierte sich<br />
in der Ruhrzone und südlich davon im Vollme-,<br />
Lenne- und Ennepetal.<br />
Wie ein Katalysator wirkte schließlich <strong>die</strong> Einfuhr<br />
der ersten Dampfmaschine aus England (1799<br />
Saline Königsborn). Diese Basisinnovation leitete<br />
den ersten Kondratieff-Zyklus ein (Abb. 2.7, Bathelt<br />
& Glückler 2003) und brachte <strong>die</strong> Lösung<br />
von den unzuverlässigen natürlichen Antriebskräften<br />
wie Wasser und Windkraft. Gleichzeitig forcierte<br />
sie den Kohlenabbau (Kohlen zur Feuerung,<br />
Möglichkeit von Tiefbauzechen).<br />
INDUSTRIEPIONIERE<br />
2 39<br />
Abb. 2.5<br />
Zonale Gliederung <strong>des</strong><br />
<strong>Ruhrgebiets</strong>.<br />
Quelle: Kommunalverband<br />
Ruhrgebiet<br />
2003, Regionalverband<br />
Ruhr 2007<br />
Kartographie:<br />
R. Spohner
51°20.698’N, 7°24.485’E<br />
Abb. 2.6<br />
Maschinenhalle der<br />
ehemaligen Harkortschen<br />
Fabrik in Hagen-<br />
Haspe. Die Fabrik wurde<br />
um 1800 in der Nähe<br />
der Ennepe und der<br />
Harkortschen Kohlenbahn<br />
bereits vom Vater<br />
eines Neffen Friedrich<br />
Harkorts gegründet.<br />
Dieser Neffe, Joh. Caspar<br />
Harkort VI. (1815<strong>–</strong><br />
1897), verlagerte 1860<br />
<strong>die</strong> erfolgreiche Fabrik<br />
zum Duisburger Außenhafen.<br />
Als Brückenbauanstalt<br />
Harkort<br />
wurde sie dort zu einer<br />
Keimzelle der späteren<br />
DEMAG und bezeugt<br />
damit auch <strong>die</strong> aus<br />
<strong>die</strong>sem Zweig der Familie<br />
Harkort hervorgegangenenPionierleistungen.<br />
Foto: Boldt/Gelhar<br />
40<br />
1815 1873 1918 1973 2002<br />
Merkmal 1. lange Welle 2. lange Welle 3. lange Welle 4. lange Welle 5. lange Welle<br />
Basis- mechanischer Web- Bessermerstahl, elektrisches Licht, Transistor, Biotechnologie,<br />
innovation stuhl, Stahlerzeugung Dampfschiffe Wechselstrom, Computer neue Werkstoffe<br />
(Puddelverfahren) Automobil<br />
Schlüssel- Baumwollindustrie, Dampf- und Werkzeug- Elektrotechnik, Automobile, Luftfahrzeuge, Computer,<br />
industrien Eisenindustrie maschinen, Eisenbahn, Grundstoffchemie, Petrolchemie, elektronische Software<br />
Schiffbau, Stahlindustrie Synthetikfarben dauerhafte Konsumgüter Telekommunikation<br />
Industrie- Kleinbetriebe Großbetriebe, Großbetriebe der fordis- nebeneinander großer evtl. steigende<br />
struktur und Kapitalkonzentration tischen Massenproduktion, multinationaler Konzerne Bedeutung speziali-<br />
-organisation Kartellbildung und kleiner Zulieferer sierter und eng vernetzter<br />
Kleinbetriebe<br />
Siedlungs- Land-Stadt-Wanderung Städtewachstum in Zeitalter großstädtischer Suburbanisierung, De- Fortsetzung der Substruktur<br />
(Häfen, Kohlestädte) Rohstoffnähe Verdichtungsräume urbanisierung, Enstehung urbanisierung<br />
(Kohlelagerstätten) neuer Industrieregionen<br />
technologisch Großbritannien, Großbritannien, Frank- Deutschland, USA, USA, Deutschland, Japan, USA,<br />
führende Frankreich, Belgien reich, Belgien, Großbritannien, übrige EU, Japan Deutschland<br />
Nationen Deutschland Frankreich<br />
technologisch Preußen (Berlin) Ruhrgebiet Baden-Württemberg Voralpengebiet evt. Umlandzonen<br />
führende (Stuttgart) (München) süddeutscher Groß-<br />
Region in<br />
Deutschland<br />
städte, Berlin?<br />
2 DIE GESCHICHTE DES INDUSTRIELLEN RUHRGEBIETS<br />
Abb. 2.7<br />
Lange Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />
Quelle: SEDLACZEK 2007 nach STERNBERG 1994<br />
in: GEBHARDT et al. 2007: 667, verändert
Von Tüftlern, Pionieren<br />
und Spionen<br />
Die frühen Industriepioniere <strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong><br />
waren Idealisten <strong>–</strong> von den Ideen technischer Innovationen<br />
besessen (Rother 1998). Zu Ruhm und<br />
Ehren kamen sie oft erst posthum. Ein Beispiel für<br />
ihre oftmals tragisch und ruinös verlaufenen<br />
Schicksale ist der geniale Tüftler Franz Dinnendahl<br />
(1775<strong>–</strong>1826).<br />
Die Pioniere zeigen, dass das endogene Potenzial<br />
zur Industrialisierung <strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong> durchaus<br />
vorhanden war. Es wurde unterstützt durch<br />
einen Technologietransfer, <strong>des</strong>sen spektakulärste<br />
Art <strong>die</strong> Industriespionage war. Die Erfolgsquoten<br />
der Spione sind nicht überliefert <strong>–</strong> sie stellten aber<br />
offensichtlich eine ernst zu nehmende Bedrohung<br />
dar, denn noch in den 1880er-Jahren warnte <strong>die</strong><br />
englische Propaganda vor »minderwertigen deutschen<br />
Billigprodukten« (Weber 2002).<br />
Technologietransfer erfolgte auch durch angeworbene<br />
ausländische Experten, <strong>die</strong> oft zusätzlich<br />
den Kontakt zu dringend benötigten Kapitalgebern<br />
herstellten. Darüber hinaus wanderten Fachkräfte<br />
vor allem aus dem Aachener Revier zu, zum<br />
Beispiel August Thyssen und Leopold Hoesch.<br />
Denn industrielle Pioniertaten waren kostspielig <strong>–</strong><br />
Unwägbarkeiten, wie sie beim Abteufen von<br />
Franz Dinnendahl: Tüftler und Erfinder der Frühindustrialisierung<br />
<strong>Der</strong> Schreiner Franz Dinnendahl (1175<strong>–</strong>1826) interessierte sich<br />
schon früh für <strong>die</strong> Technik der Wasserkünste. Seine Chance zum<br />
Berufswechsel kam unverhofft 1800, als auf der Zeche »Vollmond«<br />
eine Dampfmaschine aus Schlesien, zerlegt in Einzelteile,<br />
angeliefert wird. Es war erst <strong>die</strong> zweite Dampfmaschine, <strong>die</strong><br />
das Ruhrgebiet erreichte und <strong>die</strong> erste, <strong>die</strong> auf einer Steinkohlenzeche<br />
in Betrieb gehen sollte. Franz Dinnendahl sollte das<br />
Maschinenhaus bauen. Doch es kam anders. Nach Wochen<br />
unbefriedigenden Wartens war klar, dass <strong>die</strong> aus Schlesien<br />
angereisten Mechaniker nicht in der Lage waren, <strong>die</strong> einzelnen<br />
Maschinenteile zusammenzusetzen. <strong>Der</strong> Besitzer der Zeche<br />
beauftragte in seiner Not den als Tüftler bekannten Schreiner<br />
Dinnendahl mit dem Zusammenbau. Und tatsächlich: 1802<br />
brachte der »Mechanicus« <strong>die</strong> Dampfmaschine in Gang. Die<br />
Nachricht von <strong>die</strong>ser Sensation machte <strong>die</strong> Runde und als es<br />
Dinnendahl 1803 als Erstem im Ruhrgebiet gelang, eine Dampfmaschine<br />
nachzubauen (Zeche Wohlgemuth, Essen), war sein<br />
Schächten auftraten, führten oft zu finanziellen<br />
Engpässen. Franz Haniels jahrelanger Kampf mit<br />
der Mergelschicht zum Beispiel endete als finanzielles<br />
Desaster, das ihn nur aufgrund der soliden<br />
Finanzlage seines Unternehmens nicht in den Ruin<br />
trieb. Ab der Mitte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts galt daher:<br />
Nur durch <strong>die</strong> Verbindung von Industrie-<br />
und Handelskapital waren <strong>die</strong> erforderlichen Summen<br />
zur Finanzierung industrieller Unternehmen<br />
aufzubringen. Es verwundert also nicht, dass viele<br />
Werke der Montanindustrie mit belgischem und<br />
französischem Kapital gegründet wurden, zum<br />
Beispiel 1853 in Duisburg <strong>die</strong> Phönix-Hütte. Heute<br />
weisen oft nur noch versteckte Zeichen auf<br />
<strong>die</strong>se frühen europäischen Dimensionen der Industrialisierung<br />
hin (Straßen- und Ortsnamen,<br />
Gräber und so weiter).<br />
Die Ruhr, durch Schleusen 1780 von Ruhrort<br />
bis Fröndenberg-Langschede durchgängig schiffbar,<br />
und ihre Kohlenbahnen (Zubringer von den<br />
Zechen) waren <strong>die</strong> frühen Schlagadern <strong>des</strong> Reviers.<br />
<strong>Der</strong> Kohlentransport verhalf der Ruhr in den<br />
1860er-Jahren zum Titel »verkehrsreichster Fluss<br />
Mitteleuropas«. Ruhrort entwickelte sich zu Lasten<br />
von Mülheim zum bedeutendsten Umschlagplatz<br />
der Ruhrkohlen und zwangsläufig wurde <strong>die</strong><br />
Ruhr zum Standortfaktor für <strong>die</strong> Montanindustrie.<br />
Hinderlich blieb <strong>die</strong> Witterungsabhängigkeit<br />
Ruf gefestigt. 1806 kam dann sein Durchbuch: Er kombinieret<br />
eine Dampfmaschine mit einer Förderpumpe, sodass nur noch<br />
ein Dampfkessel benötigt wurde. 1807 gründete er seine<br />
eigene Dampfmaschinenfabrik in Essen, <strong>die</strong> später nach Rellinghausen<br />
verlegt wurde. Mit 60 Arbeitern fertigte er bald Dampfmaschinen<br />
fast schon in Serie. 1811 wurde dann erstmalig Kohle<br />
mit einer Dampfmaschine gefördert: Sie kam aus der Dinnendahlschen<br />
Fabrik. Als <strong>die</strong>se 1818 <strong>–</strong> damals europaweit völlig<br />
innovativ <strong>–</strong> mit Gas beleuchtet wurde, konnte endlich auch im<br />
Dunkeln produziert werden. Doch <strong>die</strong> Wende zum Schlechten<br />
kam 1821: Ein Feuer zerstört <strong>die</strong> Maschinenfabrik und da Feuerversicherungen<br />
noch nicht üblich waren, war Dinnendahls Bankrott<br />
besiegelt. Er konnte der weiterhin kapitalkräftigen Konkurrenz<br />
aus Gutehoffnungshütte (Oberhausen) und Harkortscher<br />
Maschinenfabrik (Wetter) nichts mehr entgegensetzen und starb<br />
verarmt im Jahr 1826.<br />
INDUSTRIEPIONIERE<br />
2 41
Tatort Sheffield <strong>–</strong> Industriepioniere als Spione<br />
Wie wichtig den Industriepionieren jener Zeit das Auskundschaften<br />
englischer Produktionsverfahren war, zeigt sich daran,<br />
dass viele bereit waren, das mit der Spionage verbundene<br />
Lebensrisiko (To<strong>des</strong>strafe!) einzugehen. Eberhard Hoesch,<br />
Industriepionier aus dem Raum Düren und geistiger Vater der<br />
Hoesch-Werke in Dortmund, reiste 1823, getarnt als Kaufmann<br />
für Fabrikmaschinen, in das pulsierende Sheffield. Sein Ziel:<br />
das Auskundschaften <strong>des</strong> 1784 von Henry Corte erfundenen<br />
Puddelverfahrens. Als er enttarnt wurde, entging er den wütenden<br />
Stahlarbeitern nur durch ein Versteck in einem nicht angeblasenen<br />
Ofen. Als <strong>die</strong>ser Stunden später in Betrieb genommen<br />
wurde, half ihm nur eine halsbrecherische Flucht durch <strong>die</strong> engen<br />
Gassen Sheffields. Mit Hilfe eines französischen Kapitäns konnte<br />
er schließlich <strong>die</strong> Insel verlassen. <strong>Der</strong> Lohn der verbotenen Mühen:<br />
Bereits ein Jahr später baute Hoesch in Lendersdorf bei Düren<br />
sein eigenes Puddelwerk.<br />
42<br />
(Transportstillstände durch Hoch- und Niedrigwasser,<br />
Eisgang), sodass nach dem Aufkommen<br />
der Eisenbahn <strong>die</strong> Ruhrschifffahrt ab 1873 bedeutungslos<br />
wurde und sie 1890 bei Essen ganz eingestellt<br />
wurde.<br />
Das traditionelle Kulturlandschaftsbild an<br />
Emscher und Ruhr blieb bis 1830 von der Industrialisierung<br />
noch weitgehend unberührt. Die<br />
Kleinzechen im Ruhrtal mit Schwerpunkt um Witten<br />
waren landschaftlich kaum beeinflussend,<br />
ebenso wie <strong>die</strong> seltenen und wirtschaftlich kaum<br />
bedeutenden Eisenhütten. Arbeitsmigration und<br />
sektoraler Wandel spielten noch keine Rolle.<br />
»Take-off« zur Industrialisierung<br />
<strong>des</strong> <strong>Ruhrgebiets</strong><br />
Zwei Ereignisse wirkten wenig später auf <strong>die</strong> Industrialisierung<br />
im Ruhrgebiet wie eine Initialzündung:<br />
das erfolgreiche Durchteufen der Mergelschicht<br />
durch Franz Haniel und <strong>die</strong> Einführung<br />
<strong>des</strong> Kokshochofens 1849 auf der Friedrich-Wilhelms-Hütte<br />
in Mülheim. <strong>Der</strong> Bergbau erschloss<br />
daraufhin ab 1840 <strong>die</strong> Fettkohlen der Hellwegzone,<br />
ab 1857 auch den Emscherraum und <strong>die</strong> Rheinzone.<br />
Die Zeit glich dem Goldrausch in Alaska:<br />
Auf der Suche nach dem »Schwarzen Gold« schossen<br />
Zechen wie Pilze aus dem Boden. Aber das<br />
2 DIE GESCHICHTE DES INDUSTRIELLEN RUHRGEBIETS<br />
Auch ein gewisser Alfred Krupp reiste 1838 inkognito nach<br />
England. Da er jedoch der Sprache nicht mächtig war, flog seine<br />
Tarnung als englischer Landadeliger rasch auf, ohne dass er<br />
wesentliche Neuigkeiten erfahren hätte. Krupp verließ sich nachfolgend<br />
auf sein eigenes Talent und erfand auch ohne Industriespionage<br />
1847 <strong>die</strong> erste Gussstahlkanone. Im Krieg 1870/71<br />
machte er daraufhin Karriere als »Kanonenkönig«, ein Titel, den<br />
seine Nachfolger in den Weltkriegen zu verteidigen wussten.<br />
Krupps Geschützen, so <strong>die</strong> Überlieferung, sei es zu verdanken,<br />
dass 1871 <strong>die</strong> Franzosen besiegt wurden.<br />
Jacob Mayer, Krupps schärfster Konkurrent vom Bochumer<br />
Verein, ging bei seiner Spionage offensiver vor. Er verdingte sich<br />
1835 als Industriearbeiter in England und floh unter ähnlichen<br />
Umständen wie Jahre zuvor sein Kollege Hoesch mit französischer<br />
Hilfe. Mayers Erfolg: Schon 1836 gelang ihm in Bochum <strong>die</strong> Herstellung<br />
von Gussstahl <strong>–</strong> vor seinem Essener Widersacher Krupp.<br />
allgemeine »Gründungsfieber« führte durch Überproduktion,<br />
Spekulation und zweifelhaftes Geschäftsgebaren<br />
zur ersten handfesten Wirtschaftskrise<br />
<strong>des</strong> noch jungen Reviers (1857). Wenig später<br />
wurden bereits <strong>die</strong> ersten Zechen in der Ruhrzone<br />
stillgelegt, da <strong>die</strong> Aufgabe <strong>des</strong> Direktionsprinzips<br />
zu einer verschärften Konkurrenz und Überproduktion<br />
führte. Erst der siegreiche deutsch-französische<br />
Krieg und mit ihm <strong>die</strong> hohen französischen<br />
Reparationsleistungen führten zu einem<br />
erneuten Aufschwung und einer zweiten Gründungswelle.<br />
Beweisen, dass Unmögliches möglich ist<br />
Am linken Niederrhein war es erneut Franz Haniel,<br />
der sich als Pionier betätigte. Entgegen der<br />
verbreiteten Meinung, <strong>die</strong> Steinkohle setze sich<br />
westlich <strong>des</strong> Rheins nicht fort, teufte er auf seinem<br />
Gut in Homberg Schacht Rheinpreußen I ab. Die<br />
massive Malakoffturm-Bauweise war zeittypisch;<br />
Haniel-typisch visionär war <strong>die</strong> Lage am Rhein.<br />
Erst nach seinem Tod kam Schacht II 1875 nach<br />
zehnjähriger Arbeit zur Förderung <strong>–</strong> Schacht I erst<br />
nach 27 Jahren 1884! Aber durch den neuerlich<br />
von ihm erbrachten Beweis, dass scheinbar Unmögliches<br />
doch möglich ist, begann gegen Ende<br />
<strong>des</strong> 19. Jahrhunderts <strong>die</strong> bergbauliche Erschließung<br />
<strong>des</strong> linken Niederrheins. Gleichzeitig wurden
Haniels Erfahrungen mit den Schwimmsanden<br />
wegweisend für alle späteren Abteufarbeiten in<br />
ähnlich gelagerten Gebirgen weltweit.<br />
Nach 1850 wurde <strong>die</strong> Eisenindustrie zum<br />
zweiten Pfeiler der <strong>Ruhrgebiets</strong>wirtschaft, denn das<br />
Problem der mangelhaften Koks- und Erzbasis<br />
war gelöst. Seit 1854 wurde das heimische »Blackband«<br />
(karbonische Kohleneisensteine) im Puddelverfahren<br />
zusammen mit Importen aus dem<br />
Lahn-Sieg-Gebiet und dem Steinkohlenkoks in<br />
den Hochöfen eingesetzt (Kapitel 1). Technische<br />
Innovationen, wie das Bessemerverfahren in<br />
Deutschland 1861 durch Alfred Krupp und der<br />
Dampfhammer (Abb. 2.8), steigerten <strong>die</strong> Produktionsmengen<br />
sprunghaft.<br />
Die Hütten zog es nun aus Kostengründen weg<br />
von den Standortfaktoren der Mittelgebirge (Erz,<br />
Holzkohle, Wasser) hin zur Steinkohle in der Hellwegzone.<br />
Die Standorttheorie Alfred Webers<br />
(1909) erklärt <strong>die</strong>ses auf den unterschiedlichen<br />
Transportkosten der Materialien beruhende Phänomen:<br />
Zur Produktion einer Tonne Eisen wurde<br />
mehr Kohle als Eisenerz benötigt, daher war es<br />
rentabler, Eisenhütten »auf der Kohle« zu errichten<br />
und das Eisenerz zu transportieren als <strong>die</strong> früh<strong>industriellen</strong><br />
Hüttenstandorte »auf dem Erz« beizubehalten<br />
und <strong>die</strong> Kohle zu befördern. Allerdings<br />
gibt es im Ruhrgebiet von <strong>die</strong>ser Regel zwei Ausnahmen:<br />
� Bei der Gründung der Eisenhütten im Raum<br />
Duisburg in den 1840er- und 1850er-Jahren<br />
konnte dort noch keine Kohle gefördert werden.<br />
<strong>Der</strong> Standortfaktor ist hier <strong>die</strong> überragende<br />
Transportgunst von Rhein (Erze) und<br />
Ruhr (Kohlen).<br />
� Die bereits im 18. Jahrhundert im Oberhausener<br />
Raum entstandenen Keimzellen der<br />
Gutehoffnungshütte gründen auf dem Standortfaktor<br />
Raseneisenstein (Abb. 2.4, Spethmann<br />
1995).<br />
In jeder Hinsicht wurde das Transportwegenetz<br />
zunehmend bedeutender für <strong>die</strong> industrielle<br />
Standortwahl. Suchten <strong>die</strong> Hüttenwerke zunächst<br />
noch <strong>die</strong> Nähe zu den vorhandenen Infrastrukturen<br />
nahe der Hellwegstädte, zum Beispiel Krupp in<br />
Essen, Thyssen in Mülheim, Bochumer Verein in<br />
Bochum und Westfalia und Union in Dortmund<br />
(Blotevogel, Butzin & Danielzyk 1988), wurde<br />
wenig später der Aufbau <strong>des</strong> Eisenbahnnetzes<br />
ganz an den Bedürfnissen der Zechen und Hüttenwerke<br />
orientiert. Die von David Hansemann<br />
umgesetzte Vision Harkorts von einer Fernverkehrsstrecke<br />
durch das Emschertal (Köln-Mindener-Eisenbahn<br />
1849) führte aus wirtschaftlichem<br />
Gewinnstreben durchs Emschertal und nicht infolge<br />
der Reliefgunst (SPETHMANN 1995). Zu Entwicklungszentren<br />
der kommenden Raumerschlie-<br />
Abb. 2.8<br />
Alfred Krupps Dampfhammer<br />
»Fritz«(1861).<br />
Von Zeitgenossen als<br />
Weltwunder bezeichnet,<br />
symbolisiert der Dampfhammer<br />
den Erfinderund<br />
Pioniergeist der<br />
Unternehmer aus der<br />
Gründungsphase <strong>des</strong><br />
<strong>Ruhrgebiets</strong>. Foto:<br />
ThyssenKrupp Archiv
44<br />
ßung wurden damit <strong>die</strong> Werke und Zechen der<br />
Emscherzone und deren Eisenbahnverbindungen.<br />
Die Folge: An Bahnknotenpunkten wie Oberhausen<br />
entstanden Industriedörfer aus dem Nichts.<br />
Die sieben wichtigsten Eisenbahnstrecken verliefen<br />
analog zu den west-östlichen Strukturzonen. Die<br />
Nord-Süd-Ausrichtung <strong>des</strong> Schienennetzes blieb<br />
demgegenüber unterentwickelt.<br />
Lange Zeit blieb <strong>die</strong> Eisenbahn der wichtigste<br />
Motor der Industrialisierung und <strong>die</strong>s nicht nur<br />
wegen ihres Schienennetzes: ihre Konjunktur selbst<br />
war hauptverantwortlich für <strong>die</strong> Produktionssteigerungen<br />
in der Montanindustrie nach 1850. Eisenbahnschienen<br />
umfassten in den 1870er-Jahren<br />
Dreiviertel <strong>des</strong> Inlandabsatzes bei Stahl (Weber<br />
1990). Die Eisenbahn erschloss neue Absatzmärkte<br />
entlang <strong>des</strong> Streckennetzes und schuf erstmals<br />
von physisch-geographischen Gegebenheiten unabhängige<br />
Standortfaktoren.<br />
Neben der Eisenbahn bekam der Rhein aufgrund<br />
der Rohstoffbeziehungen für <strong>die</strong> Hüttenindustrie<br />
überragende Bedeutung. Nur hier hatten<br />
<strong>die</strong> Hüttenwerke bereits bis 1870 eine landschaftliche<br />
Bedeutung (Spethmann 1995). Auch <strong>die</strong><br />
Chemische Industrie bevorzugte schon früh den<br />
Rhein als Wasserversorger und Transportweg<br />
(1838 Mathes & Weber Duisburg-Hochfeld, Sachtleben-Chemie<br />
Homberg), ähnlich wie spätere<br />
Weltkonzerne weitere stromaufwärts, zum Beispiel<br />
Bayer und BASF.<br />
Die soziale Frage<br />
Vielfach wird übersehen, dass <strong>die</strong> Industrialisierung<br />
nicht nur ein rein technologisch-wirtschaftlicher<br />
Prozess war, sondern dass es sich um eine tief<br />
greifende wirtschaftliche und soziale Umwälzung<br />
handelte. <strong>Der</strong> Verlust traditioneller Sicherheiten<br />
durch Auseinanderbrechen der funktionierenden<br />
sozialen Netze wurde zum sozialen Massenkennzeichen.<br />
Bislang nicht gekannten Binnenwanderungen<br />
in <strong>die</strong> Industriegebiete führten dort zur<br />
Verelendung breiter Massen (Pauperismus). Als<br />
Reaktion wurde lange Zeit wenig erfolgreich <strong>die</strong><br />
Diskussion der »sozialen Frage« geführt (Knappenvereine<br />
als sozialpolitisches Sprachrohr der<br />
Bergleute) und Streiks (1872, 1889, 1905, 1912,<br />
2 DIE GESCHICHTE DES INDUSTRIELLEN RUHRGEBIETS<br />
siehe Abschnitt »Rheinhausen muss leben! Erinnerungen<br />
an Solidarität und Arbeitskämpfe«). Wenn<br />
auch unternehmerische Eigeninitiativen noch <strong>die</strong><br />
Ausnahme blieben, sollen doch <strong>die</strong> sozialen Pionierleistungen<br />
Alfred Krupps erwähnt werden:<br />
1853 richtete er einen Vorläufer der späteren »Konsum-Anstalten«<br />
ein, 1856 verpflichtete er seine<br />
Arbeiter zum Eintritt in <strong>die</strong> eigene Betriebskrankenkasse,<br />
<strong>die</strong> 1836 gegründet worden war. Krupps<br />
Ziel war aber vor allem <strong>die</strong> stärkere Bindung seiner<br />
Arbeiter an den Betrieb: Lehnten sich <strong>die</strong>se gegen<br />
ihren »Patriarchen« auf, verloren sie Arbeit und<br />
Fürsorgeleistungen wie verbilligte Wohnungen<br />
oder <strong>die</strong> Betriebsrente. Um jegliche Rebellion zu<br />
unterbinden wurde 1872 <strong>–</strong> übrigens als Reaktion<br />
auf einen von den Sozialdemokraten unterstützten<br />
Generalstreik <strong>–</strong> das Kruppsche »Generalregulativ«<br />
verabschiedet. Es regelte <strong>die</strong> Rechte und Pflichten<br />
der »Kruppianer« minutiös. Die Sozialdemokraten<br />
waren vielen Industriebaronen ein Dorn im<br />
Auge. Immerhin betrachteten sie <strong>die</strong> Arbeiter als<br />
ihr Eigentum <strong>–</strong> als Leibeigene im Zeitalter der<br />
Industrialisierung.<br />
So ist auch der bereits vor 1870 vereinzelt<br />
beginnende Werkssiedlungsbau <strong>–</strong> im großen Stil<br />
erst nach der Reichsgründung <strong>–</strong> vorrangig als betriebliche<br />
Notwendigkeit und weniger als soziale<br />
Großzügigkeit zu verstehen. Er <strong>die</strong>nte der Kontrolle<br />
der Arbeiter und dem Erhalt einer Stammbelegschaft.<br />
Gutehoffnungshütte, Bochumer Verein<br />
und Krupp <strong>–</strong> bezeichnenderweise waren es<br />
<strong>die</strong> Hüttenwerke, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ersten Siedlungen bauten,<br />
obwohl <strong>die</strong> Zechensiedlungen später zahlenmäßig<br />
überwogen (Günter 1995, Wehling 1990). Die<br />
Wohnungen waren dürftig ausgestattet, stellten<br />
aber doch eine Qualitätsverbesserung zu den sonst<br />
üblichen dar. Architektonisches und planerisches<br />
Vorbild für <strong>die</strong> frühen Werkssiedlungen waren<br />
<strong>die</strong> englischen und französischen Bergarbeiterkolonien<br />
(Saltaire 1851, Bourneville 1879). Ihre<br />
Konzepte wurden modifiziert, um <strong>die</strong> extrem negativen<br />
Verhältnisse vor allem der englischen Arbeiterquartieren<br />
(gartenlose Back-to-back-houses)<br />
nicht ins Ruhrgebiet zu übernehmen. So hat Howards<br />
Gartenstadtidee nicht von ungefähr <strong>die</strong><br />
deutlichsten Einflüsse im Werkssiedlungsbau <strong>des</strong><br />
<strong>Ruhrgebiets</strong> hinterlassen.