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Zivilschutz-Forschung - Neue Folge Bd.42 - - Schutzkommission

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<strong>Zivilschutz</strong>-<br />

<strong>Forschung</strong><br />

Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />

Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band 42<br />

45., 46. und 48. Jahrestagung<br />

der <strong>Schutzkommission</strong><br />

beim Bundesminister des Innern<br />

- Vorträge -<br />

ISSN 0343-5164


ZIVILSCHUTZFORSCHUNG<br />

<strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band 42<br />

2


<strong>Zivilschutz</strong>-<br />

<strong>Forschung</strong><br />

Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />

Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band42<br />

45., 46. und 48. Jahrestagung<br />

der <strong>Schutzkommission</strong><br />

beim Bundesminister des Innern<br />

– Vorträge –<br />

Nürnberg 16. – 18. Mai 1996<br />

Freiburg 08. – 10. Mai 1997<br />

Freiburg 13. – 15. Mai 1999<br />

ISSN 0343-5164<br />

3


Herausgeber: Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>,<br />

Deutschherrenstr. 93–95, 53117 Bonn<br />

Telefon: (02 28) 9 40-0<br />

Telefax: (02 28) 9 40-14 24<br />

Internet: http://www.bzs.bund.de<br />

Die Vorträge geben die Meinung der Autoren wieder. Sie stellen keine<br />

Äußerung des Herausgebers dar und sind auch nicht als solche auszulegen.<br />

© 2000 by Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>, Bonn<br />

Satz und Druck: Medienhaus Froitzheim AG, Bonn, Berlin<br />

4


Inhalt<br />

Vorträge ’96<br />

Eröffnung der 45. Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

Grußwort des Bundesminister des Innern und Vorstellung des<br />

Regierungsentwurfs des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />

Rüdiger Kass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

Der „kundenorientierte“ Ansatz im Zivil- und Katastrophenschutz<br />

Das Beispiel der Federal Emergency Management Agency (FEMA)<br />

in den USA<br />

Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Die übrigen gehaltenen Vorträge dieser Jahrestagung wurden in den<br />

folgenden Gefahrenbericht aufgenommen.<br />

Gefahrenbericht – Mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei<br />

Großkatastrophen und im Verteidigungsfall – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />

Vorträge ’97<br />

Eröffnung der 46. Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

Zum Gedenken an Klaus Friedberg<br />

Gerhard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />

Grußworte des Bundesministers des Innern<br />

Gerhard Siegele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

Die <strong>Neue</strong> NATO – aktuelle Entwicklungen und Perspektiven<br />

Hermann Freiherr von Richthofen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Fachliche Perspektiven des BMBau im Bereich des baulichen<br />

Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

H. Bong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

<strong>Zivilschutz</strong> und Katastrophenschutz aus der Sicht der Länder<br />

Heinrich Klingshirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

5


Fachlich-wissenschaftliche Schwerpunkte der Umsetzung des<br />

Gefahrenberichts und Perspektiven für künftige <strong>Forschung</strong>saktivitäten<br />

im <strong>Zivilschutz</strong><br />

Willy B. Marzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />

Konzeptionelles Vorgehen aus Sicht der medizinischen Versorgung<br />

im Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong><br />

Ernst Rebentisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />

Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle – Arzneimittel im<br />

Katastrophenfall –<br />

Wolfgang Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Empfehlungen zur Bevorratung von Medikamenten für den<br />

Katastrophenschutz und <strong>Zivilschutz</strong><br />

B. Domres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

Möglichkeiten und Grenzen des Schutzes vor B-Terrorismus<br />

Torsten Sohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />

<strong>Neue</strong>s Konzept zur Zivilverteidigung in Israel<br />

H. Reichenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179<br />

Die elektromagnetische Verträglichkeit komplexer für den<br />

<strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />

Jan Luiker ter Haseborg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187<br />

Task-Force für große Chemieunfälle und Brände<br />

Gerhard Matz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201<br />

Läßt sich über Zivil- und Katastrophenschutz mit dem Bürger ein<br />

Dialog führen? Praxisrelevante Aspekte aus der Krisen- und<br />

Kommunikationsforschung<br />

Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207<br />

Die Erstellung von Datenbasen als Entscheidungshilfe für die<br />

Regierung, eine Aufgabe für die <strong>Schutzkommission</strong>?<br />

Georg Gerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />

Der Einsatztoleranzwert als Instrument der raschen Gefahrenbewertung<br />

am Brandort und beim Gefahrstoffeinsatz<br />

Klaus Buff, Helmut Greim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221<br />

Sensorik für sicherheitsrelevante Anwendungen<br />

Claus-Dieter Kohl, H. Petig, J. Kelleter, O. Kiesewetter . . . . . . . . . . 229<br />

Gefahrstoff-Detektoren-Array – GDA für Gefahrstoffe nach ETW-Liste<br />

und Kampfstoffe<br />

Gerhard Matz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243<br />

6


Vorträge ’99<br />

Eröffnung der 48. Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255<br />

Zum Gedenken an P. Haxel<br />

Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261<br />

Zum Gedenken an Reinhold Reiter<br />

Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />

Grußworte des Bundesministers des Innern<br />

Klaus-Henning Rosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />

Die ICE-Katastrophe von Eschede – Fakten – Erfahrungen –<br />

Konsequenzen<br />

Ewald Hüls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275<br />

Ergebnisse der Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen der<br />

Effizienzsteigerung der medizinischer Versorgung der Bevölkerung<br />

in Not- und Gefahrenlagen<br />

Ernst Rebentisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />

Schutzdatenatlas<br />

Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303<br />

Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen<br />

Warnung der Bevölkerung – Ausgangssituation der Bevölkerungsfrühwarnung<br />

und Konzepte für zukünftige Warnsysteme –<br />

V. Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315<br />

Notwendigkeit eines Melde- und Einsatzzentrums<br />

Horst Miska. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331<br />

Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337<br />

7


Vorträge ’96<br />

9


Eröffnung der 45.Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann<br />

Liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />

ich begrüße Sie alle zur 45. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> und danke<br />

Ihnen, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind. Ich freue mich besonders,<br />

daß ich mit den Kollegen Prof. Vobruba und Sass zwei neue Mitglieder des<br />

Ausschusses VI in unseren Reihen begrüßen darf. Ich hoffe, daß wir im Verlaufe<br />

der Tagung Gelegenheit haben werden, uns gegenseitig näher kennen<br />

zu lernen.<br />

Ich begrüße ganz herzlich den alten und auch den neuen Präsidenten des<br />

Bundesamts für <strong>Zivilschutz</strong>, Herrn Schuch und Herrn Dusch. Lieber Herr<br />

Schuch, Sie kennen die <strong>Schutzkommission</strong> ja aus früheren Begegnungen<br />

auf Jahrestagungen. Ich hoffe, daß Sie der Arbeit der Kommission in ähnlicher<br />

Weise verbunden sind wie Ihr Vorgänger, der sich unermüdlich für<br />

unsere Belange eingesetzt hat. Daß diese Verbundenheit für die Kommission<br />

weit über das dienstlich Gebotene hinausging und geht, möge Ihnen die<br />

Tatsache beweisen, daß wir uns in diesem Jahr in Nürnberg, nicht allzu weit<br />

entfernt von der neuen Wirkungsstätte von Hans Georg Dusch treffen. Lieber<br />

Hans Georg, für die örtliche Organisation dieser Tagung in Nürnberg<br />

möchte ich Dir im Namen der Kommission, aber auch ganz persönlich meinen<br />

herzlichen Dank aussprechen.<br />

Ich begrüße ganz herzlich unter uns Ministerialdirektor Dr. Kass vom Bundesinnenministerium.<br />

Sie, lieber Herr Kass haben sich – wenngleich nicht<br />

mehr zuständig – dankenswerterweise bereit erklärt, uns über die konkreten<br />

Inhalte und den Gesetzgebungsstand für das unter Ihrer Regie erarbeitete<br />

<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz zu informieren. Das Gesetz wird sicher über<br />

die nächsten Jahre hinweg die Richtung im <strong>Zivilschutz</strong> und in der Kommission<br />

bestimmen, und wir sind natürlich sehr daran interessiert, die neue<br />

Geschäftsgrundlage für den <strong>Zivilschutz</strong> allgemein und die zukünftige Arbeit<br />

der Kommission von Ihnen zu erfahren. Sie lösen damit das Versprechen<br />

ein, das Sie uns anläßlich der Mitgliederversammlung in Ahrweiler gegeben<br />

haben.<br />

Wir selbst haben – wie mit Ihnen besprochen – mit der Erstellung eines<br />

Gefahrenberichts begonnen, in dem unsere gegenwärtige Einschätzung zur<br />

Situation im Zivil- und Katastrophenschutz klar zum Ausdruck kommt. Der<br />

Bericht, der Gegenstand dieser Jahrestagung ist, soll auch deutliche Hinweise<br />

und Empfehlungen zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung<br />

beinhalten und so dazu beitragen, die im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgegesetz<br />

z.T. noch wenig konkret beschriebenen Rahmenbedingungen des zukünftigen<br />

<strong>Zivilschutz</strong>es zu tragfähigen Lösungen fortzuentwickeln. Wir beabsichtigen,<br />

die Ergebnisse der Diskussion des jetzt vorliegenden Berichts in<br />

11


dessen Endfassung mit zu berücksichtigen. Dies soll noch vor der Sommerpause<br />

der Fall sein. Vom Bundesinnenministerium und vom Bundesamt<br />

für <strong>Zivilschutz</strong> erwarten wir dann allerdings, daß sie zu den aufgeworfenen<br />

Fragen und den Empfehlungen klar Stellung beziehen und daß der im<br />

Bericht aufgezeigte <strong>Forschung</strong>s- und Beratungsbedarf wieder zu einem<br />

gemeinsamen Handeln im Bereich der <strong>Zivilschutz</strong>forschung in der Bundesrepublik<br />

führt. Die Reaktion des Ministeriums wird letztlich auch entscheidend<br />

dafür sein, ob es für die Kommission auch weiterhin sinnvoll<br />

erscheint, für das Ministerium tätig zu sein. Ich wäre dankbar, lieber Herr<br />

Kass, wenn Sie diesen Wunsch der Kommission an Herrn Minister Kanther<br />

weiterleiten würden.<br />

Zum Gefahrenbericht selbst möchte ich an dieser Stelle nicht mehr sagen,<br />

da hierfür im Verlaufe der Tagung noch genügend Gelegenheit besteht.<br />

Eines liegt mir aber doch am Herzen: ich hätte nicht erwartet, daß das Engagement<br />

der Kommission in dieser Sache so hoch ist. Es gingen nach der<br />

Mitgliederversammlung im Oktober letzten Jahres eine so große Zahl von<br />

Stellungnahmen ein, daß es den Mitgliedern der Arbeitsgruppe in kurzer<br />

Zeit gelang, den Ihnen jetzt allen vorliegenden Entwurf des Gefahrenberichts<br />

zu erstellen. Hierfür möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen herzlich<br />

danken. Diese Art der Kooperations- und Einsatzbereitschaft entspricht<br />

zwar ganz dem Geiste der staatsbürgerlichen Verantwortung, deren sich die<br />

Mitglieder der Kommission stets verpflichtet fühlten. Doch ist dies in der<br />

heutigen Zeit nicht selbstverständlich, manche mögen sagen nicht mehr<br />

zeitgemäß. Ein solches Engagement ist auch auf Dauer nicht zu leisten,<br />

ohne eine langfristig tragfähige Geschäftsgrundlage zu haben. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />

hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß die ständige wissenschaftliche<br />

Beschäftigung mir den hier einschlägigen Fragen einen wesentlichen<br />

Bestandteil dieser Geschäftsgrundlage bildet. Diese Voraussetzung<br />

erscheint mir besonders in diesen Zeiten wichtig zu sein, in denen aktives<br />

Handeln des <strong>Zivilschutz</strong>es weitgehend durch planerische Überlegungen<br />

ersetzt werden soll.<br />

Um unsere Arbeit erfüllen zu können, benötigen wir auch in Zukunft eine<br />

weisungsungebundene, wissenschaftliche Geschäftsführung. Bis heute ist<br />

diese Mindestvoraussetzung gegeben. Ich hoffe, daß wir bald verbindliche<br />

Aussagen darüber erhalten, wie es hier weitergehen soll, und wie die<br />

zukünftige Geschäftsgrundlage aussieht.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der <strong>Schutzkommission</strong>: die mit dem<br />

Bericht verbundene Erwartungshaltung ist durchaus groß. Falls es nicht jetzt<br />

gelingt, eine tragfähige Basis für die zukünftige Arbeit zu finden, scheint mir<br />

die Grundlage für die Existenz der Kommission nicht mehr gegeben zu sein.<br />

Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich in einem solchen Fall als Vorsitzender<br />

einfach so weiter machen könnte wie in den letzten Jahren. Dies war letztlich<br />

der Grund dafür, daß wir uns ohne große Beteiligung von außen im Sinne<br />

einer wissenschaftliche Disputation innerhalb der <strong>Schutzkommission</strong> mit<br />

der gegenwärtigen Situation des Zivil- und Katastrophenschutzes ausein-<br />

12


andersetzen. In den Kreis der <strong>Schutzkommission</strong> schließe ich bewußt ein das<br />

Bundesbauministerium, das durch Herrn Bong vertreten ist, und das Bundesamt<br />

für <strong>Zivilschutz</strong>, das uns mit Herrn Dr. Kutschbach einen Experten auf<br />

dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zur Verfügung<br />

gestellt hat. Beide Herren möchte ich in diesem Kreise herzlich<br />

begrüßen.<br />

Meine Damen und Herren, es ist ein Brauch, wichtigen Ereignissen in regelmäßigen<br />

Abständen zu gedenken. Das Jahr 1996 scheint mir das Jahr „zehn<br />

Jahre nach Tschernobyl“ zu sein. Landauf, landab wurde dieses Ereignis in<br />

Erinnerung gerufen und über Wochen und Monate hinweg in unterschiedlichster<br />

Weise bewertet. Ich möchte hier nicht den unwürdigen Streit um die<br />

Zahl der theoretischen und der tatsächlichen Opfer dieser Katastrophe kommentieren.<br />

Jeder einzelne Todesfall verdient unsere Anteilnahme. Auch<br />

möchte ich nicht in den Chor derjenigen einstimmen, die nüchtern distanziert<br />

anhand der jetzt vorliegenden umfassenden Bestandsaufnahme in den<br />

betroffenen Gebieten feststellen, daß alle Aufregungen abgesehen „von ein<br />

paar lästigen, das Gesamtbild etwas störenden Schilddrüsenkarzinomen“,<br />

eigentlich völlig unnötig waren.<br />

Ich möchte Ihnen vielmehr zu diesem Ereignis einige persönliche Eindrücke<br />

vermitteln: Als sich die <strong>Schutzkommission</strong> am 8.Mai 1986 zu ihrer<br />

35. Jahrestagung in Freiburg traf, waren die Eindrücke der Katastrophenfolgen<br />

in unserem Land noch allgegenwärtig und gehörten zu den Fragen<br />

des täglichen Lebens. Es ist interessant, die damaligen Äußerungen aus<br />

heutiger Sicht noch einmal zu lesen. Der damalige Vorsitzende der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />

Herr Kollege Pohlit, der in seiner Funktion als Vorsitzender<br />

des Notfallauschusses der Strahlenschutzkommission unmittelbar mit der<br />

Erarbeitung von Empfehlungen zum Schutze der Bevölkerung befaßt war,<br />

berichtete über die aktuelle Situation der Lageermittlung und -bewältigung<br />

in der Bundesrepublik. Auf dem Hintergrund der Eindrücke des zu diesem<br />

Zeitpunkt etwa eine Woche andauernden Geschehens richtete er sich an die<br />

Kommission mit der Feststellung: „Wäre die Anlage in Tschernobyl nicht<br />

ein Kernreaktor gewesen sondern z. B. ein Werk der chemischen Industrie,<br />

aus dem toxische Substanzen in die Bundesrepublik gelangten, dann hätte<br />

nicht die Strahlenschutzkommission sondern die <strong>Schutzkommission</strong> tätig<br />

werden müssen“. Er fügte dem nicht die bange Frage hinzu: „Und was<br />

dann?“ Ich kann mich aber noch gut daran erinnern, daß sich viele Mitglieder<br />

exakt diese Frage stellten. Sie ist heute noch schwieriger zu beantworten<br />

als vor zehn Jahren.<br />

Der Rektor der Universität Freiburg hat in seiner Begrüßungsansprache vor<br />

zehn Jahren ein zentrales Problem von Tschernobyl angesprochen, nämlich<br />

das der Information der Öffentlichkeit. Er hat über seine Erfahrungen an der<br />

Universität berichtet und die Reaktionen, die durch fehlende Information<br />

bei der Bevölkerung ausgelöst werden können. Er berichtete: „Laufend<br />

kommen Anrufe an; einer ist besorgter als der andere“. Diese Erfahrung aus<br />

dem Mai 1986, weit entfernt vom Unglücksort Tschernobyl im frühlings-<br />

13


haften Freiburg hat sich aus Distanz betrachtet als eines der größten Probleme<br />

bei der Bewältigung der Unglücksfolgen erwiesen. Es gibt viele, die<br />

behaupten, die <strong>Folge</strong>n der durch fehlende oder falsche Information hervorgerufenen<br />

Ängste bei den betroffenen Menschen seien weit gravierender als<br />

die medizinischen <strong>Folge</strong>n der Strahlenbelastung. Tatsache ist, daß viele der<br />

auch noch zehn Jahre nach dem Unglück zu beobachtenden Reaktionen in<br />

der Öffentlichkeit äußerst irrational erscheinen und sicher mehr ausdrücken<br />

als das allgemein bekannte und weit verbreitete Unbehagen gegenüber<br />

allem, was strahlt.<br />

Warum habe ich gerade diese beiden Beispiele von Reaktionen anläßlich<br />

der Jahrestagung von vor zehn Jahren erwähnt? Nun, sie erscheinen mir in<br />

vielfältiger Weise typisch zu sein für die Probleme, die wir beim Umgang<br />

mit Menschen in Extremsituationen erwarten müssen, und die letztendlich<br />

ausschlaggebend sein werden für Erfolg oder Mißerfolg von Maßnahmen<br />

zum Schutz der Menschen. Jede noch so perfekte und in der Sache richtige<br />

Schutzmaßnahme muß zum Scheitern verurteilt sein, wenn sie von den<br />

Betroffenen nicht akzeptiert wird. Da staatlichem Handeln immer und gerade<br />

in Extremsituationen von weiten Teilen der Bevölkerung mit kritischer<br />

Distanz begegnet wird, scheint es mir wichtig zu sein, Konzepte für den<br />

Umgang mit den betroffenen Menschen in solchen Situationen stärker in die<br />

Überlegungen zur Gefahrenabwehr mit einzubeziehen, als dies nach Tschernobyl<br />

der Fall war. Dies gilt sowohl für die Einheiten der Gefahrenabwehr<br />

als auch für die politisch Verantwortlichen. Ich will hiermit nicht die vielfältigen<br />

Anstrengungen sowohl in unserem Lande als auch international zur<br />

Verbesserung der Grundlagen und der technisch-materiellen Voraussetzungen<br />

zur Verhinderung bzw. Bewältigung solcher Ereignisse mindern. Es ist<br />

mir aber, zehn Jahre nach Tschernobyl mehr denn je bewußt geworden, daß<br />

diese sicherlich notwendigen organisatorischen und materiellen Voraussetzungen<br />

nicht hinreichend sind für eine erfolgreiche Abwehr von Gefahren<br />

für die Bevölkerung. Wir müssen den Fragen im Umgang mit der Öffentlichkeit<br />

in Zukunft sicherlich größere Aufmerksamkeit widmen.<br />

Bleibt die Frage von Herrn Pohlit: „Und wie würde die <strong>Schutzkommission</strong><br />

in einem solchen Fall funktionieren oder allgemeiner: wie würde der <strong>Zivilschutz</strong><br />

funktionieren?“.<br />

Meine Begrüßung endet mit dieser Frage.<br />

Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, diese Frage im Verlaufe dieser Tagung<br />

beantworten zu können. Ich danke Ihnen.<br />

14


Grußworte des Bundesministers des Innern<br />

und Vorstellung des Regierungsentwurfs des<br />

<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />

Rüdiger Kass<br />

Vielen Dank, Herr Vorsitzender, für Ihre Einladung zur 45. Jahrestagung<br />

und die freundliche Begrüßung. Auch ich möchte Sie, meine Damen und<br />

Herren von der <strong>Schutzkommission</strong> und die weiteren Anwesenden, herzlich<br />

begrüßen.<br />

Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema „<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz“<br />

komme, gestatten Sie mir zunächst eine persönliche Bemerkung: Der Bundesminister<br />

des Innern hat mir am 1. April 1996 die Leitung der Abteilung<br />

„Bundesgrenzschutz“ übertragen. Damit endete offiziell meine Zuständigkeit<br />

für die zivile Verteidigung und den <strong>Zivilschutz</strong>. Gleichwohl freue ich<br />

mich, heute bei Ihnen sein und mich mit diesem Grußwort von Ihnen verabschieden<br />

zu können.<br />

Bundesminister Manfred Kanther hat mich gebeten, Ihnen seine persönlichen<br />

Grüße zur diesjährigen Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> und<br />

seine besten Wünsche für die weitere Arbeit zu übermitteln.<br />

Ihre diesjährige Tagung ist besonders den Themen des Gefahrenberichts<br />

gewidmet, dessen Erarbeitung Sie bei Ihrem letzten Zusammentreffen im<br />

Herbst vergangenen Jahres beschlossen hatten. Für die Weiterentwicklung<br />

der Gefahrenprävention und Gefahrenrepression wird der Bericht wesentliche<br />

Impulse geben. Es ist ein eindrucksvoller Beweis für Ihr großes persönliches<br />

Engagement, daß die Arbeit an dem Bericht in so kurzer Zeit<br />

soweit vorangekommen ist. Hierfür möchte ich Ihnen – auch im Namen des<br />

Ministers – herzlich danken.<br />

Besonders danken möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der<br />

<strong>Schutzkommission</strong>, auch für Ihren Bericht zum Thema „Chemische Kampfstoffe<br />

in der Ostsee“. Mit der Aufarbeitung dieser komplexen Problematik<br />

hat die <strong>Schutzkommission</strong> der Bundesregierung wertvolle Erkenntnisse und<br />

Entscheidungshilfen an die Hand gegeben. Der Bericht ist Ausdruck des<br />

hohen interdisziplinären Sachverstandes der Kommission und der humanitären<br />

Zielrichtung ihrer Arbeit.<br />

Ich bin Ihrer Einladung sehr gerne gefolgt.<br />

Zum einen möchte ich Ihnen sehr herzlich danken:<br />

– für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen 2 1/2 Jahren, in denen<br />

ich im BMI für die Neuorganisation des <strong>Zivilschutz</strong>es zuständig war;<br />

– für Ihre Aufgeschlossenheit, auf veränderte Rahmenbedingungen für die<br />

Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> einzugehen;<br />

15


– für Ihre Bereitschaft, Ihre fachliche und persönliche Kompetenz in den<br />

Dienst dieser humanitären Aufgabe zu stellen.<br />

In diesen Dank schließe ich ausdrücklich und besonders auch die neuberufenen<br />

Mitglieder der <strong>Schutzkommission</strong> ein.<br />

Zum zweiten möchte ich Ihnen die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es – insbesondere<br />

das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz – erläutern.<br />

Und schließlich möchte ich einige Bemerkungen zur weiteren Arbeit der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> machen.<br />

Meine Damen und Herren<br />

am 23. April 1996 hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf für ein <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />

beschlossen und dem Gesetzgeber zur Beratung<br />

und Beschlußfassung übermittelt.<br />

Wir haben in den vergangenen zwei Jahren intensiv an der Neuorganisation<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es gearbeitet. Wir haben viel Überzeugungsarbeit leisten<br />

müssen: gegenüber den Ländern, den Hilfsorganisationen, den politischen<br />

Gremien und nicht zuletzt den von der Reform unmittelbar betroffenen<br />

hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Wir hatten schwierige<br />

Entscheidungen zu treffen, Verkrustungen aufzubrechen und erhebliche<br />

Widerstände zu überwinden.<br />

Ich will dies nicht im einzelnen nachzeichnen, sondern an dieser Stelle<br />

einige generelle Punkte ansprechen, die nicht zivilschutzspezifisch sind,<br />

sondern eher allgemein kennzeichnend für unsere heutige Schwierigkeit,<br />

mit notwendigen Veränderungen umzugehen. In vielen Bereichen, die uns<br />

unmittelbar berühren, gibt es objektive Veränderungszwänge, die sich<br />

unmittelbar auf unsere persönlichen Lebensverhältnisse auswirken: Ich<br />

nenne beispielhaft<br />

– die weltpolitischen Veränderungen nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation<br />

– die Wiedervereinigung unseres Landes<br />

– die weltweiten Wanderungsströme<br />

– die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen, die sich auf<br />

unsere wirtschaftliche Situation nachhaltig auswirken<br />

– die veränderten sicherheitpolitischen Rahmenbedingungen – international<br />

und national: vom Jugoslawien-Konflikt bis zur Kurdenproblematik,<br />

von der organisierten Kriminalität bis zur Sicherheit von Castor-Transporten.<br />

Dies ist natürlich keine abschließende Aufzählung. Aber dies alles bedeutet<br />

vielfältigen Veränderungsstreß für viele Menschen in unserem Lande. Ich<br />

16


denke, es wird entscheidend sein, wie wir alle mit diesen Veränderungen<br />

umgehen und zurechtkommen.<br />

Konkret geht es dabei um das Infragestellen von Besitzständen, von persönlichen<br />

und beruflichen Gewohnheiten und nicht zuletzt auch von Standorten,<br />

also auch von Wohnorten. Es geht also um Flexibilität und Mobilität<br />

– nicht nur beim anderen, beim Freund und Nachbarn, sondern in vielen<br />

Fällen bei uns selbst.<br />

Das ist – kurz umrissen – das zentrale politische Problem unserer Tage: wie<br />

wir uns auf notwendige Veränderungen einlassen. Der <strong>Zivilschutz</strong> steht<br />

insofern zur Zeit nicht im Vordergrund, die anstehende Neuorganisation des<br />

Bundesgrenzschutzes, der mit seinen 40 000 Angehörigen bei einem Haushaltsvolumen<br />

von 3 Milliarden DM als Polizei des Bundes eine wichtige<br />

Aufgabe bei der Inneren Sicherheit unseres Landes zu erfüllen hat, ist dagegen<br />

von aktueller Bedeutung.<br />

Zurück zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es. Wir waren von der Richtigkeit<br />

unseres Weges und der Notwendigkeit der Veränderungen überzeugt. Und<br />

wir standen unter einem erheblichen Druck, Haushaltseinsparungen zu<br />

erzielen.<br />

Worum geht es konkret?<br />

– Es geht darum, die gesamte <strong>Zivilschutz</strong>materie in einem einzigen Gesetz<br />

zusammenzufassen. Das alte Recht ist unübersichtlich und unsystematisch<br />

in drei verschiedenen Gesetzen geregelt. Das neue Gesetz dient auch<br />

der Rechtsbereinigung und der Verwaltungsvereinfachung und ist somit<br />

ein wichtiger Beitrag zum „Schlanken Staat“ – einer Schwerpunktaufgabe<br />

für diese Legislaturperiode. Ziel ist es, staatliches Handeln effizienter zu<br />

machen, auf das notwendige Maß zu beschränken und Kosten zu senken.<br />

Die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es und der vorliegende Gesetzentwurf<br />

werden diesen Vorgaben in besonderer Weise gerecht.<br />

– Es geht darum, eine engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es, für den der<br />

Bund zuständig ist, mit dem friedensmäßigen Katastrophenschutz, für<br />

den die Länder zuständig sind, zu erreichen. Unter Verzicht auf bisherige<br />

Sonderstrukturen bei Organisation, Ausbildung und Instandsetzung<br />

akzeptiert der Bund zukünftig die von den Ländern für ihren Katastrophenschutz<br />

geschaffenen Strukturen und beschränkt sich darauf, diese für<br />

Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es durch Beschaffung spezieller Ausstattung und<br />

durch Finanzierung zivilschutzbezogener Ausbildungsinhalte im Rahmen<br />

einer integrierten Katastrophenschutzausbildung zu ergänzen. Der Bund<br />

konzentriert diese Ergänzungsmaßnahmen auf die im <strong>Zivilschutz</strong>fall<br />

besonders wichtigen Bereiche Brandschutz, Sanitätswesen, Betreuung<br />

und ABC-Schutz. Der Bund verzichtet zukünftig auf die Aufstellung<br />

besonderer <strong>Zivilschutz</strong>einheiten.<br />

– Es geht um eine Zusammenfassung der für den <strong>Zivilschutz</strong> zuständigen<br />

Behörden und nicht zuletzt um die Auflösung des Bundesverbandes für<br />

den Selbstschutz.<br />

17


– Für den Bereich der Bergung hält der Bund weiterhin das Technische<br />

Hilfswerk vor, das den Katastrophenschutz der Länder und Kommunen<br />

verstärkt.<br />

– Das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> wird auch in Zukunft für die technisch<br />

wissenschaftliche <strong>Zivilschutz</strong>forschung und die Auswertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />

zuständig sein. Darüber hinaus wird der Bereich der<br />

Ausbildung künftig ein besonderer Schwerpunkt des Amtes sein. Die<br />

Aufgaben der verschiedenen Ausbildungseinrichtungen im Bereich des<br />

<strong>Zivilschutz</strong>es werden in einer zentralen Ausbildungsstätte des Bundes<br />

beim BZS zusammengefaßt.<br />

– Der Selbstschutz soll neu geordnet werden, als verteidigungsbezogene<br />

Vorsorge bleibt er in der Verantwortung der Gemeinden. Der Bundesverband<br />

für den Selbstschutz soll mit Wirkung vom 1. Januar 1997 durch eine<br />

Bestimmung des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes aufgelöst werden; d.h.<br />

das Gesetz muß noch im Laufe dieses Jahres in Kraft treten.<br />

Ich will gar nicht verschweigen, daß die beabsichtigte Auflösung des Bundesverbandes<br />

für den Selbstschutz zunächst auf erhebliche Widerstände<br />

stieß. Der kostenaufwendige Verband ist jedoch nach den Erfahrungen der<br />

letzten Jahre entbehrlich geworden. Wir können dem Selbsthilfegedanken<br />

eine breitere Akzeptanz dadurch verschaffen, daß die allgemein bekannten<br />

Sanitätsorganisationen ihre Erste-Hilfe-Ausbildung um selbstschutzbezogene<br />

Inhalte erweitern und dafür vom Bund eine gezielte finanzielle<br />

Förderung erhalten. Damit unterstützt der Bund gleichzeitig die Maßnahmen<br />

der Länder und Kommunen zur Aufklärung der Bevölkerung<br />

über sachgerechtes Verhalten bei Unglücksfällen und Katastrophen. Die<br />

Auflösung des BVS ist für die Aufgabenerfüllung sinnvoll, sie war<br />

fiskalisch geboten, sie stellt uns allerdings – gerade in diesen Zeiten – vor<br />

schwierige Aufgaben beim Personalabbau, den wir ohne Kündigungen zu<br />

bewältigen haben.<br />

Stichwortartig einige Anmerkungen zu wichtigen Teilbereichen unserer<br />

Reform:<br />

– Die Sicherheitslage und die technische Entwicklung rechtfertigen nicht<br />

mehr die Vorhaltung des aufwendigen und nur für den Verteidigungsfall<br />

bestimmten bundeseigenen Warndienstes – mit 10 Warnämtern, mehreren<br />

Verbindungsstellen zu militärischen Einrichtungen, mit 300 Mitarbeitern<br />

und ca. 1500 Helfern.<br />

18<br />

Dieser bisherige Warndienst soll deshalb aufgelöst werden. Stattdessen<br />

wird sich der Bund künftig auch in diesem Bereich auf das Potential stützen,<br />

das Bund und Länder für Notfälle im Frieden vorhalten; die Länderbehörden<br />

führen die verteidigungsbezogene Warnung dann im Auftrag<br />

des Bundes durch. Dabei wird die Warnung über Rundfunk und Fernsehen<br />

im Vordergrund stehen.


– Die Schutzraumbauförderung wird eingestellt. Das neue Schutzbaurecht<br />

wird beschränkt auf die Erhaltung und die Verwaltung der mit öffentlichen<br />

Mitteln bereits gebauten oder geförderten Schutzräume. Der Schutzraumbau<br />

ist immer ein Torso geblieben; große Teile des Schutzbaugesetzes<br />

von 1965 sind nie in Kraft getreten; eine Schutzbaupflicht hat es<br />

somit weder für den Bürger noch für den Staat jemals gegeben. Die bisherigen<br />

außerordentlich teuren Förderungsmaßnahmen des Staates haben<br />

Schutzräume für gerade einmal drei bis vier Prozent der Bevölkerung<br />

geschaffen. Angesichts der gegenwärtigen Sicherheits- und Finanzsituation<br />

ist eine solche immens teure, aber letztlich ineffektive Schutzraumbauförderung<br />

nicht mehr zu rechtfertigen.<br />

– Auf die Bereitstellung spezieller Hilfskrankenhäuser wird im Hinblick auf<br />

die in ausreichendem Maße vorhandenen Behandlungskapazitäten in<br />

Akutkrankenhäusern künftig verzichtet. Auch die Beschaffung von Ausstattungsgegenständen<br />

und ärztlichem Gerät für diesen Zweck wird eingestellt.<br />

Die ungeschützten Objekte sind bereits aus der <strong>Zivilschutz</strong>bindung<br />

entlassen worden; die vorhandenen voll- und teilgeschützten Objekte<br />

werden als Schutzbauwerke in ihrem Bestand erhalten.<br />

– Schließlich ist auch eine dauernde Bevorratung umfangreichen Sanitätsmaterials<br />

angesichts der veränderten Sicherheitslage künftig nicht mehr<br />

notwendig.<br />

Mir ist folgende Feststellung noch besonders wichtig:<br />

Der Bund hält daran fest, daß die freiwilligen Helfer auch in Zukunft das<br />

tragende Element im Zivil- und Katastrophenschutz sind. Hilfsorganisationen<br />

und übrige Einrichtungen des Katastrophenschutzes leben ganz überwiegend<br />

vom ehrenamtlichen Engagement, den Ideen, der Fachkompetenz<br />

und der Einsatzbereitschaft ihrer freiwilligen Helfer. Dieses Engagement<br />

gilt es uneingeschränkt zu sichern – auch durch die Möglichkeit der Freistellung<br />

vom Wehrdienst für junge Männer unter 25 Jahren, die sich für<br />

mindestens sieben Jahre als ehrenamtliche Helfer im Zivil- oder Katastrophenschutz<br />

verpflichten.<br />

Das Ehrenamt ist von herausragender gesellschaftspolitischer Bedeutung.<br />

Ohne das Ehrenamt wären wesentliche Aktivitäten, z.B. in den Bereichen<br />

des Sports, der Kirchen und der Hilfsorganisationen, nicht denkbar. Dies<br />

wird oft übersehen. Es gilt daher, dieses wesentliche sozialpolitische Funktionselement<br />

– mehr als bisher – durch öffentliche Anerkennung seitens der<br />

Politik und der Gesellschaft nachhaltig zu stärken und zu fördern.<br />

Zusammenfassend kann ich feststellen:<br />

– Die Reform des <strong>Zivilschutz</strong>es ist sachlich geboten, sie trägt zugleich den<br />

Notwendigkeiten einer konsequenten Sparpolitik Rechnung. Seit 1992 ist<br />

der <strong>Zivilschutz</strong>etat jährlich um knapp 400 Millionen DM verringert worden,<br />

insgesamt konnten seither mehr als 1,1 Milliarden DM eingespart<br />

werden.<br />

19


– Die Neukonzeption baut überflüssige Bürokratien ab. Die Auflösung<br />

nicht mehr benötigter Einrichtungen und die kritische Durchforstung der<br />

Stellenpläne schafft kleinere aber effektive Verwaltungen. Die bisher vier<br />

<strong>Zivilschutz</strong>behörden des Bundes werden auf nur noch zwei reduziert: Die<br />

Bundesanstalt Technisches Hilfswerk und das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>.<br />

Insgesamt konnten seit 1992 mehr als 1 000 Stellen im Gesamtbereich des<br />

<strong>Zivilschutz</strong>es in Bund und Ländern sozialverträglich abgebaut werden;<br />

der Abbau weiterer rund 800 Stellen ist geplant.<br />

– Diese grundlegende Neustrukturierung des <strong>Zivilschutz</strong>es – ich denke dies<br />

ist durch meine Ausführungen deutlich geworden – war ein politischer<br />

Kraftakt. Natürlich konnten dabei keine Beliebtheitspreise gewonnen<br />

werden. Das Vorhaben beweist jedoch die Fähigkeit zu einer sachlich<br />

begründeten Reform, die dazu dient, staatliche Strukturen veränderten<br />

Rahmenbedingungen anzupassen und sie im Interesse des Ganzen schlanker<br />

und effizienter zu machen.<br />

Meine Damen und Herren<br />

gestatten Sie mir abschließend einige kurze Anmerkungen zur weiteren<br />

Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong>. Ich denke, daß Sie von mir hierzu eine Aussage<br />

erwarten:<br />

– Nach unserem Konzept zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es soll die Beratungsfunktion<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> nicht nur erhalten, sondern eher<br />

verstärkt werden.<br />

20<br />

Wir denken allerdings nicht nur an eine Intensivierung des Status quo,<br />

sondern an eine naheliegende Anreicherung der Aufgabenstellung:<br />

– Wie Sie wissen, gibt es seit 1992 Überlegungen, die Zusammenarbeit von<br />

Bund und Ländern auf dem Gebiet der <strong>Zivilschutz</strong>- und Katastrophenschutzforschung<br />

zu verstärken. Dementsprechend werden die Länder über<br />

die vorgesehenen <strong>Forschung</strong>svorhaben informiert und an den Beratungen<br />

der projektbegleitenden Arbeitsgruppen beteiligt, um eigene fachliche<br />

Aspekte einzubringen. Diese Zusammenarbeit hat sich erfreulich entwickelt.<br />

– Allerdings gibt es noch keine Berücksichtigung von Länderbelangen bei<br />

der Auswahl von <strong>Forschung</strong>sthemen und auch keine Durchführung<br />

gemeinsamer <strong>Forschung</strong>sprojekte. Wir alle wissen, daß solche Überlegungen<br />

rasch auch Fragen einer anteiligen Finanzierung aufwerfen.<br />

– Ich habe keine Patentlösung. Aber ich hielte weitere Überlegungen und<br />

gemeinsame Anstrengungen für sinnvoll, um die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in ihrer Aufgabenstellung, in ihrem Selbstverständnis und vielleicht<br />

auch in ihrer organisatorischen Zuordnung so anzureichern, daß<br />

nicht nur zivilschutz- sondern auch katastrophenschutzbezogene Themen<br />

und Gefahrenlagen bewußt einbezogen werden.


– Wir haben über diesen Punkt in der letzten Abteilungsleiter-Konferenz<br />

aus Bund und Ländern Ende März in Dresden – im sogenannten Arbeitskreis<br />

V der Innenministerkonferenz – sehr konstruktiv diskutiert.<br />

– Ich möchte Sie, meine Damen und Herren der <strong>Schutzkommission</strong>, ausdrücklich<br />

ermuntern, diese Überlegungen auch Ihrerseits konstruktiv aufzunehmen.<br />

Für die <strong>Schutzkommission</strong> eröffnen diese Überlegungen:<br />

– eine weiterreichende Perspektive für Ihre Arbeit<br />

– einen deutlich höheren fachlichen Stellenwert im Bereich der Gefahrenprävention<br />

und Gefahrenabwehr<br />

und schließlich:<br />

– auch eine stärkere öffentliche Wahrnehmung und Beachtung Ihrer<br />

Arbeit.<br />

Herr Vorsitzender,<br />

meine Damen und Herren,<br />

mit diesen Bemerkungen möchte ich mich von Ihnen verabschieden. Mein<br />

bevorzugtes Arbeitsfeld in der nächsten Zeit werden die vielfältigen und<br />

schwierigen Probleme des Bundesgrenzschutzes sein.<br />

Ich werde dennoch mit Interesse verfolgen, wie der Entwurf des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />

die parlamentarischen Gremien durchläuft und<br />

wie sich die weitere Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> entwickeln wird.<br />

In diesem Sinne danke ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen persönlich<br />

und beruflich alles Gute.<br />

21


Der „kundenorientierte“ Ansatz im Zivil- und<br />

Katastrophenschutz<br />

Das Beispiel der Federal Emergency Management Agency<br />

(FEMA) in den USA<br />

Wolf R. Dombrowsky<br />

Die Ausgangslage<br />

Ende der 80er Jahre, noch während der Amtsperiode Präsident Reagans,<br />

wurde die oberste <strong>Zivilschutz</strong>behörde der Vereinigten Staaten, die Federal<br />

Emergency Management Agency (FEMA), vor die Aufgabe gestellt, ihre<br />

Arbeit grundsätzlich zu überdenken und neu zu definieren. In die veränderte<br />

Außen-, Militär- und Bündnispolitik, die sich von der sogenannten Strategic<br />

Defense Initiative (SDI) und parallelen Abrüstungsverhandlungen<br />

(SALT I, START) mit der UdSSR über eine neue pazifische Orientierung<br />

bis hin zur Modernisierung ganzer Waffensysteme und neuen Aufgabenverteilungen<br />

innerhalb der NATO erstreckte, sollte auch das Zivilverteidigungskonzept<br />

einbezogen werden.<br />

Betrachtet man jedoch die organisatorischen und inhaltlichen Veränderungen,<br />

die die FEMA daraufhin vornahm, so lassen sich nur die wenigsten mit<br />

diesen außen-, sicherheits- und militärpolitischen Vorgaben und den daraus<br />

resultierenden Budgetkürzungen erklären. Statt mit einem bloßen Spar- und<br />

Kürzungsprogramm zu reagieren, entwickelte die FEMA eine grundlegend<br />

neue, eigenständige Politik, die sich am zutreffendsten als kundenorientierte<br />

Servicestrategie kennzeichnen läßt.<br />

Insofern ist es aus heutiger Sicht interessant, daß die „große Politik“ zwar<br />

neue Rahmenbedingungen gesetzt und eine weltweite öffentliche Debatte<br />

über Atomkrieg („star wars“) und Zivilverteidigung initiiert hatte, aber die<br />

FEMA, wie sich im Rückschluß aus ihren Maßnahmen ergibt, ganz anderen<br />

Erfordernissen Rechnung trug. Tatsächlich nämlich stand die FEMA bereits<br />

seit Jahren unter zunehmendem innenpolitischen Druck. Kritik kam von den<br />

Medien, aber auch von den im Zivil- und Katastrophenschutz mitwirkenden<br />

Organisationen und ganz besonders aus der Bevölkerung, von dort also, wo<br />

die FEMA bei Großschadensfällen und Katastrophen in Erscheinung tritt und<br />

Hilfe leisten soll. Die Leistungen wurden durchweg als mangelhaft beurteilt.<br />

Sie galten als unflexibel, bürokratisch, zu spät erbracht, zu kompliziert, unverständlich,<br />

kurz: den Betroffenen nicht oder nur wenig nützlich. Warum also<br />

sollten Bürger eine Einrichtung gutheißen, die ihnen nicht nützt?<br />

Die Reformarbeit der FEMA<br />

„Der erste Schritt war der schwerste“, so FEMA-Deputy Director Harvey<br />

G. Ryland (in einem Gespräch mit dem Autor) zur damaligen Situation:<br />

23


„Wir mußten die Hintertürchen verschließen, damit nicht immer wieder<br />

nach Schuldigen gesucht wurde, vor allem außerhalb, bei den Kritisierenden<br />

selbst. Es ist verlockend, ihnen die Kompetenz abzusprechen, oder sie<br />

als zu begierig und ohne Eigeninitiative darzustellen. Das alles wollten wir<br />

nicht. Wir wollten mit einem Grundsatz erfolgreicher Unternehmensführung<br />

beginnen: Jede Beschwerde ist ein Verbesserungsvorschlag und<br />

alles läßt sich verbessern, verbessern und nochmals verbessern.“<br />

Die FEMA versuchte also, wie ein Unternehmen zu reagieren, das Marktanteile<br />

verliert. Auch dort nützt keine Kundenschelte, sondern nur ein radikaler<br />

innerer Anpassungsprozeß an tatsächliche Kundenwünsche. Beides<br />

aber ließ sich anfangs nicht geeignet zusammenbringen; weder wußte man,<br />

wie angepaßt werden soll, noch woran. Als oberste Behörde war die FEMA<br />

von den Kundenwünschen zu weit entfernt, und die Kritik, auf die man<br />

reagieren wollte und mußte, ließ sich nicht ohne Naherfahrung in Verbesserungen<br />

umsetzen. Zudem war (und ist) die FEMA ein gigantischer Mischkonzern,<br />

der Bundes-und bundesstaatliche Behörden, Schulen und Akademien,<br />

Biblio- und Videotheken, Warn- und Informationsdienste, Fuhr- und<br />

Geräteparks, Rettungs- und Hilfsdienste, Hilfsprogramme, Schutzräume,<br />

eine umfassende Evakuierungsinfrastruktur sowie Maßnahmen und Einsatzmittel<br />

für den Kriegsfall, das Katastrophenmanagement, den Wiederaufbau<br />

(reconstruction) und die Nachsorge (recovery) umfaßt (vgl. Alphabetical<br />

Index). Wie sollte hier „Kundennähe“ erfaßt und bewertet, Nutzen<br />

indiziert werden?<br />

Die Probleme und die Lösungen<br />

Die Lösung der FEMA war ausgesprochen pragmatisch. Man evaluierte nur<br />

jene Bereiche, die wirklich mit „Kunden“ in Berührung kamen, statt den<br />

gesamten „Konzern“ auf einen erst noch zu entwickelnden Prüfstand zu<br />

stellen. Dabei unterstellte man, daß sich aus der Definition von Nutzen<br />

zugleich auch Hinweise auf die Mittel ableiten lassen, mit denen er sich<br />

erzielen läßt.<br />

Mit diesem Blick auf die Klientel von Angeboten fragte sich die FEMA:<br />

1. Welche Hilfen bieten wir welchen „Kunden“ überhaupt an?<br />

2. Wem bieten wir wann welche Hilfe an?<br />

3. Wie bringen wir unsere Angebote zum Kunden?<br />

4. Wie verteilen wir unsere Hilfe vor Ort?<br />

5. Wie kontrollieren wir ihren Nutzen?<br />

Hinter diesen Fragen versteckt sich ein klassisches Schema der nordamerikanischen<br />

Katastrophenforschung, das sogenannte „stage-model“ oder auch<br />

„sequence-pattern-concept“ (vgl. Dombrowsky 1983), nach dem auch die<br />

FEMA ihre Angebote entwickelt hat. Es geht davon aus, daß Notlagen am<br />

24


esten überstanden werden können, wenn Menschen geeignet vorbereitet<br />

sind (preparedness), über Schutzkompetenz und -maßnahmen verfügen<br />

(protection, training), bestmöglich gewarnt und informiert werden (warning<br />

and information) und nach Eintritt eines Schadensereignisses bestmöglich<br />

versorgt (rescue, emergency rescue & relief, mass care) und im Anschluß<br />

mittel- und langfristige Hilfen in Anspruch nehmen können (temporary<br />

rehabilitation, recovery, reconstruction).<br />

Die FEMA strukturierte ihr Evaluierungsprogramm nach dem Muster solcher<br />

Phasen und ließ ihre Mitarbeiter in den bundesstaatlichen Niederlassungen,<br />

aber auch durch wissenschaftliche und kommerzielle Institute<br />

erforschen, welche Probleme in den einzelnen Phasen auftreten:<br />

– Preparedness<br />

Aufgrund hoher Mobilität und zunehmender Individualisierung der Lebensstile<br />

werden die „grass root“-Kenntnisse vor Ort kaum mehr kommuniziert,<br />

so daß zunehmend die basale Alphabetisierung in Selbstschutzkenntnis und<br />

Nachbarschaftshilfe verlorengeht. Einfache Merkblätter oder Broschüren<br />

bleiben zunehmend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Insbesondere<br />

soziale und ökonomische Problemgruppen erweisen sich als uninformiert<br />

und unvorbereitet.<br />

– Protection, Training<br />

Schutzmaßnahmen kosten Geld und Anstrengung. Ihre Wirksamkeit steigt<br />

mit der Integration in komplexere Zusammenhänge, z.B. durch Einbeziehung<br />

in bauliche, konstruktive, technische Maßnahmen, durch tele- oder<br />

medienkommunikative Maßnahmen (vom weather radio über Mobiltelefon<br />

oder Funk) bis hin zu Schutzräumen, Abschaltautomaten für Gas, Wasser,<br />

Strom und den Einbau von Notstromgerät und Redunandanzen. Insbesondere<br />

Trainingsmaßnahmen werden kaum akzeptiert, obgleich ein breites<br />

Angebot besteht. (Ganz anders im Bereich Selbstverteidigung, wo quer<br />

durch alle Bevölkerungsgruppen rege Gebrauch gemacht wird.)<br />

– Warning<br />

Der bundesweit bestausgestattete Bereich. Das traditionell noch immer<br />

„weather radio“ geheißene Alarm- und Informationssystem, das gefahr- und<br />

regionalspezifische Warnungen ausstrahlt und Radio- wie Fernsehempfänger<br />

automatisch einschalten kann (mit einem Zusatzgerät für ca. 20 $), wird<br />

grundsätzlich in allen Schulen, Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden<br />

eingesetzt. In alle laufenden Sendungen werden Warnungen und Informationen<br />

eingeblendet, so daß sie (ohne Zusatzgerät) von allen eingeschalteten<br />

Geräten ausgestrahlt werden.<br />

– Rescue<br />

Über das bundesweit verfügbare Notrufsystem „911“, ein Notarzt- und Rettungsdienstsystem<br />

(EMS), aber auch über verschiedene Notfallinformationssysteme<br />

(z.B. Chemtrack der chemischen Industrie; NETwork,<br />

EENET, Recovery Channel) können Betroffene Hilfen abfragen und Hilfe<br />

25


ufen. Im Katastrophenfall stehen ähnliche Kräfte und Einheiten zur Verfügung<br />

wie in der Bundesrepublik, also freiwillige, ehrenamtliche Organisationen<br />

sowie staatliche Kräfte bis hin zur Armee.<br />

– Evacuation<br />

In den USA existieren vorgeplante und gekennzeichnete Evakuierungsrouten,<br />

die teilweise ferngeschaltet werden können (Ampeln, Beleuchtung).<br />

Schulbusse und private Unternehmen übernehmen den Sammeltransport.<br />

Die Routen werden über weather radio bekanntgegeben, sie sind zumeist<br />

in Telefonbüchern abgedruckt. Verschiedene Studien haben gezeigt, daß<br />

Evakuierungen im großen und ganzen recht gut funktionieren. Auch das<br />

emergency sheltering, also die Unterbringung in Sammelunterkünften<br />

gelingt durchweg schnell und effizient. Defizite ergeben sich bei der psychischen<br />

und sozialen Betreuung („Dichtekoller“, Langeweile).<br />

– Emergency relief<br />

Die wachsende Komplexität von Katastrophenschäden, insbesondere durch<br />

„lifeline-collapses“ und Sekundär-/Tertiärschäden (Ölleckagen und Brände<br />

bei Erdbeben; Lieferausfälle und ökonomische <strong>Folge</strong>schäden; Stromausfälle<br />

und Versorgungszusammenbrüche etc.) führt zu extremen Ressourcenbeanspruchungen<br />

und länger werdenden Wartezeiten bei Hilfe und Wiederherstellung.<br />

Hier liegen die größten Unzufriedenheitspotentiale.<br />

– Emergency rescue<br />

Gleiches gilt in diesem Bereich. Da bei modernen, insbesondere urbanen<br />

Schadensfällen zumeist auch die Ressourcen ausfallen, von denen die Rettungseinrichtungen<br />

abhängen (Straßen, Treibstoff, Elektrizität, Gebäude,<br />

Infrastruktur allgemein), werden auch die Intervalle länger, bis Hilfe eintrifft.<br />

Dies führt zu Unzufriedenheit.<br />

– Temporary rehabilitation<br />

Die größten Schwierigkeiten ergeben sich bei der Soforthilfe für die Betroffenen.<br />

Ethnische, sprachliche, soziale und psychische Probleme dominieren.<br />

Räumliche Bedingungen, vor allem durch Devianzverteilungen,<br />

erschweren die Adressierung und Verteilung von Hilfe. Immer stärker wirken<br />

auch geschlechtsspezifische Sonderheiten (Alkohol- und Drogenkonsum<br />

bei Männern, Verweigerung von Mithilfe durch Depravierte, durch<br />

Gangs und kriminelle Handlungen etc.<br />

– Recovery<br />

Der öffentlich artikulierte Unmut wurzelt zumeist in dieser Phase. Die staatlichen,<br />

von der FEMA verteilten Programme erfordern „Bewerbungsverfahren“,<br />

d.h. die Betroffenen müssen sich melden, Fragebögen ausfüllen<br />

und bestimmte Nachweise führen (von der Identifizierung bis zu Einkommens-<br />

und Besitznachweisen). Da die Betroffenen zumeist aus der unteren<br />

Mittelschicht und Unterschicht kommen, fällt oftmals der Nachweis von<br />

relevanten Besitztümern schwer. Zudem befinden sich unter den Opfern<br />

26


viele Analphabeten, Arbeitsmigranten, Arbeitslose, Obdachlose und illegale<br />

Einwanderer, so daß viele Bewerber abgewiesen werden, was deren<br />

Schicksal schwerer macht, vor allem aber bei Medienpräsenz besonders<br />

hartherzig und inhuman wirkt. Zumeist auch erwarten die Betroffenen<br />

mehr, als erfüllt werden kann, so daß Frustration programmiert ist.<br />

– Reconstruction<br />

Auch hier gilt das Gesagte: Die FEMA unterstützt über Kredite, zinslose<br />

Darlehen, Finanzierungsvermittlung und staatliche lnvestitionshilfen den<br />

mittel- und langfristigen Wiederaufbau nach Katastrophen. Zumeist richten<br />

sich die Programme an mittelständische und größere Unternehmen, um<br />

Arbeitsplätze zu schaffen, Infrastruktur wiederherzustellen oder gänzlich<br />

neue Unternehmen anzusiedeln. Auch für den Wiederaufbau von Wohnungen<br />

und Eigenheimen werden Hilfen gewährt, doch machen sie zumeist nur<br />

einen Bruchteil der Wiederherstellungskosten aus. Wiederbeschaffungsbeihilfen<br />

für Inventar oder Fahrzeuge werden hier nicht gewährt, was jedoch<br />

zumeist auf Unverständnis stößt. Ebenfalls fehlen wirksame Instrumente<br />

der Erfolgskontrolle.<br />

In einem zweiten Schritt wurde untersucht, welche Angebote überhaupt<br />

eine Nachfrage finden, ob es grundsätzlich falsche, am Bedarf vorbeigehende<br />

Angebote gibt, welche Angebote sinnvoll aber schlecht „konsumierbar“<br />

sind und ob es noch unentdeckte Bedürfnisse oder Widrigkeiten<br />

für eine wirksame Hilfe gibt. In diesem Untersuchungsschritt zeigte sich,<br />

daß man zuvörderst viel zu wenig über die tatsächlichen Lebenslagen und<br />

Bedürfnisse der potentiellen Klientele wußte. Hier erbrachte insbesondere<br />

die enge Zusammenarbeit mit der Katastrophenforschung wichtige Aufschlüsse<br />

über die Bedeutung der Frauen für die Organisierung von Hilfe, die<br />

Selbstorganisation der Betroffenen und deren Kommunikationsformen und<br />

für die Rekonstruktion des sozialen Lebens innerhalb betroffener Nachbarschaften<br />

und Kommunen. Zugleich erkannte man, daß das traditionelle<br />

Multiplikatoren-Konzept im Grundsatz noch stimmt, aber die Multiplikatoren<br />

ganz anderen Milieus entstammten und sich diversifiziert hatten.<br />

Waren früher noch Lehrer und Pfarrer schichten- und gruppenübergreifende<br />

Vorbilder, so hat man es inzwischen mit sehr verschiedenen „Vorbildern“<br />

zu tun. Es können Anführer von Jugendgangs sein, Stars aus der Street-Volleyball-<br />

oder der HipHop-Szene, es können, wie in ethnisch strukturierten<br />

Quartieren, Clanführer sein oder, wie im Umfeld von Arbeitsmigranten und<br />

Einwanderern, deren Kinder, die aufgrund ihrer besseren Sprachfähigkeiten<br />

und Kontaktfreude oftmals eine Dolmetscher- und Pfadfinderfunktion für<br />

die Erwachsenen übernehmen.<br />

Ein Programm der FEMA setzte systematisch auf der letzten Erkenntnis auf.<br />

Zusammen mit den Schulen wurde ein Lehr- und Lernprojekt entwickelt,<br />

dessen Lerneinheiten mit Videos eingeleitet wurden („Critical Time – Earthquake<br />

Response Planning for Schools“; „Non-structural Earthquake Damage<br />

Reduction“; „Children & Trauma – The Schools Response“) und die<br />

27


den Schülern zeigten, wie sie sich, ihren Kameraden, vor allem aber ihren<br />

Angehörigen helfen und Schaden abwenden können. Bewußt setzte man bei<br />

den Kindern an, weckte deren Neugier und unterstütze ihre vorhandene<br />

Rolle als Dolmetscher und Pfadfinder. Insofern wurde die vorhandene Rolle<br />

nicht nur akzeptiert, sondern aufgewertet und mit Werten aufgeladen: Hilfsbereitschaft,<br />

Verantwortungsgefühl, Gemeinsinn. In einem zweiten Lehrschritt<br />

stellte man den Schülern Computer zur Verfügung, mit denen sie<br />

Schadenslagen und Rettungsaktionen simulieren und über den Zugang zum<br />

Internet weiterführende und vertiefende Wissensquellen entdecken und<br />

anwenden konnten. Da dies auch muttersprachliche Quellen einschloß, entdeckten<br />

die Kinder so Lehrmittel für ihre Eltern und zugleich das Knowhow,<br />

sie ihnen auch zugänglich machen zu können. Die Kinder profitierten<br />

also nicht allein von diesem „Heldeneffekt“, sondern sie machten ihre<br />

Eltern neugierig und brachten sie nachmittags und abends mit in die<br />

Schulen, wo sie selbst Zugang zum Computer erhielten. Unmerklich entstand<br />

so eine Volkshochschule, die doppelt alphabetisierte – im traditionellen<br />

Sinne hin auf die Grundfertigkeiten Lesen und, wie es in den USA<br />

heißt: „computer literacy“ und im erweiterten Sinne hin auf preparedness.<br />

– Preparedness<br />

Das neue Verständnis von preparedness besteht darin, potentiell Betroffene<br />

dazu zu bewegen, sich basal alphabetisieren zu lassen: Zu wissen, was<br />

droht und was dies im Ernstfall für sich, die unmittelbaren Angehörigen und<br />

Nachbarn bewirken kann. Zu wissen, welche Hilfen von außen realistischerweise<br />

erwartet werden dürfen, wie lange man unter Umständen darauf<br />

warten muß und was man selbst tun kann, um bis dahin auszuhalten. Zu<br />

wissen, wie Gemeinde und Staat in solchen Fällen funktionieren; wer<br />

welche Hilfe anbietet, wo welche Kompetenzen verfügbar sind, wo welche<br />

Einrichtungen zu finden sind. Zu wissen, wie man Ausfälle überbrücken<br />

kann, wie man Menschen beruhigt und zu gemeinsamen Handeln organisiert.<br />

Zu wissen, welche bürokratischen Hürden vorhanden sind und wie<br />

man darauf zu reagieren hat. Also zu wissen, welche Papiere man bei sich<br />

haben sollte, welche Angaben bei Behörden oder Dienststellen gemacht<br />

werden müssen und welche Unterlagen man für den Notfall immer griffbereit<br />

haben sollte.<br />

– Protection, Training<br />

Hier besteht das neue Verständnis darin, von der Schule an zu vermitteln,<br />

daß Sicherheit auch ohne teure Investitionen erhöht werden kann. Die<br />

FEMA hat dazu neben Videos wie „Non-structural Earthquake Damage<br />

Reduction“ inzwischen umfassende Hilfen entwickelt bis hin zu speziellen,<br />

kostengünstigen Versicherungen, kostenlosen Kursen und Lehrgängen,<br />

Bau- und Bastelanleitungen und diversen Hotlines und Web-Pages, von<br />

denen Informationen abgerufen werden können. Die Grundidee besteht<br />

darin, das Gefühl zu vermitteln, weder ohnmächtig noch schutzlos sein zu<br />

müssen, sondern mit einfachen Mitteln etwas für sich und seine Angehörigen<br />

tun zu können. Insbesondere bei Arbeitslosen und Geringbeschäftigten<br />

28


haben sich solche Initiativen bewährt, weil sie darüber deutlich machen<br />

können, daß sie sich kümmern, nützlich sind und einen Beitrag für ihre<br />

Familien leisten.<br />

– Warning<br />

Im Bereich Warnung bestand kein Reformbedarf. Das System gilt als effektiv<br />

und ist akzeptiert. Im Bereich Information hat die FEMA inzwischen<br />

vollkommen auf neue Medien umgestellt. Die angefügten Ausdrucke aus<br />

dem Internet zeigen, daß hier ein Informationsangebot entstanden ist, das<br />

weltweit seinesgleichen sucht. Die Zahl der täglichen Zugriffe und die eingehenden<br />

mails mit Kommentaren, Anfragen und Anregungen belegen, daß<br />

sich inzwischen Akzeptanz eingestellt hat. Zusätzlich hat die FEMA „On-<br />

Scene-Media“ entwickelt, die im Katastrophenfall täglich mit neuesten<br />

Nachrichten, Hinweisen, Informationen und Anleitungen (z.B. für Behördengänge,<br />

zum Ausfüllen von Formularen) kostenlos verteilt werden.<br />

– Rescue<br />

Hier wurden die verschiedenen Notfallinformationssysteme (NETwork,<br />

EENET, Recovery Channel) modernisiert, aktualisiert und im Zugang verbessert.<br />

Automatische Erkennungssysteme (Rufnummernidentifizierung)<br />

erleichtern den Einsatz und vermindern Mißbrauch. Fax-On-Demand-<br />

Systeme liefern umgehend Anleitungen, Pläne u.ä., so daß Betroffene insgesamt<br />

Sofort-Hilfe abfragen und Hilfe rufen können.<br />

– Evacuation<br />

Im Bereich Evakulierung und Betreuung bestehen nach wie vor Probleme.<br />

Harrisburg und einige Leckagen bei der Kampfstoffbeseitigung haben<br />

gezeigt, daß „job-abandonment“ beim Funktionspersonal zunimmt und zu<br />

Ressourcenverknappungen und desorientierenden Meldungen führt. Die<br />

sozialen und psychischen Schwierigkeiten im Betreuungsfall scheinen<br />

ebenfalls noch zuzunehmen, zumindest dort, wo die sozialen Spannungen<br />

innerhalb der Evakuierten nicht entschärft werden können.<br />

– Emergency relief<br />

Die zunehmende Dauer bis zum Eintreffen organisierter Hilfe läßt sich<br />

inzwischen nicht mehr durch weiteren Ressourceneinsatz verkürzen, so daß<br />

immer bewußter die Bevölkerung als Ganze zu einem Glied der Soforthilfe<br />

werden muß. Dies führt einerseits zu preparedness zurück, andererseits zu<br />

einer massiven Reorganisation von Katastrophenhilfe. Schon heute sind die<br />

„local plannings committees“, die gemeindlichen Gefahrenabwehrkomitees<br />

aus Bürgern, Unternehmen, Behörden, Verbänden und gewählten Ämtern<br />

(wozu auch Sheriff und Fire-Chief gehören) die entscheidenden dezentralen<br />

Institutionen für Risiko-Kommunikation, vorbeugende Gefahrenabwehr,<br />

Bürgerinformation und Maßnahmenplanung. Die enge Verzahnung von<br />

Bürgerbeteiligung und gemeindlicher Gefahrenabwehr wirkt dabei integrativ<br />

und konfliktminimierend.<br />

29


– Emergency rescue & mass care<br />

Die neue Strategie der FEMA besteht darin, den Bürgern deutlich zu<br />

machen, was nicht möglich ist und nicht geleistet werden kann. Galt bis<br />

dahin, sich als besonders leistungsfähig und potent zu präsentieren, nahm<br />

man sich nunmehr weitgehend zurück und betonte die subsidiäre Funktion.<br />

Indem man massiv die Verantwortung des Bürgers betont, werden sowohl<br />

die falschen Erwartungen bekämpft, die sich aus dem ehemaligen Omnipotenzgehabe<br />

entwickelt hatten, als auch die Darstellungen der Medien, die<br />

die FEMA zu sehr als alles entscheidende und einzige Hilfsinstanz bei den<br />

Wechselfällen des Lebens geschildert hatten. Der Bürger rückt dadurch<br />

wieder in den Mittelpunkt, so daß die FEMA neben ihren nach wie vor vorhandenen<br />

Ressourcen der Katastrophenhilfe dazu übergehen kann, Selbsthilfeinitiativen<br />

der Bevölkerung zu fördern und Aktivitäten zu prämiieren,<br />

die den Grad der Selbstorganisation und gegenseitigen Hilfe erhöhen.<br />

– Temporary rehabilitation<br />

In diesem Bereich wurden die größten Verbesserungen erzielt. Die FEMA<br />

hat Quick-Alert-Teams gegründet, die bei Großunfällen und Katastrophen<br />

unmittelbar vor Ort praktische Hilfe und Beratung anbieten. Je nach Katastrophenart<br />

werden Begehungen mit Schadensfeststellungen und Bewertungen<br />

durchgeführt, Formulare und Fragebögen verteilt und gemeinsam,<br />

auch mit Dolmetschern, ausgefüllt. Es werden Wertmarken für Kleidung,<br />

Nahrung und Hilfsgüter ausgegeben oder mit Unterstützung der lokalen<br />

Leitpersonen verteilt. Härtefälle werden besonderen Lösungen zugeführt<br />

und Clearingstellen eingerichtet, um Ungerechtigkeiten oder schwierige<br />

Situationen vor Ort regulieren zu können.<br />

– Recovery<br />

Die staatlichen Programme zur Katastrophenhilfe wurden überarbeitet und im<br />

Verfahren vereinfacht, so daß eine breitere aber gerechtere Streuung ermöglicht<br />

wurde. Durch den Einsatz von Quick-Alert-Teams konnten soziale und<br />

ökonomische Benachteiligungen drastisch reduziert werden. In Zusammenarbeit<br />

mit den local planning committees und den Sozialbehörden wird versucht,<br />

Hilfen an jene Personen zu geben, die einen optimalen Nutzen bewirken<br />

(z. B. an die Frauen, statt an ihre alkoholsüchtigen Männer etc.), so daß<br />

auch hier dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprochen wird.<br />

– Reconstruction<br />

Auch hier gilt Ähnliches: Die FEMA hat die Verfahren zur Kredit- und<br />

Darlehens-vergabe vereinfacht und Klauseln entwickelt, die eine Rückzahlung<br />

erzwingen, wenn die vereinbarten Bedingungen der Gewährung nicht<br />

eingehalten werden.<br />

Der öffentliche Zugang über das Internet<br />

Wie wirkungsvoll und transparent die neue Politik der FEMA für alle Bürger<br />

ist, zeigt der Blick ins Internet. Unter der ULR „http://www.fema.gov“<br />

30


meldet sich die „homepage“ der Federal Emergency Management Agency<br />

(Bild 1) mit einem Search Tool zur Stichwortsuche und einem Menü mit<br />

„Radio-Buttons“ („Who We Are“ „What We Do“ etc.), die auf Mausklick<br />

entsprechen weiterleiten.<br />

Die Wahlfelder (Radio-Buttons) „Preparing For A Disaster“ und „Help<br />

After A Disaster“ führen zu Anleitungen und Formularen, die man direkt am<br />

Computer ausfüllen und absenden, aber auch ausdrucken und konventionell<br />

lesen kann. Ebenso läßt sich in die Bibliothek weiterverbinden oder zu<br />

einem Neuigkeitenpult. Besonders interessant ist das Feld „Career Opportunities“,<br />

wo bundesweit offene Stellen im Bereich Katastropenmanagement,<br />

Feuerwehr, Gefahrenabwehr, Unternehmenssicherheit etc. angeboten<br />

werden. Diese einschlägige Jobbörse ist überaus beliebt und effektiv.<br />

Die leeren Kästchen auf Bild 1 repräsentieren weitere Radio-Buttons, die<br />

jedoch aufgrund fehlenden Platzes nicht ausgedruckt wurden. Unter ihnen<br />

befindet sich der Alphabetische Index des FEMA-Servers (Bild 2–4). Jedes<br />

Schlagwort verbindet weiter zu Informationen oder Diensten der FEMA<br />

bzw. Dritter, die ebenfalls zum Thema gehören.<br />

So verbindet beispielsweise das Schlagwort „Weather Link“ zu einer Auswahlseite<br />

„FEMA Links to Weather Information“ (Bild 5), von wo aus man<br />

sich zum Nationalen Wetterdienst, dem Massachussets Institute of Technology<br />

(MIT) oder der Flutvorhersage etc. weiterverbinden kann. Unter „Live<br />

Weather Cameras“ findet man z. B. (sofern es die Rechnerkapazität erlaubt)<br />

Echtzeitabläufe von Wetterfronten und Stürmen, die „Flood Forecast Maps“<br />

zeigen im Fünfminutentakt die Wasserstände aller Küsten (Bild 6).<br />

Ausblick<br />

Der neue, kundenorientierte Ansatz der FEMA geht von den Bedürfnissen<br />

der Menschen aus und versucht, deren Selbsthilfekräfte bestmöglich zu<br />

unterstützen. Teil dieses Ansatzes ist eine Servicestrategie, die so viel<br />

Information wie möglich zur Verfügung stellt und zugleich dafür Sorge<br />

trägt, daß möglichst viele Menschen möglichst einfach Zugang finden.<br />

Dabei spielen die Informationsmedien Computer und Internet eine entscheidende<br />

Rolle. Beide sind inzwischen leichter verfügbar als entsprechende<br />

Recherchen in Bibliotheken oder gar Buchläden. Zwar kann sich<br />

noch längst nicht jeder einen Computer leisten, doch hat die FEMA versucht,<br />

über die Kooperation mit Schulen und local planning committees,<br />

möglichst breite Zugangschancen zu eröffnen. Zusammen mit den neuentwickelten<br />

„On-Scene“-Medien wird zunehmend besser sichergestellt, daß<br />

auch unterprivilegierte Betroffene im Ernstfall Zugangsmöglichkeiten zu<br />

Informationen und Hilfen erhalten. Die millionenfachen Zugriffe auf die<br />

Internet-Angebote der FEMA beweisen, daß es sich um ein Angebot handelt,<br />

das neugierig macht und damit Interesse für die Thematik weckt. Da<br />

auch die „downloads“ registriert werden, erkennt man, welche Informationen<br />

sich die Nutzer auf den heimischen Rechner laden, so daß auch daraus<br />

31


auf einen hohen Nutzen geschlossen werden kann. Damit scheint die FEMA<br />

ihr Ziel erreicht zu haben: wieder nützlich zu sein und Zivil- und Katastrophenschutz<br />

zu einem Gebiet gemacht zu haben, bei dem nicht verächtlich<br />

abgewunken wird, sondern das als hilfreicher Bestandteil der individuellen<br />

Daseinsvorsorge Akzeptanz findet.<br />

Ein letzter Punkt sei angemerkt. Der kundenorientierte Ansatz der FEMA<br />

hat nicht nur einen neuen Umgang mit den Menschen bewirkt, den die<br />

Amerikaner mit „commitment“ umschreiben und der Anteilnahme, Sich-<br />

Kümmern beinhaltet. Er hat auch bewirkt, daß sich aus dem öffentlichen<br />

Gut „Zivil- und Katastrophenschutz“ immer stärker ein Markt für private<br />

Güter und Dienste herauskristallisiert. Neben vielen anderen bietet z. B. die<br />

Firma Rothstein Associates (Ossining, NY) den „Disaster Recovery Catalog“<br />

an, der auf über 30 Seiten Publikationen, Videos, Tonbandkassetten<br />

zum Aufbau einer Selbsthilfebibliothek anbietet. Andere Firmen haben<br />

Selbsthilfe-Werkzeuge, Rettungskoffer und spezielle Ausrüstungen im Programm.<br />

Man kann vom Schutzanzug bis hin zum kompletten Survival-<br />

Home (mit Wasserrückgewinnung, autarker Energieversorgung und Schutzraum)<br />

inzwischen alles kaufen, was Katastrophen und Krieg überstehen<br />

läßt. Wie immer man die Produkte beurteilen mag, eines ist sicher: Wo eine<br />

kaufkräftige Nachfrage ist, da ist auch Bedarf und Bedürfnis, mithin ein<br />

ökonomisch indizierbarer Nutzen eines Schutzgedankens, von dem in der<br />

Bundesrepublik noch niemand so recht glaubt, daß Bürger für ihn freiwillig<br />

Geld ausgeben würden. Vielleicht läßt sich von den Erfahrungen der FEMA<br />

lernen, daß Zivil- und Katastrophenschutz noch nie nutzlos war, wenn man<br />

beide angemessen und anregend vermittelt.<br />

Literatur<br />

Dombrowsky, W.R.: „Vom ,Stage-Model‘ zum ,Copability-Profile‘. Katastrophensoziologische<br />

Modellbildung in praktischer Absicht“, in: Lars Clausen & Wolf R. Dombrowsky: Einführung<br />

in die Soziologie der Katastrophen, <strong>Zivilschutz</strong>forschung Bd. 14, Schriftenreihe der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern, hg. v. Bundesamt für Zivilschulz, Bonn:<br />

Osang 1983 pp. 81– 102<br />

32


Mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei<br />

Großkatastrophen und im Verteidigungsfall<br />

(„Gefahrenbericht“)<br />

<strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />

Inhaltsangabe<br />

Zusammenfassung<br />

I. Einleitung<br />

II. Art der Gefahren<br />

II.1 Gefahren durch die Freisetzung von Chemikalien und von<br />

chemischen Kampfstoffen<br />

II.2 Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten und biologische<br />

Kampfmittel<br />

II.3 Gefahren durch die Freisetzung von Radioaktivität einschließlich<br />

des Einsatzes von Kernwaffen<br />

II.4 Gefahren durch spontane Freisetzung mechanischer Energie<br />

einschließlich Waffenwirkungen<br />

II.5 Gefahren durch starke elektromagnetische Felder<br />

III. Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung<br />

III.1 Selbstschutz<br />

III.2 Warnung der Bevölkerung<br />

III.3 Schutz durch bauliche Maßnahmen<br />

III.4 Medizinische Versorgung<br />

III.5 Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln<br />

und Trinkwasser<br />

Zusammenfassung<br />

Die Rahmenbedingung für die Planung und Durchführung von Maßnahmen<br />

zum Schutze der Bevölkerung gegen die Gefahren bei Großkatastrophen<br />

und im Verteidigungsfall haben sich mit dem Wandel der allgemeinen<br />

sicherheitspolitischen Lage, der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten<br />

Europa, der technologisch bedingten Veränderungen der Gesellschaft<br />

33


und der Zunahme des Terrorismus in den letzten Jahren grundlegend verändert.<br />

Auch aufgrund der von Seiten des BMI angestrebten und z.T. bereits<br />

umgesetzten Regelungen zur Neuorientierung im <strong>Zivilschutz</strong> sind in vielen<br />

Bereichen grundlegend neue Schutzkonzepte erforderlich geworden. Dies<br />

gilt insbesondere für die angestrebten Veränderungen der Aufgabenerledigung<br />

durch den Bund und die Länder, die nach Meinung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in Zukunft eine verstärkte Koordinationsaufgabe für den Bund zur<br />

<strong>Folge</strong> hat.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich mit den möglichen Konsequenzen dieser<br />

Veränderungen aus wissenschaftlicher Sicht auseinandergesetzt. Die Ergebnisse<br />

dieser Überlegungen werden in diesem Gefahrenbericht zusammengefaßt.<br />

Der Gefahrenbericht enthält eine Analyse der unterschiedlichen<br />

Kernbereiche des <strong>Zivilschutz</strong>es. m denen nach wie vor Gefahren bestehen.<br />

Es handelt sich hierbei im einzelnen um die Gefahren durch die<br />

– Freisetzung von Chemikalien und von chemischen Kampfstoffen<br />

– Erreger übertragbarer Krankheiten und biologische Kampfmittel<br />

– Freisetzung von Radioaktivität einschließlich des Einsatzes von Kernwaffen<br />

– spontane Freisetzung mechanischer Energie einschließlich Waffenwirkungen<br />

– Wirkung starker elektromagnetischer Felder<br />

– Überregionale Auswirkungen von Naturgewalten.<br />

Der Bericht gibt eine große Zahl detaillierter Empfehlungen für Durchführung<br />

vertiefender Untersuchungen sowie für konkrete Vorkehrungen und<br />

Maßnahmen, die aus Sicht der <strong>Schutzkommission</strong> dringend erforderlich<br />

sind, um den Schutz der Bevölkerung in den hier einschlägigen Gefahrenlagen<br />

auch unter den neuen Randbedingungen sicher stellen zu können. Er<br />

stellt den gegenwärtigen Stand der Überlegungen der Kommission dar und<br />

soll regelmäßig fortgeschrieben werden.<br />

Im Bereich Selbstschutz und Selbsthilfe wird eine rationale Gefahrenanalyse<br />

und eine Bestandsaufnahme der Gefährdungs- und Schutzpotentiale in<br />

der Bundesrepublik für erforderlich gehalten, die von der privaten bis zur<br />

gemeinwohlorientierten Daseinsvorsorge alle Möglichkeiten der Schutzvorkehr<br />

aufzeigt. Es wird die Entwicklung eines Schutzdatenatlasses und<br />

die Anwendung von gängigen Methoden der modernen Kommunikation für<br />

die Unterrichtung der Bevölkerung empfohlen.<br />

Im Bereich der Gefahrenerfassung liegen die Schwerpunkte in der Einführung<br />

und Weiterentwicklung der Meßtechnik für die Erfassung von chemischen<br />

Kampfstoffen und gefährlichen Industriechemikalien. Es wird<br />

außerdem empfohlen, eine Systemstudie durchzuführen für die Aufstellung<br />

von schnell einsetzbaren Spezialtrupps mit optimaler analytischer Ausstattung<br />

und Qualifikation, einer Task-Force ähnlich der GSG 9, die im Notfall<br />

per Hubschrauber schnell zum Einsatzort gelangen können.<br />

34


Im Bereich der Warnung geht es vorrangig darum, die nach dem Wegfall der<br />

flächendeckenden Sirenenwarnung entstandene „Warnlücke“ schnellstmöglich<br />

zu schließen. Dies bedarf neben der Erarbeitung eines tragfähigen<br />

technischen Konzepts und der Schaffung geeigneter alternativer Warnmittel<br />

den Aufbau entsprechender, für die Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es geeigneter<br />

organisatorischer Strukturen, die auch bei der Warnung in grenzüberschreitenden<br />

Schadenslagen effektiv arbeiten können.<br />

Nach wie vor bilden die Wohnung und öffentliche Gebäude eine wichtige<br />

Säule für den Schutz der Bevölkerung im Schadensfall, da die Empfehlung<br />

„Verbleiben im Haus und Fenster und Türen verschlossen halten“ oft die<br />

kurzfristig einzige Option zur Gefahrenabwehr darstellt. Der Schutz durch<br />

bauliche Maßnahmen stellt aus diesen Gründen nach wie vor eine wichtige<br />

Thematik dar. Bei den zukünftigen Überlegungen in diesem Bereich müssen<br />

zum einen das durch die Industrie- und die Technologieentwicklung<br />

gestiegene Gefährdungspotential vorhandener Gebäude berücksichtigt werden,<br />

zum anderen die zunehmende Auszehrung des Schutzwertes von<br />

Gebäuden, die z.B. durch die Verwendung neuer Werkstoffe oder den Verzicht<br />

von Kellerräumen verursacht wird.<br />

Die auch bisher schon bestehenden begründeten Zweifel an der Effektivität<br />

der, Grundstruktur der medizinischen Hilfe im Katastrophenschutz und<br />

Schutz der Bevölkerung im V-Fall führen zu der Forderung, ein an die Rettungsdienste<br />

angelehntes organisatorisches, fachlich zuverlässiges, im<br />

Bedarfsfall schnell verfügbares System ärztlicher und sanitätsdienstlicher<br />

Elemente zu schaffen. Die Diagnostik und Therapie akuter und chronischer<br />

Gesundheitsschädigungen, durch die Einwirkung gefährlicher Stoffe, z.B.<br />

radioaktiver Stoffe, hoch virulenter Krankheitserreger und chemischer<br />

Agenzien, ist durch gezielte Untersuchung und <strong>Forschung</strong> zu verbessern.<br />

Die Ergebnisse sind in die ärztliche Fortbildung einzubringen.<br />

Die bisherigen Notfalldepots sollten im Interesse katastrophenmedizinischer<br />

Leistungsfähigkeit erhalten und mit Arznei- und Verband mitteln<br />

befüllt werden, die von der bedarfsorientiert produzierenden Industrie bei<br />

Katastrophen und im Verteidigungsfall kurzfristig nicht verfügbar gemacht<br />

werden können, z.B. bestimmte Antidote, Sera, Analgetika. Dies bedarf<br />

einer detaillierten Untersuchung.<br />

Die Kenntnisse der Ärzte, des Rettungsdienstpersonals und der Helfer der<br />

Hilfsorganisationen über ihre Aufgaben im Katastrophenschutz und im Verteidigungsfall<br />

sind unzureichend oder gehen infolge Fehlens an praktischer<br />

Übung bald wieder verloren. Es gilt, dieser dem Bedürfnis potentieller<br />

Katastrophenopfer nicht genügenden Qualifikation durch praxisnahe Ausund<br />

Fortbildung entgegenzuwirken. Dies erfordert, die Ärzte und ebenso<br />

die Medizinstudenten nachhaltig zu informieren und zu praktischen Übungen<br />

heranzuziehen, insbesondere Notärzte auf ihre Leistungsaufgabe am<br />

Schadensort vorzubereiten, sowie freiwilligen Hilfskräften mehr Möglichkeiten<br />

zur Teilnahme an rettungsdienstlichen Einsätzen zu eröffnen.<br />

35


Im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit<br />

Nahrungsmitteln und Trinkwasser wird vordringlich empfohlen, eine Studie<br />

zur Optimierung des personellen, materiellen und finanziellen Aufwands<br />

sowie zur Organisation der erforderliche Maßnahmen aller staatlichen Stellen<br />

durchzuführen. Aufgrund der drastischen Reduzierung der EU-Interventionsbestände<br />

ist die Erhöhung der Mengen der in nationaler Zuständigkeit<br />

eingelagerten Nahrungsmittel zur Versorgung der Bevölkerung in Ballungsgebieten<br />

erforderlich.<br />

In einer Zeit, in der sich die Schwerpunkte der staatlichen Vorsorge zum<br />

Schutze der Bevölkerung gegen Gefahren bei Großkatastrophen und im<br />

Verteidigungsfall immer mehr in den planerischen Bereich verlagern sollen,<br />

ist die aktive wissenschaftliche Beratung des BMI in allen im Rahmen dieses<br />

Berichtes aufgezeigten Fragen mehr denn je gefordert. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />

ist hierzu auch in Zukunft bereit. Sie muß allerdings darauf hinweisen,<br />

daß ein Großteil der hier einschlägigen Themen nicht zu den an<br />

Universitäten und einschlägigen <strong>Forschung</strong>seinrichtungen ohnehin bearbeiteten<br />

Fragestellungen zählt, so daß man bei Bedarf das notwendige Wissen<br />

staatlicherseits einfach abrufen könnte. Um die erforderliche Beratung<br />

auch in Zukunft sicherstellen zu können, muß vielmehr der noch in der<br />

Kommission vorhandene Sachverstand durch eine aktive <strong>Forschung</strong>s- und<br />

Förderpolitik des BMI erhalten werden. Eine Grundlage für die Erstellung<br />

eines entsprechenden <strong>Forschung</strong>skonzepts könnten die vielfältigen Empfehlungen<br />

dieses Berichts darstellen.<br />

Die Kommission ist bereit, den BMI bei der Erarbeitung eines entsprechenden<br />

<strong>Forschung</strong>skonzepts und bei der Umsetzung der in diesem Bericht<br />

aufgezeigten konkreten Notwendigkeiten zur Verbesserung der gegenwärtigen<br />

Situation zu unterstützen und wissenschaftlich zu beraten. Eine existentielle<br />

Voraussetzung hierfür ist jedoch der politische Wille zur Durchsetzung<br />

der aufgezeigten Notwendigkeiten für eine tragfähige Neuregelung<br />

der Maßnahmen des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />

I. Einleitung<br />

Es steht außer Frage, daß sich mit dem Zusammenbruch der Ost-West Konfrontation<br />

die Rahmenbedingungen für die Gesamtverteidigung und damit<br />

auch für den <strong>Zivilschutz</strong> in den letzten Jahren grundsätzlich geändert haben.<br />

Insbesondere besteht nicht mehr die Gefahr einer groß angelegten Aggression,<br />

auf deren Abwehr die bisherigen Vorkehrungen der Gesamtverteidigung<br />

ausgelegt waren. Dies bedeutet, daß die bisherigen Vorkehrungen für<br />

die Gesamtverteidigung reduziert werden können. Im Bereich des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

erfolgt eine entsprechende Neuorientierung durch das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz.<br />

Die dort vorgesehenen Regelungen sehen insbesondere<br />

vor, die für den <strong>Zivilschutz</strong> bisher vorgehaltenen Sonderstrukturen wie<br />

– die staatliche Förderung des Schutzraumbaus<br />

– den Bau und die Vorhaltung von Hilfskrankenhäusern<br />

36


– die dauerhafte Bevorratung umfangreicher Arzneimittel sowie von Geräten<br />

und Ausstattungsgegenständen in Sanitätslagern<br />

– den Bundesverband für den Selbstschutz<br />

aufzugeben, die vorhandenen Strukturen zu vereinfachen und die Aufwendungen<br />

für den <strong>Zivilschutz</strong> insbesondere in den Bereichen „erweiterter<br />

Katastrophenschutz“ und „Warndienst“ zu reduzieren. Wesentliche Aufgaben<br />

sollen in Zukunft, aufbauend auf den bei den Ländern für die Zwecke<br />

der Gefahrenabwehr in Friedenszeiten ohnehin vorzuhaltenden Einrichtungen<br />

und Organisationen von diesen mit übernommen werden.<br />

Daß in Übergangszeiten wie den hier geschilderten und insbesondere in<br />

Zeiten immer knapper werdender Mittel die Gefahr besteht, daß bei einer<br />

solchen Neuorientierung auch unverzichtbare Positionen geschwächt oder<br />

gar aufgegeben werden, ohne daß hierfür geeignete Alternativen geschaffen<br />

werden, ist bekannt. Erinnert werden soll hier nur an die „Warnlücke“, die<br />

nach der Aufgabe des bundesweiten Sirenennetzes in den letzten Jahren entstanden<br />

ist.<br />

Vor dem Hintergrund dieser Situation möchte der vorliegende Bericht keine<br />

Bedrohungsanalyse im herkömmlichen Sinne darstellen. Er versucht vielmehr,<br />

basierend auf dem in der <strong>Schutzkommission</strong> über Jahrzehnte hinweg<br />

vorgehaltenen wissenschaftlichen Sachverstand in Fragen des Zivil- und<br />

Katastrophenschutzes, Hinweise auf die nach wie vor und auch in Zukunft<br />

existierenden Gefahren zu geben und Wege aufzuzeigen, wie mit diesen<br />

Gefahren umgegangen werden sollte. Der Bericht stellt die Sicht der Kommission<br />

auf die gegenwärtige Lage im <strong>Zivilschutz</strong> dar. Er soll nach dem<br />

gemeinsamen Verständnis der Kommission und des BMI zu geeigneter Zeit<br />

fortgeschrieben werden und ist von daher offen für Weiterungen und Modifikationen,<br />

falls diese von der Sache her angezeigt sein sollten. Aufgrund<br />

der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten Europa und der damit<br />

verbundenen Notwendigkeit der gemeinsamen Bewältigung von existenzbedrohenden<br />

Situationen ist es zwingend geboten, Fragen dieser Art auch<br />

über die Grenzen hinweg zu diskutieren. Auf der anderen Seite müssen<br />

vergleichbare Überlegungen, wie sie in unseren Nachbarländern oder von<br />

internationalen Organisationen angestellt werden, national berücksichtigt<br />

und umgesetzt werden.<br />

Bei der Aufarbeitung der im folgenden im Detail beschriebenen Fragestellungen<br />

muß damit gerechnet werden, daß die angestrebte Dezentralisierung<br />

der Verantwortung und der Aufgabenerfüllung im <strong>Zivilschutz</strong> die bisher<br />

existierenden schwierigen Bedingungen nicht unbedingt erleichtern wird.<br />

Dies gilt in allen Fällen, in denen Ländergrenzen überschreitende Fragestellungen<br />

betroffen sind, wie dies bei großräumigen Schadenslagen fast<br />

immer der Fall ist. Hier wird die Koordination des Bundes und der Länder<br />

in Zukunft verstärkt gefordert sein.<br />

Der vorliegende Bericht konzentriert sich in seinen Kernaussagen auf die<br />

Bereiche, in denen die Belange der Zivilbevölkerung und des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

37


stark betroffen sind. Randbereiche wie z.B. die Frage von militärischen Altlasten<br />

wurden zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in den Bericht aufgenommen.<br />

Nach Einschätzung der Kommission stellen diese – wie im Falle<br />

der in der Ostsee versenkten Chemischen Kampfstoffe – eher ein spezifisches<br />

Berufsrisiko der Fischer dar als ein <strong>Zivilschutz</strong>problem, oder – wie<br />

im Fall von Altlasten aus ehemaligen Munitionsanstalten der Streitkräfte –<br />

eher ein Umwelt- und Sicherheitsproblem.<br />

Eine wissenschaftliche Kommission wie die <strong>Schutzkommission</strong> muß die<br />

gegenwärtigen Bestrebungen der Verlagerung der Schwerpunkte des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

auf die Länder natürlich auch unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität<br />

der Vorhaltung entsprechenden Sachverstands bewerten. Tatsache ist<br />

ja, daß die hier in Frage stehenden Themen zu keiner Zeit das wohlwollende<br />

Interesse der Politik und der Öffentlichkeit besaßen und daß sie kaum zu<br />

den Themen gehören, die an Universitäten und Großforschungseinrichtungen<br />

zur den ohnehin bearbeiteten Fragestellungen zahlen. Die Kommission<br />

sieht deshalb große Probleme, entsprechenden wissenschaftlichen Sachverstand<br />

in der Bundesrepublik vorzuhalten, wenn nicht von Seiten des BMI<br />

auch in Zukunft die Bearbeitung solcher Fragestellungen aktiv weiter<br />

betrieben und finanziell unterstützt wird. Der vorliegende Bericht soll die<br />

politisch Verantwortlichen auf die vorhandenen Kenntnislücken aufmerksam<br />

machen und den konkreten <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf aufzeigen.<br />

Die in Kapitel II und m des Berichts gemachten Ausführungen betreffen<br />

naturgemäß eine sehr heterogene Materie. Es war deshalb unvermeidlich,<br />

daß die Behandlung der unterschiedlichen Bereiche mit unterschiedlicher<br />

Breite und Darstellungstiefe erfolgte.<br />

II. Art der Gefahren<br />

Das Grundgesetz unterscheidet hinsichtlich drohender Gefahren, die es im<br />

Interesse der Lebensgrundlagen der Bevölkerung abzuwehren gilt, zwischen<br />

– Seuchen Naturkatastrophen<br />

– besonders schweren Unglücksfällen und<br />

– dem Verteidigungsfall.<br />

Der Begriff „besonders schwere Unglücksfälle“ schließt nach heutigem<br />

Sprachgebrauch technische Katastrophen mit ein. Gefahren können durch<br />

solche technische Katastrophen auf Verkehrswegen und in der Industrie,<br />

durch von außen hereingetragene offene und subversive Angriffe bzw.<br />

Feindseligkeiten und durch innerstaatliche Gewaltakte auftreten. Bei der<br />

Bewertung der Gefahren ist zu berücksichtigen, daß unsere Gesellschaft in<br />

zunehmendem Maße von technischen Einrichtungen abhängt, die aufgrund<br />

ihrer hohen Vernetztheit in sich ein hohes Potential der Störanfälligkeit und<br />

38


der Verwundbarkeit besitzen, das früher in dieser Form nicht vorhanden<br />

war.<br />

Lebensbedrohende Gefährdungen für den Menschen resultieren im wesentlichen<br />

aus drei Quellen:<br />

– Natur und Umwelt (ökologischer Aspekt)<br />

– Wirtschaft und Technik (ökonomischer Aspekt)<br />

– Krieg und Terrorismus (politischer Aspekt)<br />

Ökologischer Aspekt<br />

Naturgewalten werden zunehmend als beherrschbares Risiko angesehen.<br />

Dennoch bleiben Dürre-, Eis- und Flutkatastrophen, Berg- und Erdrutsche,<br />

Dammbrüche, Wirbelstürme, Erdbeben und Eruptionen eine regelmäßig<br />

wiederkehrende Bedrohung, die bei Überschreitung eines gewissen Schadensmaßes<br />

nicht mehr beherrschbar ist.<br />

Ökonomischer Aspekt<br />

Wirtschaftliches Handeln des Menschen ist immer mit Gefährdungen versehen<br />

gewesen. Seien es die Risiken von Jagd- und Fischfang in primitiven<br />

Wirtschaftsformen bis hin zu den Unfällen einer modernen arbeitsteiligen<br />

Produktionstechnik, Verkehrs- und Hauswirtschaft. Die Gefährdungsentwicklungen<br />

in diesem Bereich haben zu einer ausgeklügelten Sicherheitstechnik<br />

geführt.<br />

Berufsgenossenschaftliche, gewerbeaufsichtliche und baupolizeiliche<br />

Anstrengungen haben beachtliche Resultate aufzuweisen. Die Entwicklung<br />

in Verkehr, Wirtschaft und Technik zeichnet sich aber. in starkem Maße<br />

dadurch aus, daß Produktions- und Transporttechniken immer mehr in<br />

Richtung auf „hoch komplexe“ und „eng gekoppelte Systeme“ hinauslaufen,<br />

bei denen bereits „triviale Synergien“ ausreichen, um großflächige<br />

Gefährdungen oder gar Katastrophen auszulösen.<br />

Die hierbei auftretende Bedrohung der Bevölkerung ist besonders augenfällig.<br />

Potentielle Opfer dieser Bedrohung sind nicht mehr nur die Bedienungsmannschaften,<br />

sondern zunehmend mehr auch Systembenutzer,<br />

Anwohner und unbeteiligte Bürger.<br />

Will man den Ängsten vor dieser Gefährdung, die eine politische Realität<br />

darstellen (können), entsprechen, bieten sich zweierlei Strategien an.<br />

– der bewußte Verzicht auf die Anwendung und Nutzung dieser Technologien<br />

oder<br />

– die Entwicklung von überzeugenden Sicherheitsstandards besonders für<br />

die Zivilbevölkerung, die von den Auswirkungen dieser Großrisiken<br />

betroffen sein können.<br />

In Anbetracht der gegebenen Entwicklung ist deshalb ein Gesamtkonzept<br />

für den Schutz der Bevölkerung dringender denn je erforderlich, will man<br />

39


die soziale Akzeptanz der mehrheitlich gewünschten Vorzüge einer arbeitsteiligen<br />

Industriegesellschaft auf Dauer sichern. In der Tat entsprechen die<br />

gegebenen Sicherheitsstandards vielfach in keiner Weise den befürchteten<br />

Gefährdungen.<br />

Politischer Aspekt<br />

Die Gefährdungen sind durch die Weiterentwicklung der Waffen- und<br />

Wehrtechnik und der Sabotage- und Terrorismusaktivitäten kaum kalkulierbar<br />

und in ihrer lebensbedrohenden Durchschlagskraft gewachsen. Auch<br />

Friedens- und Abrüstungsbemühungen lassen keine gefahrfreien Lebensverhältnisse<br />

mit Sicherheit und auf Dauer erwarten.<br />

Die Eigendynamik des Willensbildungsprozesses bei Fragen des Zivil- und<br />

Katastrophenschutzes wird politisches Handeln zunehmend erschweren,<br />

darf aber nicht dazu führen, daß Nichtstun und Belassen des Status Quo als<br />

verantwortbare politische Alternative akzeptiert werden kann.<br />

Im folgenden werden aus dem breiten Spektrum möglicher Gefahren diejenigen<br />

herausgegriffen, deren Bewältigung weiterer Anstrengungen bedarf.<br />

II.1 Gefahren durch die Freisetzung von Chemikalien und<br />

von chemischen Kampfstoffen<br />

II.1.1 Gefahren allgemein durch Chemikalien<br />

Chemikalien werden zur Gefahr, wenn sie freigesetzt werden und aufgrund<br />

ihrer Giftigkeit dazu führen, daß Menschen gesundheitlich geschädigt oder<br />

getötet werden, oder wenn diese <strong>Folge</strong>n im Fall des Einsatzes von chemischen<br />

Kampfstoffen bewußt herbeigeführt werden. Die Freisetzung und<br />

Verbreitung gefährlicher Chemikalien, die in Deutschland in großen Mengen<br />

als Zwischen- oder Fertigprodukte hergestellt, gelagert und transportiert<br />

werden, kann über die Atemluft oder durch Hautkontakt zur akuten oder<br />

chronischen Gefährdung vieler Menschen, aber auch der Umwelt führen.<br />

Sie können aber auch über das Trinkwasser oder über die Nahrung zur<br />

akuten Gefährdung werden.<br />

Unglücklicherweise ist der Geruchs- und Geschmackssinn des Menschen<br />

für viele der gefährlichen Stoffe nicht entwickelt oder zu unempfindlich.<br />

Außerdem zeigt die Geruchswahrnehmung eine schnelle Toleranzentwicklung,<br />

so daß z.B. bei langsamem Konzentrationsanstieg toxische Konzentrationen<br />

von flüchtigen Substanzen nicht mehr durch den Geruch wahrgenommen<br />

werden können, obwohl akut eine Geruchswahrnehmung möglich<br />

ist. So müssen für die Erkennung der Gefahr entweder bestimmte Auswirkungen<br />

auf die Umwelt interpretiert oder Meßgeräte herangezogen werden.<br />

40


Die Wirkung dieser Chemikalien ist von der Konzentration und der Einwirkdauer<br />

auf den Menschen abhängig. Ihre Gefährlichkeit kann durch toxikologische<br />

Beiwerte angegeben werden, wie z.B. die maximal zulässige<br />

Arbeitsplatzkonzentration (MAK), die für mehrere hundert Stoffe bekannt<br />

ist, die Technische Richtkonzentration (TRK), der Einsatztoleranzwert<br />

(ETW) und die Wassergefährdungsklasse (WGK). Im Fall einiger sehr<br />

toxischer und akut wirkender Stoffe, wie z.B. der Kampfstoffe, können das<br />

tödliche Konzentrations-Zeit-Produkt (LCT) oder das handlungsunfähig<br />

machende Konzentrations-Zeit-Produkt (ICT) angegeben werden.<br />

Die gefährlichen Chemikalien nach Art und Menge in der Umwelt schnell<br />

zu erfassen, ist Aufgabe der Gefahrenabwehrkräfte und deren meßtechnischer<br />

Ausstattung. Selbst unter der Annahme, daß die Ausstattung an<br />

Personal und Gerät optimal zu gestalten ist, ergeben sich aufgrund der<br />

unterschiedlichen Freisetzungsarten, Verteilungswege und Vielfalt der Substanzen<br />

große meßtechnische Schwierigkeiten. Die Lokalisierbarkeit und<br />

Vorhersehbarkeit des Ereignisortes und der Menge des beteiligten Stoffes<br />

hängen davon ab, ob es sich um einen Unfall in einer chemischen Anlage,<br />

in einem Lager oder beim Transport auf LKW, Bahn oder Schiff handelt,<br />

oder ob die Chemikalien bewußt als Angriff mit der höchst möglichen Wirkung<br />

auf den Menschen ausgebracht werden. Bei den Ursachen zur Freisetzung<br />

muß man deshalb unterscheiden zwischen Störfällen (wie Leckage<br />

oder Bersten von Behälter, Brand oder Explosion und Unfällen), militärischen<br />

Angriffen sowie terroristischen Aktionen, da deren <strong>Folge</strong>n sehr unterschiedlich<br />

ausfallen können.<br />

Störfälle und Unfälle in chemischen Anlagen und Lagern sind in der Regel<br />

gut lokalisierbar, haben regionalen Charakter und sind von der Gefahrenabwehr<br />

planbar. Die beteiligte Stoffpalette aus der großen Anzahl von insgesamt<br />

ca. 4 000 Gefahrstoffen ist in diesem Fall in der Regel bekannt und<br />

begrenzt, es sei denn durch Brand, explosive Reaktionen und Stoffumwandlung<br />

werden ganz neue, bisher nicht bekannte Stoffe und Gemische<br />

erzeugt. Solche spektakulären Chemieunfälle sind aber glücklicherweise<br />

nur in sehr geringer Anzahl bekannt. Wenn sie allerdings eintreten, sind sie<br />

mit vielen Schwerverletzten und Toten verbunden.<br />

Militärische oder auch terroristische Angriffe auf chemische Anlagen können<br />

aufgrund der vielen möglicherweise gleichzeitig frei werdenden Stoffe<br />

zu nicht kalkulierbaren Gefahren führen. Solche Fälle sind zwar zeitlich<br />

nicht vorhersehbar, in ihrer räumlichen Auswirkung aber abzuschätzen.<br />

Der Schadensort bei Unfällen von Gefahrstofftransporten ist zwar meist auf<br />

die Transportwege beschränkt, er kann aber über ganz Deutschland verteilt<br />

sein; ein spezielles Zugangswege- und -wasserstraßennetz ist für solche<br />

Transporte gesetzlich nicht vorgesehen. Beim Unfall werden in der Regel<br />

kleinere Stoffmengen freigesetzt. Ihre Konzentration hängt von der Art der<br />

Freisetzung ab, je nachdem, ob Leckage, Bersten von Tanks, Brand oder<br />

Explosionen die Ursache waren. Die besondere Aufgabe für die Gefahren-<br />

41


abwehrkräfte besteht dann, schnell auf eine nicht erwartete Situation in<br />

einer nicht bekannten oder erwarteten Umgebung zu reagieren.<br />

Die Meßtechnik und auch Datenbeschaffung über die gemessenen Stoffe<br />

wird dadurch erschwert, daß einer oder mehrere Stoffe aus einer sehr<br />

großen Palette von Stoffen auftreten kann. Die Wahrscheinlichkeit, daß<br />

bestimmte Stoffe beteiligt sind und die notwendige Meßtechnik läßt sich<br />

jedoch an der Menge der transportierten Stoffe abschätzen. Es gibt ca. 130<br />

Gefahrstoffe, die nach einer Studie auf dem Rhein bzw. durch den Hamburger<br />

Hafen in Mengen von mehr als 1 000 t transportiert werden und ca.<br />

480 Stoffe, deren Transport auf diesen Wegen überhaupt erfaßt ist. Von den<br />

Stoffen, die aufgrund ihrer physikalisch-chemischen und toxischen Eigenschaften<br />

akut eine Auswirkung haben, lassen sich die meisten mit der heute<br />

verfügbaren Meßtechnik erfassen.<br />

Chemische Kampfstoffe spielen aufgrund ihrer toxischen Wirkung eine herausragende<br />

Rolle. Während im Fall einer militärischen Auseinandersetzung<br />

die erhöhte Gefahr und die Erwartung von Kampfstoffen permanent sein<br />

wird, sind in friedlichen Zeiten terroristische Anschläge als besonders heimtückisch<br />

zu befürchten. Sehr toxische Stoffe können in Heimlaboratorien<br />

produziert, abgefüllt und besonders wirkungsvoll eingesetzt werden, wie<br />

die Anschläge in Japan gezeigt haben. Außerdem ist nicht auszuschließen,<br />

daß von Rüstungsaltlasten solche Stoffe entwendet und für erpresserische<br />

Drohungen verwendet werden.<br />

Der geringe notwendige Eigenschutz beim Herstellen und Abfüllen sowie<br />

die relativ risikolose Ausbringung bei extremer Wirkung in geschlossenen<br />

Großräumen stellen eine extreme Gefahr dar. Die Nachahmung von terroristischen<br />

Aktionen ist nicht unwahrscheinlich, da sich Bombenattentate mit<br />

Chemikalien relativ risikolos zur Erpressung von Einzelpersonen und des<br />

Staates einsetzen lassen.<br />

II.1.2 Spezifische Gefahren durch Organophosphate und Carbamate<br />

Organophosphate und Carbamate zählen zu den giftigsten Verbindungen<br />

unseres Industriezeitalters. Es handelt sich um eine unüberschaubar große<br />

Gruppe chemischer Verbindungen, die als Hemmstoffe des körpereigenen<br />

Enzyms Acetylcholinesterase und anderer verwandter Enzyme als sogenannte<br />

„Nervengifte“ eine hohe Toxizitat für Mensch und Tier haben. Substanzen<br />

dieser Stoffklasse werden heute in allen Industrienationen in der<br />

Großchemie im Tonnenmaßstab hergestellt. Sie dienen vor allem als Insektizide<br />

und Pestizide in der Landwirtschaft (z.B. Parathion = E 605R ), als<br />

Schmiermittel in der Industrie, als Weichmacher in der Kunststoffindustrie<br />

und, obwohl weltweit geächtet, in der Wehrtechnik einiger Länder auch<br />

heute noch als Kampfstoffe (z.B. die „Nervengase“ Sarin, Tabun, Soman<br />

und VX).<br />

Massenvergiftungen durch Organophosphate in der Landwirtschaft und<br />

Industrie, aber auch die latente Bedrohung beim mißbräuchlichen Einsatz<br />

42


oder bei der Beseitigung solcher Stoffe sind wichtige Gründe, sich mit den<br />

spezifischen Gefahren dieser Stoffe auseinanderzusetzen. Die Gefahren<br />

ergeben sich aus der Produktion selbst, die allein für zivile Zwecke auf weltweit<br />

200 000 Tonnen jährlich veranschlagt wird, aber auch aus der Lagerung,<br />

dem Transport und der Anwendung dieser Chemikalien: Im Rahmen<br />

der Produktion und Lagerung können Explosionen und Brände auftreten,<br />

beim Transport können durch Freisetzung der Gifte Umweltkatastrophen<br />

größten Ausmaßes verursacht werden und bei der fehlerhaften oder gar<br />

mißbräuchlichen Anwendung können Vergiftungsepidemien unter der Zivilbevölkerung<br />

schwerste Gesundheitsschäden hervorrufen.<br />

Das hier geschilderte Gefährdungspotential hat durchaus realistische Hintergründe.<br />

So führte die Beimengung von Triorthocresylphosphat zu Speiseöl<br />

1959 in Marokko zu einer Massenvergiftung; bei einer ähnlichen, als<br />

„Speiseölkatastrophe“ bezeichneten Vergiftung, deren Ursachen wegen<br />

fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen allerdings niemals voll aufgeklärt<br />

werden konnten, wurden 1981 in Spanien 24 000 Menschen in Mitleidenschaft<br />

gezogen, und 1986 ereignete sich in Bhopal/Indien die größte<br />

zivile Katastrophe der Neuzeit, bei der es bei der Produktion von Carbamat-<br />

Insektiziden zur Freisetzung von 30–40 Tonnen Methylisocyanat und anderer<br />

Zwischenprodukte der Carbamatsynthese kam. Seriöse Schätzungen<br />

gehen von bis zu 5 000 Toten und bis zu 60 000 auf das schwerste vergifteten<br />

Patienten aus. Bis heute leiden die Opfer dieser Katastrophe unter<br />

schwersten Organveränderungen, insbesondere Lungenschäden und chronischen<br />

Schäden des Zentralnervensystems in Form von Lähmungen. Erinnert<br />

sei auch an das Chemieunglück bei der Firma Sandoz in Basel 1969,<br />

wo es bei der Produktion chlororganischer Pestizide zu einem grenzüberschreitenden<br />

Unglück kam, das glücklicherweise nur zu Schäden für Flora<br />

und Fauna des Rheins führte, wenn auch mit einer hochgradigen Gefährdung<br />

der Trinkwasserversorgung entlang des Rheins.<br />

Spezifische Gefahren ergeben sich auch aus dem geächteten Einsatz von<br />

Nervengasen im militärischen Bereich, wie sich leider in jüngster Zeit im<br />

Nahen Osten gezeigt hat. Aber auch in der Bundesrepublik bilden Kampfstoffmunitionsfunde<br />

aus Beständen des 2. Weltkrieges in der Ostsee und auf<br />

Truppenübungsplätzen nach wie vor eine latente Gefahr, ebenso der Transport<br />

und die Beseitigung von Beständen der NATO und des ehemaligen<br />

Warschauer Paktes.<br />

Ein besonderes Gefährdungspotential ergibt sich aus dem terroristischen<br />

Einsatz dieser Nervengifte, da Organophosphate leicht herzustellen sind<br />

und z.T. bereits in Milligrammengen tödlich wirken. Die Tatsache, daß sie<br />

sowohl über die Atemluft als auch über den Magen-Darm-Trakt, ja sogar<br />

über die intakte äußere Haut aufgenommen werden können, macht sie in<br />

kriminellen Händen besonders gefährlich. Jüngste Beispiele hierfür sind<br />

zwei Anschläge mit dem Nervengift Sarin in Japan, nämlich 1994 in Matsumoto<br />

mit 600 Vergifteten und 7 Toten und die Massenvergiftung vom<br />

März 1995 in Tokio, bei welcher mehr als 5 500 Menschen exponiert waren,<br />

43


von denen 11 akut verstarben. Auch dort sind bei zahlreichen, wenn nicht<br />

gar Tausenden von Opfern, lebenslange Spätschäden zu erwarten.<br />

II.1.2.1 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Unter standardisierten intensivmedizinischen Bedingungen gelingt es heute,<br />

selbst Patienten mit schweren Organophosphat- oder Carbamatvergiftungen<br />

über die Akutphase der Intoxikation hinwegzuretten. So finden sich in der<br />

Literatur zahlreiche Einzelfallbeschreibungen von Patienten mit Insektizidvergiftungen,<br />

die trotz ausgeprägter Vergiftungssymptomatik durch künstliche<br />

Beatmung, hochdosierte Atropingabe und Gabe von spezifischen Reaktivatoren<br />

der Enzyme sowie intensiver Therapie des Herz/Kreislaufversagens<br />

die Frühphase der Vergiftung überlebt haben. Hierzu haben nicht zuletzt die<br />

von der <strong>Schutzkommission</strong> des Bundesminister des Innern bisher geförderten<br />

experimentellen <strong>Forschung</strong>svorhaben auf diesem Gebiet beigetragen.<br />

Die Analyse der beschriebenen Massenvergiftungen mit mehreren tausend<br />

Exponierten ergibt jedoch für den Fall ähnlicher Unglücksfälle in der Bundesrepublik<br />

Deutschland erhebliche Defizite auf folgenden Gebieten:<br />

– Die medizinische Erstversorgung, der gezielte Abtransport und die ärztliche<br />

Weiterbehandlung einer großen Anzahl Exponierter sind nicht<br />

gewährleistet.<br />

– Die Versorgung der Zivilbevölkerung mit geeigneten Medikamenten<br />

(Atropin, Oxime und Diazepam) ist wegen fehlender Notfalldepots im<br />

zivilen Bereich nicht mehr gesichert.<br />

– Die Kapazität der pharmazeutischen Industrie, derartige Medikamente im<br />

akuten Notfall binnen Stunden bereitzustellen, fehlt.<br />

Die Diagnostik einer Organophosphatvergiftung ist wegen mangelnder klinisch-diagnostischer<br />

Erfahrungen der Ärzte im zivilen Bereich und wegen<br />

fehlender labor-diagnostischer Routineverfahren nicht in der notwendigen<br />

Kürze der Zeit gewährleistet. Trotz des nur 11 Monate zurückliegenden<br />

Sarinanschlages in Matsumoto hat es beim zweiten Giftgasanschlag in<br />

Tokio noch sieben Stunden gedauert, bis die Diagnose einer Organophosphatintoxikation<br />

gestellt wurde.<br />

Die Gefahr „falsch-positiver“ Diagnosen einer Organophosphatvergiftung<br />

ist gerade bei vermeintlichen Massenvergiftungen erheblich. In Israel führte<br />

die prophylaktische bzw. „therapeutische“ Anwendung von Antidoten bei<br />

lediglich vermuteter, aber nicht tatsächlicher Exposition zu schweren Komplikationen<br />

mit zum Teil tödlichem Ausgang; in der Bundesrepublik kam es<br />

im Raum Tübingen zu einer regelrechten Massenhysterie nach vermeintlicher<br />

Aufnahme von Insektiziden, die jedoch durch intensive Diagnostik<br />

ausgeschlossen werden konnte. Die psychischen <strong>Folge</strong>n vermeintlicher<br />

oder tatsächlicher Unglücke sind unerforscht.<br />

Bei schweren Organophosphat- bzw. Carbamatvergiftungen sind die sogenannten<br />

„nicht-cholinergen“ Spätschäden der Lunge, des Herz-Kreislauf-<br />

44


Systems, des Gerinnungs- und Fibrinolysesystems sowie die Schäden des<br />

Nervensystems (irreversible Nervenlähmungen) als Ausdruck der chronischen<br />

Neurotoxizität ein grundlegendes Problem. Diese Spätveränderungen<br />

wurden in der Vergangenheit eher selten beobachtet, weil die Patienten<br />

mangels ausreichender Therapiemöglichkeiten bereits in der Frühphase der<br />

Vergiftung verstarben. Heute dagegen muß mit dem vermehrten Auftreten<br />

der beschriebenen Spätsymptomatik gerechnet werden. Eine derartige<br />

Situation träfe die für den Schutz der Zivilbevölkerung Verantwortlichen in<br />

der Bundesrepublik völlig unvorbereitet.<br />

II.1.2.2 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />

Für die Gefahrenvorsorge ergeben sich neben der Beseitigung der beschriebenen<br />

logistischen Defizite auf dem Transportsektor und im Bereich der<br />

Versorgung der Zivilbevölkerung mit Notfallmedikamenten insbesondere<br />

folgende Konsequenzen:<br />

– Die chemische Analytik der Einzelsubstanzen, insbesondere deren quantitative<br />

Erfassung muß verbessert werden.<br />

– Es müssen Dateien über die Wirkungsprofile und Gefährdungspotentiale<br />

der wichtigsten Organophosphate und Carbarnate erstellt und verfügbar<br />

gemacht werden. Darin ist besonders die chronische Neurotoxizität von<br />

der akuten Toxizität und dem Intermediärsyndrom abzugrenzen.<br />

– Die Erforschung der Intermediär- und Spätschäden im Rahmen der <strong>Zivilschutz</strong>forschung<br />

muß mit größter Priorität vorangetrieben werden, da auf<br />

diesem Gebiet die größten Defizite bestehen. In diesem Zusammenhang<br />

ist u.U. die gegenwärtige forschungsfeindliche Einstellung gegenüber<br />

unumgänglichen, unter den strengen Kautelen des geltenden Tierschutzgesetzes<br />

durchzuführenden Tierversuchen neu zu überdenken.<br />

II.1.3 Anforderungen an die Gefahrenabwehr<br />

Die Messung muß so schnell wie möglich erfolgen, und zwar möglichst mit<br />

Identifizierung des Stoffes und Bestimmung seiner Konzentration. Nach<br />

einer Umfrage bei den Feuerwehren wird es als wichtig für die optimale<br />

Gefahrenabwehr erachtet, daß innerhalb der ersten 15 Min. Meßergebnisse<br />

vorliegen. Das Vorhandensein einer Gefahrstoffwolke, deren Abdrift und<br />

Wirkung kann später nur sehr unvollkommen berücksichtigt werden, selbst<br />

wenn die derzeit verfügbaren computergestützten Ausbreitungsmodelle eingesetzt<br />

werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, den weiteren Aufbau und<br />

die Verflechtung der Giftnotruf- bzw. Giftinformationszentralen fortzuführen<br />

und deren Datenbasis zu erweitern. Dies sind Voraussetzungen für<br />

eine angemessene Beratung der Einsatzkräfte und für die Warnung der<br />

Bevölkerung.<br />

45


Ein Ereignis mit chemischen Kampfstoffen erfordert eine Geräte- und<br />

Schutzausstattung, deren Leistungsdaten über das der Ausstattung für<br />

Gefahrenguteinsätze hinausgeht. In Tunneln mit wenig Konvektion oder in<br />

Gebäuden mit Klimaanlagen sind z.B. aufgrund der lang anhaltenden<br />

Gefährdung weitergehende Anforderung an die Ausstattung zu stellen.<br />

Zur Sicherstellung der Gefahrenabwehr bei Großschadenslagen ist eine effiziente<br />

Dekontamination erforderlich. Nur so kann gewährleistet werden,<br />

daß die vorhandenen technischen Ressourcen wieder verwendet werden<br />

können und nicht nach kurzer Zeit erschöpft sind.<br />

Es wird empfohlen, zur Beseitigung dieser Defizite eine schnell einsetzbare<br />

Task Force mit Hubschrauber einzurichten. Vorbild hierfür könnten die im<br />

Bereich des Strahlenschutzes bereits realisierten Einheiten zur Aero-<br />

Gammaspektrometrie sein.<br />

II.1.4 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

Der folgende <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf besteht:<br />

– Weiterentwicklung und Optimierung der Meßtechnik, die im militärischen<br />

Bereich bereits zur Kampfstoffdetektion eingesetzt wird, wie das<br />

Ionenmobilitätsspektrometer, hinsichtlich der Belange der industriellen<br />

Gefahrstoffe.<br />

– Entwicklung eines Verfahrens zur schnellen toxikologischen Bewertung<br />

analytischer Befunde.<br />

– Systemanalyse für die Einrichtung einer schnell einsetzbaren Spezialtruppe<br />

mit optimaler Ausstattung und Ausbildung auf der Basis von<br />

Hubschraubern nach dem Vorbild der existierenden Einheiten der Aero-<br />

Gammaspektrometrie. Die hierfür erforderliche meßtechnische Ausstattung<br />

existiert bereits.<br />

– Entwicklung eines Ausbildungs- und Übungskonzepts für Planspiele insbesondere<br />

im medizinischen Bereich sowie die Optimierung des Zusammenwirkens<br />

von neuer Meßtechnik und Einsatzleitung.<br />

– Ergänzung der bestehenden Datenbanken durch Sammeln von toxikologischen<br />

Daten, insbesondere von Industriechemikalien.<br />

– Untersuchung der toxischen Wirkung von Stoffgemischen, die bei Explosionen<br />

oder Bränden frei werden.<br />

– Einrichtung eines fächerübergreifenden <strong>Forschung</strong>sschwerpunktes für die<br />

Diagnostik und Therapie schwerer Organophosphat- und Carbamatvergiftungen.<br />

– Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahrensschemata für<br />

die Notfallmedizin unter Berücksichtigung der psychischen und sozialen<br />

46


Verhaltensmuster der Bevölkerung in vermeintlichen oder tatsächlichen<br />

Katastrophensituationen.<br />

– Untersuchung der Langzeitschäden durch Organophosphate und Carbamate.<br />

II.1.5 Fazit<br />

Die Gefahren, die durch die mögliche Freisetzung von Chemikalien entstehen,<br />

können durch optimale Vorsorge eingedämmt werden. Dazu gehört<br />

die Ausstattung der Gefahrenabwehrkräfte mit optimaler Schutztechnik,<br />

Meßtechnik und Informationstechnik und die Übung im Umgang mit diesen<br />

Techniken.<br />

Das Personal und die Ausstattung im Zivil- und Katastrophenschutz müssen<br />

in der Lage sein, nicht nur Industriechemikalien sondern auch Kampfstoffe<br />

zu erkennen und deren Auswirkungen zu bekämpfen und einzudämmen.<br />

Wenn die Techniken für Kampfstoffe beherrscht werden, kann auch den<br />

weniger toxischen industriellen Gefahrstoffen sicher begegnet werden. Alle<br />

Maßnahmen, die zur Kalkulierbarkeit des Risikos und zur Abwehr von<br />

Gefahren beitragen, werden den Chemiestandort Deutschland fördern und<br />

langfristig sichern helfen.<br />

II.2 Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten und<br />

biologische Kampfmittel<br />

II.2.1. Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten<br />

Die ständige Überwachung des Gefahrenpotentials übertragbarer Krankheiten<br />

durch internationale und nationale Institutionen gewährleistet im allgemeinen<br />

eine zuverlässige Information der Gesundheitsbehörden, der<br />

Ärzte und auch der Bevölkerung über mögliche Bedrohung und erlaubt,<br />

z.B. zur Vorbeugung gegen epidemisches Auftreten der Influenza oder der<br />

Poliomyelitis, gezielte Impfaktionen.<br />

Andere Infektionskrankheiten, z.B. die periodisch eskalierende Diphtherie<br />

oder die verschiedenen, häufig eingeschleppten Hepatitiden, bilden allein<br />

schon dadurch eine beachtliche Gefahr, weil der mögliche und sichere<br />

Impfschutz gegen sie gröblichst vernachlässigt wird. Dieser von Experten<br />

immer wieder beklagte, äußerst mangelhafte Impfschutz gegen die bekannten,<br />

nicht nur auf das Kindesalter beschränkten Infektionskrankheiten bildet<br />

eine erhebliche Zusatzgefährdung für die Bevölkerung, wenn es infolge<br />

einer Katastrophe, z.B. lediglich einer größeren und länger anhaltenden<br />

Überschwemmung, zu einem Absinken des Hygienestandards kommt.<br />

Keinesfalls außer acht zu lassen sind die Gefahren infolge eines veränderten<br />

Infektionsmodus bekannter Krankheitserreger, wie es das Auftreten der<br />

47


enterohaemorrhagischen Escherichia coli (EHEC) zeigt, oder infolge Einschleppung<br />

exotischer Krankheitserreger, deren Virulenzgrad unter den in<br />

Mitteleuropa gegebenen Bedingungen nicht vorhersehbar ist.<br />

Alle Erreger übertragbarer Krankheiten können im Zusammenhang mit<br />

Krieg, großräumig wirksamen Terrorakten und Katastrophen gleich welcher<br />

Ursache als <strong>Folge</strong> der veränderten Umwelt- und Lebensbedingungen der<br />

betroffenen Menschen zu einem explosionsartigen Ausbruch von Seuchen<br />

führen. Im Extremfall können auch in Mitteleuropa Typhus, Paratyphus,<br />

Ruhr und Cholera eine größere Bedeutung für die Gesundheit und das Überleben<br />

der Bevölkerung erlangen als das auslösende Katastrophenereignis.<br />

Die Verhütung und Bekämpfung dieser Gefahr steht und fällt mit dem Grad<br />

der Erhaltung bzw. der schnellen Wiederherstellung hygienischer Grundbedingungen.<br />

II.2.2. Gefahren durch den Einsatz hochkontagiöser Krankheitserreger<br />

zu terroristischen Zwecken und als militärisches Kampfmittel<br />

Die Gefahr, daß in Europa hochkontagiöse Krankheitserreger, z.B. Yersinia<br />

pestis, Bacillus anthracis, das toxinbildende Clostridium botulinum und<br />

andere als biologische Kampfmittel eingesetzt werden, ist aus vielen Gründen<br />

wenig wahrscheinlich. Diese massengefährdenden Krankheitserreger<br />

könnten sich jedoch zu terroristischen, erpresserischen und anderen kriminellen<br />

Angriffen auf größere, dagegen völlig ungeschützte Populationen<br />

anbieten. Ihre tödliche Wirkung kommt der chemischer Agentien gleich<br />

oder übertrifft diese, da sich diese Erreger schnell vermehren und ausbreiten.<br />

In ähnlicher Weise bilden auch Salmonellen, Escherichia coli, Choleravibrionen,<br />

Yersinia enterocolitica und verschiedene Kokkenarten, wie es die<br />

unter geordneten Alltagsbedingungen vorkommenden Enteritis-, Ruhr- und<br />

Paratyphus-Epidemien Jahr für Jahr belegen, ein nicht zu unterschätzendes<br />

Gefahrenpotential.<br />

II.2.3. Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />

Bereitet die frühzeitige Diagnose einer bekannten übertragbaren Krankheit<br />

in Deutschland kaum Schwierigkeiten, so besteht bei typischen Massenerkrankungen,<br />

z.B. Enteritiden, die Gefahr, daß einige Zeit vergeht, bis ihr<br />

Herd ermittelt und eingegrenzt, notwendige Schutz- und Behandlungsmaßnahmen<br />

eingeleitet sowie weitere Ausbreitung oder erneutes Aufflackern<br />

verhindert werden können.<br />

Eingeschleppte kontagiöse und bisher unbekannte Erreger, wie seinerzeit<br />

Legionellosen oder das Ebola-Virus, bereiten der nicht darauf gefaßten Ärzteschaft<br />

und selbst Spezialinstituten nach wie vor erhebliche diagnostische<br />

Schwierigkeiten mit entsprechender Auswirkung auf die Chancen einer spezifischen<br />

Therapie. Neu auftauchende Varianten bekannter Erreger wie<br />

48


jüngst der enterohaemorrhagischen Escherichia coli (EHEC) und das Versagen<br />

bisher üblicher Behandlungsmaßnahmen tragen ein übriges zur Unsicherheit<br />

der Ärzte gegenüber gehäuft auftretenden Infektionskrankheiten<br />

bei. Darüber hinaus kann die Neigung, frühzeitig eine antibiotische Therapie<br />

einzuleiten, Krankheitsbilder verschleiern und effektive Behandlung<br />

verzögern oder gar verhindern, wie dies vor einigen Jahren in Nordrhein-<br />

Westfalen bei einer Häufung von Diphtherie durch vorschnelle Gabe von<br />

Penicillin der Fall war.<br />

Die bisher enge Verflechtung der Gesundheitsämter mit den Medizinaluntersuchungsämtern<br />

ist neuerdings durch die in einigen Bundesländern<br />

begonnene Übertragung der bisherigen Institutsaufgaben auf private Einrichtungen<br />

in Gefahr geraten.<br />

II.2.4. Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />

– Im Interesse des Zivil- und des Katastrophenschutzes sollte die Verbindung<br />

der kommunalen bzw. staatlichen Gesundheitsämter zu den jeweiligen<br />

Katastrophenschutzbehörden und die Mitwirkung der Leiter dieser<br />

Ämter bei den Schutzplanungen und -vorbereitung verbindlich geregelt<br />

werden.<br />

– Die Privatisierung von Medizinaluntersuchungsämtern darf nicht zu ihrer<br />

Lösung aus dem Verbund mit den Gesundheitsämtern führen. Außerdem<br />

ist die ständige Information der Gesundheitsämter über Gefahrenlagen<br />

durch die Institutionen des Bundes, z.B. das Robert-Koch-Institut, verbindlich<br />

zu regeln.<br />

– Es muß ein offizielles Anliegen sein, die Ärzteschaft und auch andere<br />

Heilberufsgruppen über drohende Gefahren durch Krankheitserreger<br />

frühzeitig zu informieren.<br />

– Zur kurzfristigen Information der Ärzte über Maßnahmen der Hygiene im<br />

Katastrophenfall sowie über Diagnostik der Therapie infektiöser Krankheiten<br />

sollten die von der <strong>Schutzkommission</strong> bereits vor Jahren entwickelten<br />

Merkblätter aktualisiert und in größerem Rahmen zur Ausgabe<br />

vorbereitet werden.<br />

– An den Universitäten ist der in den letzten Jahren erheblich vernachlässigte<br />

Lehrstoff „Allgemeine Hygiene“ unter dem Gesichtspunkt des Zivilund<br />

Katastrophenschutzes entschieden zu aktivieren. Ebenso sind die<br />

ärztlichen Standesvertretungen aufzufordern, die Kenntnisse über Infektionskrankheiten,<br />

Impfschutz und Hygienemaßnahmen in Notsituationen<br />

in ihren Fortbildungsveranstaltungen zu fördern.<br />

49


II.3 Gefahren durch die Freisetzung von Radioaktivität<br />

einschließlich des Einsatzes von Kernwaffen<br />

II.3.1 Einleitung<br />

Eine Freisetzung von radioaktivem Material und eine Strahlenexposition<br />

einer größeren Anzahl von Personen kann bei Reaktorunfällen und beim<br />

Einsatz von Kernwaffen erfolgen. In kleineren Rahmen können solche Krisensituationen<br />

auch bei Unfällen beim Transport radioaktiven Materials<br />

und dessen Verlust, bzw. bei terroristischer Verwendung radioaktiver Quellen<br />

zustande kommen. Unfälle durch Exposition von Personen innerhalb<br />

nuklearer, industrieller oder medizinischer Anlagen bleiben hier außer<br />

Betracht, soweit sie nicht die Bevölkerung mitbetreffen, obwohl auch solche<br />

Unfälle ähnliche Vorkehrungen, wie unter III.4 erwähnt, erfordern. Die<br />

Wirkungen und Risiken von ionisierenden Strahlen und radioaktiver Kontaminierung<br />

sind besser bekannt als die der meisten anderen gefährlichen<br />

Agenzien, sowohl in Bezug auf akute, unter Umständen lebensgefährliche<br />

Strahlensyndrome, als auch auf <strong>Folge</strong>risiken wie maligne Tumoren, genetische<br />

Schäden, Mißbildungen nach Exposition von Schwangeren und <strong>Folge</strong>n<br />

örtlicher Überbestrahlung. Die <strong>Forschung</strong> nach dem Tschernobylunfall hat<br />

zudem wesentlich dazu beigetragen, die Langzeitrisiken einer radioaktiven<br />

Kontaminierung zu verstehen und entsprechende optimale Interventionen<br />

zum Schutz der Bevölkerung und zur Rehabilitierung kontaminierter Gebiete<br />

zu entwickeln.<br />

II.3.2 Spezifische Gefahren<br />

II.3.2.1 Kernwaffen<br />

Die politische Situation hat sich in den letzten Jahren soweit entspannt, daß<br />

ein Einsatz von Kernwaffen in einem globalen Konflikt unwahrscheinlich<br />

geworden ist. Zudem hat die Entwicklung von Kernwaffen sich von solchen,<br />

bei denen mit einer Bestrahlung einer größeren Zahl von Zivilpersonen<br />

und weiträumiger Kontaminierung zu rechnen ist, zu gezielten Waffen<br />

mit relativ geringer lokaler Kontaminierung hingewandt. Trotzdem ist ein<br />

Einsatz von Kernwaffen nicht a priori auszuschließen, zumal waffenfähiges<br />

Material auch in die Hände von Staaten mit erpresserischer Politik und<br />

selbst von terroristischen Gruppen kommen kann. Zudem weist die Überwachung<br />

spaltbaren Materials in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion<br />

Lücken auf; selbst eine Drohung der Verbreitung solchen Materials durch<br />

terroristische Gruppen, z.B. von Plutonium in der Wasserversorgung, kann<br />

zu Paniksituationen führen, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen<br />

Gefahr stehen. Schließlich ist bei allen Fragen im Zusammenhang mit Kernwaffen<br />

zu berücksichtigen, daß die politischen Bemühungen zur Verhinderung<br />

der Proliferation von Massenvernichtungswaffen nicht in jedem Fall<br />

erfolgreich sein konnten und diese deshalb bei allen Schutzüberlegungen<br />

mit berücksichtigt werden müssen.<br />

50


Die Wirkungskomponenten von Kernwaffen sind gut bekannt (siehe Sittkus<br />

et al. Beiträge für Wirkung von Kernwaffen, <strong>Zivilschutz</strong>forschung, Band 19,<br />

1989). Dabei handelt es sich um den Druckstoß, die thermische Strahlung, die<br />

Initialkernstrahlung und Rückstandsstrahlung aus dem Fallout. Die Falloutstrahlung<br />

betrifft zunächst die äußere Bestrahlung aus der „Wolke“ und die<br />

Ablagerung radioaktiven Materials auf der Erdoberfläche. Zusätzlich kann<br />

die Neutronenstrahlung Materialien auf der Erdoberfläche, an Gebäuden etc.<br />

zu radioaktiven Nukliden umwandeln. Schließlich ist die Aufnahme radioaktiven<br />

Materials durch Einatmen und die Nahrung zu berücksichtigen.<br />

II.3.2.2 Unfälle in Nuklearanlagen<br />

Der Unfall von Tschernobyl hat das enorme Schadenspotential solcher<br />

Situationen gezeigt, das sich nicht allein auf gesundheitliche Schäden<br />

beschränkt, sondern auch ökologische, landwirtschaftliche, wirtschaftliche<br />

und kommerzielle <strong>Folge</strong>n einschließt. Die Risiken von nicht völlig sicheren<br />

Kernanlagen in den Ländern des früheren Ostblocks bestehen weiter. Unfälle<br />

an Kernanlagen innerhalb der Europäischen Union sind, dank der besseren<br />

Sicherheitsvorkehrungen weit weniger wahrscheinlich und, sollten sie<br />

eintreten, mit besseren Vorwarnmöglichkeiten und geringerer Kontamination<br />

der Umwelt verbunden. Andererseits ist die Bevölkerungsdichte in der<br />

Nähe solcher Anlagen erheblich größer und die Notwendigkeit einer Rehabilitierung<br />

kontaminierter Gebiete dringender, als dies bei Tschernobyl der<br />

Fall war. Die <strong>Folge</strong>n eines solchen Unfalls sind akute Strahlenschäden unter<br />

Umständen mit Wunden, die eine medizinische Versorgung erfordern (vgl.<br />

III.4), und mit drohenden Spätschäden (malignen Tumoren, genetischen<br />

und teratogenen Risiken) kombiniert, die kurzzeitig durch die Aufnahme<br />

radioaktiven Materials und externe Bestrahlung aus der „Wolke“ und langzeitig<br />

durch die Aufnahme radioaktiver Nahrung, Trinkwasser und externe<br />

Bestrahlung von Oberflächen mit deponiertem radioaktiven Material<br />

zustande kommen. Eine direkte externe Bestrahlung, wie sie bei Kernwaffen<br />

auftritt, können das Personal der Anlage und die Einsatzkräfte betreffen,<br />

aber wohl kaum die allgemeine Bevölkerung. Sorgfältige Beachtung verlangt<br />

auch die Situation in der Landwirtschaft und der industriellen Produktion.<br />

Allgemein kann man annehmen, daß Kernwaffen eine größere Anzahl<br />

akuter Strahlenerkrankungen zur <strong>Folge</strong> haben können als Unfälle an Kernanlagen,<br />

während sie (heute) voraussichtlich ein geringeres Potential für<br />

weiträumige Kontaminierung haben. Andererseits ist die Gefahr des Mangels<br />

an geeigneten Nahrungsmitteln bei Nuklearunfällen geringer als beim<br />

kriegsmäßigen Einsatz von Kernwaffen, die die Transportmöglichkeiten<br />

aus unbetroffenen Gebieten beeinträchtigen können.<br />

II.3.2.3 Verlust/Verbreitung radioaktiver Quellen und Transportunfälle<br />

Der Verlust radioaktiver Quellen, vor allem aus medizinischen und industriellen<br />

Anlagen, bleibt ein Risiko, das durch eine bessere Überwachung<br />

51


aller Strahlenquellen vermindert, aber nicht ausgeschlossen werden kann<br />

und das in der Vergangenheit nicht selten zu einer Überbestrahlung von<br />

Personen und zu einer kleinräumigen Kontaminierung der Umgebung<br />

geführt hat (wie z.B. bei der willkürlichen Zerstörung einer Cäsiumquelle<br />

in Brasilien). Auch Unfälle beim Transport radioaktiven Materials, wozu<br />

auch medizinische und industrielle Strahlenquellen gerechnet werden müssen,<br />

bedürfen der Beachtung. Jedoch sind alle diese Fälle, im Gegensatz zu<br />

den oben genannten, meist lokale Probleme, die auch auf dieser Ebene<br />

gelost werden können. Doch sind vor allem die großen Wasserstraßen zu<br />

beachten; der verkehrsdichteste Kanal der Welt führt durch Holstein.<br />

II.3.3 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Es ist unbestritten, daß nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation kriegerische<br />

Szenarien, die von einem Kernwaffeneinsatz auf dem Gebiet der<br />

Bundesgebiet mit ausgehen mußten, äußerst unwahrscheinlich geworden<br />

sind. Außerdem sind die Kernwaffenstaaten bemüht, die bestehenden Kernwaffenarsenale<br />

abzubauen, die Weiterverbreitung von Kernwaffen international<br />

zu verhindern und Kernwaffentests weltweit zu verbieten. Trotz dieser<br />

Anstrengungen ist der kriegerische Einsatz von Kernwaffen in Zukunft<br />

nicht völlig auszuschließen. Die bestehenden Waffenarsenale bleiben<br />

immer noch beträchtlich, und es ist unverkennbar, daß die Kernwaffenstaaten<br />

sich selbst nach einem umfassenden Kernwaffenteststopp die Option der<br />

Weiterentwicklung der existierenden Kernwaffentechnik mit anderen<br />

Methoden offenhalten wollen.<br />

Trotz der zweifellos vorhandenen umfangreichen Kenntnisse über die Wirkungsweise<br />

ionisierender Strahlung auf den menschlichen Organismus,<br />

bekannter Dosis-Wirkungsbeziehungen bei unterschiedlichen Arten der<br />

Bestrahlung und der differenzierten Kenntnisse über den Verlauf eines<br />

Strahleninsults, müssen die Möglichkeiten zur Therapie hochexponierter<br />

Menschen immer noch als äußerst eingeschränkt angesehen werden. Dies<br />

gilt in verstärktem Maße für Kombinationsverletzungen, z.B. einen Strahleninsult<br />

bei gleichzeitigem thermischen Trauma: Die Behandlungsergebnisse<br />

nach Tschernobyl haben gezeigt, daß in solchen Fällen selbst die<br />

Methoden der Individualmedizin an Grenzen stoßen.<br />

II.3.4 Ermittlung der Strahlendosis der Bevölkerung in großräumigen<br />

Katastrophensituationen<br />

In den hier einschlägigen Gefahrenlagen ist mit einer Vielzahl von Betroffenen<br />

zu rechnen, die aufgrund unterschiedlicher Noxen einer medizinischen<br />

Betreuung bedürfen. Eine wesentliche Aufgabe besteht darin, die<br />

Personengruppen, die keiner unmittelbaren Therapie bedürfen, und diejenigen,<br />

die weiter beobachtet oder gar behandelt werden müssen, zu erkennen.<br />

Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Bestimmung der Strahlendosis.<br />

52


Hierfür stehen grundsätzlich die klinischen Frühsymptome sowie Methoden<br />

der biologischen und der physikalischen Dosimetrie zur Verfügung. Die<br />

Möglichkeiten der biologischen Dosimetrie sind in Band 12 der <strong>Zivilschutz</strong>forschung<br />

(H. Mönig, W. Pohlit, E.-L. Sattler, 1993, Biologische<br />

Dosimetrie) beschrieben. Im Gegensatz zur physikalischen Dosimetrie<br />

erlaubt es die biologische Dosisermittlung grundsätzlich, unmittelbar die<br />

biologische Reaktionslage der betroffenen Einzelpersonen zu erfassen.<br />

Allerdings ist im subletalen wie auch im letalen Bereich noch keine befriedigende<br />

Lösung für die biologische Dosimetrie gefunden worden, die in<br />

kurzer Zeit eine zuverlässige Aussage liefert.<br />

II.3.4.1 Möglichkeiten der physikalischen Dosimetrie<br />

Für die physikalische Dosimetrie können sowohl ortsfeste Systeme zur<br />

Überwachung der Gamma-Ortsdosisleitung als auch spezielle Dosimeter<br />

eingesetzt werden.<br />

Zur Ermittlung der externen Exposition durch Gammastrahlung bei einer<br />

großräumigen Kontamination der Umwelt und bei einem Kernwaffeneinsatz<br />

steht mit dem bundesweiten Meßnetz zur Bestimmung der Gamma-<br />

Ortsdosisleistung ein leistungsfähiges Meßsystem hoher räumlicher Dichte<br />

zur Verfügung, das die Dosisbelastung beim Aufenthalt im Freien in einer<br />

Region im Mittel abzuschätzen gestattet. Der Betrieb des Meßnetzes durch<br />

den Bund wird auch in Zukunft sichergestellt werden.<br />

Für die Zwecke der physikalischen Individualdosimetrie sind Methoden<br />

erforderlich, die für den Massenanfall geeignet sind. Entsprechende Methoden<br />

sind von der <strong>Schutzkommission</strong> sowie von anderen Arbeitsgruppen<br />

untersucht worden. Es wurden in der Regel Materialien als Dosis-Sonden<br />

verwendet, die am Aufenthaltsort von Personen ohnehin vorhanden sind<br />

und dosisabhängige Änderungen physikalischer Eigenschaften aufweisen,<br />

z.B. die Lumineszenz von Zucker beim Lösen in Wasser nach Absorption<br />

ionisierender Strahlung. Geeignete Materialien wurden ermittelt und spezifiziert.<br />

Dabei wurde für die Anwendung solche Methoden zunächst vorausgesetzt,<br />

daß für die Sonden-Auslesung Geräte eingesetzt werden, die möglichst<br />

im medizinischen Bereich bereits zur Verfügung stehen und von<br />

Laborkräften bedient werden können. Nachteilig erwies sich jedoch noch<br />

die aufwendige Probenbehandlung im Anwendungsfall.<br />

II.3.4.2 Notwendige Schritte zur Verbesserung der Situation<br />

Die Möglichkeiten der biologischen Dosimetrie bedürfen der weiteren<br />

Untersuchung. Im Bereich der physikalischen Individualdosimetrie ist die<br />

Verfügbarkeit der untersuchten Methoden gegenwärtig nicht sichergestellt.<br />

Die erforderlichen nächsten Schritte für die Verbesserung dieser Situation<br />

sind:<br />

53


– es ist eine Methode auszuwählen, die eine einfache Sondenauswertung<br />

durch ungeschultes Personal erlaubt,<br />

– es ist ein computerunterstützter Leitfaden für die Auswertung zu erstellen,<br />

– es sind die Standorte geeigneter Geräte zu ermitteln,<br />

– es ist die Verfügbarkeit von Personal und Geräten im Katastrophenfall<br />

sicherzustellen.<br />

II.4 Gefahren durch spontane Freisetzung mechanischer<br />

Energie einschließlich Waffenwirkungen<br />

II.4.1 Terroranschläge<br />

Die starke Abhängigkeit unserer Gesellschaft von einer hochtechnologischen<br />

Infrastruktur erlaubt keine Ausfälle sensibler Einrichtungen (z.B.<br />

Datenräume, Versorgungseinrichtungen). Aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen<br />

Lage wird zukünftig mehr mit Terror- oder Sabotageanschlägen<br />

zu rechnen sein.<br />

II.4.1.1 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Der derzeitige Stand der Kenntnisse läßt keine Beantwortung der damit verbundenen<br />

Fragestellungen zu. Es ist unbekannt, welchen Beanspruchungen<br />

vorhandene Wand- oder Deckenkonstruktionen standhalten, die durch lokale<br />

Belastungen infolge von Sprengstoffanschlägen verursacht werden.<br />

II.4.1.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation<br />

Um auf derartige terroristische Akte besser vorbereitet zu sein, sind<br />

Anschläge durch Autobomben oder Selbstlaborate zu untersuchen. Neben<br />

Beanspruchungen von außen sind auch Detonationen im Inneren von<br />

Gebäuden zu betrachten, bei denen besonders große Schäden zu erwarten<br />

sind. Dies ist für die Wand- und Deckenkonstruktion der dafür in Frage<br />

kommenden Baumaterialien (Mauerwerk, Stahlbeton) vorzunehmen. In<br />

einem ersten Schritt ist das Widerstands-verhalten der vorhandenen Bausubstanz<br />

zu erfassen. Dazu muß eine Vielzahl von Einflußgrößen wie z.B.<br />

Materialfestigkeit oder Bruchverhalten für die unterschiedlichen Baustoffe<br />

berücksichtigt werden. Im Anschluß daran sind wirkungsvolle Verstärkungen<br />

durch neu zu entwickelnde Baustoffe bzw. Konstruktionsprinzipien<br />

bereitzustellen.<br />

Ferner sind Schutzmaßnahmen gegen typische Belastungen bei Sprengstoffanschlägen<br />

in Form kostengünstiger Verstärkung gefährdeter Objekte zu<br />

erarbeiten. Dazu ist die Entwicklung neuer duktiler Werkstoffe mit hohem<br />

Energieaufnahmenvermögen bei der Verformung erforderlich. Unter<br />

Berücksichtigung der besonderen Umstände bei Anschlägen sind Schutz-<br />

54


abstände neu zu definieren. Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob<br />

durch spezielle Tarnmaßnahmen die Auffälligkeit gefährdeter Bauten und<br />

Bauteile reduziert werden kann.<br />

II.4.2 Impaktwirkungen<br />

In Katastrophenfällen kommt es vielfach durch den Anprall von z.B. aufschlagenden<br />

Fahrzeugen, Maschinenteilen und Trümmerfragmenten von<br />

berstenden Behältern, aber auch durch detonierende Sprengladungen infolge<br />

terroristischer Anschläge zu hohen dynamischen Druckbeanspruchungen<br />

von Bauteilen und Bauwerken, die im überwiegenden Umfang in Beton<br />

oder Stahlbeton gefertigt sind. Das Studium dieser Anprallvorgänge und die<br />

Interaktion zwischen anprallendem „Trümmerfragment“ und Widerstand<br />

leistender Betonstruktur ist eine Vorbedingung für eine Abschätzung des<br />

dabei auftretenden Schadensumfanges und des Gefährdungspotentials.<br />

II.4.2.1 Analyse des Ist-Zustandes<br />

Die Abschätzung der <strong>Folge</strong>wirkungen dieser „Katastrophenlastfälle“ auf<br />

vorhandene Baustrukturen aber auch für die Formfindung und Dimensionierung<br />

entsprechender Schutzstrukturen konnte bisher nur beschränkt und<br />

empirisch mit Hilfe von aufwendigen und kostenintensiven, experimentellen<br />

Untersuchungen erfolgen. Ein Einsatz der modernen numerischen Verfahren,<br />

wie z.B. Finite-Element-Methoden, konnte nicht erfolgen, da hierzu<br />

die entsprechenden konstitutiven Gesetze und Zustandsgleichungen für<br />

die sehr hohen Druckbeanspruchungen fehlen bzw. keine experimentell<br />

verifizierte analytische Untersuchungen vorliegen.<br />

II.4.2.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation und<br />

<strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

Vordringlich ist deshalb die Erarbeitung und punktuelle experimentelle<br />

Verifizierung eines Rechen-Codes, der auf realistischen Stoffgesetzen für<br />

Stahlbeton basiert und die fortschreitende Rißbildung sowie Auswirkungen<br />

der Bewehrung und dynamisch bedingte Festigkeitssteigerungen wirklichkeitsnah<br />

berücksichtigt.<br />

Mit diesem Verfahren ist es dann möglich, entsprechende Katastrophenszenarios<br />

numerisch zu simulieren und dabei den Schadensverlauf zu studieren.<br />

Damit kann das Verhalten von Bauwerken und Bauteilen bei diesen<br />

Sonderbeanspruchungen effektiv untersucht und beurteilt werden und auch<br />

die Dimensionierung von Schutzbauten und -elementen wirklichkeitsnah<br />

durchgeführt werden.<br />

II.4.3 Gefahren durch Zuganprall<br />

Das knapper werdende Bauland und die zentrale Lage vieler auf Stadtgebiet<br />

liegender Bahnanlagen führt zu vermehrten Geleiseüberbauten. Der durch<br />

55


einen Zuganprall verursachte Einsturz eines solchen Bauwerks, aber insbesondere<br />

das Entgleisen eines Zuges im Bahnhofsbereich muß zu hohen<br />

Personen- und Sachschaden und in der <strong>Folge</strong> zu einschneidenden Betriebsstörungen<br />

führen. Die Erhöhung der Zugdichten und insbesondere der Fahrgeschwindigkeiten<br />

der neuen Hochgeschwindigkeitszüge, wie z.B. TGV<br />

und ICE, haben das Gefahrenpotential maßgeblich vergrößert, da die kinetische<br />

Energie des Zuges und damit das Zerstörungspotential quadratisch<br />

mit der Geschwindigkeit ansteigt.<br />

II.4.3.1 Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />

Aufgrund der verfügbaren Kenntnisse können Bauwerke und Bauteile für<br />

den Fall normaler Belastung weitgehend realistisch modelliert und ihr Verhalten<br />

weitgehend wirklichkeitsnah bis hin zum Versagenszustand abgeschätzt<br />

werden. Auf der Gegenseite ist selbst eine vereinfachte rechnerische<br />

Erfassung eines Zuganpralls derzeit kaum möglich, da wesentliche theoretische<br />

und experimentelle Erkenntnisse hierfür noch nicht verfügbar sind.<br />

Das mit einem Zuganprall verbundene hohe Schadenspotential erfordert<br />

eine genauere Berücksichtigung des Gefährdungsszenarios „Zuganprall“,<br />

um wirklichkeitsnahe Aussagen für Schutzeinrichtungen und realistische<br />

Abschätzungen für erforderliche Schutzzonen zu erhalten.<br />

II.4.3.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation<br />

– Katalogisierung der verschiedenen Schienenfahrzeuge und Klassifizierung<br />

im Hinblick auf ihr Tragverhalten unter Horizontallast (Anprall)<br />

sowie Verformungsverhalten.<br />

– Auswahl charakteristischer Zugfahrzeuge und Zugkompositionen unter<br />

Einbeziehung statistischer Komponenten.<br />

– Entwicklung charakteristischer Gefährdungsszenarios.<br />

– Entwicklung vereinfachter numerischer Rechenmodelle.<br />

– Angabe einfacher, zuverlässiger Verfahren zur Abschätzung der Einwirkungen<br />

aus Zuganprall.<br />

II.5 Gefahren durch starke elektromagnetische Felder<br />

II.5.1 Wirkungsweise und spezifische Gefahren<br />

Der Nukleare ElektroMagnetische ImPuls (NEMP) ist eine der Wirkungskomponenten<br />

bei Kernwaffenexplosionen. Er basiert auf einer bei der<br />

Explosion frei werdenden sehr energiereichen Á-Strahlung, die durch<br />

Wechselwirkung, z.B. mit der umgebenden Lufthülle (Compton Effekt),<br />

diese ionisiert und damit ein impulsförmiges elektromagnetisches Feld<br />

56


generiert. Im wesentlichen dabei zu unterscheiden ist zwischen einem exoatmosphärischen<br />

NEMP (Exo-NEMP) und einem endoatmosphärischen<br />

NEMP (Endo-NEMP). Der Exo-NEMP entsteht bei Kernwaffenexplosionen<br />

außerhalb der Atmosphäre. Abhängig von der Detonationshöhe wird ein<br />

mehr oder weniger großes Gebiet auf der Erdoberfläche mit elektromagnetischer<br />

Energie beaufschlagt, während die Einflüsse der anderen Kernwaffenwirkungskomponenten<br />

wie Druck, Hitze und Kernstrahlung auf der Erde<br />

praktisch nicht mehr wirksam sind. Der Endo-NEMP entsteht bei bodennahen<br />

Kernwaffenexplosionen und tritt im Gegensatz zum Exo-NEMP in<br />

Konkurrenz zu den anderen hier wirksamen Komponenten wie Druck,<br />

Hitze und Kernstrahlung auf. Von besonderem Interesse ist in diesem<br />

Zusammenhang der Exo-NEMP, da er großflächig elektrische Einrichtungen<br />

unzulässig stark beaufschlagen und damit insbesondere die immer<br />

schneller expandierende Telekommunikationstechnik empfindlich stören<br />

bzw. zerstören kann. Diese Gefährdung besteht sowohl für die leitungsgebundene<br />

als auch für die drahtlose Telekommunikationstechnik und gilt<br />

gleichermaßen für den militärischen und für den zivilen Bereich. Aufgrund<br />

der seit Anfang dieses Jahrzehnts eingeleiteten politischen Entwicklung hat<br />

diese Thematik etwas an Brisanz verloren, dennoch ist eine Bedrohung<br />

durch den NEMP keineswegs ausgeschlossen.<br />

An Bedeutung gewinnt zunehmend im militärischen Bereich der Problemkreis<br />

High Power Electromagnetics (HPE), bei dem mit Hilfe geeigneter<br />

Generatoren und Antennen ein scharf gebündelter elektromagnetischer<br />

Strahl hoher Energiedichte erzeugt und abgestrahlt werden kann, der eine<br />

Gefahr für die beaufschlagte Elektronik darstellt. In diesem Zusammenhang<br />

muß generell die Beeinflussung elektrischer und elektronischer Geräte,<br />

Anlagen und Systeme durch elektromagnetische Felder betrachtet werden.<br />

Probleme dieser Art sind ganz allgemein Gegenstand der elelektromagnetischen<br />

Verträglichkeit (EMV). Die EMV ist die Fähigkeit einer elektrischen<br />

Einrichtung, in ihrer elektromagnetischen Umgebung zufriedenstellend zu<br />

funktionieren, ohne diese Umgebung, zu der auch andere Einrichtungen<br />

gehören können, unzulässig zu beeinflussen. Die EMV berücksichtigt somit<br />

einerseits die elektromagnetische Störaussendung (Emission) und andererseits<br />

die elektromagnetische Störfestigkeit. Die Störaussendung und die<br />

Störfestigkeitsbeeinträchtigung können sowohl leitungsgebunden als auch<br />

über das elektromagnetische Feld erfolgen. Man könnte hier die Beeinflussung<br />

durch NEMP, LEMP (lightning electromagnetic pulse d.h. Blitzentladungen)<br />

und HPE im weitesten Sinne als Untermenge der EMV auffassen.<br />

– Im weitesten Sinne bestehen damit elektromagnetische Beeinflussungen<br />

von Systemen und Anlagen, die für die Bevölkerung von großer Bedeutung<br />

sind und im Falle des Ausfalls eine unmittelbare Gefährdung darstellen<br />

können; dies sind insbesondere:<br />

– zentrale Telekommunikationseinrichtungen, z.B. Radio- und Fernsehsender<br />

sowie persönliche Telekommunikationseinrichtungen, z.B. Radio,<br />

Fernseher, Telefon, Fax und PC,<br />

57


– Telekommunikationseinrichtungen im Rettungswesen (Feuerwehr, Katastrophenschutz),<br />

– Versorgungseinrichtungen; hier sind in erster Linie Krankenhäuser mit<br />

ihren vielfältigen elektronisch medizinischen Einrichtungen zu nennen,<br />

– Energieversorgungseinrichtungen,<br />

– das Bahntransportwesen.<br />

Um die EMV eines Gerätes, einer Anlage oder eines komplexen Systems<br />

sicherzustellen, muß gelten:<br />

– die Störaussendung, d.h. die Emission elektromagnetischer Energie darf<br />

bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten,<br />

– die Störfestigkeit darf bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht<br />

unterschreiten bzw. die Störempfindlichkeit darf bestimmte in Normen<br />

festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten.<br />

Es ist wichtig, daß Grenzwerte festgelegt werden, denn nur dann kann festgestellt<br />

werden, ob einer elektrischen Einrichtung die EMV bescheinigt<br />

werden kann bzw. ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Sicherstellung<br />

der EMV durchgeführt werden müssen.<br />

II.5.2 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Zur Vermeidung von Handelshemmnissen innerhalb der Europäischen<br />

Union hat der Rat der EG am 3. Mai 1989 eine entsprechende „EU-Rahmenrichtlinie<br />

zur Elektromagnetischen Verträglichkeit“ (89/336EG) erarbeitet,<br />

mit deren Erlaß die EMV zum Schutzziel erklärt wurde. Jede elektrische<br />

Einrichtung, die ab dem 1. 1. 1992 innerhalb der EU in Verkehr<br />

gebracht wurde bzw. in Betrieb gehen sollte, mußte dieser Richtlinie genügen.<br />

Die von der EU zugestandene Übergangsfrist, die erforderlich war, um<br />

Nachqualifikationen auslaufender Produktserien zu vermeiden, ist zum<br />

31. 12. 1995 abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Umsetzung<br />

der Rahmenrichtlinie in nationales Recht am 9. November 1992 durch<br />

Erlaß des Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten<br />

(EMV) vollzogen. Gemäß Artikel 10 der Rahmenrichtlinie ist die Übereinstimmung<br />

elektrischer Einrichtungen mit den Schutzanforderungen durch<br />

eine EU-Konformitätserklärung des Herstellers zu bescheinigen.<br />

Geräte, die nach dem 31. 12. 1995 in Verkehr gebracht werden bzw. in<br />

Betrieb genommen werden, müssen nach dem EMV-Gesetz über eine ausreichende<br />

Störfestigkeit verfügen und dürfen bezüglich der elektromagnetischen<br />

Emission bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Bei der elektromagnetischen<br />

Verträglichkeit ist zwischen der EMV auf der Geräteebene<br />

und der auf der Systemebene zu unterscheiden. Das bedeutet, daß ein<br />

System, bestehend aus mehreren Geräten und Komponenten, nicht unbedingt<br />

EMV-fest zu sein braucht, obwohl den einzelnen Geräten und System-<br />

58


komponenten die EMV bescheinigt worden ist. Hier können zur Erlangung<br />

der EMV zusätzliche Maßnahmen erforderlich werden, die in der Regel<br />

systemspezifisch sind. Die EMV-Vorschriften und -Normen berücksichtigen<br />

daher ohne weiteres nicht die Beeinflussungen durch NEMP, LEMP<br />

und HPE. Auf diesem Gebieten existieren teilweise Normen bzw. sind in<br />

der Entstehung. Im Gegensatz zu den EMV-Normen sind diese Normen<br />

nicht zwingend für alle Geräte z.B. in Telekommunikationseinrichtungen,<br />

in Krankenhäusern, in Rettungseinrichtungen vorgeschrieben. Bei NEMP,<br />

LEMP und HPE können die erreichbaren Feldstärken um Größenordnungen<br />

höher liegen, so daß hier nicht nur mit reversiblen Veränderungen der Bauteileparameter<br />

sondern auch von Beschädigungen von Bauelementen und<br />

vollständigen elektronischen Komponenten ausgegangen werden muß.<br />

II.5.3 Resümee/Analyse der momentanen Situation<br />

Aufgrund der obigen Ausführungen<br />

– weisen die auf dem Markt verfügbaren Geräte und Anlagen im Einflußbereich<br />

der Bevölkerung, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen einen<br />

NEMP- und einen LEMP-Schutz auf. Ein Schutz gegen HPE existiert<br />

generell noch nicht;<br />

– muß zwar nach den zur Zeit gültigen Gesetzen für jedes Gerät in Zukunft<br />

die Einhaltung der EMV-Vorschriften bezüglich Störaussendungen und<br />

Störfestigkeit nachgewiesen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß aus<br />

diesen Geräten aufgebaute Systeme und Anlagen automatisch über die<br />

erforderliche EMV-Festigkeit verfügen (EMV auf der Systemebene).<br />

II.5.4 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

Damit ergibt sich ein <strong>Forschung</strong>sbedarf auf folgenden Gebieten:<br />

Untersuchung der NEMP-, LEMP- sowie HPE-Festigkeit von für die<br />

Bevölkerung relevanten Einrichtungen wie:<br />

– Telekommunikationseinrichtungen (Rundfunk, Feuerwehr, Rettungsdienste)<br />

– elektronisch medizinische Einrichtungen in Krankenhäusern<br />

– Stromversorgungseinrichtungen<br />

– Bahntransport (einschließlich Signal- und Fernmeldewesen)<br />

– Konzeption eines Schutzes, ggf. Untersuchung und Realisierung von<br />

Schutzmaßnahmen<br />

Untersuchung der EMV bezüglich Störaussendung und Störfestigkeit für<br />

die Bevölkerung relevanter Systeme der oben bezeichneten Einrichtungen.<br />

59


III. Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung<br />

Die Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung betreffen sowohl die Verpflichtungen<br />

des Bundes und der Länder als auch die Eigenverantwortung<br />

jedes einzelnen Bürgers. Die Verpflichtung beinhaltet, sich mit den Notwendigkeiten<br />

von Schutzvorkehrungen auseinanderzusetzen. Leider ist es<br />

in unserer Versorgungsgesellschaft nur allzu üblich geworden, nach staatlicher<br />

Hilfe zu rufen und Eigeninitiative zu vermeiden. Diese Einstellung in<br />

weiten Kreisen der Bevölkerung ist in den hier angesprochenen Ausnahmesituationen<br />

äußerst gefährlich, da nur durch die aktive Zusammenarbeit<br />

zwischen den betroffenen und den mit der Gefahrenabwehr befaßten Stellen<br />

eine effektive Abwehr der Gefahren möglich wird. Auf diesem Hintergrund<br />

werden sowohl der Selbstschutz und die Selbsthilfe als auch die von Seiten<br />

des Staats angebotenen und vorgehaltenen Einrichtungen und Maßnahmen<br />

angesprochen.<br />

III.1 Selbstschutz<br />

III.1.1 Beschreibung der Situation<br />

Die öffentliche Gefahrenabwehr in der Bundesrepublik Deutschland befindet<br />

sich im Umbruch (Neukonzeption des Zivil- und Katastrophenschutzes).<br />

Im europäischen Maßstab werden weitere Umbrüche wahrscheinlich<br />

(Maastricht II; europäische Außen-und Sicherheitspolitik;<br />

NATO-Erweiterung). Derzeit kann von einer „Organisations-, Motivationsund<br />

Warnlücke“ gesprochen werden, die sich auf die zuständigen Verwaltungsebenen<br />

und verantwortlichen Ressorts auswirkt, aber auch das in<br />

modernen Gesellschaften ohnehin mit Schwierigkeiten belastete ehrenamtliche<br />

und freiwillige Engagement und die (Wohn-)Bevölkerung insgesamt<br />

beeinflußt und dadurch die ohnehin vorhandene Selbstschutzlücke<br />

nochmals verbreitert. „Selbstschutz“ wird in diesem Zusammenhang im<br />

weitest möglichen Sinne verstanden. Er schließt Selbst- und Nachbarschaftshilfe<br />

sowie die grundlegende Fähigkeit und Bereitschaft zu Hilfe von<br />

der Ersten Hilfe bei Unfällen bis hin zur Hilfe bei Notfällen ein.<br />

III.1.2 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Die auf Bundesebene unternommenen Versuche, den Katastrophenschutz<br />

der Länder in Teilbereichen z.B. in der Führungsstruktur zu vereinheitlichen,<br />

dürfen als gescheitert angesehen werden. Der ehedem natoweit vorgehaltene<br />

CIMEX-Rahmen, schutzpolitisch ohnehin kritikwürdig, ist bislang<br />

ersatzlos entfallen. Eine länderübergreifende Schutzkonzeption müßte<br />

in Länderinitiative von neuem entwickelt werden. Auf Gemeinde- und<br />

Kreisebene sind Teile des Hilfepotentials entmotiviert und ohne tragende<br />

Zukunftsperspektive. Das Warnwesen wurde vollkommen zerlöchert, eine<br />

für Ernstfälle tragfähige und glaubwürdige Informationsstruktur für die<br />

60


Bevölkerung fehlt derzeit. Auch in anderen Bereichen fehlt es an konsistenten,<br />

überzeugenden Lösungen. Eine geeignete Integration von Schutzkomponenten<br />

und -gesetzgebungen (z.B. vom Gesundheitsschutz und<br />

Strahlenschutz über Arbeits-, Natur- und Umweltschutz bis hin zum Zivilund<br />

Katastrophenschutz), aber auch von unterschiedlichen öffentlichen und<br />

privaten Schutz- und Vorsorgesystemen (öffentliche und betriebliche<br />

Gefahrenabwehr, auch Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung sowie<br />

private Risikoabsicherungen) könnte durchaus auch ökonomisch relevante<br />

Rationalisierungen, administrative Vereinfachungen (insbesondere bei<br />

Genehmigungsverfahren) und überzeugendere Lösungen (auch im Hinblick<br />

auf Risikoakzeptanz) bewirken. Eine solche Gesamtkonzeption, die die<br />

unterschiedlichen Schutzgesetzgebungen auf deutscher (oder gar auf EU-)<br />

Ebene zusammenführen und harmonisieren könnte, erscheint unter den<br />

gegenwärtigen Bedingungen ausgeschlossen.<br />

Auch von den <strong>Zivilschutz</strong>zielen selber her gesehen stellen sich Probleme:<br />

Die zentralen Begriffe, wissenschaftliche (wie „Risiko“, „Katastrophen“<br />

oder „Akzeptanz“) und verwaltungstypische (wie „Selbstschutz“, „Katastrophenschutz“<br />

und „öffentliche Gefahrenabwehr“), werden unscharf<br />

gefaßt und teilweise widersprüchlich umgesetzt. Die umlaufenden Definitionen<br />

formulieren eher die Handlungsabsichten und -strategien der Definierenden,<br />

als daß sie eine interessenübergreifende Operationalisierung und<br />

Methodik möglich machen. Somit bleiben diese Definitionen vor allem<br />

gegenüber der für Selbstschutz anzusprechenden und auf diesen angewiesenen<br />

Bevölkerung bedeutungs- und wirkungsarm. Der schwach wirksame<br />

Bundesverband für den Selbstschutz fällt gänzlich fort. Zudem verstärkt<br />

eine modische Untergangssemantik und ein medial inszenierter „Katastrophismus“<br />

eine falsche Risikowahrnehmung. Übertreibende, auf Sensationslust<br />

und Emotionen abzielende Darstellungen in den Medien, insbesondere<br />

effekthascherische (Katastrophen-)Filme, erzeugen, vor allem dann wenn<br />

tatsächliche Erfahrungen fehlen, fehlleitende Erwartungshaltungen und<br />

Orientierungsmodelle. Entgegen allen tatsächlichen Fällen halten selbst<br />

Helfer im Katastrophenschutz hysterische Reaktionen und Panik für die<br />

wahrscheinlichsten Reaktionsmuster in Katastrophen, so daß der Mangel an<br />

realitäts-gerechter Darstellung und Aufklärung zunehmend mehr Menschen<br />

die Fähigkeit verlieren läßt, Bedrohungen angemessen einschätzen und<br />

Gefahren in Relation zueinander bewerten zu können. Dadurch werden<br />

Gefährdungen immer spekulativer und Handlungsoptionen immer irrationaler.<br />

Im einzelnen: Die Planung und Maßnahmen des Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

beruhen noch überwiegend auf überkommenen Bemessungsgrundlagen<br />

und fragwürdigen Szenarien (z.B. im Bereich Evakuierung,<br />

„ungelenkte Bevölkerungsbewegungen“, Bevölkerungsverhalten). Erforderlich<br />

wäre eine rationale Gefährdungsanalyse auf Gemeinde- und<br />

Kreisebene statt eine Bezugnahmen auf einen quantitativen Bevölkerungsschlüssel.<br />

Eine moderne Gefahrenabwehr muß auf die Gefahrenquellen,<br />

61


ihre Verteilung im Raum und ihre möglichen Schadenswirkungen (Verletzlichkeitsbewertung)<br />

bezogen sein und auf aussagefähige Statistiken über die<br />

verfügbaren Einsatzkräfte und Einsätze und über die Schadensfälle und<br />

-verläufe zurückgreifen können. Insbesondere die Reaktions- und Handlungspotentiale<br />

der (Wohn-) Bevölkerung können nicht realistisch dargestellt<br />

und einbezogen werden, weil teils kostenträchtige empirisch aktuelle<br />

Grundlagen fehlen, teils aber auch durchaus vorhandene empirische <strong>Forschung</strong><br />

zum Thema nicht im Umfang ihres Kenntnisstandes wahrgenommen<br />

wird. Unkenntnis bis hin zum Mißtrauen zwischen staatlichen Instanzen<br />

und Öffentlichkeit resultiert aus diesen bislang nicht aufgearbeiteten<br />

Einschätzungen und Kenntnislücken. Aber auch in der Bevölkerung muß<br />

daß Mißtrauen gegenüber einer umfassenden staatlichen Gefahrenabwehrplanung<br />

abgebaut werden. Ziel muß eine transparente, konsistente,<br />

überzeugende Gefahrenabwehrplanung sein, die zu einer Sicherheitspartnerschaft<br />

zwischen Bevölkerung, staatlichen Institutionen, Trägern der<br />

Gefahrenabwehr und risikorelevanten Unternehmen befähigt.<br />

III.1.3 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />

Es mangelt eine rationale Gefahrenanalyse und eine Bestandsaufnahme der<br />

Gefährdungen und Schutzpotentiale. Gefahren und Schutzvorkehr müssen<br />

in ihrem Bezug erfaßbar und damit kalkulierbar gemacht werden. Die Bundesrepublik<br />

Deutschland bedarf also einer Vulnerabilitätsanalyse und einer<br />

integrativen Schutzpolitik, die von der privaten bis zur gemeinwohlorientierten<br />

Daseinsvorsorge alle Möglichkeiten der Schutzvorkehr in der<br />

modernen Industriegesellschaft aufzeigt.<br />

Es bedarf einer modernen Aufklärungspolitik, die bis in die Begrifflichkeit<br />

hinein eine angemessene Darstellung von Risiko und Katastrophe ermöglicht<br />

und das Bedrohliche dem einzelnen Bürger rational, gleichwohl auch<br />

emotional befriedigend zu erklären ebenso imstande ist, wie sie desgleichen<br />

eine konstruktive Sicht auf Sinn und Nutzen von Schutzvorkehrungen zu<br />

eröffnen vermag.<br />

Es bedarf einer allgemeinverständlichen Aufklärungsschrift (um die sich ein<br />

abrufbarer netz- und printgestützter Ring abrufbarer Informationen legt) zur<br />

Verletzlichkeit unserer Gesellschaft, über Ursachen, Verlauf und <strong>Folge</strong>n<br />

von Großunglücken und Katastrophen, über realistische (auch realistischkarge)<br />

Selbstschutz- und Selbsthilfechancen – durch die also nicht neu verunsichert<br />

wird, die aber die latenten und von den Medien noch beförderten<br />

Übertreibungen und Irrationalitäten überwinden helfen. Hier wäre es sinnvoll,<br />

die neue „konsumentenorientierte“ Aufklärungspolitik der FEMA<br />

(Federal Emergency Management Agency, USA) zu studieren und für deutsche<br />

Verhältnisse fruchtbar zu machen.<br />

Maßnahmen im Katastrophenfall werden nur akzeptiert und können in<br />

optimaler Weise nur durchgesetzt werden, wenn sie von einer objektiven<br />

62


Aufklärung der Öffentlichkeit begleitetet werden, die nicht von irrationalen<br />

Ängsten oder politischem Opportunismus bestimmt ist. Für die verschiedenen<br />

denkbaren Katastrophensituationen müssen daher Persönlichkeiten vorgesehen<br />

werden, die in der Lage sind, objektive Information über Risiken<br />

und Gegenmaßnahmen zu geben. In der <strong>Schutzkommission</strong> steht eine solche<br />

Gruppe mit solch breitgefächerter Kompetenz zur Verfügung.<br />

Eine Katastrophensituation konfrontiert die Entscheidungsträger mit einer<br />

überwältigenden Menge verschiedenster Informationen, deren Bedeutung<br />

in Bezug auf die Risiken für die Bevölkerung und die optimalen Gegenmaßnahmen<br />

unter Streß schwer zu beurteilen sind. Für eine massive Freisetzung<br />

radioaktiven Materials stehen bereits Computersysteme zur Entscheidungshilfe<br />

in Echtzeit zur Verfügung. Diese sollte auch für andere<br />

denkbare Katastrophen vorgesehen werden.<br />

III.1.4. <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

<strong>Forschung</strong>sbedarf besteht<br />

– im Bereich einer rationalen Bestandsaufnahme der Gefährdungen und der<br />

Schutzvorkehr in der Bundesrepublik Deutschland: Eine flächendeckende<br />

Schwachstellenanalyse (Vulnerabilitätsanalyse) wäre nützlich und<br />

sinnvoll.<br />

– im Bereich der Schutzvorkehr der Bevölkerung: Ein „Handlungsbezogener<br />

Schutzdatenatlas“ (HSD) auf der Grundlage einer Vulnerabilitätsanalyse<br />

könnte die Bevölkerung zu einer emotionsloseren und konstruktiveren<br />

Umsetzung von Selbstschutzmaßnahmen befähigen.<br />

– im Bereich öffentlicher Darstellung (insbesondere nach Wegfall des BVS)<br />

von Gefährdungen und Schutzmöglichkeiten: Hier sollte eine moderne<br />

Aufklärungskampagne entwickelt werden.<br />

– im Bereich des Einsatzes und der Anwendung moderner, Telekommunikation.<br />

Hier sollte, durchaus in Anlehnung an das Computer-Quiz-Spiel<br />

des Bundesamtes für Verfassungsschutz, eine für Kinder und Jugendliche<br />

geeignete spielerische Heranführung an die Probleme „Risiko“, „Gefährdung“<br />

und „Daseinsvorsorge“ entwickelt werden, wie auch moderne<br />

Informations- und Kommunikations-medien auf der Basis von WWW<br />

(World Wide Web) und Internet, um das erstarrte Desinteresse an der<br />

Thematik in neuen Formen diskussionsfähig aufzubereiten.<br />

III.2 Warnung der Bevölkerung<br />

Gerade Katastrophen und Großschadenslagen zeigen, daß die rechtzeitige<br />

Warnung der Bevölkerung für deren Schutz eine außerordentlich große<br />

Bedeutung besitzt. Ein effizientes Warnsystem ist Voraussetzung für die<br />

Aktivierung anderer <strong>Zivilschutz</strong>bereiche und die Wirksamkeit von Schutz-<br />

63


maßnahmen. Insofern müssen die Maßnahmen zur Warnung der Bevölkerung<br />

zusammen mit den in solchen Fällen erforderlichen Maßnahmen als<br />

ein Gesamtpaket zum Schutze der Bevölkerung angesehen werden.<br />

III.2.1 Gegenwärtige Situation<br />

Für die Warnung der Bevölkerung wurde bis vor wenigen Jahren im Rahmen<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es durch den Bund ein bundesweites Sirenennetz mit<br />

über 60 000 Sirenen betrieben. Im Rahmen der Reduktion des Bundes für<br />

den Warndienst wurde dieses Sirenennetz aufgegeben und in Teilen (ca.<br />

30 000 Stück) von den Ländern zur weiteren Nutzung übernommen. Die<br />

Nutzung dieser Sirenen beschränkt sich allerdings in der Regel auf die örtliche<br />

Nutzung im Bereich von Anlagen mit erhöhtem Gefahrenpotential.<br />

Die nicht mehr betriebenen Sirenen werden in den nächsten Jahren auf<br />

Kosten des Bundes abgebaut. Damit ist das wichtigste Instrumentarium zur<br />

schnellen, zuverlässigen und flächendeckenden Warnung der Bevölkerung<br />

in einer Situation mit akuter Gefahren für die Bevölkerung verloren, ohne<br />

daß hierfür bisher ein tragfähiger Ersatz geschaffen worden wäre.<br />

Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll die Warnung zukünftig<br />

über die für diese Zwecke bei Katastrophen im Frieden von den Ländern<br />

vorgesehenen Warnsysteme erfolgen. Angestrebt wird die Einrichtung eines<br />

Gefahrenerfassungs- und Informationssystems, das die Warnung der Bevölkerung<br />

in allen denkbaren Gefahrenlagen z.B. über Rundfunk ermöglicht.<br />

Einzelheiten hierzu liegen gegenwärtig noch nicht fest.<br />

III.2.2 Mindestvoraussetzungen zur Schließung der existierenden<br />

„Warnlücke“<br />

Eine Verlagerung der <strong>Zivilschutz</strong>aufgabe Warnung der Bevölkerung von<br />

bisher 10 (8) Bundeseinrichtungen (Warnämter) auf möglicherweise<br />

16 Warnzentralen der Länder erfordert<br />

– ein tragfähiges technisches Konzept zur Bereitstellung der zur Lageermittlung<br />

und -bewertung erforderlichen Daten und Informationen des<br />

Bundes, die Grundlage für die Warnung der Bevölkerung sind;<br />

– den Aufbau von möglichst einheitlichen organisatorischen und technischen<br />

Strukturen in den Ländern, die dieses Konzept operationell umsetzen<br />

und ständig verfügbar vorhalten;<br />

– die Schaffung geeigneter alternativer, robuster Warnmittel, die abhängig<br />

von der Größe des Ausmaßes eines Schadensgebiets durchaus unterschiedlich<br />

sein können. Hierbei sollten, aufbauend auf allen in einem<br />

Land verfügbaren Warnmitteln, auf unterschiedliche Gefahrenlagen zugeschnittene<br />

Warnkonzepte entwickelt und mit den jeweiligen Nachbarländern<br />

abgestimmt werden;<br />

– die verbindliche Regelung für die gegenseitige Information und die Koordination<br />

der Warnung der Bevölkerung bei Ereignissen, die Ländergrenzen<br />

überschreiten.<br />

64


Man erkennt aus dieser Aufzählung, daß der Bund im Bereich Warnung der<br />

Bevölkerung als koordinierende Instanz auch in Zukunft national gefordert<br />

sein wird. Dies gilt natürlich auch für die Warnung von Nachbarstaaten im<br />

Rahmen bilateraler und internationaler Informationsabkommen.<br />

III.3 Schutz durch bauliche Maßnahmen<br />

Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der in Kapitel<br />

II.4 beschriebenen Gefahrenpotentiale im Frieden verändern sich auch die<br />

Anforderungen an den Schutz, insbesondere den baulichen Schutz und die<br />

zugehörige Infrastruktur. Nach wie vor bildet die Wohnung den ersten und<br />

ursprünglichsten Schutzort, auch wenn Arbeitsplatz, Schule, Kindergarten<br />

und öffentliche wie gewerbliche Gebäude ebenso wahrscheinliche Aufenthaltsorte<br />

im Schadensfall sein können. Insofern als kriegsbedingte Bedrohungen<br />

geringer wahrscheinlich geworden sind, können hier Schutzstandards<br />

herabgesetzt werden. Da andererseits größere Gefährdungslagen vor<br />

allem im C-Bereich und mobilitätsbedingte Probleme zunehmen, wird<br />

zukünftig stärker auf Evakuierung abgestellt werden müssen. Dann dürften<br />

vor allem öffentliche Gebäude als Auffang- und Sammelstellen an Bedeutung<br />

gewinnen und Schutzleistungen eine Rolle spielen, die auf Lenkung,<br />

Betreuung, Information und Versorgung abstellen können. Hierfür fehlt es<br />

jedoch an Infrastruktur, Übung und teilweise auch schon an geeigneter<br />

Planung und Vorbereitung.<br />

Betrachtet man das Haus als ein unmittelbares Schutzsystem für die Bevölkerung,<br />

so muß man ein wachsendes Sicherheitsrisiko feststellen. Dies<br />

ergibt sich aufgrund gegenläufiger Entwicklungen:<br />

– Steigendes Gefährdungspotential vor allem aufgrund der hochkomplexen<br />

Industrie- und Technologieentwicklung sowie wachsender terroristischer<br />

Aktivitäten.<br />

– Auszehrung des Schutzwertes der Gebäude z.B. aufgrund der Verwendung<br />

neuer Werkstoffe beim Bau und in der Ausstattung, aus Kosteneinsparungsgründen,<br />

wegen des weitgehenden Verzichts auf Kellerräume etc.<br />

III.3.1 <strong>Forschung</strong>sbereiche<br />

Aus den vorgenannten Gefährdungen ergeben sich für den „Schutz durch<br />

bauliche Maßnahmen“ schwerpunktmäßig folgende <strong>Forschung</strong>smaßnahmen:<br />

• Baulicher Schutz gegen äußere Gefahren<br />

– aus nicht machtpolitisch bedingten Entwicklungen<br />

– aus machtpolitisch bedingten Entwicklungen<br />

• Ertüchtigung der vorhandenen Bausubstanz<br />

65


• Einfachschutz bei Neubauten<br />

• Sachschutz, Industrieschutz<br />

• Schutz gegen mechanische und toxische Einwirkungen<br />

– Schutz gegen aufschlagende Gegenstände (z. B. Trümmer)<br />

• Schutz gegen Kontaktladungen<br />

– Schutzwirkung von Erdüberdeckungen für Räume und Behältnisse<br />

– Schutz vor luftgetragenen Schadstoffen<br />

• Schutz gegen dynamische Einwirkungen (z.B. Zuganprall)<br />

• Schutz gegen Brandeinwirkungen<br />

– Einzelbrände<br />

– Meilerbrände<br />

• Bauliche Hilfe bei Bergungsmaßnahmen<br />

– Erdrutsche<br />

– Wirbelstürme<br />

– Erdbeben<br />

– Überschwemmungen<br />

Als vordringlich werden folgende <strong>Forschung</strong>sthemen angesehen:<br />

– Entwicklung von Stoffgesetzen für Beton unter dynamischer Beanspruchungen.<br />

Impakt durch aufschlagende Trümmer jeglicher Art, mit dem in<br />

Katastrophenfällen gerechnet werden muß, und Blastwirkungen detonierender<br />

Sprengladungen (z.B. Autobomben und Selbstlaborate) führen zu<br />

hohen dynamischen Beanspruchungen von Bauteilen und Bauwerken. Die<br />

Kenntnis der Wechselwirkung zwischen Belastung und Widerstand leistender<br />

Betonstruktur ist Voraussetzung für die Abschätzung des Schadensumfangs<br />

und des Gefahrenpotentials. Empirische Untersuchungen<br />

sind aufwendig, kostenintensiv und nur beschränkt durchführbar.<br />

Für den Einsatz moderner Rechenverfahren fehlen bisher jedoch die entsprechenden<br />

konstruktiven Gesetze und Zustandsgleichungen. Diese sind<br />

zu erarbeiten.<br />

• Dynamisches Verhalten lokal beanspruchter Mauerwerkswände und<br />

Stahlbetonkonstruktionen (Material- und Bruchverhalten bei Impakt).<br />

Da zu diesem Themenkreis experimentell verifizierte analytische Untersuchungen<br />

kaum vorliegen, ist die Erarbeitung und punktuelle Validierung<br />

eines geeigneten Rechencodes erforderlich, der auf realistischen<br />

Stoffgesetzen basiert. Dazu müssen die fortschreitende Rißbildung, die<br />

Auswirkungen der Bewehrung und die dynamisch bedingte Festigkeitssteigerung<br />

realistisch berücksichtigt werden.<br />

• <strong>Neue</strong>ntwicklung duktiler Werkstoffe (Faserbeton, hochfeste Betone,<br />

SIFCON 1<br />

66


Um wirkungsvolle und kostengünstige Verstärkungen für Bauwerke und<br />

Bauelemente bereit stellen zu können, die durch dynamische Belastungen<br />

(z. B. Impakt, Blastbelastung von außen, Detonation im Innern) bedroht<br />

werden, müssen neue Werkstoffe mit hoher Energieaufnahme bei der Verformung<br />

entwickelt werden. Mit SIFCON bieten sich beispielsweise eine<br />

Reihe von Anwendungsmöglichkeiten an, die es entsprechend umzusetzen<br />

gilt:<br />

– Schutz von Hochspannungsmasten (Ummantelung der Gitterkonstruktion<br />

zum Schutz gegen Sägen und Sprengladungen).<br />

– Bau von Transformatorenhäusern (Berstschutz).<br />

– Anprallelemente und Sicherheitszäune.<br />

– Schutzbauelemente für wechselnde Einsatzorte.<br />

• Modellentwicklungen zum Zuganprall<br />

Wie unter II.4.3 begründet, besteht ein hohes, wachsendes Zerstörungspotential<br />

durch Zuganprall. Für diese Sonderbelastung sind derzeit<br />

wesentliche theoretische und experimentelle Erkenntnisse nicht verfügbar.<br />

Hierzu sind u.a. charakteristische Gefährdungs-Szenarien und vereinfachte<br />

Rechenmodelle zu entwickeln.<br />

III.4 Medizinische Versorgung<br />

III.4.1. Ausgangslage<br />

Haben die alljährlich eintretenden Naturkatastrophen bisher nur begrenzt<br />

Gesundheitsschäden verursacht, so bilden technische Katastrophen stets<br />

eine nach Zahl, Art und Schwere der Gesundheitsschädigungen unwägbare<br />

Gefahr.<br />

Gewaltaktionen und von außen geführte Angriffe auf die Bundesrepublik<br />

können die Gesundheit der Bevölkerung sowohl durch direkte Einwirkungen<br />

als auch infolge der durch sie verursachten infrastrukturellen Schäden<br />

bedrohen. Zahlreiche Schadensereignisse jeglicher Art können mehrere<br />

Bundesländer zugleich einbeziehen oder sich auf sie auswirken. Die Schädigungen<br />

der Gesundheit können Tod, Verletzungen aller Art, Infektionen,<br />

Vergiftungen, Verbrennungsverletzungen und Strahlenschäden umfassen.<br />

Daß eine Katastrophe infolge einer schnell um sich greifenden Seuche<br />

infolge zufälliger Einschleppung hochpathogener Erreger seit Jahrzehnten<br />

in Deutschland nicht mehr eingetreten ist, berechtigt nicht, diese Gefahr zu<br />

vernachlässigen. Überdies können solche Erreger zu einer bösen Überraschung<br />

werden, wenn sie im Zuge einer Aggression von außen oder als<br />

subversive Maßnahme zum Einsatz kommen.<br />

Haben Katastrophen jeglicher Art erhebliche Zerstörungen der Infrastruktur<br />

oder massive Umweltschäden verursacht, ist infolge des Zusammenbruchs<br />

67


von Versorgungssystemen usw. sehr bald mit dem zusätzlichen Ausbruch<br />

von Infektionen zu rechnen, die bei mangelnder Vorsorge seuchenartigen<br />

Charakter annehmen. Dieser Umstand gewinnt besondere Bedeutung durch<br />

die Tatsache, daß schon heute – besonders in Intensivstationen von Krankenhäusern<br />

– zunehmend Keime isoliert werden, die gegen alle bzw. nahezu<br />

alle bekannten Antibiotika resistent sind. Der Selektionsvorteil derartiger<br />

humanpathogener Erreger liegt auf der Hand, so daß in großem Ausmaß mit<br />

längst vergessen geglaubten, letal verlaufenden Infektionen, wie z.B. Pneumonien<br />

und Septicopyärnien, zu rechnen ist.<br />

Die Ärzte sind nach Berufsrechten und -pflichten verantwortlich für die<br />

nach wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen zu veranlassenden<br />

Maßnahmen, die der Rettung von Leben und der Wiederherstellung der<br />

Gesundheit dienen. Sie wissen jedoch vielfach nicht, wie sie dieser Verantwortung<br />

gerecht zu werden haben. Im Gegensatz zur Schweiz erhält der<br />

deutsche Medizinstudent auch nur an den beiden Münchner Universitäten<br />

eine kurze Einweisung in allgemeine katastrophen-medizinische Erfordernisse.<br />

Gibt es solche Einweisungen andernorts überhaupt nicht, so sind in<br />

den neuen Bundesländern darüber hinaus die zuvor bestehenden Lehrstühle<br />

für Militärmedizin aus unsachlichen Gründen nicht in solche der Katastrophenmedizin<br />

umgewandelt worden.<br />

III.4.2. Gesetzliche Gegebenheiten für die medizinische<br />

Katastrophenhilfe<br />

Die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sind:<br />

– Entwurf des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungs-Gesetzes vom 23. April 1996, hier:<br />

Artikel 1, §§15–17.<br />

– Katastrophenschutzgesetze der Länder, über die in der Begründung des<br />

Entwurfs zum Neuordnungsgesetz ausgesagt wird, daß der Bund die von<br />

den Ländern geschaffenen Strukturen nach dem vergeblichen Versuch,<br />

„auf bundeseinheitliche Stärken und Strukturen des Katastrophenschutzes<br />

und auch seiner Führungsorganisation einzuwirken“, anerkennt.<br />

– Rettungsdienstgesetze bzw. -vereinbarungen der Bundesländer, die nach<br />

Inhalt und Ziel unterschiedlich sind.<br />

– Subsidiär, insbesondere bei nicht-militärischen Konflikten, die Bestimmungen<br />

über die Mitwirkung der Bundeswehr, speziell ihres Sanitätsdienstes<br />

bei der Bekämpfung von Katastrophen.<br />

– Landesgesetze für den öffentlichen Gesundheitsdienst.<br />

III.4.3 Benötigte Kräfte zur medizinischen Katastrophenhilfe:<br />

– Notärzte und Leitende Notärzte entsprechend den Ländergesetzen und<br />

-Vereinbarungen.<br />

68


– Kräfte des Rettungsdienstes, gestellt von Feuerwehren und Hilfsorganisationen<br />

gemäß den Bestimmungen der Länder.<br />

– Sanitätsdienstliche Kräfte der Hilfsorganisationen, Freiwillige.<br />

– Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes.<br />

III.4.4 Voraussetzungen zur Bewältigung der durch Katastrophen<br />

und Gewaltakte verursachten Gesundheitsschäden<br />

Unstreitig im Vordergrund der Hilfeleistung steht die qualifizierte<br />

notfallmedizinische Hilfe am Schadensort.<br />

Dazu ist ein verantwortliches Tätigwerden von Hilfsorganisationen noch nie<br />

berechtigt gewesen, da sie nur Laienhilfe leisten können. Ihre Bezeichnung<br />

bestätigt eindeutig, daß sie lediglich zur Unterstützung etatmäßiger, unter<br />

ärztlicher Leitung stehender Sanitätsdienste gebildet worden waren.<br />

Für die innerhalb kürzester Zeit (Minuten 1) notwendigen notfallmedizinischen<br />

Maßnahmen stehen stets zunächst nur die Notärzte und Rettungsdienste<br />

zur Verfügung, die allein schon auf Grund ihrer speziellen Erfahrungen<br />

und zeitlich lange vor dem Eintreffen weiterer Hilfskräfte die Rettung<br />

von Schadensopfern, ihre Sichtung, Erstbehandlung und Weiterleitung<br />

zu Krankenhäusern vornehmen bzw. einleiten.<br />

Sobald wie möglich wird ein Leitender Notarzt am Schadensort die Leitung<br />

der gesamten medizinischen Maßnahmen übernehmen, wie dies in den meisten<br />

Ländern auch vorgesehen ist.<br />

Die Mitwirkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes erstreckt sich auf<br />

Planung und Steuerung der medizinischen Hilfe innerhalb der zuständigen<br />

Katastrophen- bzw. <strong>Zivilschutz</strong>behörde.<br />

III.4.4.1 Strahlenunfälle und nukleare Katastrophen, Erste Hilfe und<br />

ärztliche Maßnahmen<br />

Strahlenschäden stehen im Hinblick auf die Zahl der Opfer keinesfalls an<br />

der Spitze tödlicher Ereignisse, dennoch ist die Furcht der Menschen vor<br />

der Kernstrahlung unverhältnismäßig groß. Die Bomben von Hiroshima<br />

und Nagasaki und noch mehr der schwere Störfall des Reaktors in Tschernobyl<br />

haben ein Tiefentrauma in der Psyche große Teile der Bevölkerung<br />

erzeugt, das sie ständig an die Möglichkeit einer Reaktorkatastrophe denken<br />

läßt.<br />

Bei einem schwerwiegenden Ereignis, etwa der explosionsartigen Freisetzung<br />

großer Strahlenmengen, kann die Anzahl hoch strahlenbelasteter,<br />

unmittelbar betroffener Personen etwa der eines schweren Bergwerksunglücks<br />

vergleichbar sein. Nach dem ersten Tschernobyl-Bericht der IAEA-<br />

Konferenz August 1986 waren es 203 Betroffene, von denen 26 (28) am akuten<br />

Strahlensyndrom, zumeist kombiniert mit Verbrennungen, verstarben.<br />

69


Im Fall einer nuklearen Katastrophe ist in der weiteren Umgebung des<br />

Schadensortes mit einer noch weit höheren Anzahl strahlenexponierter<br />

Menschen zu rechnen, die medizinischer Erfassung, Betreuung und<br />

Behandlung bedürfen werden. Dazu sind bereits vor Jahren Vorstellungen<br />

über Maßnahmen entwickelt und neue Erkenntnisse folgend fortgeschrieben<br />

worden, die in nuklearen Unfällen oder Katastrophen zu ergreifen<br />

sind.<br />

Während bei einem Unfall in einer Kernenergieanlage die Erfassung und<br />

Behandlung der unmittelbar betroffenen Opfer durch werkseigenes Personal<br />

erfolgt, sowie Personal des Rettungsdienstes und der Feuerwehren Erste<br />

Hilfe leistet, obliegt die Hilfeleistung außerhalb der Anlage so lange dem<br />

Rettungsdienst und zusätzlich herbeigerufenen Ärzten und Hilfskräften, bis<br />

der Hauptverwaltungsbeamte durch Erklärung des Katastrophenfalles die<br />

Mobilisierung zusätzlicher Einheiten anfordert.<br />

Bei jeder Hilfeleistung ist es vor allem ärztliche Aufgabe, die ausschließlich<br />

Strahlengeschädigten von ausschließlich Verletzten und von kombiniert<br />

strahlen- und traumatisch Geschädigten zu unterscheiden. Sie sind im Sinne<br />

der allgemeinen Sichtungsgrundsätze nach den Schweregraden ihrer Schädigung<br />

und Lebensbedrohung einzuordnen, so weit wie möglich zu dekontaminieren,<br />

zu behandeln und je nach Erfordernis und Dringlichkeit in<br />

Krankenhäuser abzutransportieren.<br />

Ist ein nukleares Schadenereignis eingetreten, das sich weit, auch über Ländergrenzen<br />

hinweg, auf die Bevölkerung auswirken kann, so ist es eine der<br />

wichtigsten Aufgaben des zuständigen Hauptverwaltungsbeamten einer<br />

Kreis- oder Stadtbehörde, die erforderlichen Schutz- und Abwehrmaßnahmen<br />

anzuordnen und wenn notwendig den Katastrophenfall zu erklären.<br />

Strahlenexpositionen kommen zustande durch die z.B. aus einem Reaktor<br />

freigesetzte radioaktive Wolke, durch am Boden abgelagerte Radioaktivität<br />

und durch Kontamination der Körperoberfläche. In selteneren Fällen<br />

kommt es zur Inkoiporation radioaktiver Substanzen.<br />

Als Schutz- und Abwehrmaßnahmen für die mittelbar betroffene Bevölkerung<br />

sind die Maßnahmen „Verbleiben im Haus“, „Evakuierung“, die Ausgabe<br />

von Jodtabletten und die ambulante Erfassung möglicher, nicht sofort<br />

festgestellter Strahlenfolgen vorgesehen. Außerdem müßten in solchen<br />

Fällen in der Regel der Ingestionspfad unterbunden und Maßnahmen im<br />

landwirtschaftlichen Bereich ergriffen werden.<br />

Dem Hauptverwaltungsbeamten steht neben der Feuerwehr, dem THW und<br />

Hilfsorganisationen ein Beratungsstab von Spezialisten zur Verfügung, darunter<br />

ein „Strahlenschutzarzt“. Letzterer soll anhand von Meßergebnissen<br />

über die Strahlenbelasteter im kontaminierten Bereich Vorschläge zum weiteren<br />

Verfahren machen, z.B. zur Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen<br />

oder Ausgabe von Jodtabletten mit Anweisungen, wann und wie diese<br />

einzunehmen sind.<br />

70


Falls die Kontamination der Umgebung des Reaktors ein bedrohliches Maß<br />

erreicht, hat der die Katastrophenschutzleitung beratende „Strahlenschutzarzt“<br />

die Errichtung von Notfallstationen zu veranlassen. Dieser medizinischen<br />

Einrichtung werden Personen, die im Verdacht stehen, strahlenexponiert<br />

zu sein, zur Sichtung und Erstversorgung zugeführt.<br />

In der Notfallstation sollen die möglicherweise kontaminierten Personen<br />

registriert, befragt und anhand vorliegender Umgebungsmessungen auf ihre<br />

Gefährdung hin beurteilt werden. Kontaminierte müssen nach geltenden<br />

Grundsätzen dekontaminiert und mit Ersatzkleidung ausgestattet werden.<br />

Schließlich hat ein Arzt zu entscheiden, ob die Betroffenen weiterer Überwachung,<br />

ambulanter oder gar stationärer Behandlung bedürfen.<br />

Zur Ermittlung einer Strahlenschädigung stehen allerdings dem „Strahlenschutzarzt“<br />

nur wenige, ziemlich unsichere Hilfsmittel zur Verfügung, so<br />

z.B. die gemessene Ganima-Ortsdosisleistung im betroffenen Gebiet. Die<br />

Kontamination der Haut kann durch Messung ermittelt werden. Da biologische<br />

Laborparameter, z.B. Granulo- und Lymphozytenzahlen und<br />

Chromosomenaberrationen, zu einem frühen Zeitpunkt noch nicht aussagekräftig<br />

sind, bleibt dem Arzt in der Notfallstation für seine Erstdiagnose<br />

eines Strahlenschadens in der Regel nur die Feststellung der nicht sehr spezifischen<br />

Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerz, Bewußtseinsstörungen,<br />

Hauterythem und Konjunktivitis. Diese können aber auch<br />

Ausdruck einer starken emotionalen Reaktion auf das Schadensereignis<br />

sein.<br />

In der Notfallstation ist keine stationäre Behandlung vorzusehen oder auch<br />

nur zu beginnen. Eine große Bedeutung kommt an jedem Ort des Geschehens<br />

der psychologischen Betreuung, insbesondere in der Notfallstation,<br />

für alle Strahlenopfer, aber auch für die nur vermeintlich Geschädigten<br />

zu. Es bedarf der Erfahrung und des hohen Einfühlungsvermögens, die<br />

nicht oder wenig Gefährdeten zu überzeugen, daß sie keiner ärztlichen<br />

Behandlung bedürfen. Hierzu geeignete Psychologen schnell zur Hand<br />

zu haben, ist keineswegs gewährleistet. Der Einsatz von Geistlichen ist<br />

hier im Gegensatz zu ihrem Zuspruch für Sterbende kaum in Betracht zu<br />

ziehen.<br />

Empfehlungen zur Verbesserung der Vorbereitungen für den nuklearen<br />

Katastrophenfall:<br />

– Nach bisherigen Beobachtungen betreiben lediglich die in der Nähe einer<br />

Kernenergieanlage zuständigen Katastrophenschutzbehörden in Zusammenarbeit<br />

mit dem Betreiber die Vorbeugung gegen mögliche Schadensauswirkung<br />

auf die Bevölkerung mit der notwendigen Zuverlässigkeit. Im<br />

Hinblick auf die nach wie vor im Ausland existierenden Risiken ist zu fordern,<br />

daß sich alle Hauptverwaltungsbeamten der Kommunen und Landkreise<br />

ernsthaft mit den zu ergreifenden Vorsorge- und Schutzmaßnahmen<br />

befassen.<br />

71


– Die ermächtigten Strahlenschutzärzte sollten von den Katastrophenschutzbehörden<br />

im Interesse ihrer im Notfall notwendigen schnellen<br />

Verfügbarkeit im voraus erfaßt und ihre Anwesenheitspflicht festgelegt<br />

werden.<br />

– Es sind in Städten und ländlichen Regionen, insbesondere in der Nähe<br />

kerntechnischer Anlagen geeignete Objekte für die mögliche Errichtung<br />

von Notfallstationen zu ermitteln und in den Katastrophenschutzplänen<br />

festzuschreiben.<br />

– Notwendige Ausrüstungsgegenstände für die Notfallstationen müssen<br />

sehr kurzfristig verfügbar gemacht werden.<br />

– Die Entwicklung funktionssicherer und einfach zu handhabender Dosimeter<br />

sollte weiter gefördert werden.<br />

– Es bedarf wissenschaftlicher <strong>Forschung</strong> zu weiterer Verbesserung der<br />

Diagnostik und Therapie von Strahlenschäden.<br />

– Die bisher weithin fehlende Information der Ärzteschaft über die mögliche<br />

Inanspruchnahme jedes einzelnen Arztes zur Hilfeleistung und<br />

Übernahme bestimmter Aufgaben im Falle einer nuklearen Katastrophe,<br />

z.B. in einer Notfallstation, ist unbedingt in Angriff zu nehmen. Auch der<br />

Rettungsdienst und die Angehörigen der Hilfsorganisation müssen über<br />

die im speziellen Fall einer nuklearen Katastrophe von ihnen erwarteten<br />

Hilfeleistungen unterrichtet werden.<br />

III.4.4.2. Grundregeln für den Abtransport jeglicher Schadensopfer<br />

Die Lenkung des Abtransportes ist Aufgabe der Rettungsleitstelle, die gem.<br />

§ 16, Abs. 1, Nr. 2 des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes unter ärztlicher Leitung<br />

die Belegung der stationären Einrichtungen zu regeln hat. Voraussetzung<br />

für die höchstmögliche Zweckmäßigkeit der Entscheidung ist allerdings<br />

eine kontinuierliche Abstimmung mit dem am Schadensort leitenden<br />

Notarzt.<br />

Transportmittel sind die Fahrzeuge und Hubschrauber des Rettungsdienstes<br />

und der Krankentransportdienste sowie auch Privatfahrzeuge und Taxen<br />

zum Abtransport Leichtverletzter. Hinzu kommen nach Alarmierung die<br />

Fahrzeuge der Hilfsorganisationen und ggf. des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.<br />

III.4.4.3 Stationäre Behandlung der Schadensopfer<br />

Dies ist nach Zuweisung durch Leitende Notärzte und/oder der Rettungsleitstelle<br />

Aufgabe der Krankenhäuser und Spezialabteilungen.<br />

72


III.4.5 Erforderliche Maßnahmen des Bundes in Zusammenarbeit mit<br />

den Ländern zur Verbesserung bisheriger Maßnahmen und Regelungen<br />

für den medizinischen Zivil- und Katastrophenschutz<br />

Die Maßnahmen beziehen sich auf die Organisation katastrophenmedizinischer<br />

Maßnahmen, die Infektionsabwehr und Seuchenbekämpfung, Aus-,<br />

Fort- und Weiterbildung sowie die erforderlichen materiellen Vorbereitungen<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />

III.4.5.1 Organisation<br />

– Es ist notwendig, daß der Bund im Interesse frühestmöglicher Hilfeleistung<br />

auf die Länder einwirkt, damit diese ihre medizinischen Katastrophenschutzvorbereitungen,<br />

den tatsächlichen Geschehensabläufen<br />

entsprechend, enger mit den Einrichtungen der Notarzt- und Rettungsdienste<br />

verbinden.<br />

– In Zusammenarbeit mit den ärztlichen Berufsorganisationen ist eine, auch<br />

bei Katastrophen und im Verteidigungsfall gesicherte Verbindung des<br />

Notarztdienstes mit den ärztlichen Notfalldiensten herzustellen.<br />

– In allen Bundesländern sollten vorsorglich mehr Notärzte und vor allem<br />

leitende Notärzte herangebildet und vorsorglich zum Einsatz bei Massenunfällen<br />

und Katastrophen eingeplant werden; ebenso bedarf es einer<br />

festen Einteilung notfallmedizinisch erfahrener Ärzte zur Leitung medizinisch<br />

erforderlicher Transporte in den Rettungsleitstellen entsprechend<br />

§16. Abs.1, Nr.2 des Katastrophenneuordnungsgesetzes bzw. des KatS-<br />

ErgG von 1990.<br />

– Größere Gruppen sanitätsdienstlicher Helfer der Hilfsorganisationen sollten<br />

enger mit dem regulären Rettungsdienst verbunden werden und in<br />

dessen Alltagsdienst mitwirken, um bei Katastrophenfällen frühzeitig leistungsfähige<br />

Verstärkungen zur Hand zu haben. (Dabei Mehrfachzählungen<br />

und Kapazitätsüberschätzungen vermeiden).<br />

– Die Katastrophenschutzpläne der Länder, Landkreise und Kommunen<br />

sowie ebenso der Krankenhäuser müssen zumindest in grenznahen Bereichen<br />

mit den benachbarten territorialen Zuständigkeitsbereichen abgestimmt<br />

werden. Im übrigen besteht auch innerhalb der Länder keine Einheitlichkeit<br />

der Pläne, so daß ihre Effektivität im Verteidigungsfall und<br />

bereits bei Flächenkatastrophen zu erheblichen Zweifeln Anlaß gibt.<br />

– Die schnelle Ermittlung von Infektionserregern und ihrer Bekämpfungsmöglichkeiten<br />

durch den öffentlichen Gesundheitsdienst ist in mehreren<br />

Bundesländern durch die Übertragung der bisher von bundeseigenen<br />

Instituten getragenen Aufgaben an private, unabhängige Institute gefährdet.<br />

Es ist erforderlich, daß der Bund seinen Einfluß auf die Länder geltend<br />

macht, dies zu verhindern bzw. bindende Regelungen für die Zusam-<br />

73


74<br />

menarbeit solcher Institute mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst,<br />

insbesondere auf dem Gebiet der Information, zu treffen.<br />

III.4.5.2 Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />

– Verstärkte Fortbildung der Ärzte in der Notfallmedizin, insbesondere<br />

Heranbildung eines Überschusses an Notärzten und frei praktizierenden<br />

Notfallärzten für den Einsatz.<br />

– Fortbildung des Rettungsdienstpersonals in den Grundsätzen des Zivilund<br />

Katastrophenschutzes.<br />

– Unterrichtung der sanitätsdienstlichen Helfer der Hilfsorganisationen<br />

über die Grundsätze ihrer Mitwirkung im Zivil- und Katastrophenschutz<br />

sowie ihre Gebundenheit an die Weisung der am Schadensort verantwortlichen<br />

Ärzte.<br />

– Fortbildung der freiwilligen Sanitätshelfer und Erhaltung ihrer Fähigkeiten<br />

durch aktive Mitwirkung im Rettungsdienst, um ihre durch mangelnde<br />

Praxis verursachten Kenntnis- und Fähigkeitsverluste zu überwinden.<br />

Dazu sind auf der Grundlage des sog. „Ulmer Modells“ eingehende und<br />

das gesamte System der Hilfeleistung umfassende Untersuchungen unter<br />

Beteiligung aller am bisherigen Hilfeverfahren beteiligten Gruppen und<br />

Organisationen erforderlich.<br />

– Planmäßige Erste-Hilfe-Ausbildung der Bevölkerung, in den Schulen<br />

beginnend und möglichst oft wiederholt.<br />

– Einführung von Pflichtvorlesungen über Katastrophenmedizin an allen<br />

deutschen Universitäten und Aufforderung an die deutsche Ärzteschaft,<br />

katastrophenmedizinische Themen in ihren Fortbildungsveranstaltungen<br />

zu behandeln.<br />

– Erfahrungsgemäß sind auf dem Gebiet der Verhinderung und Bekämpfung<br />

der Infektionskrankheiten und Seuchen Übungen erforderlich, da der<br />

in der Bundesrepublik erreichte hohe Hygienestandard mit einem Verlust<br />

an praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen einhergeht.<br />

III.4.5.4 Materielle Vorbereitungen des medizinischen <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die leistungsfähige pharmazeutische Industrie<br />

in Deutschland kurzfristig in der Lage sei, den im Zivil- und Katastrophenschutz<br />

entstehenden Bedarf an notfallmedizinischen Arzneimitteln und<br />

Lösungen abzudecken. Der Bedarf schnellt bei vielen Verletzten, insbesondere<br />

bei Vergifteten und Brandverletzten, in kürzester Zeit in die Höhe.<br />

Damit kann die beste Industrie nicht Schritt halten, weil sie ausnahmslos<br />

bedarfsorientiert produziert, so daß vor allem die Produkte zur Behandlung<br />

chronischer Krankheiten verfügbar sind.


Dazu kommt, daß auch die in den Apotheken und Krankenhäusern vorgehaltenen<br />

Arzneimittel ihrem durchschnittlichen Umsatz bzw. Verwendungsbedarf<br />

entsprechen. Eine zumindest begrenzte Bevorratung typisch<br />

notfallmedizinischer Arzneimittel, evtl. abgestimmt oder gemeinsam mit<br />

dem Sanitätswesen der Bundeswehr, erscheint erforderlich. Dies gilt in<br />

begrenztem Rahmen auch für Verbandmittel und muß wie auch für Arzneimittel<br />

unter allen Umständen so weitgehend wie möglich dezentral erfolgen.<br />

III.4.6 Fazit<br />

Ohne Berücksichtigung der vorstehenden, relativ einfach zu befolgenden<br />

Vorschläge durch den Katastrophenschutz der Länder und eine entsprechende<br />

Einwirkung des Bundes auf sie dürfen die Regierungen und insbesondere<br />

die betroffene Bevölkerung nicht darauf hoffen, daß der medizinische Katastrophenschutz<br />

der Länder sowie deren Eingreifen im Verteidigungsfall in der<br />

Lage ist, unnötige Opfer an Leben und Gesundheit zu vermeiden. Das Sterben<br />

verletzter Opfer beginnt im Augenblick des Schadenseintrittes und<br />

nimmt von Minute zu Minute zu!<br />

III.4.7 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

Es wird eine gründliche Untersuchung aller im Zusammenhang mit dem<br />

Zivil- und Katastrophenschutz zu lösenden gesundheits- und sanitätsdienstlichen<br />

Fragen vorgeschlagen, die die Entwicklung einer zukunftsweisenden<br />

Konzeption für eine funktionsfähige und wirkungsvolle medizinische Hilfe<br />

zum Ziel hat.<br />

Diese Untersuchung sollte sich erstrecken auf<br />

– die Mitwirkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes unter Berücksichtigung<br />

der Tatsache, daß es sich um teils staatliche, teils kommunale Institutionen<br />

handelt;<br />

– die Auswertung vorliegender Studien über die Verfügbarkeit und Qualifikation<br />

bisher vorhandener Helferpotentiale sowie Vorschläge zur Verbesserung<br />

und Erhaltung ihres Ausbildungsstandes;<br />

– die Darlegung des tatsächlichen Bedarfes an medizinischer Katastrophenhilfe<br />

sowie insbesondere des Ablaufes der Hilfeleistung am Schadensort<br />

nach Zeit, Verfügbarkeit und Qualifikation der Kräfte sowie<br />

Gegenüberstellung des ärztlichen und des nicht-ärztlichen Entscheidungsbedarfes;<br />

– die Ermittlung des materiellen Bedarfes an<br />

a) Arznei- und Verbandmitteln,<br />

b) örtlich benötigtem Material (Zelte, Absperrung usw.),<br />

75


c) Funk-, Fernsprech- und Fernschreibverbindungen,<br />

d) Transportmitteln aller Art;<br />

– die bisher getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen zur Übernahme<br />

der ärztlichen Leitung in den Rettungsleitstellen im Katastrophenfall;<br />

– die Effektivität der vorbereitenden Maßnahmen zur Einrichtung von Notfallstationen<br />

und deren Arbeitsverfahren im Falle einer nuklearen Katastrophe<br />

sowie die klinischen Behandlungskapazitäten für Strahlenopfer,<br />

– die behördlichen Maßnahmen zur Vorbeugung gegen den Ausbruch<br />

übertragbarer Krankheiten und zur Verhinderung der Einschleppung allgemein<br />

gefährlicher Krankheiten oder deren Erreger im Verbund mit<br />

nationalen und internationalen Institutionen sowie der Verfahren zur<br />

Bekämpfung seuchenartiger Krankheiten.<br />

III.5 Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit<br />

Nahrungsmitteln und Trinkwasser<br />

III.5.1 Versorgung mit Lebensmitteln<br />

Gefahren für die Lebensmittelversorgung können entstehen durch Störungen<br />

des freien Güteraustausches, durch einen krisenbedingten und auch<br />

produktionseinschränkenden Ausfall von Nahrungsmittel- und Futtermittelimporten<br />

und dadurch, daß Lebensmittel nicht mehr sozialgerecht verteilt<br />

werden können. Ursachen solcher Störungen können sein:<br />

– Unfälle in großtechnischen Anlagen,<br />

– Natur- und Umweltkatastrophen,<br />

– Tierseuchen größeren Ausmaßes,<br />

– massive Störungen des Weltmarktes und<br />

– kumulative Wirkungen der Ursachen.<br />

Aber auch politisch-militärische Krisen auf der Grundlage des Wiederentstehens<br />

alter Nationalismen, ungelöster Regionalkonflikte, ethnischer<br />

Rivalitäten, Instabilitäten durch wirtschaftliche, soziale und politische<br />

Schwierigkeiten sowie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen mit<br />

Auswirkungen auf Mitteleuropa und Deutschland können als Ursachen<br />

angesehen werden.<br />

III.5.1.1. Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />

III.5.1.1.1 Landwirtschaft<br />

Die gegebene Situation ist gekennzeichnet durch<br />

– hohe Leistungsfähigkeit bei stark unterschiedlicher Strukturierung;<br />

76


– Abbau der erheblichen Überschüsse durch Reform der gemeinsamen<br />

Agrarpolitik innerhalb der EU u.a. durch Abbau der Stützpreise;<br />

– konjunkturelle und strukturelle Flächenstillegungs- und Extensivierungsmaßnahmen;<br />

– Abhängigkeit von der Wissenschaft sowie anderen Wirtschaftszweigen<br />

z.B. durch Zulieferung vielfältiger Betriebsmittel, Techniken und Informationssysteme;<br />

– Abhängigkeit von umfangreichen Rohstofflieferungen aus dem Ausland;<br />

– Anfälligkeit durch nationale und internationale Verflechtungen.<br />

Der Selbstversorgungsgrad liegt derzeit bei ca. 93 %, bei Ausfall des Auslandsfutters<br />

ca. 83 %. Die regionale Bedarfsdeckung kann nur bei hohen<br />

Transportleistungen erzielt werden. Wegen unterschiedlicher Inhaltsstoffe<br />

liegt nur eine bedingte Austauschbarkeit der Nahrungsmittel vor. Der Nahrungsmittelverbrauch<br />

könnte allerdings wegen des hohen Nährwertgehaltes<br />

schon aus gesundheitlichen Gründen um etwa 30 % gesenkt werden.<br />

III.5.1.1.2 Ernährungswirtschaft<br />

In Industrie, Handwerk und Handel führte eine starke Konzentration zu<br />

großen, leistungsfähigen, mit modernster Technik und fortschrittlichem<br />

Management ausgestatteten Betrieben. Dieser Konzentrationsprozeß hat<br />

sich verlangsamt, ist aber keineswegs abgeschlossen. Das führt in Notsituationen<br />

zu Nachteilen u.a. bei der Verteilung der Nahrungsmittel und<br />

erfordert hohe und leistungsfähige Transportkapazitäten.<br />

III.5.1.1.3 Bevölkerung<br />

Die Hälfte der Bevölkerung lebt in großen Ballungsräumen, die zugleich<br />

wichtige Wirtschafts- und Verwaltungszentren sind. Die Erhaltung der<br />

Steuerungskraft und Leistungsfähigkeit der Zentren über die Regionen<br />

hinaus ist von großer Bedeutung. Die Nahrungsmittelversorgung kann in<br />

Krisenzeiten wesentlich durch Transportprobleme erschwert werden.<br />

III.5.1.1.4 Legislativer Bereich<br />

Notwendige Rechtsgrundlagen wurden durch die Bundesregierung geschaffen,<br />

werden grundsätzlich ständig überprüft und ggf. verändert. Sie bestehen<br />

für politisch-militärische Krisen als auch für friedenszeitliche Notsituationen.<br />

Ihre Ausführung liegt in der Zuständigkeit der Länder als eigene Angelegenheit<br />

oder in Bundesauftragsverwaltung.<br />

III.5.1.1.5 Materiell-investiver Bereich<br />

Durch das Anlegen, Halten und Umwälzen von Vorräten werden regionale<br />

und zeitliche Unterschiede zwischen dem Bedarf an Lebens- und Futter-<br />

77


mitteln und ihrer Erzeugung ausgeglichen. Neben den Beständen in der<br />

Landwirtschaft und Wirtschaft und den freiwilligen Vorräten in den<br />

Haushaltungen sind die Vorräte der öffentlichen Hand von besonderer<br />

Bedeutung. Dazu zählen die Bundesreserve an Getreide zur Mehl- und<br />

Brotversorgung, die Zivile Notfallreserve zur Versorgung der Bevölkerung<br />

in Ballungsgebieten mit verbrauchsfertigen Lebensmitteln und die EU-<br />

Interventionsbestände zur Schaffung von Preisstabilität und Marktgleichgewicht.<br />

Letztere wurden allerdings nicht im Hinblick auf die Versorgung in<br />

Krisenzeiten angelegt und nehmen in ihrem Umfang ständig ab.<br />

III.5.1.2 Überlegungen zur Verbesserung der Situation<br />

Nachfolgende Überlegungen leiten sich aus dem derzeitigen Zustand ab und<br />

könnten dazu beitragen, die Versorgungssituation der Bevölkerung in Krisenzeiten<br />

zu verbessern.<br />

III.5.1.2.1 Ausbildung<br />

Da die bisherigen Vorkehrungen für die Zivile Verteidigung/Notfallvorsorge<br />

im wesentlichen auf planerische Vorbereitungsmaßnahmen zurückgeführt<br />

werden, wird eine darauf ausgerichtete Ausbildung besonders erforderlich.<br />

Dem trägt die Bundesregierung insoweit Rechnung, daß die Ausbildung<br />

der Akademie für zivile Verteidigung grundlegend überarbeitet und<br />

der gegenwärtigen Situation angepaßt wird. Gleiches geschieht mit der<br />

durch das Bundeslandwirtschaftsministerium organisierten Ausbildung in<br />

Neuherberg und Sonthofen. Der ergänzenden Ausbildung in den Ländern<br />

wird dagegen nicht im genügenden Maße Rechnung getragen. Die bessere<br />

Erfüllung dieser Aufgabe durch die Länder würde dazu führen, daß die in<br />

Notsituationen tätig werdenden Mitarbeiter der Verwaltungen gründlicher<br />

vorbereitet wären und Fehlentscheidungen vermieden würden. Die Akzeptanz<br />

dieses öfter vernachlässigten Bereiches würde verbessert.<br />

III.5.1.2.2 Vorsorgemaßnahmen im Transportbereich<br />

Das in Vorbereitung befindliche Verkehrsvorsorgegesetz soll die Bundesregierung<br />

in die Lage versetzen, in Notfallsituationen Entscheidungen zu<br />

treffen, die durch das Verkehrssicherstellungsgesetz nicht geregelt werden<br />

können. Es bleibt abzuwarten, ob damit den Bedürfnissen der Ernährungsvorsorge<br />

entsprochen werden kann.<br />

III.5.1.2.3 Vorbereitungsmaßnahmen zur Reproduktion stillgelegter<br />

Flächen<br />

Die derzeitige Situation in der Landwirtschaft ist gekennzeichnet durch<br />

konjunkturelle, aber auch strukturelle Flächenstillegungen besonders in den<br />

neuen Ländern. Diese Flächen wären im Notfall erst nach umfassenden<br />

Vorbereitungsmaßnahmen mit bis zu einem Jahr Dauer wieder zum Anbau<br />

78


von Nutzpflanzen, wie Getreide, Hülsenfrüchte u.a. zu nutzen. Überlegenswert<br />

erscheint es zu prüfen, mit welchen Mitteln und Methoden diese<br />

Flächen einer schnelleren Nutzung zugeführt werden könnten.<br />

III.5.1.2.4 Erweiterte Lagerhaltung<br />

Zur Zeit lagern in Deutschland in nationaler Zuständigkeit etwa 80 000 t<br />

Hafer, etwa 100 000 t Reis und Hülsenfrüchte und etwa 6 700 t Kondensmilch/Vollmichpulver<br />

für die Notfallversorgung der Bevölkerung in Ballungsgebieten.<br />

Gründe dafür sind die Einfuhrabhängigkeit der Bundesrepublik<br />

und die Notwendigkeit der Überbrückung der Zeit bis zum Wiedereinsetzen<br />

einer geregelten Versorgung in Notfällen. Die Menge der eingelagerten Nahrungsmittel<br />

wurde limitiert durch finanzielle Überlegungen und die Tatsache,<br />

daß noch erhebliche Vorräte aus den EU-Interventionsbeständen zur Verfügung<br />

standen. Letztere wurden aber inzwischen vor allem aus Gründen der<br />

teueren Lagerhaltung stark verringert. Bemühungen um eine Erweiterung<br />

der in nationaler Zuständigkeit eingelagerten Nahrungsmittel sind demzufolge<br />

dringend angezeigt.<br />

III.5.1.2.5 Vergrößerung der Produktionssicherheit für die Landwirtschaft<br />

und die Ernährungswirtschaft<br />

Die energieintensive Produktion in der Land- und Ernährungswirtschaft hat<br />

durch den Einsatz moderner Produktionsmittel in den letzten Jahrzehnten<br />

stark zugenommen. Beim Ausfall der Stromversorgung, aus welchen Gründen<br />

auch immer, käme es zu Produktionsausfällen mit erheblichen Auswirkungen<br />

auf die Versorgung der Bevölkerung. Das trifft ebenfalls auf die<br />

Versorgung mit Trinkwasser zu (s.u.). Die Vermeidung eines solchen<br />

Zustandes muß vergrößerte Aufmerksamkeit gewidmet werden.<br />

III.5.1.3 <strong>Forschung</strong>sfelder<br />

Aus der Sicht des zuständigen Referates des Bundesministeriums für<br />

Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ergibt sich aus der beschriebenen<br />

Situation zwar kein zusätzlicher <strong>Forschung</strong>sbedarf. Trotzdem soll auf folgendes<br />

aufmerksam gemacht werden.<br />

In den Behörden der Länder bis zu den Verwaltungen der Gemeinden zeichnen<br />

sich Überlegungen ab, die dazu führen sollen, daß die erforderlichen<br />

Maßnahmen mit möglichst geringem personellen, materiellen und finanziellen<br />

Kostenaufwand durchgeführt werden können. Die Kommunale<br />

Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung erstellte 1984 einen<br />

Bericht, mit dem Empfehlungen für Gemeinden und Kreise gegeben wurden,<br />

um die Ernährung auf der Grundlage des Ernährungssicherstellungsgesetzes<br />

sicherzustellen. Diese Unterlagen sind aus vielerlei Hinsicht nicht<br />

79


mehr auf dem neuesten Stand und in der heutigen Zeit nur noch bedingt zu<br />

nutzen.<br />

Es erscheint sinnvoll, ähnliche Überlegungen erneut anzustellen und dabei<br />

zu berücksichtigen, daß<br />

– die politische Situation sich verändert hat und auch zukünftig ein Instrumentarium<br />

zur Bewältigung von Notfallsituationen bereitgehalten werden<br />

muß,<br />

– das Krisenmanagement auf der Grundlage des Ernährungssicherstellungsund<br />

des Ernährungsvorsorgegesetzes sowie des Strahlenschutzvorsorgegesetzes<br />

erfolgt, sich daraus für die öffentliche Verwaltung Vereinfachungen,<br />

Personal- und Kosteneinsparungen ergeben sollen und<br />

– eine gesamtheitliche Betrachtungsweise zu einer Organisationsstruktur<br />

führt, die gleichermaßen für die Bewältigung von Schadensereignissen<br />

nach Katastrophen, Krisen und im Verteidigungsfall geeignet ist.<br />

Diese Untersuchungen könnten in Form einer Studie den Behörden und<br />

Verwaltungen als Empfehlung an die Hand gegeben werden.<br />

III.5.2 Versorgung mit Trinkwasser<br />

III.5.2.1. Beschreibung spezifischer Gefahren<br />

Durst ist schlimmer als Hunger. Die Wasserversorgung ist einer der wichtigsten<br />

Faktoren für das Leben in Gemeinschaften. Nach allen außergewöhnlichen<br />

Naturereignissen größeren Ausmaßes wie Erdbeben, Hochwasser<br />

und Flutkatastrophen, Feuersbrünsten und nach vom Menschen herbeigeführten<br />

Katastrophen kommen immer zugleich auch Meldungen über<br />

den Zustand der Wasserversorgung und bei Ausfall einige Zeit später über<br />

deren (teilweise) Wiederinbetriebnahme. Diesen Zeitraum gilt es möglichst<br />

kurz zu halten und zu überbrücken; sonst ist hohe Seuchengefahr gegeben.<br />

Hinsichtlich der erforderlichen und möglichen Maßnahmen muß man unterscheiden<br />

zwischen<br />

a) einer weitgehenden oder teilweisen Zerstörung von Anlagen und Anlagenteilen<br />

zur Wasserversorgung, beispielsweise durch Naturkatastrophen,<br />

Explosionen oder konventionelle Waffen, und<br />

b) einer außergewöhnlichen Beeinträchtigung der (Roh-) Wasserqualität,<br />

beispielsweise durch Industrie- und Transportunfälle oder den Einsatz<br />

von ABC-Waffen, oder<br />

c) durch gleichzeitiges Eintreten von a) und b).<br />

Notsituationen können auch auftreten durch logistische Probleme, wenn<br />

beispielsweise zur Reparatur und zum Betrieb benötigte Materialien und<br />

80


Chemikalien nicht verfügbar sind oder nicht herbeigeschafft werden können<br />

oder eine erforderliche Qualitätskontrolle nicht möglich ist.<br />

III.5.2.2. Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />

Auf Trinkwasser kann der Mensch nicht verzichten, am wenigsten noch in<br />

Katastrophensituationen. Im Falle a) müssen je nach Ort und Schwere der<br />

Zerstörung möglicherweise andere Rohwässer genutzt, manche Aufbereitungsstufen<br />

stillgelegt oder überbrückt, „fliegende“ Rohrleitungen verlegt<br />

oder andere Notmaßnahmen getroffen werden, um die Wasserver- und<br />

ent(!)sorgung möglichst rasch, auch unter eingeschränkten Bedingungen,<br />

wieder in Betrieb nehmen zu können. Voraussetzung hierfür ist die seuchenhygienisch<br />

einwandfreie Beschaffenheit des zumindest trinkbaren Wassers.<br />

Bevor die Wasserlieferung zumindest behelfsmäßig wieder aufgenommen<br />

werden kann, müssen gegebenenfalls andere verfügbare Wasserquellen<br />

genutzt und dem Verbraucher zugänglich gemacht werden. Hierzu dienen<br />

beispielsweise Notbrunnen oder nicht beeinträchtigte Brunnen und Quellen<br />

im Umland, um zumindest den lebensnotwendigen Wasserbedarf von<br />

Mensch und Tier decken zu können. Hier ergeben sich oft Transport- und<br />

Verteilungsprobleme.<br />

Im Fall b) sind nicht die Anlagen beschädigt oder zerstört, sondern vielmehr<br />

die (Roh-)Wässer in ihrer Beschaffenheit beeinträchtigt. Die erforderlichen<br />

Maßnahmen hängen von der Art und dem Ausmaß der belastenden Schadstoffe<br />

oder Mikroorganismen ab. Durch eine sorgfältige und den Problemen<br />

angepaßte Aufbereitung läßt sich die Gefährdung verringern – vorausgesetzt<br />

die Kontaminanten sind bekannt. Sind jedoch keine Aufbereitungsmöglichkeiten<br />

gegeben, so müssen entweder andere, nicht belastete<br />

Wasserarten oder vorhandene Aufbereitungsanlagen, beispielsweise der<br />

Industrie oder in Schwimmbädern genutzt werden.<br />

Im Fall c), d.h. bei gleichzeitigem Vorliegen von a) und b), sind die Probleme<br />

potenziert. Kann nicht auf Notbrunnen oder Wasservorräte im Haushalt<br />

zurückgegriffen werden, so müßten Wege gefunden und Empfehlungen<br />

ausgesprochen werden, wie man Regenwasser, Wasser aus geschädigten<br />

Versorgungseinrichtungen oder aus Oberflächengewässern in kleineren<br />

Mengen trinkbar machen kann.<br />

Aus den hier nur kurz skizzierten Verhältnissen ergibt sich eine Vielzahl von<br />

rechtzeitig zu ergreifenden Maßnahmen der Vorsorge. Voraussetzung für<br />

alle im Notfall zu ergreifenden Maßnahmen ist es, die Gefährdung erkennen<br />

und die Genußfähigkeit des Wassers kontrollieren zu können. Und hier steht<br />

bei weitem im Vordergrund die Verhütung von Seuchen und damit der<br />

Nachweis der seuchenhygienisch annehmbaren Beschaffenheit in kürzester<br />

Zeit und unter Notstandsbedingungen.<br />

81


III.5.2.3. <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

Beispielhaft werden aus der Fülle der Aufgabenstellungen nur einige der<br />

wichtigsten <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaufgaben benannt:<br />

– Vergleichende Untersuchungen über Handhabung, Empfindlichkeit und<br />

Zuverlässigkeit von<br />

– mikrobiologischen Schnelltests für Trinkwasser<br />

– Wirkungstests zur Untersuchung der akuten Wassertoxizität<br />

– Entwicklung einfacher Methoden zur Trinkbarmachung von Wasser in<br />

kleinen Mengen.<br />

82


Vorträge ’97<br />

83


Eröffnung der 46. Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann<br />

Meine sehr verehrten Damen, meine Herren,<br />

liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />

ich begrüße Sie recht herzlich zur 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und danke Ihnen, daß Sie unserer Einladung in das schöne Freiburg gefolgt<br />

sind.<br />

An erster Stelle möchte ich unseren Gastredner des heutigen Vormittags,<br />

Herrn Dr. Freiherr von Richthofen, begrüßen. Herr von Richthofen ist als<br />

Botschafter und Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der Nordatlantikpakt-Organisation<br />

in Brüssel in besonderem Maße dazu befähigt, uns über<br />

die <strong>Neue</strong> NATO zu informieren. Zugleich möchte ich auch Herrn MinRat<br />

Norbert Vogt begrüßen. Herr Vogt war ja, bevor er nach Brüssel ging, mit der<br />

Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> über einige Jahre hinweg eng verbunden, und<br />

er hat es dankenswerter Weise für die Kommission übernommen, Sie, Herr<br />

Botschafter, für die Jahrestagung zu gewinnen.<br />

Im Verlauf der Erstellung des Gefahrenberichtes der <strong>Schutzkommission</strong><br />

wurde zu keiner Zeit eine Diskussion über Gefährdungspotentiale im Sinne<br />

einer Sicherheitsanalyse geführt. Entsprechende Analysen waren – falls sie<br />

überhaupt existieren – für die Kommission nicht verfügbar. Sie sind aber<br />

zweifellos erforderlich für ein zielgerichtetes staatliches Handeln zum<br />

Schutze der Zivilbevölkerung. Im Rahmen solcher Sicherheitsanalysen, wie<br />

sie im militärischen Bereich sicherlich existieren, ist die Globalisierung<br />

von Konflikten mehr denn je zu einer zentralen Fragestellung geworden.<br />

Dies bedeutet, daß neben den nationalen Regelungen und Vorkehrungen zur<br />

Gefahrenabwehr die internationalen Bemühungen zur Erhaltung von politischer<br />

Stabilität, zur Konfliktlösung und zum Schutze der Zivilbevölkerung<br />

zu berücksichtigen sind. Wir hoffen deshalb von Ihnen, sehr geehrter Herr<br />

Botschafter, näheres über die aktuellen Entwicklungen und die Perspektiven<br />

der NATO zu erfahren.<br />

Bevor ich meine Begrüßung fortsetze, gestatten Sie mir bitte einen Exkurs<br />

in die Vergangenheit. Die Kernwaffenentwicklung der 50-er und 60-er Jahre<br />

hat ja bekanntermaßen die Arbeit der Kommission über Jahrzehnte hinweg<br />

entscheidend mitbestimmt. Die Mitglieder der Kommission haben im Rahmen<br />

ihrer Arbeit nicht nur ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die Gefahren<br />

durch ionisierende Strahlung meßtechnisch erfaßt und bewertet werden<br />

können. Sie haben sich auch in ihrer Verantwortung als Staatsbürger zu den<br />

einschlägigen Fragen immer wieder öffentlich geäußert. Die vor fast genau<br />

40 Jahren, am 12. April 1957, abgegebene Göttinger Erklärung ist ein wichtiges<br />

Beispiel hierfür. Zu den 18 Unterzeichnern der Erklärung gehörten<br />

u.a. die Herren Hahn, Heisenberg, Meier-Leibnitz, von Weizsäcker und die<br />

85


<strong>Schutzkommission</strong>s-Mitglieder Wolfgang Riezler und Otto Haxel. Ich freue<br />

mich sehr, lieber Herr Haxel, Sie heute unter uns begrüßen zu können. Sie<br />

waren und sind für uns alle, besonders aber auch für mich, als Wissenschaftler<br />

und als Mensch ein großes Vorbild. Vor 40 Jahren ging es um nicht<br />

mehr und nicht weniger als um die Frage der atomaren Bewaffnung der<br />

Bundeswehr. Die die öffentliche Diskussion in Deutschland damals beherrschenden<br />

Themen waren die weltweiten Proteste über die atmosphärischen<br />

Kernwaffentests, die Pläne Großbritanniens zur Entwicklung von Wasserstoffbomben<br />

und die Absicht Frankreichs, eigene Kernwaffen zu entwickeln.<br />

In dieser Situation beabsichtigte die Bundesregierung, sich die<br />

Option eigener taktischer Kernwaffen zu eröffnen. Die „Göttinger 18“<br />

machten diese Pläne mit ihrer öffentlichen Erklärung letztendlich zunichte.<br />

Dort heißt es:<br />

„Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben<br />

heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen<br />

Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese<br />

Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf Dauer für unzuverlässig,<br />

und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.“<br />

Diese Erklärung löste in der Bundesregierung eine heftige Kontroverse und<br />

in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion über Wissenschaft und Verantwortung<br />

aus. Letztlich identifizierte sich Bundeskanzler Adenauer mit den<br />

Motiven und Zielen der „Göttinger 18“, und die Pläne zur Entwicklung von<br />

Kernwaffen wurden nicht weiter verfolgt. Aus heutiger, fast schon historischer<br />

Sicht, muß man feststellen, daß die damals in Deutschland eingeleitete<br />

Entwicklung des Verzichts auf Kernwaffen inzwischen auch in den Kernwaffenstaaten<br />

ernsthaft diskutiert wird. Trotz vielfältiger internationaler<br />

Bemühungen, Absichtserklärungen und Abkommen sind wir aber auch<br />

heute, 40 Jahre später, noch weit von einer befriedigenden Lösung entfernt.<br />

Nach diesem Exkurs möchte ich mit meiner Begrüßung fortfahren. Aus dem<br />

Bundesinnenministerium begrüße ich Herrn Ministerialdirektor Siegele und<br />

seine Mitarbeiter. Herr Siegele ist Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium;<br />

seine Abteilung ist u. a. auch für die Fragen des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

zuständig. Einige Mitglieder der Kommission hatten bereits<br />

anläßlich der Übergabe des Gefahrenberichtes an den Staatssekretär Professor<br />

Schelter am 18. Februar die Gelegenheit, Sie kennenzulernen. Wir<br />

freuen uns sehr, daß Sie mit der Teilnahme an der Jahrestagung den Dialog<br />

mit der Kommission aufnehmen wollen. Aus dem BMBau begrüße ich den<br />

langjährigen Betreuer des Ausschusses 1 der Kommission, Herrn Bong,<br />

und vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> Herrn Präsidenten Schuch und seine<br />

Mitarbeiter.<br />

Natürlich sind wir alle sehr gespannt darauf, sehr geehrter Herr Ministerialdirektor<br />

Siegele, konkrete Aussagen über die Prioritäten bei der Bearbeitung<br />

der anstehenden Fragen zur Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es aus Sicht<br />

des MBI, des BMBau und des BZS zu erhalten. Die Kommission erwartet,<br />

86


daß Sie uns in klarer Form die Sicht der Bundesregierung darlegen und uns<br />

mitteilen, in welcher Weise Sie die Dienste der Kommission in Zukunft<br />

noch benötigen und wie Sie sich die künftige Zusammenarbeit vorstellen.<br />

Eine Antwort auf diese, die Kommission seit langem bewegende Frage ist<br />

mir im Februar von Herrn Staatssekretär Schelter zugesagt worden.<br />

Das Problem der Überalterung der Kommission wurde von mir wiederholt<br />

angesprochen. Es kann nur dann gelöst werden, wenn die zu gewinnenden<br />

jungen Wissenschaftler in der Kommission neben der Herausforderung als<br />

Staatsbürger auch fachliche Perspektiven aufgezeigt bekommen. Voraussetzung<br />

hierfür ist die Bereitstellung von Mitteln für die Bearbeitung der<br />

einschlägigen Fragen, die ohne die Finanzierung durch den Zivil- und Katastrophenschutz<br />

aus den Ihnen bekannten Gründen an keiner Hochschule<br />

oder <strong>Forschung</strong>seinrichtung mit hinreichender Tiefe bearbeitet werden.<br />

Die vom Bund angestrebte Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es berührt in vielfältiger<br />

Weise die Länder. Damit werden verfassungsmäßige Fragen des<br />

Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern, aber auch Eigeninteressen<br />

in beiden Bereichen berührt. Wenn es in diesem Spannungsfeld und in<br />

finanziell schwierigen Zeiten um die Klärung der Frage geht, wer bereit ist,<br />

zusätzliche Lasten zu tragen, dann werden naturgemäß schwierige Einigungsprozesse<br />

erforderlich. Der schleppende Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens<br />

zum <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz hat dies ja sehr deutlich<br />

gemacht. Ich begrüße an dieser Stelle ganz herzlich Herrn Ministerialdirigent<br />

Dr. Klingshirn in unserem Kreis. Herr Dr. Klingshirn ist Leiter der<br />

Abteilung Brand- und Katastrophenschutz, Rettungswesen und zivile Verteidigung<br />

im Bayerischen Staatsministerium des inneren und Vorsitzender<br />

des Arbeitskreises V „Feuerwehrangelegenheiten, Rettungswesen, Katastrophenschutz<br />

und Zivilverteidigung“ der Arbeitsgemeinschaft der Innenminister<br />

der Länder. Ich freue mich, daß Sie zu uns gekommen sind, um uns<br />

die Sicht der Länder zum neuen Zivil- und Katastrophenschutz zu vermitteln.<br />

Mit dem Gesetz zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es sind zwar die Randbedingungen<br />

für eine Neuordnung dieses Bereiches geschaffen worden. Bevor<br />

es jedoch zu einer tragfähigen Neuordnung in allen Bereichen kommen<br />

kann, bedarf es noch vielfältiger Überlegungen, um die z.T. erst im Vermittlungsausschuß<br />

gefundenen Kompromißformeln für zukünftige Regelungen<br />

mit Inhalt und Leben zu erfüllen. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich<br />

stets dagegen ausgesprochen und auch praktiziert, die verfassungsmäßig<br />

vorgegebene Trennung zwischen Zivil- und Katastrophenschutz zur Grundlage<br />

ihrer fachlichen Arbeit zu machen. Sie war und ist der Meinung, daß sie<br />

als fachlich neutrale Institution mit dem Gefahrenbericht des BMI und den<br />

Ländern und glaubwürdiger Form Hinweise auf fachliche Erfordernisse<br />

geben kann. Dem Tagungsprogramm können Sie entnehmen, wo die Kommission<br />

Prioritäten der zukünftigen Arbeit sowohl in der Beratung als auch<br />

in der <strong>Forschung</strong> sieht.<br />

87


Ich danke allen Mitgliedern und Gästen, die sich bereit erklärt haben, durch<br />

Vortrags- und Diskussionsbeiträge die Tagung zu bereichern. Mein besonderer<br />

Dank gilt den Kollegen Domres, Wagner, Sohns und ter Haseborg, die<br />

bisher nicht oder nicht regelmäßig an den Jahrestagungen und der Arbeit der<br />

Kommission teilgenommen haben. Ich hoffe, daß Sie für die Kommission<br />

auch in Zukunft zur Verfügung stehen werden.<br />

Lassen Sie mich zum Abschluß meiner Begrüßungsansprache unseres im<br />

vergangenen Jahr verstorbenen Mitglied Klaus Dietrich Friedberg gedenken.<br />

Über fast drei Jahrzehnte hinweg hat er die Höhen und Tiefen der<br />

Kommission miterlebt und ihre Arbeit stets mit großem Engagement mitbestimmt.<br />

Wir haben mit ihm einen geschätzten Kollegen und einen wahren<br />

Freund verloren, den wir sehr vermissen werden. Herr Kollege Schmidt hat<br />

es dankenswerterweise übernommen, die wissenschaftliche Leistung von<br />

Professor Friedberg im Anschuß zu würdigen.<br />

Bevor ich meine Begrüßung schließe, darf ich an dieser Stelle unserer<br />

Geschäftsstelle, nämlich Herrn Professor Weiss und Frau Seifert, von<br />

ganzem Herzen für ihren unermüdlichen Einsatz für unsere Kommission<br />

danken. Unsere Geschäftsstelle ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie<br />

man große Effizienz in einem schlanken Staat verwirklichen kann.<br />

Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf und uns allen erfolgreiche<br />

fachliche Diskussionen sowie gute menschliche Begegnungen.<br />

Ich danke Ihnen.<br />

88


Zum Gedenken an Klaus Friedberg<br />

Gerhard Schmidt<br />

Am 4. Oktober 1996 verstarb in seinem Haus in Limburgerhof bei Mannheim<br />

nach schwerer Krankheit Professor Dr. med. Klaus Dietrich Friedberg;<br />

emeritierter ordentlicher Professor für Pharmakologie und Toxikologie<br />

der Fakultät für klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg<br />

im Alter von 71 Jahren. Friedberg hat alle Phasen seiner Erkrankung,<br />

die zunächst erfolgreiche Operation mit Hoffnung auf vollständige Genesung<br />

und den Rückschlag der wiederkehrenden Erkrankung, in allen Einzelheiten<br />

bewußt und gefaßt miterlebt.<br />

Geboren in Berlin als Sohn einer angesehenen Juristenfamilie, sah er sich<br />

als Schüler Anfeindungen durch die Machthaber des dritten Reiches ausgesetzt.<br />

Er hat den Krieg beim Arbeitsdienst, als Soldat und später als Kriegsgefangener<br />

miterlebt. Früh starb sein Vater.<br />

Unmittelbar nach Kriegsende konnte Friedberg an der wiedereröffneten<br />

Universität in Göttingen das Studium der Naturwissenschaften und der<br />

Medizin aufnehmen. Er wohnte in der Göttinger Burse, einem Studentenwohnheim,<br />

das bewußt als eine andere Form studentischen Gemeinschaftslebens<br />

konzipiert war als die damals wiederauflebenden, traditionellen studentischen<br />

Verbindungen. Die Burse beherbergte politisch besonders engagierte<br />

Studenten, die im Nachkriegsdeutschland später viele einflußreiche<br />

Positionen innehatten.<br />

Nach Abschluß des Medizinstudiums trat Klaus Friedberg als Assistent in<br />

das Pharmakologische Institut in Göttingen unter Ludwig Lendle ein. Die<br />

Begegnung mit diesem von ihm hochverehrten akademischen Lehrer sollte<br />

seinen weiteren beruflichen Weg bestimmen. In den frühen Nachkriegsjahren<br />

gab es an den Universitäten praktisch keine Mittel, um <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />

zu finanzieren. Man mußte sich noch stärker als heute um die <strong>Forschung</strong>sfinanzierung<br />

von außen bemühen. Friedberg fand eine Finanzierung<br />

für seine Untersuchungen über die Elimination von Staubpartikeln aus der<br />

Lunge durch die Bergbauberufsgenossenschaft. Friedberg wollte herausfinden,<br />

durch welche Mechanismen die Entfernung von inhaliertem Staub aus<br />

der Lunge erfolgt und ob die Staubelimination medikamentös gesteigert<br />

werden kann. Voraussetzung für diese Untersuchungen war eine definierte<br />

Staubdeposition in der Lunge von Laboratoriumsratten und eine exakte<br />

Quantifizierung der Stäube und ihrer zeitlichen Konzentrationsänderung in<br />

der Lunge. Es mußten ein aufwendiger Staubkanal für Ratten in Zusammenarbeit<br />

mit Physikern entwickelt und die chemisch analytischen Meßverfahren<br />

angepaßt und verbessert werden. Ich erwähne diese erste<br />

<strong>Forschung</strong>sarbeit Friedbergs so ausführlich, weil sie beispielhaft seine<br />

naturwissenschaftlich ausgerichtete Arbeitsweise zeigt, gleichzeitig aber<br />

89


auch sein Bemühen deutlich werden läßt, durch wissenschaftliche Untersuchungen<br />

praktisch verwertbare Konsequenzen für die Prophylaxe und<br />

Therapie von Erkrankungen, in diesem Fall der Silikose bei Bergleuten, zu<br />

erarbeiten. Die Arbeiten zur pharmakologischen Beeinflussung der Staubelimination<br />

in der Lunge waren auch das Thema seiner Habilitationsschrift,<br />

mit der Friedberg 1960 die Venia legendi für Pharmakologie und Toxikologie<br />

an der Universität Göttingen erwarb.<br />

In den 50er Jahren tauchten Berichte auf, daß in den Ostblockstaaten an der<br />

Frage gearbeitet wurde, ob die Blausäure als Giftgas für militärische<br />

Zwecke verfügbar gemacht werden könnte. Ludwig Lendle hatte im Auftrag<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> Klaus Friedberg gebeten, nach effektiveren<br />

Wegen der Behandlung der Cyanidvergiftung zu fahnden. Friedberg hat<br />

die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsmöglichkeiten vergleichend<br />

geprüft und mit dem Hydroxocobalamin ein ungiftiges Gegenmittel mitentwickelt,<br />

das eine optimale Behandlung auch schwerster akuter Zyanidvergiftungen<br />

zuläßt.<br />

Friedberg hat diese Untersuchungen zunächst über seinen Lehrer Ludwig<br />

Lendle in die Diskussionen des Fachausschusses Pharmakologie und Toxikologie<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> eingebracht. Anfang 1968 wurde Friedberg<br />

selbst zum Mitglied der <strong>Schutzkommission</strong> berufen.<br />

Die Universität Göttingen ernannte Friedberg 1965 zum außerplanmäßigen<br />

Professor und 1967 zum wissenschaftlichen Rat und Professor.<br />

Im Jahre 1973 folgte Friedberg einem Ruf auf den Lehrstuhl für Pharmakologie<br />

und Toxikologie am Klinikum Mannheim der Universität Heidelberg.<br />

Da die Fakultät neugegründet war, mußte auch das Pharmakologische Institut<br />

völlig neu aufgebaut werden. Hier konnte Friedberg sein großes organisatorisches<br />

Geschick und seine zielstrebige Beharrlichkeit voll zur Geltung<br />

bringen. Er hat oft erzählt, welche vielfältigen Schwierigkeiten es zu überwinden<br />

galt, bis ein großes, modernes und leis-tungsfähiges Institut entstanden<br />

war. Jeder, der das Institut in zwei Etagen über einem großen<br />

Möbelhaus in Mannheim betrat, war beeindruckt, welche experimentellen<br />

Möglichkeiten im Laufe der Jahre in diesem Institut entstanden sind.<br />

Friedberg hat in Mannheim seine <strong>Forschung</strong>sarbeiten intensivieren und ausweiten<br />

können. Es gelang ihm, leistungsfähige Mitarbeiter für das Institut<br />

zu gewinnen. Friedbergs besonderes Interesse galt der Wirkung von<br />

Schwermetallionen in niedrigen Konzentrationen, besonders bezüglich der<br />

hemmenden Wirkungen am Immunsystem. Durch seine Initiative konnte<br />

die Umwelttoxikologie frühzeitig zu einem Schwerpunkt seiner Fakultät in<br />

Mannheim gemacht werden.<br />

Durch die erweiterten Möglichkeiten im eigenen Institut konnte Friedberg<br />

auch die <strong>Forschung</strong>stätigkeit für die <strong>Schutzkommission</strong> wesentlich intensivieren.<br />

Er hat über Behandlungsmöglichkeiten der Lost-Schädigung und<br />

über immunmodulatorische Wirkungen von Antibiotica für die <strong>Schutzkommission</strong><br />

gearbeitet.<br />

90


Friedberg war lange Jahre Vorsitzender des Fachausschusses Pharmakologie<br />

und Toxikologie. 1981 wurde ihm in Anerkennung seiner Verdienste für<br />

die <strong>Schutzkommission</strong> das Bundesverdienstkreuz verliehen.<br />

Klaus Friedberg gehörte zu den Menschen, die intensiv den unmittelbaren<br />

menschlichen Kontakt, besonders zu ihren Mitarbeitern suchen. Er war kein<br />

abgehobener Institutsleiter, sondern verstand es, schnell die persönlichen<br />

Schwierigkeiten aller Institutsangehörigen aufzuspüren. Er empfand den<br />

Einsatz für das berufliche Fortkommen der ihm anvertrauten Mitarbeiter als<br />

eine ganz besonders wichtige Aufgabe. Es war ihm ein ständiges Bedürfnis,<br />

alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, um helfend einzugreifen.<br />

Sein großer Freundeskreis hat ihn dabei tatkräftig unterstützt. Seine Fähigkeiten<br />

und Beharrlichkeit ließen ihn sehr oft erfolgreich sein und so gibt es<br />

viele, die ihm zu Recht für seine tatkräftige Hilfe dankbar sind.<br />

Viele von uns wissen, daß Friedberg sich auch für eine von ihm als richtig<br />

erkannte Sache vehement und temperamentvoll engagieren konnte. So<br />

mochte er es beispielsweise nicht hinnehmen, daß Tierversuche, die durch<br />

ein aus seiner Sicht optimales Genehmigungsverfahren begutachtet worden<br />

sind, nicht für Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es eingesetzt werden sollen. Bei solchen<br />

Auseinandersetzungen wurde allerdings auch sein Bemühen deutlich,<br />

sachliche Meinungsverschiedenheiten nicht zu einer persönlichen Kontroverse<br />

werden zu lassen. Friedberg war ein gesuchter Fachberater und hoch<br />

angesehener Leiter akademischer Gremien. Er war mehrere Jahre Dekan<br />

der Medizinischen Fakultät in Mannheim, Mitglied des Senats der Deutschen<br />

<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft für gesundheitsschädigende Arbeitsstoffe<br />

und Vorsitzender der Sektion Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für<br />

Pharmakologie und Toxikologie.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit Klaus Friedberg einen ihrer engagiertesten<br />

Vertreter verloren. Er hat sich große Verdienste um den <strong>Zivilschutz</strong> erworben.<br />

Er wird uns fehlen. Wir werden ihn nicht vergessen.<br />

91


Grußwort des Bundesministers des Innern<br />

Gerhard Siegele<br />

Sehr geehrter Herr Professor Scharmann, sehr geehrte Damen und Herren<br />

vielen Dank für Ihre Einladung zur 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und für die freundliche Begrüßung.<br />

Auch ich möchte Sie, meine Damen und Herren, herzlich begrüßen. Gleichzeitig<br />

überbringe ich Ihnen die persönlichen Grüße und guten Wünsche von<br />

Herrn Bundesminister Manfred Kanther.<br />

Da dies für mich die erste Jahrestagung ist, gestatten Sie mir zunächst einige<br />

Worte zu meiner Person. Die Leitung der Abteilung O, in deren Bereich<br />

die Angelegenheiten des <strong>Zivilschutz</strong>es wahrgenommen werden, habe ich<br />

vor etwa einem Jahr übernommen. Vorher war ich in der Funktion des Stellvertretenden<br />

Abteilungsleiters im Bereich der Inneren Sicherheit tätig.<br />

Das Aufgabenspektrum der Abteilung O ist sehr vielschichtig und umfassend.<br />

Es beinhaltet die Aufgabengebiete Verwaltungsorganisation, Rechtsund<br />

Verwaltungsvereinfachung, Realisierung des Schlanken Staates, Kommunalwesen,<br />

Statistik, staatliche und nationale Repräsentation sowie das<br />

Protokoll Inland, öffentliches Auftragswesen, Verwaltungshilfe für die GUS<br />

und MOE-Staaten, Angelegenheiten der Koordinierung und Beratung der<br />

Bundesregierung in Fragen der lnformationstechnik und – last not least als<br />

weiteres Kernstück – den Bereich der Zivilverteidigung und des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />

Die vielfältigen Aspekte und Probleme gerade dieses Bereiches<br />

habe ich im Verlauf des letzten Jahres näher kennengelernt, insbesondere<br />

anläßlich der Beratungen des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes.<br />

Ich freue mich, heute an Ihrer Jahrestagung teilnehmen zu können. Die Tatsache,<br />

daß Sie auch die diesjährige Jahrestagung in die Diskussion und<br />

Fortentwicklung des Gefahrenberichts stellen, beweist Ihr besonderes persönliches<br />

Engagement, das Sie ehrenamtlich in den Dienst des Schutzes der<br />

Menschen stellen. Hierfür möchte ich Ihnen – auch im Namen des Ministers<br />

– herzlich danken.<br />

Meine Damen und Herren, bevor ich auf den Gefahrenbericht näher eingehe,<br />

möchte ich Sie kurz über die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es informieren:<br />

Das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz ist am 4. April 1997 in Kraft getreten. Es<br />

stellt die gesicherte Basis für eine zukunftsorientierte Arbeit im <strong>Zivilschutz</strong><br />

dar. Es berücksichtigt sowohl die heutige Sicherheitslage als auch die Notwendigkeiten<br />

der Bündelung bestehender Ressourcen, insbesondere durch<br />

die engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem friedensmäßigen Katastrophenschutz<br />

der Länder. Die Bündelung der Ressourcen ist sachlich<br />

geboten, aber auch im Hinblick auf die Sparzwänge der öffentlichen Hand<br />

93


erforderlich. Das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz setzt die Neukonzeption<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es, die das BMI in seinem Bericht zur zivilen Verteidigung<br />

vom 27. 6. 1995 dem Innen- und dem Haushaltsausschuß des Deutschen<br />

Bundestages unterbreitet hat, gesetzlich um. Rückblickend kann bemerkt<br />

werden, daß dieses Gesetzesvorhaben, nachdem es am 23. April 1996 vorigen<br />

Jahres vom Bundeskabinett beschlossen worden war, zügig zum<br />

Abschluß gebracht werden konnte. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich<br />

dem Kollegen Dr. Klingshirn aus Bayern danken, der mit seinem Engagement<br />

wesentlich dazu beigetragen hat, daß das Gesetz so zustande kam. Der<br />

Bundesrat hat zwar im Dezember 1996 dem vom Deutschen Bundestag<br />

beschlossenen Gesetz zunächst nicht zugestimmt und den Vermittlungsausschuß<br />

angerufen. Der Vermittlungsausschuß hat aber am 26. Februar 1997<br />

einen Einigungsvorschlag beschlossen, der die Billigung von Bundestag<br />

und Bundesrat gefunden hat. Damit waren die letzten parlamentarischen<br />

Hürden für die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>rechts genommen. Obwohl es<br />

zur Klärung einzelner Fragen der Einschaltung des Vermittlungsausschusses<br />

bedurfte, ist festzuhalten, daß von Anfang an mit den Ländern Übereinstimmung<br />

darüber bestand, daß die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es unabweisbar<br />

ist.<br />

Gegenstand der Erörterungen im Vermittlungsausschuß war auch eine<br />

Bestimmung, die die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> berührt, und zwar der<br />

§ 4 Abs. 2 Nr. 5 ZSG. Danach wird der Bund dem Wunsch der Länder entsprechen,<br />

alle <strong>Forschung</strong>svorhaben im Benehmen mit den Ländern durchzuführen.<br />

Diese waren bereits bisher bei einzelnen sie interessierenden<br />

Themen eingebunden, vor allem im Rahmen projektbegleitender Arbeitsgruppen.<br />

Die drei grundlegenden Zielsetzungen, die wir mit den Gesetzgebungsvorhaben<br />

verfolgt haben – und die Ihnen bereits von meinem Vorgänger, Herrn<br />

Dr. Kass, dargelegt wurden – konnten erreicht werden. Ich möchte Sie<br />

Ihnen deshalb nur ganz kurz in Erinnerung rufen. Im einzelnen sind dies:<br />

1. Die bereits angesprochene engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem<br />

friedensmäßigen Katastrophenschutz, für den die Länder zuständig sind;<br />

2. der Verzicht auf bisherige Sonderstrukturen des Bundes und die<br />

Beschränkung auf zivilschutzrelevante Ergänzung des Katastrophenschutzes<br />

der Länder;<br />

3. die Zusammenfassung der für den <strong>Zivilschutz</strong> zuständigen Behörden<br />

verbunden mit der Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz.<br />

Gleichzeitig beinhaltet das Gesetz eine Rechtsbereinigung und wesentliche<br />

Verwaltungsvereinfachung.<br />

Weiter fortgeschritten ist die praktische Umsetzung der einzelnen Maßnahmen<br />

der Neuordnung. Ich möchte hierauf im einzelnen nicht eingehen. Deshalb<br />

nur einige Zahlen, welche die finanzielle Dimension der Neuordnung<br />

für den Bund beleuchten:<br />

94


Für die Aufgaben des <strong>Zivilschutz</strong>es sind im Haushalt 1997 insgesamt rd.<br />

458 Mio DM bereitgestellt worden. Im Vergleich zu 1992 konnte damit der<br />

Jahresetat um rd. 380 Mio DM verringert werden. Die sich daraus seither<br />

kumulativ ergebenden Einsparungen betragen rd. 1,4 Mrd. DM. Die vom<br />

Bund bis 1995 finanzierten vier <strong>Zivilschutz</strong>behörden werden nach erfolgter<br />

Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz und der Akademie für<br />

zivile Verteidigung auf nur noch zwei <strong>Zivilschutz</strong>behörden, und zwar die<br />

Bundesanstalt Technisches Hilfswerk und das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>,<br />

zurückgeführt. Die Zahl der Bediensteten im <strong>Zivilschutz</strong> wurde inzwischen<br />

bei Bund und Ländern um rd. 1 450 sozialverträglich abgebaut. Die Reduzierung<br />

um weitere rd. 350 Beschäftigte ist geplant.<br />

Durch die erfolgte engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem friedensmäßigen<br />

Katastrophenschutz der Länder kann das Gesamtsystem wirtschaftlicher<br />

gestaltet und dennoch der Sicherheitsstandard für die Bürger<br />

erhalten werden.<br />

Auch wenn das Jahrzehntelang unser Aufgabenspektrum beherrschende<br />

Bild einer evtl. existenzbedrohenden Konfrontation zwischen den Machtblöcken<br />

der Vergangenheit angehört, bedeutet dies jedoch nicht, daß wir in<br />

Sorglosigkeit verfallen könnten. <strong>Neue</strong>, kaum kalkulierbare und nur schwer<br />

einordnungsfähige Gefahren haben an Bedeutung gewonnen.<br />

Lassen Sie mich damit überleiten zu dem Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und einige der sich daraus für das BMI ergebende Perspektiven<br />

skizzieren. Ich darf zunächst der <strong>Schutzkommission</strong> auch an dieser Stelle<br />

nochmals meinen Dank und meine Anerkennung für die geleistete Arbeit<br />

bei der Erstellung des Gefahrenberichts aussprechen.<br />

Welcher Wertschätzung sich die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> erfreut, zeigt<br />

die Äußerung von Staatssekretär Professor Dr. Schelter bei der Vorstellung<br />

des Gefahrenberichts im BMI am 18. 2. 1997. Er sagte, daß man die <strong>Schutzkommission</strong><br />

erfinden müsse, wenn es sie noch nicht gäbe. Dem kann ich<br />

mich nur anschließen. Wie er, möchte auch ich die Tatsache unterstreichen,<br />

daß die <strong>Schutzkommission</strong> als ehrenamtliches Beratungsgremium des BMI<br />

die Aufarbeitung des komplexen Themas „Mögliche Gefahren für die<br />

Bevölkerung bei Großkatastrophen und im Verteidigungsfall“ aus eigener<br />

Initiative in Angriff genommen und den Bericht kostenlos erstellt hat.<br />

Sie haben die Thematik eingehend auf der letzten Jahrestagung der Kommission<br />

und darüber hinaus in weiteren kleineren Beratungsrunden erörtert<br />

und Ihren wissenschaftlichen Sachverstand in den Bericht eingebracht. Mit<br />

dem Bericht haben Sie verdeutlicht, daß es auch nach den sicherheitspolitischen<br />

Veränderungen der letzten Jahre einer kritischen Auseinandersetzung<br />

mit vielfältigen möglichen Gefahren bedarf. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit<br />

dem Gefahrenbericht unter Beweis gestellt, daß sie mit der erforderlichen<br />

Breite und Erfahrung als fachlich neutrale Institution den Bundesressorts,<br />

dem BMI und den Ländern eine ressortübergreifende Darstellung möglicher<br />

Risiken geben kann. Mit der Vorlage des Gefahrenberichts hat die Schutz-<br />

95


kommission unterstrichen, daß sie ein kompetentes wissenschaftliches Gremium<br />

für Politik und Fachwelt ist.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit dem Bericht eine in dieser Weise bisher<br />

nicht verfügbare fachübergreifende Ausarbeitung vorgelegt. Der Bericht<br />

zeigt, daß Gefahren unterschiedlichster Art uns bedrohen können, ohne daß<br />

uns dies im Alltag bewußt ist. Auch wenn Gefährdungen – zum Glück –<br />

nicht unser Leben bestimmen, gilt es, hier nicht die Augen zu verschließen<br />

und in Sorglosigkeit zu verfallen. Vielmehr bedarf es der Vorsorge, damit<br />

wir nicht unvorbereitet einer eventuellen Krisensituation gegenüberstehen.<br />

Gefahren machen nicht an den Grenzen halt; sie orientieren sich nicht an<br />

Zuständigkeiten.<br />

Der Gefahrenbericht greift dementsprechend über den <strong>Zivilschutz</strong> hinaus<br />

aktuelle Fragen der inneren Sicherheit auf – ich denke hier insbesondere an<br />

die Ausführungen zu den Giftgasanschlägen in Japan – und berührt vielfältige<br />

Zuständigkeitsbereiche anderer Bundesressorts und der Länder. Die<br />

Ausarbeitung gibt daher Impulse für staatliche und nichtstaatliche Stellen<br />

auf den verschiedenen Ebenen, um sich mit der Thematik zu befassen und<br />

zwar gerade auch im Wege einer ressort- und zuständigkeitsübergreifenden<br />

Zusammenarbeit.<br />

Zur Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es enthält der Gefahrenbericht aus der<br />

Sicht des BMI zwei kritische Passagen, auf die ich kurz eingehen möchte.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> sieht erstens die Notwendigkeit zur flächendeckenden<br />

Warnung der Bevölkerung und hält zum zweiten die Einrichtung von<br />

Notfalldepots für Sanitätsmaterial für erforderlich.<br />

Zu 1.<br />

Das alte Sirenenwarnsystem war sehr kostenaufwendig, technisch überholt<br />

und störanfällig. Eine grundlegende Modernisierung wäre erforderlich<br />

gewesen. Die damit verbundenen hohen Investitionen sind angesichts der<br />

erheblich verbesserten außenpolitischen Sicherheitslage wirtschaftlich nicht<br />

vertretbar. Nach der Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es verzichtet daher der<br />

Bund auch hier weitgehend auf zivilschutzspezifische Strukturen und stützt<br />

sich im Rahmen einer integrierten Lösung auf die Warnmittel, die die Länder<br />

zur Warnung vor friedensmäßigen Gefahren vorhalten. Hierüber ist Einvernehmen<br />

mit den Ländern im Vermittlungsausschuß erzielt worden. Der<br />

Bund ergänzt das Instrumentarium allerdings insoweit, als die Warnmittel<br />

der Länder nicht ausreichen. Überlegt werden neue Warnmethoden, z.B.<br />

über Rundfunk, ähnlich dem Verkehrsfunk.<br />

Zu 2.<br />

Die Einrichtung von Notfalldepots für Sanitätsmaterial wird von der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> auch im Hinblick auf friedensmäßige Katastrophen für<br />

wünschenswert gehalten. Einige der für den friedensmäßigen Katastrophenschutz<br />

zuständigen Länder wollen Sanitätsmaterial aus Beständen der<br />

vom Bund aufgegebenen Sanitätsmateriallager übernehmen. Auch hier ist<br />

96


angesichts der erheblich verbesserten außenpolitischen Sicherheitslage die<br />

weitere Beibehaltung der Lagerung von Sanitätsmaterial durch den Bund<br />

für <strong>Zivilschutz</strong>zwecke wegen der damit verbundenen hohen Kosten für<br />

Beschaffung, Wälzung, Lagerung, Zustandsprüfung sowie Bewirtschaftung<br />

der Liegenschaft und Bauunterhaltung wirtschaftlich nicht mehr vertretbar.<br />

Für den Spannungsfall kann nach § 17 des neuen ZSG durch Rechtsverordnung<br />

angeordnet werden, daß ausreichend Sanitätsmaterial auch durch Dritte<br />

vorgehalten wird.<br />

Lassen Sie mich nochmals auf die erwähnten Giftgasanschläge in Japan<br />

zurückkommen. Diese Ereignisse zeigen, daß Chemikalien und chemische<br />

Kampfstoffe trotz des umfassenden Chemiewaffenverbots nach wie vor und<br />

auf nicht absehbare Zeit ein großes Gefahrenpotential für die Zivilbevölkerung<br />

darstellen. Die terroristische Verwendung der leicht herstellbaren toxischen<br />

Substanzen stellt uns vor neue Herausforderungen. Der Anschlag auf<br />

die U-Bahn in Tokio hat die ganze Verletzlichkeit aufgezeigt. Die eingesetzten<br />

chemischen Grundstoffe sind so verbreitet, daß sich eine Rohstoffüberwachung<br />

äußerst schwierig gestalten würde.<br />

Sicherlich ist es zunächst Aufgabe der Sicherheitsbehörden, gefährliche<br />

Gruppierungen sorgfältig zu beobachten, um solche Anschläge möglichst zu<br />

verhindern.<br />

Daneben ist jedoch von besonderer Bedeutung, auch für die Bewältigung<br />

eventueller Gefährdungslagen gerüstet zu sein. Hier kommt es darauf an,<br />

daß sowohl Polizei als auch Katastrophenschutz diese Möglichkeit in ihre<br />

Erwägungen zur Gefahrenabwehr mit einbeziehen. Gefordert ist hier eine<br />

besonders enge Zusammenarbeit aller Stellen.Lassen Sie mich im Hinblick<br />

auf Anschläge mit terroristischen Hintergrund einige Gedanken zur<br />

Bekämpfung des Terrorismus darlegen.<br />

Notwendig zur Bekämpfung des Terrorismus ist ein Bündel von Maßnahmen,<br />

die ineinander greifen und in ihrem Zusammenwirken eine globale<br />

Bekämpfungsstrategie ergeben. Denn Terrorismus ist nicht statisch; er<br />

ändert sein Gesicht, seine Methoden.<br />

Bei einem strategischen Ansatz müssen wir von folgendem ausgehen:<br />

Terroristen brauchen Nachwuchs, den sie aus Sympathisanten in unterstützenden<br />

Organisationen rekrutieren. Deshalb müssen wir die politische Auseinandersetzung<br />

mit den ideologischen Grundlagen offensiv angehen. Dazu<br />

können im Einzelfall auch Verbote von Organisationen gehören. Verbote<br />

sind zwar kein Patentrezept, sie wirken aber präventiv, reduzieren das Lager<br />

der Anhänger und geben den Gerichten und Behörden bessere Möglichkeiten<br />

an die Hand. Terroristen brauchen Geld und logistische Unterstützung.<br />

Deshalb sind Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche auch für den<br />

Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Terroristen brauchen Waffen,<br />

Sprengstoff und andere für Anschläge geeignete Substanzen. Daher muß der<br />

Waffenhandel noch besser kontrolliert, muß der Waffenschmuggel unter-<br />

97


unden und müssen neue Methoden entwickelt werden, daß die Herkunft<br />

von Sprengstoff und anderen Substanzen besser bestimmt werden kann.<br />

Das BMI hat den Gefahrenbericht an die von seinem Inhalt betroffenen<br />

Bundesressorts und an die Innenminister der Länder übersandt, mit der<br />

Bitte, seine inhaltliche Aussagen gegebenenfalls zu ergänzen. Nach meinem<br />

Eindruck besteht auf Grund der nachgeforderten Exemplare ein reges Interesse<br />

bei den Ressorts und auch bei der Ärzteschaft an dem Bericht. Ob aber<br />

auch von anderer Seite als von der <strong>Schutzkommission</strong> selbst Anstöße zur<br />

Fortschreibung des Berichts kommen werden, vermag ich zum gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt noch nicht zu beurteilen. Meine Einschätzung geht allerdings<br />

dahin, daß die betroffenen Stellen vor allem auf die weitere wissenschaftliche<br />

Begleitung der einzelnen Themen des Gefahrenberichts durch<br />

die <strong>Schutzkommission</strong> angewiesen sein werden. Ich denke, daß die <strong>Schutzkommission</strong><br />

ihre Funktion als wissenschaftliches Beratungsgremium des<br />

BMI gerne auch in die gemeinsame Sache von Bund und Ländern stellen<br />

wird. Denn nur, wenn wir zur Zusammenarbeit finden, können wir eine effiziente<br />

Gefahrenvorsorge betreiben.<br />

Ich möchte die <strong>Schutzkommission</strong> daher ausdrücklich bitten, den mit dem<br />

Gefahrenbericht eingeschlagenen Weg einer übergreifenden Betrachtung<br />

von Problemen weiter zu gehen und ihren wissenschaftlichen Rat auch in<br />

Zukunft einzubringen. Dies eröffnet der <strong>Schutzkommission</strong> eine weiterreichende<br />

Perspektive für ihre Arbeit, einen deutlich größeren fachlichen Stellenwert<br />

im Bereich der Gefahrenprävention und Gefahrenabwehr und<br />

schließlich eine stärkere Beachtung ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> hält es zu Recht für zwingend geboten, „auf Grund<br />

der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten Europa und der damit<br />

verbundenen Notwendigkeit der gemeinsamen Bewältigung von existenzbedrohenden<br />

Situationen“, Fragen der Sicherheitsvorsorge und Gefahrenabwehr<br />

auch über die Grenzen hinweg zu diskutieren Ich freue mich daher,<br />

daß Sie unseren Ständigen Vertreter bei der NATO, Herrn Botschafter Dr.<br />

Hermann Freiherr von Richthofen zu der Jahrestagung eingeladen haben<br />

und wir aus seiner Sicht Näheres zu den Schwerpunkten staatlicher Sicherheitsvorsorge<br />

hören werden.<br />

98


Die <strong>Neue</strong> NATO – aktuelle Entwicklungen und<br />

Perspektiven<br />

Botschafter Dr. Hermann Freiherr von Richthofen<br />

Herr Vorsitzender,<br />

meine Damen und Herren,<br />

ich danke Ihnen für die Einladung, auf der 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

beim BMI zu sprechen. Ich bin gerne nach Freiburg gekommen,<br />

um in Ihrem interessierten Kreis hochrangiger Wissenschaftler über<br />

die <strong>Neue</strong> NATO, über aktuelle Entwicklungen und Perspektiven unseres<br />

Bündnisses zu sprechen.<br />

Unser Bündnis, das am 4. April 1949 in Washington als Militärallianz unter<br />

amerikanischer Führung gegen die damalige Bedrohung aus dem Osten<br />

gegründet wurde, ist heute dabei, sich den großen Veränderungen im Sicherheitsumfeld<br />

einer Welt im Umbruch anzupassen und sich als <strong>Neue</strong> NATO<br />

zu profilieren.<br />

Die NATO soll in Zukunft dem geeinten und freien Europa einen Stabilitätsrahmen<br />

bieten.<br />

Um den Kurs der Allianz zur Festigung von Stabilität und Sicherheit auf<br />

dem Weg in das 21. Jahrhundert festzulegen, werden sich die Staats- und<br />

Regierungschefs der NATO sich am 8./9. Juli zu einem Gipfel in Madrid<br />

treffen.<br />

Sie haben sich vorgenommen, im Außenverhältnis<br />

– erste mitteleuropäische Länder, die Interesse am Beitritt zur Allianz<br />

bekundet haben, zu Beitrittsverhandlungen einzuladen;<br />

– den Ländern, die nicht zu solchen Verhandlungen eingeladen werden,<br />

glaubhaft zu versichern, daß die Allianz für weitere Beitritte offen bleibt;<br />

– die Kooperationsbeziehungen mit allen Partnern der 1994 gegründeten<br />

Partnerschaft für den Frieden zu stärken und ihnen in einem Euro-Atlantischen<br />

Partnerschaftsrat einen flexiblen Rahmen für die Wahrnehmung<br />

ihrer Sicherheitsinteressen zu bieten;<br />

– eine weitreichende Sicherheitspartnerschaft mit Rußland einzugehen;<br />

– eine eigenständige, besondere Beziehung auch mit der Ukraine zu entwickeln<br />

und<br />

im Innenverhältnis der NATO wollen sie<br />

– über die Eckwerte einer neuen Kommandostruktur entscheiden und das<br />

Konzept der alliierten Streitkräftekommandos (CJTF) zur Durchführung<br />

friedensunterstützender Missionen in Gang setzen;<br />

99


– die transatlantischen Verbindungen weiter festigen und gleichzeitig<br />

– Vorkehrungen für die Ausprägung der europäischen Sicherheits- und<br />

Verteidigungsidentität innerhalb der NATO treffen, namentlich für die<br />

Vorbereitung und Durchführung von Operationen unter Führung der<br />

Westeuropäischen Union (WEU).<br />

Ferner stehen auf der Gipfelagenda:<br />

– die internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in und für<br />

Europa im Auftrag der Vereinten Nationen sowie<br />

– der weitere Ausbau der politischen und verteidigungspolitischen Anstrengungen<br />

gegen die Weiterverbreitung nuklearer, biologischer und chemischer<br />

Waffen sowie ihrer Trägersysteme.<br />

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Punkte dieser Gipfelagenda<br />

für sich beleuchten:<br />

Zu den wesentlichen Weichenstellungen vor der Jahrtausendwende gehört<br />

die Entscheidung über die Einladung erster Kandidaten zu Beitrittsverhandlungen.<br />

Dies ist eine Entscheidung von großer außenpolitischer Tragweite.<br />

Für das Bündnis ergab sich erst mit der Einbeziehung des vereinten<br />

Deutschland in die NATO am Ende des Kalten Krieges die Möglichkeit,<br />

sich überhaupt nach Osten zu öffnen.<br />

Schon auf dem Gipfel 1994 sprachen sich die Staats- und Regierungschefs<br />

des Bündnisses grundsätzlich für eine Erweiterung der NATO im Zuge<br />

eines evolutionären Prozesses aus.<br />

Mit der Entscheidung für die Erweiterung beantwortete die NATO zugleich<br />

die Frage, ob das Bündnis nach dem Wegfall der Bedrohung aus dem Osten,<br />

über seinen bisherigen Zweck der kollektiven Verteidigung hinaus, Funktionen<br />

der kooperativen Sicherheit in Europa übernehmen solle, um in der<br />

Zukunft militärisch und politisch relevant zu bleiben.<br />

Der Fortbestand der NATO wurde nämlich von vielen Denkfabriken und<br />

den Medien in Frage gestellt, die den Bündnisauftrag für erfüllt und damit<br />

auch das Bündnis selbst bereits für erledigt hielten. Die Regierungen der<br />

Mitgliedsstaaten sahen das allerdings anders.<br />

Sie wollten nicht das gleiche tun, wie seinerzeit Wellington und Blücher, die<br />

sich auf dem Schlachtfeld von Waterloo in der ,,BeIle Alliance“ trafen, um<br />

ihren Sieg zu feiern und anschließend auseinander zu gehen.<br />

Unsere heutigen Staatsmänner sprachen sich für die Erhaltung der NATO<br />

aus, unterstützt von weiten Teilen der öffentlichen Meinung. Und das hat<br />

seinen guten Grund.<br />

Denn nur die NATO mit ihrer militärischen Kompetenz, ihrer effizienten<br />

Organisation und ihrem transatlantischen Ausleger kann als Stabilitätsanker<br />

des europäischen Sicherheitssystems fungieren.<br />

100


Schon auf dem ersten Gipfeltreffen nach dem Fall der Berliner Mauer im<br />

Juli 1990 in London waren sich die Staats- und Regierungschefs der NATO<br />

einig, daß die Nordatlantische Allianz in der neuen Ära mehr sein mußte als<br />

ein reines Verteidigungsbündnis gegen militärische Bedrohung von außen,<br />

und daß es nunmehr darauf ankomme, zur Erhöhung der Stabilität und<br />

Sicherheit in ganz Europa beizutragen. An dieser großen Aufgabe sollten<br />

künftig alle europäischen Staaten mitarbeiten, die sich zur Sicherung von<br />

Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa im Wege der gemeinsamen<br />

Wahrnehmung gemeinsamer Interessen durch gemeinsame Institutionen<br />

bekennen.<br />

1991 wurde für den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Partnern im<br />

Osten der NATO-Kooperationsrat und 1994 die Partnerschaft für den Frieden<br />

ins Leben gerufen. Beide sind in kürzester Zeit zu einem Erfolg geworden.<br />

Meine Damen und Herren, im Herbst 1995 hat die NATO eine Studie zur<br />

Erweiterung veröffentlicht, die in der <strong>Folge</strong>zeit mit den interessierten Partnern<br />

lebhaft diskutiert worden ist. Darin wird belegt, daß die NATO mit der<br />

Öffnung keine neuen Trennlinien schafft, sondern zum Bau einer breit angelegten<br />

europäischen Sicherheitsarchitektur beiträgt. Für die Öffnung der<br />

NATO sprechen vielmehr unabweisbare Gründe:<br />

1. die NATO, die sich während des Kalten Krieges erfolgreich als Garant<br />

von Sicherheit und Freiheit bewährt hatte, wirkt auf die Staaten Mittelund<br />

Osteuropas mit magnetischer Anziehungskraft.<br />

Diese Staaten, deren Gesicht 1945 in Jalta zwangsweise nach Osten<br />

gedreht worden war, sind nunmehr frei, sich der Verteidigungsgemeinschaft<br />

westlicher demokratischer Staaten anzuschließen, unter deren<br />

Werteordnung sie sich stellen möchten.<br />

2. Samuel Huntington sagt zurecht, daß nämlich gemeinsame Werte,<br />

gemeinsame Institutionen, gemeinsame Geschichte und Kultur die Stärke<br />

des Westens ausmachen. Wer wollte unsere mittel- und osteuropäi<br />

schen Nachbarn aus dieser transatlantischen Gemeinschaft heraushalten?<br />

Versuche, diesen Staaten die Tür zu weisen, wären nicht nur hochmütig,<br />

sondern unfair und unhistorisch.<br />

3. Wenn die NATO die mittel- und osteuropäischen Staaten, die dies wün<br />

schen, nicht aufnähme, so würden diese Staaten Teil einer Grauzone in<br />

Europa, die den europäischen Kontinent erneut trennte.<br />

Umgekehrt führt die Erweiterung zur Integration und Zusammenarbeit<br />

in Europa und steuert damit Tendenzen zur nationalen und ethnischen<br />

Desintegration entgegen. Davon profitieren sichtlich gutnachbarliche<br />

Beziehungen, wie sich an den Verträgen Ungarns mit Rumänien und der<br />

Slowakei und Rumäniens mit der Ukraine ablesen läßt.<br />

4. Wir Deutsche möchten nach der Wiedervereinigung nicht noch einmal,<br />

daß unsere Landesgrenzen die Grenzen zu einer anderen Welt bilden.<br />

101


Statt dessen möchten wir entsprechend unserer geographisch mitteleuropäischen<br />

Lage auch in der Mitte der NATO und der Europäischen Union<br />

liegen. Die Mitgliedschaft im gleichen Verteidigungsbündnis besiegelt<br />

im übrigen auch die Aussöhnung zwischen uns und unseren östlichen<br />

Nachbarn.<br />

Meine Damen und Herren, natürlich übersehe ich nicht, daß die NATO-<br />

Erweiterung in der bestehenden Lage Europas auch Probleme aufwirft, die<br />

einer befriedigenden Lösung bedürfen. Ich könnte mir denken, daß auch<br />

Sie, meine Damen und Herren, mich fragen werden:<br />

– Schafft die NATO-Erweiterung angesichts der Proteste aus Moskau nicht<br />

doch neue Trennlinien in Europa, die wir ja gerade vermeiden wollen?<br />

Welche <strong>Folge</strong>n hat denn die NATO-Erweiterung für das Verhältnis zu<br />

Rußland?<br />

– Wie wirkt sich die Öffnung der Allianz auf die Länder aus, die zunächst<br />

nicht zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eingeladen werden?<br />

Ich will versuchen, auf diese Fragen zu antworten:<br />

Die russischen Sorgen vor den <strong>Folge</strong>n der NATO-Erweiterung sind strategischer,<br />

politischer und psychologischer Natur. Sie sind aus alten Bedrohungs-<br />

oder Einkreisungsängsten und der Furcht vor einer Verschiebung des<br />

militärischen Gleichgewichts gespeist.<br />

Sie entspringen allesamt überholtem russischen Denken, Mißtrauen gegenüber<br />

dem Westen und einer Wagenburgmentalität. Die russische Elite<br />

möchte am liebsten einen Gürtel von Pufferstaaten, die Moskauer Einfluß<br />

unterliegen.<br />

Die NATO ist dennoch bereit, sich mit diesen Sorgen ernsthaft auseinander<br />

zu setzen.<br />

Sie bemüht sich nach Kräften, diese Auffassungen zu korrigieren. Sie<br />

weist die russische Führung auf ihre neue Rolle und auf die Aufgaben in<br />

der europäischen Sicherheitsstruktur hin, in der Rußland einen gleichberechtigten<br />

Platz als Partner der NATO einnehmen soll. Sie versucht, der<br />

russischen Führung verständlich zu machen, daß die Aufnahme von mittel-<br />

und osteuropäischen Staaten in die NATO die Interessen Rußlands<br />

nicht bedroht, sondern im Gegenteil, daß die Stabilität in Mittel- und Osteuropa<br />

durch die Erweiterung von NATO und Europäischer Union auch<br />

Rußland zusätzliche Stabilität verleihen wird und diese Stabilität ist<br />

etwas völlig anderes als die Balance of Power des 19. Jahrhunderts und<br />

die Errichtung von Einflußzonen, die einer vergangenen Epoche<br />

angehören.<br />

Was die militärisch-strategischen Sorgen Rußlands angeht, so hat das<br />

Bündnis am 10. Dezember 1996 erklärt, daß die Erweiterung der Allianz<br />

keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich<br />

macht und daher die NATO-Länder weder die Absicht, noch Pläne<br />

102


oder auch nur einen Anlaß haben, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet<br />

neuer Mitglieder zu stationieren.<br />

Auch sehen sie keine Notwendigkeit, das NATO-Nukleardispositiv oder<br />

die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern, und<br />

dies gilt auch für die Zukunft.<br />

Zum konventionellen Streitkräftedispositiv, hat die NATO am 14. März<br />

1997 erklärt: „Im gegenwärtigen und künftig absehbaren Sicherheitsumfeld<br />

wird das Bündnis seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben<br />

eher durch die Gewährleistung der notwendigen Interoperabilität, Integration<br />

und Verstärkungskapazität als durch zusätzliche ständige Stationierung<br />

substantieller Kampftruppen durchführen“, mit anderen Worten<br />

substantielle Kampftruppen dort nicht dauerhaft stationieren.<br />

Was die konventionellen Rüstungen angeht, so sind in Wien entsprechend<br />

dem Ergebnis des OSZE-Gipfels am 1. Dezember 1996 Verhandlungen<br />

aufgenommen worden, um den KSE-Vertrag dem sich verändernden<br />

Sicherheitsumfeld in Europa anzupassen. Die Allianz hat in die Verhandlungen<br />

einen Vorschlag eingebracht, der auf russische Besorgnisse eingeht.<br />

Zusätzlich wird zwischen der NATO und Rußland über vertrauensbildende<br />

Maßnahmen gesprochen, um Transparenz auch für nicht vom KSE-<br />

Vertrag erfaßte Infrastruktur herzustellen.<br />

Da die Sicherheit neben militärischen Aspekten auch Wirtschaft und Handel,<br />

Menschenrechte und Minderheitsfragen umfaßt, kann sie nicht auf<br />

eine Organisation allein abgestützt werden. Sie beruht deshalb auf einem<br />

Zusammenspiel der multilateralen europäischen Institutionen, ohne Überund<br />

Unterordnung. Zu ihnen gehören außer der NATO die EU, die WEU,<br />

die OSZE und der Europarat. Aber nicht nur die Institutionen, sondern<br />

auch Dialog und Partnerschaft der Allianz mit Rußland sind ein tragender<br />

Teil dieser Architektur.<br />

Meine Damen und Herren, gleichzeitig mit der Einladung erster Kandidaten<br />

zu Beitrittsverhandlungen möchte das Bündnis den Ländern, die ihr<br />

Interesse am Beitritt zur Allianz bekundet haben, in Madrid aber noch<br />

nicht zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eingeladen werden können,<br />

eine klare Perspektive geben.<br />

Die Staats- und Regierungschefs werden ihnen zusichern, daß die NATO<br />

für weitere Mitglieder offen bleibt, und daß die Konsultationen mit ihnen<br />

fortgesetzt werden.<br />

Je kleiner im übrigen der Kreis der Länder ist, die 1997 zum Beitritt eingeladen<br />

werden, desto glaubwürdiger wird die Zusicherung empfunden<br />

werden. Darüber hinaus bietet die NATO in einer Begleitstrategie allen<br />

Kooperationspartnern, auch denen, die nicht beitreten möchten, die Schaffung<br />

eines Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates an.<br />

103


Sie sollen dadurch noch enger an die euro-atlantische Gemeinschaft angebunden<br />

und es soll ihnen ermöglicht werden, sich den Bündnisstrukturen<br />

weiter anzunähern.<br />

Damit bin ich bereits mitten im zweiten und dritten Tagesordnungspunkt der<br />

Gipfelagenda für Madrid, einer Begleitstrategie nämlich zur NATO-Erweiterung.<br />

Seit September 1996 tagt eine hochrangige Arbeitsgruppe, die alle<br />

Möglichkeiten zur Stärkung und Intensivierung des Programms der Partnerschaft<br />

für den Frieden prüft.<br />

Sie soll bis zum Gipfel eine Strategie ausarbeiten, die die politische Dimension<br />

dieser Partnerschaft vertieft. Er soll den Partnern einen flexiblen neuen<br />

Konsultations- und Kooperationsrahmen zur Verfügung stellen, der jedem<br />

Land bei der Lösung seiner Sicherheitsprobleme helfen kann. Außerdem<br />

sollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Partner in den verschiedenen<br />

Arbeitsfeldern der Partnerschaft für den Frieden erhöht werden. So können<br />

die einzelnen Länder ihre Potentiale noch besser einbringen. Sie werden<br />

dadurch noch enger an das Bündnis und seine Strukturen angebunden und<br />

wir werden das große Wachstumspotential, das noch in der Partnerschaft für<br />

den Frieden steckt, voll ausschöpfen. Jeder Partner bestimmt selbst, wie eng<br />

und intensiv sich die Zusammenarbeit mit dem Bündnis gestaltet.<br />

Meine Damen und Herren, zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, daß<br />

diese Begleitstrategie umfassend sein muß, indem sie auch Maßnahmen<br />

anderer Organisationen und solche der bilateralen Beziehungen einschließt.<br />

Denn die Sicherheit in Europa kann nicht allein auf die NATO abgestellt<br />

werden. Wenn es also richtig ist, daß die Öffnungspolitik des Bündnisses<br />

Teil einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik ist, dann ist auch die<br />

Europäische Union aufgerufen, den mittel- und osteuropäischen Staaten in<br />

ihren Beitrittsverhandlungen Perspektiven ihrer engeren Anbindung an die<br />

euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen insgesamt aufzuzeigen.<br />

Durch ein paralleles, transparentes und komplementäres Vorgehen von<br />

NATO und Europäischer Union bei ihren jeweiligen Beitrittsverhandlungen<br />

muß zum Ausdruck gebracht werden, daß sie dem gleichen Stabilitätsziel<br />

verpflichtet sind. Zwischen der NATO und der EU muß eine Dialogstruktur<br />

geschaffen werden, um die Erweiterungsprozesse besser aufeinander abzustimmen.<br />

Zusammen mit der erweiterten Europäischen Union wird die neue<br />

NATO einen großen Stabilitäts- und Prosperitätsrahmen bilden, an den sich<br />

Rußland anlehnen kann.<br />

Damit komme ich zur Vereinbarung einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland.<br />

Wir haben vorhin gesehen, daß es für Rußland politisch-psychologisch<br />

schwierig ist, die Osterweiterung der NATO zu akzeptieren. Unser Angebot<br />

einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland darf indessen nicht als Preis für<br />

eine Hinnahme der NATO-Erweiterung mißverstanden werden. Unabhängig<br />

von den beschwörenden Tönen aus Moskau ist es vielmehr ein Gebot<br />

der Stunde, die Beziehungen der NATO zu Rußland auf eine dauerhafte<br />

Grundlage zu stellen.<br />

104


Generalsekretär Solana steht mit Außenminister Primakov in intensiven<br />

Verhandlungen über ein politisch verbindliches Dokument, das die künftige<br />

Ausgestaltung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der NATO und<br />

Rußland regeln und die Haupteinwände gegen die NATO-Erweiterung entkräften<br />

soll. Schlüsselbegriffe des neuen Verhältnisses der NATO zu Rußland<br />

sind strategische Partnerschaft, Transparenz und Reziprozität. Das<br />

eigentliche Angebot des Bündnisses an Rußland, das in einer Akte besiegelt<br />

werden soll, ist die Herstellung eines Instrumentariums zur Vertrauensbildung.<br />

In der Akte sollen die Prinzipien, zu denen sich beide Seiten bekennen,<br />

darunter das Prinzip der freien Bündniswahl, die Gebiete für Zusammenarbeit<br />

und Dialog und ein Mechanismus für Konsultationen über<br />

Sicherheitsfragen niedergelegt werden. Es soll ein NATO-Rußland-Rat<br />

gebildet werden, in dem Rußland gleichberechtigt mit der NATO Sitz und<br />

Stimme hat. Es gilt das Konsensprinzip und wenn es keine Einigung gibt,<br />

bleiben beide Seiten in ihrem Handeln frei.<br />

Das übergeordnete Ziel westlicher Rußlandpolitik muß es sein, Rußland auf<br />

dem Pfad sich verdichtender Zusammenarbeit mit den westlich geprägten<br />

weltpolitischen Strukturen, einer Politik der guten Nachbarschaft und einer<br />

Politik innerer Reform zu halten.<br />

Ein normales Rußland liegt im fundamentalen westlichen Interesse. Eine<br />

solche Politik wird auch auf russischer Seite eine Eigendynamik entfalten.<br />

Gleichzeitig möchte die NATO besondere Beziehungen auch mit der<br />

Ukraine herstellen, dem nach Rußland größten und bevölkerungsreichsten<br />

Staat in Osteuropa, dessen erst vor fünf Jahren wiedergewonnene Souveränität,<br />

politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität besonderer Pflege<br />

und besonderen Schutzes bedürfen. Gedacht ist auch hier an ein politisch<br />

verbindliches Dokument mit Prinzipien, Feldern der Zusammenarbeit und<br />

einem Rahmen für eigenständige Konsultationen. Die NATO hat am Mittwoch<br />

in Kiew ein Informationsbüro errichtet, das der Beziehung zwischen<br />

dem Bündnis und der NATO sichtbar Ausdruck verleiht.<br />

Meine Damen und Herren, damit möchte ich zum Innenverhältnis kommen:<br />

Neben dem Stabilitätstransfer nach Osten dürfen wir nicht die enge Interdependenz<br />

Europas und Amerikas als Grundlage dieser Politik vernachlässigen.<br />

Vielmehr ist es essentiell, daß die neue NATO auch eine neue Partnerschaft<br />

zwischen Amerika und Europa begründet. Das Fundament der europäischen<br />

Sicherheitsarchitektur ist und bleibt der starke transatlantische Verbund und<br />

die militärisch bedeutsame amerikanische Präsenz in Europa.<br />

Das Hauptinstrument für die amerikanische Rolle in Europa bleibt die<br />

NATO, wenn auch der transatlantische Dialog zwischen den USA und der<br />

Europäischen Union zunehmend Bedeutung erlangt.<br />

Die Europäer müssen in diesem Verhältnis mehr Verantwortung und mehr<br />

Risiken, sie sollen dann aber auch mehr Zuständigkeiten übernehmen.<br />

105


Die neue und sich erweiternde NATO muß ihre inneren Strukturen der<br />

neuen Lage und den neuen Aufgaben anpassen. Sie möchte bis zum Gipfel<br />

ihre Führungsstrukturen verkleinern und verschlanken.<br />

Das veränderte Sicherheitsumfeld in Europa erlaubt es, die alte Organisation<br />

militärischer Abschreckung abzuspecken und eine flexiblere Struktur an ihre<br />

Stelle zu setzen. Die neue Kommandostruktur soll die militärische Leistungsfähigkeit<br />

der Allianz künftig auf drei statt bisher vier Führungsebenen<br />

gewährleisten: ich meine damit die strategische Ebene, weiterhin unter amerikanischer<br />

Führung, die regionale, unter grundsätzlich europäischer<br />

Führung und die subregionale Ebene, in der vor allem die mittleren und kleineren<br />

Bündnispartner sich wiederfinden sollen. Diese multinationale<br />

Kommandostruktur soll alle Bündnispartner, d.h. künftig auch Spanien und<br />

Frankreich und die neuen Mitglieder zur vollen Teilnahme befähigen.<br />

Zu den grundsätzlichen Zielsetzungen der Strukturreform gehört auch, unter<br />

Wahrung der transatlantischen Bindungen, die europäische Verteidigungsund<br />

Sicherheitsidentität innerhalb der NATO zu entwickeln.<br />

Dies wird sich nach dem Grundsatz trennbarer, jedoch nicht getrennter<br />

Fähigkeiten vollziehen. In der NATO werden europäische Führungsvorkehrungen<br />

geschaffen, mit deren Hilfe militärische Operationen mit den<br />

Kräften der NATO unter dem Kommando der WEU, durchgeführt werden<br />

können. Die NATO-Offiziere, die gleichzeitig eine europäische Rolle spielen,<br />

werden künftig einen atlantischen und einen europäischen Hut tragen.<br />

Das höchste Kommando dieser Art wird beim stellvertretenden SACEUR<br />

liegen, der stets ein Europäer sein wird. Weiter werden die Fähigkeiten und<br />

Kräfte der NATO identifiziert, die der WEU für eine von ihr geführte Operation<br />

zur Verfügung gestellt werden können. Auch werden Regeln für die<br />

Freigabe, Beobachtung und Rückführung von Kräften und Fähigkeiten der<br />

Allianz und natürlich auch die Modalitäten für die Zusammenarbeit der<br />

NATO mit der WEU entwickelt. Die WEU kann künftig ihre Planungen und<br />

Übungen von der NATO vorbereiten und durchführen lassen.<br />

Für künftige Allianzoperationen, aber auch für WEU geführte militärische<br />

Missionen, ist die Verwirklichung des Combined Joint Task Force Konzepts<br />

von entscheidender Bedeutung, mit dem die rasche Zusammenstellung auftragsangepaßter<br />

Truppenkörper und ihrer Führungsstäbe vorbereitet werden<br />

soll. Dieses Konzept wird es künftig erlauben, die neuen militärischen<br />

Handlungsoptionen sowohl im NATO-, als auch im WEU-Rahmen optimal<br />

vorzubereiten und auszuführen und darüber hinaus die Teilnahme von<br />

Nicht-NATO-Staaten an friedensunterstützenden Operationen organisatorisch<br />

sicherzustellen.<br />

Die Anpassung der Allianzstrukturen ist insgesamt auf gutem Wege, wenn<br />

auch bis zum Gipfel noch einige Hürden zu nehmen sind. Franzosen und<br />

Amerikaner haben z.B. noch keine Einigung erzielen können, ob künftig<br />

106


wie bisher ein amerikanischer Admiral oder ein Europäer NATO-Befehlshaber<br />

in Südeuropa werden soll.<br />

Frankreich macht von einer Lösung dieser Führungsfrage seinen Eintritt in<br />

die neuen militärischen Strukturen der NATO abhängig.<br />

Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, hat die Allianz nach dem Ende<br />

des Kalten Krieges auch Aufgaben des Krisenmanagements, der Konfliktverhütung<br />

und Führung internationaler Friedensmissionen im Auftrage<br />

der Vereinten Nationen oder der OSZE übernommen. Der Konflikt im<br />

ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, daß der Krieg leider keineswegs aus<br />

Europa verschwunden ist.<br />

Er hat vielmehr die Notwendigkeit unterstrichen, daß die NATO aktive<br />

Friedensunterstützung leistet.<br />

Erst die zur Umsetzung der militärischen Aspekte des Dayton-Abkomens<br />

des Dayton-Abkommens vom November 1995 ins Leben gerufene Friedensmission<br />

„Joint Endeavour“ hat die Waffen dort zum Schweigen<br />

gebracht.<br />

Die damals gebildete Friedenskoalition aus 33 NATO- und Nicht-NATO-<br />

Mitgliedern setzt sich nunmehr bis Ende Juli 1998 in der Stabilisation Force<br />

(SFOR) fort. Die Bundeswehr ist an dieser internationalen Friedensmission<br />

zum ersten Mal voll beteiligt. Ihr Einsatz im Rahmen der von Frankreich<br />

geführten multinationalen Division im Raum von Sarajewo ist ein gutes<br />

Beispiel für die Entwicklung von ehemaligen Feinden zu Partnern und<br />

Freunden.<br />

SFOR verhindert durch Abschreckung eine Wiederaufnahme von Feindseligkeiten.<br />

Ferner trägt SFOR zu einem sicheren Umfeld bei, daß zur<br />

Umsetzung des Schiedsspruchs zu Brcko am 15. 2., für die Durchführung<br />

der Gemeindewahlen im September 1997 und die Rückführung der Flüchtlinge<br />

nach Bosnien unbedingt erforderlich ist. Sie wird ferner mit dafür<br />

sorgen, daß die politische Aussöhnung und der wirtschaftliche Wiederaufbau<br />

in Gang kommen, um den Frieden zu konsolidieren.<br />

Rußland ist auch an SFOR beteiligt.<br />

Diese Zusammenarbeit hat Europa in eine neue Phase der Sicherheitskooperation<br />

geführt. Noch bevor alles fertig verhandelt oder gar umgestaltet<br />

ist, ist in Ex-Jugoslawien die „<strong>Neue</strong> NATO“ in Aktion.<br />

Meine Damen und Herren, der letzte oder keineswegs unwichtige Punkt der<br />

ehrgeizigen Gipfelagenda betrifft die große Herausforderung der Proliferation<br />

nuklearer, biologischer und chemischer Waffen sowie ihrer Trägermittel.<br />

Nach der Weisung der Staats-und Regierungschefs vom Januar 1994 hat<br />

die NATO ihre politischen und verteidigungspolitischen Bemühungen mit<br />

Blick auf die Risiken der Proliferation verstärkt und in einem ehrgeizigen<br />

Programm konzeptionelle Vorstellungen und Ziele entwickelt. Die Staatsund<br />

Regierungschefs werden einen Ergebnisbericht entgegennehmen und<br />

107


neue Richtlinien für die Rolle und Aufgabe der NATO auf diesem Gebiet<br />

erteilen, die bis ins nächste Jahrhundert reichen werden.<br />

Dazu dürfte auch die Definition einer substantiellen, zielgerichteten Zusammenarbeit<br />

zwischen NATO und Rußland in der zunehmend wichtigen und<br />

vor Ländergrenzen nicht halt machenden Problematik der unkontrollierten<br />

Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln gehören.<br />

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß einige Worte über<br />

die zivile Notfallplanung in der NATO sagen. Ihre große Bedeutung im<br />

Rahmen der kollektiven Verteidigung nach Artikel V des Washingtoner Vertrages<br />

ist Ihnen geläufig. In der neuen NATO hat sie jedoch zunehmende<br />

Bedeutung für die praktische Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Staaten.<br />

Ihr breites Aufgabenspektrum vom Schutz der Bevölkerung bis hin zur<br />

Vorsorge für die Aufrechterhaltung der Regierungs- und Verwaltungsfunktionen<br />

in Spannungs- und Krisenlagen stellt ein wichtiges Feld sicherheitspolitischer<br />

Zusammenarbeit in Europa dar. Dieser Aufgabenbereich eröffnet<br />

in der NATO auch den Partnerstaaten ein großes Potential für eine enge<br />

Zusammenarbeit.<br />

Die zivile Notfallplanung ermöglicht ihnen Sicherheitsbeziehungen mit den<br />

Mitgliedsstaaten der NATO und untereinander auch im Bereich nicht<br />

militärischer Sicherheit anzuknüpfen.<br />

Seit 1994 werden eine Fülle von Seminaren und Workshops durchgeführt.<br />

Dabei standen die zivile Notfallgesetzgebung in den Mitgliedstaaten der<br />

NATO, der Ausbau der Katastrophenschutzstrukturen sowie die zivilmilitärische<br />

Zusammenarbeit bei Katastrophen oder Großunfällen im<br />

Mittelpunkt des Dialogs.<br />

Die zivile Notfallvorsorge ist einer der Planungsbereiche, in denen Rußland<br />

mit der NATO praktisch zusammenarbeiten möchte.<br />

Die Bedeutung dieser Zusammenarbeit wird durch ein im März 1996 in<br />

Moskau unterzeichnetes Memorandum of Understanding unterstrichen.<br />

Gerade ist ein Seminar in Moskau zu Ende gegangen.<br />

Auch zur Ukraine bestehen nach der von der NATO 1995 koordinierten<br />

erfolgreichen Hilfsaktion anläßlich der Hochwasserkatastrophe von Kharkov<br />

besondere Beziehungen.<br />

Künftig sollen Partnerstaaten an den Beratungen der neun Fachausschüsse<br />

auf den Gebieten der zivilen Transport- und Verkehrsplanung, der Wirtschafts-<br />

und Industrieplanung, der Fernmelde- und Kommunikationsplanung<br />

für zivile Krisensituationen sowie des Schutzes der Bevölkerung in<br />

Gefahrenlagen teilnehmen dürfen.<br />

Die NATO leistet damit Basisarbeit für den Auf- und Ausbau von funktionsfähigen,<br />

kooperativen zivilen Notfallstrukturen in Mittel- und Osteuropa,<br />

die eine wichtige Voraussetzung für ein angemessenes staatliches<br />

108


Handeln und Zusammenwirken in Krisen- und Katastrophensituationen<br />

bilden.<br />

Neu ist auch die koordinierende Rolle, die das Direktorat für zivile Notfallplanung<br />

der NATO bei Katastrophen in Friedenszeiten übernommen hat.<br />

Danach können Partnerstaaten auf der gleichen Grundlage wie die NATO-<br />

Mitgliedstaaten in Katastrophenfällen Unterstützung über die NATO anfordern.<br />

Eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in Genf ist<br />

sichergestellt.<br />

Die zivile Notfallplanung der NATO spielt schließlich eine unverzichtbare<br />

Rolle in der internationalen Krisenbewältigung in und für Europa.<br />

Im Bedarfsfall kann über die Civil Emergency Crisis Cell auf über 360<br />

zivile Sachverständige und Experten in den NATO-Mitgliedstaaten zurückgegriffen<br />

werden.<br />

Sie sollen den Generalsekretär in allen Fragen des zivilen Land-, See- und<br />

Lufttransportes in Krisensituationen, aber auch hinsichtlich staatlicher<br />

Krisenplanung in der Energiewirtschaft, der Industrie und dem Lebensmittelsektor<br />

beraten. Das Gleiche gilt für den zivilen Nachrichten- und<br />

Kommunikationsbereich und vor allem für den Schutz der Bevölkerung<br />

einschließlich der medizinischen Notversorgung in Gefahrenlagen.<br />

Das breite Spektrum heute möglicher Krisenfälle erfordert ferner angemessene<br />

Vorkehrungen auch auf ziviler Seite.<br />

Für die schnelle Verlegung militärischer Einsatzkräfte kommt es in besonderer<br />

Weise auf unterstützende zivile Transportplanung und -kapazitäten an.<br />

Die Ministerrichtlinie für die zivile Notfallplanung fordert daher von den<br />

Mitgliedsstaaten, ihre nationalen gesetzlichen Grundlagen für staatliches<br />

Handeln in Krisensituationen zu überprüfen. Die Bundesregierung ist<br />

bereits initiativ geworden und hat den Entwurf eines Verkehrsvorsorgegesetzes<br />

auf den Weg gebracht.<br />

Zu den Lektionen, die die NATO bei dem Einsatz von IFOR und SFOR in<br />

Bosnien-Herzegowina gelernt hat, gehört die Fortentwicklung der zivilmilitärischen<br />

Zusammenarbeit. Die NATO braucht neue zivil-militärische<br />

Koordinationsverfahren, damit die militärische Seite lernt, mit zivilen Einrichtungen<br />

und Organisationen im Krisengebiet zusammenzuarbeiten. Der<br />

Ausschuß für zivile Notfallplanung prüft zur Zeit die Möglichkeiten, wie<br />

eine solche zivil-humanitäre Komponente in künftige friedensunterstützende<br />

militärischen Einsätzen der NATO integriert werden kann.<br />

Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen:<br />

Das Jahr 1997 entscheidet über die künftige Sicherheitsstruktur Europas. In<br />

diesem Jahr werden die Erweiterungsprozesse der NATO und der Europäischen<br />

Union beginnen. Wenn auch die ersten Beitritte zur NATO erst 1999<br />

und zur Europäischen Union erst nach dem Jahr 2000 wirksam sein werden,<br />

so werden dennoch in diesem Jahr die Grundzüge der künftigen politischen,<br />

109


sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Struktur Europas auf Jahrzehnte<br />

hin festgelegt. Die neue NATO soll ein wesentlicher Bestandteil dieser<br />

zukünftigen Sicherheitsordnung Europas sein.<br />

Unser Ziel ist ein stabiles, wohlhabendes und friedliches Europa. Dieses<br />

Ziel zu erreichen ist die erste Aufgabe deutscher Außenpolitik.<br />

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

110


Fachliche Perspektiven des BMBau im Bereich des<br />

bauliches Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

H. Bong<br />

Manuskript lag bei Drucklegung noch nicht vor.<br />

111


112


<strong>Zivilschutz</strong> und Katastrophenschutz aus der Sicht<br />

der Länder<br />

Heinrich Klingshirn<br />

I. <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />

Mit dem im April dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es hat der Bund die Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es auf<br />

eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Die geänderte sicherheitspolitische<br />

Lage in Europa, die neuen politischen Rahmenbedingungen und<br />

Zwänge des Haushalts haben für den Bund die schon lange notwendige<br />

Anpassung des <strong>Zivilschutz</strong>es und insbesondere des auf den Verteidigungsfall<br />

bezogenen Katastrophenschutzes unausweichlich gemacht.<br />

Die Länder begrüßen die Zielsetzung und die Grundaussagen dieser Neukonzeption.<br />

Dies gilt insbesondere für das Aufgabenfeld Katastrophenschutz,<br />

dem sicherheits- und ordnungsrechtlich eine besondere Bedeutung<br />

zukommt. Die Besonderheit und damit auch die Schwierigkeit des Katastrophenschutzes<br />

liegt darin, daß durch diesen Bereich die verfassungsrechtliche<br />

Schnittstelle geht:<br />

– Der Bund ist zuständig für die Abwehr der besonderen Gefahren und<br />

Schäden, die in einem Verteidigungsfall drohen,<br />

– die Länder sind zuständig für alle anderen Gefahren, einschließlich des<br />

allgemeinen Katastrophenschutzes.<br />

Gerade in diesem sensiblen Bereich des Katastrophenschutzes war es – entgegen<br />

anderes lautenden Behauptungen – bisher nie zu einer echten Verzahnung<br />

von allgemeinem und verteidigungsfallbedingten Katastrophenschutz<br />

gekommen. Der immer wieder behauptete sogenannte Doppelnutzen<br />

ist bisher – sieht man von einigen wenigen Teilbereichen ab – nie wirklich<br />

eingetreten.<br />

In einzelnen Fachdiensten entstanden auf die Bedürfnisse des Verteidigungsfalls<br />

zugeschnittene „Spezialeinheiten“, die für friedensmäßige<br />

Schadenslagen und Katastrophen nicht oder bestenfalls nur sehr bedingt<br />

einsatzfähig waren. Die Handicaps des bisherigen erweiterten Katastrophenschutzes<br />

lagen vor allem<br />

– in der für Friedenszwecke viel zu schwerfälligen und untauglichen Organisationsform<br />

des Zuges,<br />

– in der im wesentlichen auf den Verteidigungsfall ausgerichteten Ausbildungs-<br />

und Führungsstruktur, die für die friedensmäßigen Katastrophenschutzfälle<br />

untauglich ist, sowie<br />

113


– in der zentralistischen und oft auf Gängelung ausgerichteten Bundesverwaltung.<br />

Im Ergebnis war die bisherige Organisationsstruktur des <strong>Zivilschutz</strong>es geradezu<br />

ein Musterbeispiel für eine ineffiziente Verwaltung, die gekennzeichnet<br />

war durch<br />

– zentralistischen Bürokratismus,<br />

– unzählige Verwaltungsvorschriften,<br />

– einem aufgeblähten Personalkörper und<br />

– einer überperfektionistischen Bundesverwaltung.<br />

Aus diesen Mängeln hat der Bund nunmehr mit dem <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />

vom 25. 3. 1997 die richtigen Konsequenzen gezogen. Im einzelnen:<br />

– Der auf den Verteidigungsfall bezogene sogenannte erweiterte Katastrophenschutz<br />

baut nunmehr – anders als früher – auf den friedensmäßigen<br />

Strukturen der Länder auf. Der Bund gibt – anders als früher – keine<br />

starren organisatorischen Vorgaben mehr und beschränkt den Aufgabenbereich<br />

auf den Brandschutz, das Sanitäts- und Betreuungswesen sowie<br />

auf den ABC-Schutz.<br />

– Für die Aufgaben der Bergung sowie für die Abwehr spezifischer Gefahren<br />

hält er zur Verstärkung des Katastrophenschutzes der Länder das<br />

Technische Hilfswerk vor.<br />

Zusammenfassend wird die Neukonzeption von den Ländern positiv bewertet.<br />

Positiv ist vor allem festzustellen, daß die Neukonzeption des Bundes<br />

im Bereich der Erweiterung des Katastrophenschutzes<br />

– sich realitätsbezogen den veränderten Rahmenbedingungen anpaßt,<br />

– den Gesichtspunkt, daß Basis aller Maßnahmen der friedensmäßigen<br />

Katastrophenschutz ist, berücksichtigt,<br />

– die Handlung- und Organisationsspielräume in den Ländern erweitert,<br />

– die ehrenamtliche Mitwirkung in den Mittelpunkt aller Überlegungen<br />

stellt,<br />

– den Ländern die Möglichkeit eröffnet, in ihren Landkreisen und kreisfreien<br />

Städten eine gleichwertige Grundversorgung zu etablieren um das<br />

bisherige Versorgungsgefälle zu beseitigen.<br />

II. Konsequenzen für die Länder<br />

Die Umsetzung der Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es bringt gerade im Katastrophenschutz<br />

– und auf den möchte ich mich hier im wesentlichen<br />

beschränken – große Herausforderungen mit sich.<br />

114


Eine Reihe von Ländern, die sich in der Vergangenheit zurückgelehnt hatten,<br />

müssen nun ihre Hausaufgaben machen.<br />

Denn die Erweiterung der Handlungs- und Organisationsspielräume für die<br />

Länder bedeutet auch mehr Verantwortung.<br />

1. Die Länder übernehmen nicht nur verstärkt finanzielle Verantwortung,<br />

sondern sind nunmehr selbst für die Führung und Infrastruktur verantwortlich.<br />

Die Länder müssen sich jetzt dieser Aufgabe stellen und sie<br />

neu definieren.<br />

Bayern hat dies – wie eine Reihe weiterer Länder – bereits im Vorgriff<br />

der genannten gesetzlichen Neuregelung getan und den friedensmäßigen<br />

Katastrophenschutz zum 1. 1. 1997 auf eine neue Rechtsgrundlage<br />

gestellt. Wichtigste Regelungen sind:<br />

– Anstelle des für friedensmäßige Schadenslagen und Katastrophen<br />

untauglichen, weil zu großen und unbeweglichen Führungsstabes tritt<br />

eine kleine und flexible Führungsgruppe bei der Kreisverwaltungsbehörde.<br />

– Vor Ort wird ein bereits vorbestimmter örtlicher Einsatzleiter tätig. Als<br />

verlängerter Arm der Katastrophenschutzbehörde obliegt ihm die taktisch-operative<br />

Führung vor Ort.<br />

– Die dritte Ebene bilden die Führer der einzelnen Fachorganisationen<br />

(Feuerwehr, Polizei, THW, Rettungsdienst, Sanitätsdienst usw.), die<br />

die unmittelbare Schadensbekämpfung vor Ort wahrnehmen.<br />

Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, daß sich dieses Führungsmodell in<br />

der Praxis bestens bewährt und vor allem bei den Akteuren des Katastrophenschutzes<br />

große Zustimmung findet.<br />

2. Die Neukonzeption des Verteidigungsfall bezogenen Katastrophenschutzes<br />

durch den Bund eröffnet den Ländern erstmals die Möglichkeit,<br />

die einzelnen Bundesfahrzeuge sinnvoll neuzuverteilen. Auch Bayern<br />

hat diese Chance wahrgenommen und für die vom Bund noch weiterhin<br />

finanzierten Fahrzeuge ein Verteilungskonzept erarbeitet, das die bisherige<br />

Verteilung der Bundesfahrzeuge dem friedensmäßigen Bedarf<br />

anpaßt.<br />

So kann der viel beschworene Doppelnutzen auch tatsächlich realisiert<br />

werden.<br />

An diesen beiden Beispielen wollte ich Ihnen deutlich machen, daß sich die<br />

Länder der neuen erhöhten Verantwortung stellen. Die häufig vorgetragenen<br />

Befürchtungen, daß eine Zersplitterung und Auflösung der Katastrophenschutzstrukturen<br />

in 16 nicht kompatible Ländersysteme eintritt und infolge<br />

mangelnder Einheitlichkeit massive Unzulänglichkeiten im Katastrophenschutz<br />

entstehen, teile ich nicht. Wie in anderen Bereichen, z.B. im Rettungsdienst<br />

und im Feuerwehrwesen, werden sich die Länder auch im<br />

115


Bereich Katastrophenschutz dort, wo er tatsächlich für die Praxis wichtig<br />

ist, abstimmen. Hierfür gibt es die Innenministerkonferenz mit ihrem<br />

zuständigen Arbeitskreis V, den ich die Ehre habe derzeit zu leiten.<br />

All denen, die immer noch Schwierigkeiten haben, sich in die neuen Gegebenheiten<br />

einzufinden, kann ich nur sagen, es lohnt sich nicht den alten,<br />

zentralistischen Einheitsstrukturen nicht nachzutrauern; denn<br />

– die Mehrzahl der Katastrophen sind örtlich bzw. regional begrenzt, es gibt<br />

kaum landesübergreifende Szenarien;<br />

– ein dezentrales, förderales System kann maßgeschneiderte Lösungen<br />

bieten, die gerade bei den Einsatzkräften Akzeptanz vermittelt;<br />

– ein wirksamer Katastrophenschutz kommt ohne die Vorabfestlegung von<br />

Führungsorganisationsstrukturen nicht aus. Diese müssen so ausgerichtet<br />

sein, daß insbesondere bei sich aufbauenden Schadenslagen Führungsbrüche<br />

vermieden werden. D. h. ein Führungsmodell muß für alle<br />

Schadenslagen von klein bis groß einschließlich Katastrophen im Grundsatz<br />

identisch sein. Dabei ist eine vertikale Einheitlichkeit innerhalb eines<br />

Landes wichtiger als die horizontale Einheitlichkeit zwischen Bundesländern.<br />

– Darüber hinaus hat sich die bestehende Auftragstaktik in der Praxis schon<br />

bisher im Führungsbereich länderübergreifend hervorragend bewährt. Bei<br />

den letzten Hochwasserkatastrophen in Bayern wirkten die Bundeswehr<br />

und das Technische Hilfswerk mit ihren gegenüber den Katastrophenschutzeinheiten<br />

ganz unterschiedlichen Organisationsstrukturen unter der<br />

Leitung der Katastrophenschutzbehörde mit, ohne daß es deshalb zu Problemen<br />

gekommen wäre.<br />

III. Konsequenzen der Neukonzeption für die<br />

<strong>Schutzkommission</strong><br />

Nach der neuen <strong>Zivilschutz</strong>konzeption bezieht der Bund das Gesamtpotential<br />

der Länder im Bereich Katastrophenschutz in seine <strong>Zivilschutz</strong>planung<br />

mit ein. Er baut auf diese für den friedensmäßigen Katastrophenschutz von<br />

den Ländern geschaffenen Strukturen auf. Diese neue Konzeption darf sich<br />

aber nicht auf den Zivil- und Katastrophenschutz beschränken, sondern<br />

muß auch die Organisation, Struktur und Arbeitsweise der <strong>Schutzkommission</strong><br />

mit einschließen. Um nicht mißverstanden zu werden, die Länder<br />

stellen die <strong>Schutzkommission</strong> nicht in Frage; sie meinen aber, daß sich die<br />

<strong>Forschung</strong>sschwerpunkte ändern sollten.<br />

Konkret bedeutet das<br />

– Die <strong>Forschung</strong>svorhaben sollten sich nicht mehr ausschließlich auf die<br />

Gefahrenabwehr im Verteidigungsfall beschränken, sondern sich auch<br />

dem <strong>Forschung</strong>sbedarf im allgemeinen Katastrophenschutz öffnen. Hier<br />

haben wir Defizite; hier brauchen wir die Wissenschaft.<br />

116


– Vor allem aber sollten die Ländern bei der Festlegung des <strong>Forschung</strong>sbedarfs<br />

und der einzelnen <strong>Forschung</strong>svorhaben qualifiziert beteiligt werden.<br />

– Die Gefahrenberichte schließlich, die – wie auch der jüngste noch sehr<br />

„verteidigungslastig“ sind – sollten sich den veränderten Rahmenbedingungen<br />

anpassen.<br />

Unter diesen Prämissen könnten Bund, Länder und <strong>Schutzkommission</strong> in<br />

einen fruchtbaren Dialog miteinander eintreten.<br />

117


118


Fachlich-wissenschaftliche Schwerpunkte der<br />

Umsetzung des Gefahrenberichts und Perspektiven<br />

für künftige <strong>Forschung</strong>saktivitäten im <strong>Zivilschutz</strong><br />

Willy B. Marzi<br />

Um die grundgesetzlich verankerte Pflicht zum Schutz der Bevölkerung<br />

wahrzunehmen, muß der Staat zukunftsorientierte Vorsorgepolitik betreiben.<br />

Den Rahmen für Maßnahmen zur Umsetzung dieser Vorsorgepolitik<br />

liefert das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz (ZSNeuOG), dessen grundsätzliche<br />

Ziele bereits vorgestellt wurden. Das Ziel der Effektivierung des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

führt etwa im Katastrophenschutz zur Abschaffung von Sonderstrukturen<br />

des Bundes und zur Integration von Maßnahmen des Bundes in<br />

den friedensmäßigen Katastrophenschutz der Länder. Effektivierung bedeutet<br />

jedoch auch die Nutzung moderner Technik, neuester Erkenntnisse und<br />

das Erkennen und Verfolgen erfolgversprechender Entwicklungen für<br />

Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />

Der <strong>Forschung</strong> zur Entwicklung von planerischen Konzepten, Strategien,<br />

Verfahren und Schutzsystemen sowie zur Gefahrenerfassung und Schadensbekämpfung<br />

kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />

ist die <strong>Forschung</strong> verankert. Zu den Aufgaben des Bundesamtes<br />

für <strong>Zivilschutz</strong> gehört „die Aufgabenstellung für technisch-wissenschaftliche<br />

<strong>Forschung</strong> im Benehmen mit den Ländern, die Auswertung von<br />

<strong>Forschung</strong>ergebnissen“ usw.<br />

Die Einbeziehung der Länder in das Verfahren erfolgte in der Vergangenheit<br />

über die Mitarbeit von Ländervertretern in den projektbegleitenden Arbeitsgruppen<br />

und die Information über die Ergebnisse der abgeschlossenen <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />

Künftig wird entsprechend der Regelung im ZSNeuOG<br />

über das bisherige Verfahren hinaus eine Information und Beteiligung<br />

bereits in der Planungsphase erfolgen.<br />

<strong>Zivilschutz</strong>forschung dient der Erweiterung des Kenntnisstandes im <strong>Zivilschutz</strong><br />

und wird vom Bund finanziert. Vorhaben aus der Thematik des<br />

friedensmäßigen Katastrophenschutzes werden demgegenüber von den<br />

Ländern veranlaßt und finanziert. Selbstverständlich werden jedoch vom<br />

Bund unter dem Gesichtspunkt des Doppelnutzens bei einem für <strong>Zivilschutz</strong>zwecke<br />

vergebenen <strong>Forschung</strong>svorhaben auch Aspekte des friedensmäßigen<br />

Katastrophenschutzes soweit wie möglich berücksichtigt. Viele<br />

Vorhaben der <strong>Zivilschutz</strong>forschung haben ihren Nutzen für die friedensmäßige<br />

Gefahrenabwehr bereits unter Beweis gestellt. Indiz dafür ist das<br />

rege Interesse von Katastrophenschutzbehörden an den entsprechenden<br />

Abschlußberichten.<br />

Die <strong>Forschung</strong>splanung für den <strong>Zivilschutz</strong> orientiert sich am <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />

und an den finanziellen Möglichkeiten.<br />

119


Zur Ermittlung des aktuellen <strong>Forschung</strong>sbedarfs hat der Gefahrenbericht<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> durch die systematische Aufarbeitung von Kernbereichen<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es eine solide Grundlage geliefert. Er analysiert ein<br />

breites Spektrum möglicher Bedrohungen und die daraus resultierenden<br />

Erfordernisse für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen. Lücken und Schwachstellen<br />

sowie der sich daraus ergebende Handlungsbedarf und zu bearbeitende Themenstellungen<br />

werden aufgezeigt.<br />

Der Handlungsbedarf im Hinblick auf <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaktivitäten<br />

ist gewaltig. Dementsprechend groß ist die Anzahl der Themenvorschläge<br />

für <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben, etwa 40, mit unterschiedlichem<br />

Konkretisierungsgrad. Eingebracht wurden diese Vorschläge<br />

von der <strong>Schutzkommission</strong> und ihren Mitgliedern, Bundesressorts wie BMI<br />

und BMBau, Ländern der Bundesanstalt THW und den Fachabteilungen des<br />

BZS. Eine kurzfristige Realisierung all dieser Vorschläge ist mit den zur<br />

Verfügung stehenden Finanzmitteln nicht möglich.<br />

Fast alle Vorschläge betreffen Fragestellungen, die im Gefahrenbericht<br />

direkt angesprochen oder indirekt enthalten sind.<br />

Der <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf betrifft insbesondere die<br />

– Medizinische Versorgung im <strong>Zivilschutz</strong>, die<br />

– Technik im <strong>Zivilschutz</strong> und<br />

– Entscheidungshilfen für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen.<br />

Bei den Fragen der medizinischen Versorgung im <strong>Zivilschutz</strong> ergeben<br />

sich bei den Vorschlägen für <strong>Forschung</strong>svorhaben Schwerpunkte bei der<br />

Analyse des Ist-Zustands der Vorbereitungen zur medizinischen Versorgung<br />

im <strong>Zivilschutz</strong>, nachdem durch das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />

doch deutlich veränderte Rahmenbedingungen definiert sind. Ein weiterer<br />

Schwerpunkt ist bei Vorhaben aus dem Themenkreis Organophosphate und<br />

Carbamate zu sehen, denen auch ein Abschnitt des Gefahrenberichts gewidmet<br />

ist. Der Sarin-Anschlag in Tokio hat gezeigt, daß diese Stoffgruppe<br />

nach wie vor relevant ist. Hieran wird auch kurz- und mittelfristig das<br />

nunmehr in Kraft getretene Chemiewaffenübereinkommen nichts Entscheidendes<br />

ändern.<br />

Bei der Technik im <strong>Zivilschutz</strong>, die ein weites Feld von der Warnung bis<br />

hin zu Maßnahmen des baulichen Schutzes umfaßt, ergeben sich unter<br />

Berücksichtigung der Umsetzung des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />

Schwerpunkte bei der ABC-Gefahrenerfassung und im Selbstschutz unter<br />

Einschluß baulicher Maßnahmen, dem verstärkt Bedeutung beigemessen<br />

wird.<br />

Entscheidungshilfen für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen umfassen eine breite<br />

Palette von Vorhaben, die sich mit dem Verhalten von Menschen in Notfallsituationen<br />

über Vulnerabilitätsanalysen bis hin zur Erarbeitung von<br />

Grundlagen für die Ausbildung von Helfern in Fragen des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

befassen. Durch das ZSNeuOG stehen wir bei der Ausbildung vor der Situa-<br />

120


tion, daß <strong>Zivilschutz</strong>inhalte in die friedensmäßige Ausbildung integriert<br />

werden müssen.<br />

Die diesbezüglichen Fragen haben wegen der damit verbundenen Weichenstellungen<br />

hohe Priorität.<br />

Neben den genannten Schwerpunkten existieren Vorschläge zu Einzelthemen<br />

aus vielen Bereichen des <strong>Zivilschutz</strong>es. Warnung, Dekontamination,<br />

Wassersicherstellung seien stellvertretend genannt.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> prägt die <strong>Forschung</strong>saktivitäten im <strong>Zivilschutz</strong> entscheidend.<br />

Hinsichtlich der Umsetzung von Schwerpunktthemen in wohldefinierte<br />

Vorhaben besteht seitens des Hauses Beratungsbedarf – sowohl<br />

bei der fachlichen Vertiefung und Konkretisierung der Einzelthemen als<br />

auch bei der Evaluierung der Einzelthemen. Diese Beratung könnte nach<br />

meiner Auffassung am besten in kleinen Arbeitsgruppen unter Beteiligung<br />

der zuständigen Ressorts erfolgen. Eine Einbindung von Ländervertretern<br />

zu diesem Zeitpunkt ist ebenfalls zu erwägen.<br />

Im Gefahrenbericht wird ein weiter Bereich des <strong>Zivilschutz</strong>es systematisch<br />

untersucht. Dennoch bedarf nach meiner Auffassung der Gefahrenbericht<br />

der Fortschreibung. Die Analyse der Gefährdungsarten bildet einen deutlichen<br />

Schwerpunkt bei der Behandlung der aus dem Einsatz biologischer,<br />

chemischer und radioaktiver Stoffe resultierenden Effekte. Dabei wird differenziert<br />

zwischen direkter Einwirkung auf den Menschen und indirekter<br />

Einwirkung z.B. durch Beeinträchtigung der Infrastruktur. Eine Fortschreibung<br />

des Gefahrenberichts könnte die Analyse der Gefahrenarten noch<br />

erheblich ausweiten und damit ein noch umfassenderes Bild der Gefährdung<br />

der Bevölkerung zeichnen.<br />

Beispielhaft seien einige Themenbereiche genannt, die aufgegriffen werden<br />

sollten:<br />

Bezogen auf direkte Einwirkung auf den Menschen wäre eine Analyse<br />

mechanischer Wirkungen moderner Waffen wünschenswert. Indirekt sind<br />

zwar diesbezügliche Angaben im Gefahrenbericht enthalten. Es fehlt jedoch<br />

eine zusammenfassende Darstellung unter <strong>Zivilschutz</strong>aspekten. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />

könnte die vorhandenen Informationen aus dem militärischen<br />

Bereich auswerten und Schlußfolgerungen für den <strong>Zivilschutz</strong> ableiten.<br />

Zunehmend diskutiert wird auch die Entwicklung nicht letaler Waffen<br />

unterschiedlichster Art. Die Analyse der hieraus resultierenden Bedrohung<br />

und der Relevanz für den <strong>Zivilschutz</strong> steht aus.<br />

Charakteristikum bewaffneter Auseinandersetzungen ist das Auftreten<br />

gewaltiger Flüchtlingsströme, die in Krisen- und Kriegszeiten in einer<br />

modernen Industriegesellschaft, die zur Aufrechterhaltung von Versorgungsleistungen<br />

aller Art auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen<br />

ist, schnell zum Kollaps führen kann. Die Analyse der Auswirkungen ist für<br />

die zivile Verteidigung von elementarem Interesse.<br />

121


Ebenso wie die Gefahrenanalyse mußten sich im Gefahrenbericht auch die<br />

Schlußfolgerungen zu den erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der<br />

Bevölkerung auf einige, allerdings bedeutende Schwerpunkte beschränken.<br />

Auch hier wäre eine Ausweitung der behandelten Themen wünschenswert.<br />

Für die Aufgabenbereiche Selbstschutz und Katastrophenschutz wäre eine<br />

systematische Analyse, wie sie für die medizinische Versorgung ausgearbeitet<br />

wurde, für die Planung von <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen sehr hilfreich.<br />

Es kann nicht erwartet werden, daß eine Fortschreibung des Gefahrenberichts<br />

zu einem abschließenden Werk führt; dazu ist die Materie zu vielfältig,<br />

und die Gefährdungen sind ebenso wie die Rahmenbedingungen ständigen<br />

Wandlungen unterworfen. Die Fortschreibung sollte in bewährter<br />

Weise interdisziplinär erfolgen.<br />

Abschließend kann festgestellt werden, daß auch unter den veränderten<br />

politischen Rahmenbedingungen für die <strong>Zivilschutz</strong>forschung ein breites<br />

Betätigungsfeld verbleibt.<br />

122


Konzeptionelles Vorgehen aus Sicht der<br />

medizinischen Versorgung im Katastrophen- und<br />

Zivil-Schutz<br />

Ernst Rebentisch<br />

Es würde reizen, die Entwicklung des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

sowie auch des Rettungswesens in der Bundesrepublik einer dokumentarisch<br />

belegten Untersuchung zu unterziehen. Dabei würde deutlich, warum<br />

trotz der bitteren Kriegserfahrungen ausgerechnet in Deutschland die bei<br />

einem Großschaden mit vielen Verletzten umgehend erforderliche medizinische<br />

Hilfe durch qualifizierte Ärzte und Helfer mit entsprechendem<br />

notfallmedizinischen Gerät und Material nicht gewährleistet ist.<br />

Dies würde aber den Rahmen meines kurzen Vortrages sprengen.<br />

Wir haben heute folgende Fakten zur Kenntnis zu nehmen:<br />

1. Der Bundesminister des Innern will und wird die bisherigen kostspieli<br />

gen Sanitätseinheiten des erweiterten Katastrophenschutzes auflösen<br />

und Reste den Ländern zur Verfügung stellen.<br />

2. Die Hilfsorganisationen haben noch zu keiner Zeit garantieren können,<br />

daß die von ihnen aufgestellten und unterhaltenen Sanitätseinheiten<br />

tatsächlich in kürzester Zeit in voller Stärke und gesamter Ausrüstung<br />

an einem Einsatzort verfügbar sind. Sie haben bei Befragungen stets<br />

bestätigt, daß eine Einheit nach der Alarmierung rund 2 Stunden<br />

benötigt, bis sie an einem 20 km entfernten Schadensort eintrifft. Über<br />

dies waren diese früheren Sanitätszüge nach den Vorgaben des Bundes<br />

und der Länder erst dann zu alarmieren, wenn der zuständige Hauptverwaltungsbeamte<br />

ein Schadensereignis als Katastrophe klassifiziert<br />

und den „Katastrophenfall“ erklärt hatte. Eine unabhängig von dieser<br />

veranlaßte Alarmierung war zwar möglich, käme es aber doch nicht zu<br />

einem förmlichen Einsatz, stellte sich sofort die Frage, wer für die<br />

durch Alarmierung, Arbeitsausfall, Betriebskosten usw. entstandenen<br />

Kosten aufzukommen hat.<br />

3. Die fachliche, insbesondere notfallmedizinische Qualifikation sowie<br />

die örtliche und zeitliche Verfügbarkeit der den bisherigen Sanitätszügen<br />

zugeteilten Ärzte gibt nach eindeutigen Beobachtungen zu erheblichem<br />

Zweifel Anlaß.<br />

4. Die Zukunft der Verfahrens der Zuteilung Ersatzdienst leistender Wehrpflichtiger<br />

zum Katastrophenschutz der Länder hängt weitgehend von<br />

der Wehrstruktur und vom Umfang der Streitkräfte ab. Sie ist daher<br />

nicht vorhersehbar.<br />

5. Die Hilfsorganisationen beklagen seit Jahren einen erheblichen<br />

Schwund an freiwilligen Helfern bis in die mittleren Führungsebenen<br />

123


hinein. Mit ein Grund dafür ist die durch wenig attraktive Hilfseinsätze<br />

sinkende Motivation der meist jungen Menschen. Die Besetzung<br />

von Sanitätsposten bei Sport- und anderen Veranstaltungen ersetzt den<br />

Katastropheneinsatz nicht, vor allem wenn Hilfe nicht gefragt oder<br />

auch ein Miterleben des Veranstaltungsgeschehens nicht möglich ist.<br />

Nachlassendes Interesse führt zum Absinken des Ausbildungsstandes<br />

und der Qualität der Helfer.<br />

6. Eifersucht untereinander und das Streben der Hilfsorganisationen nach<br />

Eigenständigkeit unter gleichzeitiger Einflußnahme auf Politiker und<br />

Katastrophenschutzbehörden sowie in Einsatzleitungen stehen dem<br />

Erreichen einer medizinischen Hilfeleistungsfähigkeit im Katastrophenfall<br />

hinderlich im Wege.<br />

7. Da die Hilfsorganisationen, wie es schon ihre Bezeichnung zum Ausdruck<br />

bringt, freiwillige Laienorganisationen sind, denen Ärzte vorwiegend<br />

nur zu Repräsentations- und Ausbildungsaufgaben, aber nicht<br />

zum Katastropheneinsatz zur Verfügung stehen, sind ihre Führungsorgane<br />

und Vertreter in den Katastrophenschutzstäben und Einsatzleitungen<br />

weder befähigt noch nach den Heilberufsgesetzen berechtigt, medizinische<br />

Entscheidungen zu treffen.<br />

8. Die verfaßte Ärzteschaft verhält sich möglichen katastrophenmedizinischen<br />

Einsatzaufgaben und Leitungsfragen gegenüber weitgehend passiv.<br />

Dem einzelnen Arzt fehlt es weitgehend an der Kenntnis seiner allgemein<br />

bürgerlichen und speziell ärztlichen Mitwirkungspflicht im<br />

Katastrophenfall sowie an der Einsicht in katastrophenmedizinische<br />

Entscheidungszwänge, obwohl die Kammern seit den Achtzigerjahren<br />

weitaus mehr diesbezügliche Fortbildungsveranstaltungen anbieten.<br />

Das Interesse niedergelassener Ärzte, insbesondere derer die zur Teilnahme<br />

am ärztlichen Notfalldienst verpflichtet sind, gilt bestenfalls<br />

notfallmedizinischen Themen.<br />

9. Jedes Katastrophenereignis imponiert in den ersten Minuten wie ein<br />

Unfall und führt sofort zur Alarmierung von Polizei, Feuerwehr und<br />

Rettungsdienst, die jeder für sich erforderliche Verstärkungen zunächst<br />

aus dem eigenen Umfeld heranziehen. Zur medizinischen Unterstützung<br />

stehen inzwischen vielerorts „Schnelle Einsatzgruppen“ bereit;<br />

auch ist durchaus mit dem Hinzukommen freiwilliger Helfer zu rechnen.<br />

Doch eine umfassende Gewißheit über die Verfügbarkeit eines<br />

qualifizierten Kräftepotentials und dessen fachliche Leitung besteht im<br />

Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland nicht.<br />

10. In den meisten Katastrophenschutzgesetzen des Bundes und der Länder<br />

ist inzwischen der Einsatz „Leitender Notärzte“ am Schadensort und/<br />

oder in Einsatzleitungen vorgeschrieben. Solche werden an beiden<br />

Plätzen benötigt!<br />

124<br />

Da aber nur in einigen Landes-Katastrophenschutzgesetzen auch eine<br />

längere Mitwirkung und ärztlich notwendige Leitung durch Notärzte


und Rettungsdienst in Betracht gezogen werden, müßten diese unsinnigerweise<br />

alsbald durch andere Ärzte und Helfer abgelöst werden.<br />

Dies ist nicht geregelt und kann aus den zuvor genannten Gründen keinesfalls<br />

den Hilfsorganisationen überlassen werden.<br />

11. Die Mehrzahl der Rettungsdienstgesetze und -regelungen als reine<br />

Länderangelegenheit stellen keine Verbindung zum Katastrophenschutz<br />

her, obwohl Rettungsdienst und Notärzte das einzige sofort<br />

greifbare und notfallmedizinisch bestqualifizierte Element sind, um die<br />

ersten Rettungsmaßnahmen vor Ort durchzuführen, das Überleben<br />

Schwerstgeschädigter zu sichern, die Leitung zu übernehmen und erste<br />

organisatorische Entscheidungen über die Einrichtung von Verbandplätzen<br />

zu treffen sowie in Verbindung mit der Rettungsleitstelle den<br />

gezielten Abtransport Verletzter in die Wege leiten zu können.<br />

Diese und noch viele weiter detaillierbare Erkenntnisse sollen der <strong>Schutzkommission</strong><br />

als das erwählte Beratungsorgan des Bundesinnenministers<br />

genügender Anlaß sein, im Interesse eines tatsächlich funktionsfähigen<br />

medizinischen Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>es folgende Untersuchungen<br />

anzustellen:<br />

1. Wie können die den medizinischen Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong><br />

betreffenden Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Länder so<br />

vereinheitlicht werden, daß sie über Ländergrenzen hinweg gleichartig<br />

zu handhaben sind, damit die im Katastrophen- und auch Großschadenseinsatz<br />

tätigen Kräfte nach gleichen Grundsätzen verfahren?<br />

2. In welcher Form kann und sollte, so lange eine Zusammenfassung in<br />

einem Gesetz nicht möglich ist, in den jeweiligen Katastrophenschutzund<br />

Rettungsdienstgesetzen bzw. -regelungen die Initialverantwortung<br />

des Rettungsdienstes und der Notärzte bis zur und ebenso nach<br />

Erklärung des Katastrophenfalles verankert werden?<br />

3. Wie ist die ärztlich-rechtliche Verantwortung für Verletzte und andere<br />

gesundheitlich Geschädigte in der Leitungsstruktur des Zivil- und<br />

Katastrophenschutzes bundeseinheitlich sicherzustellen?<br />

4. In welcher Weise, auf welcher Ebene und mit welchem Auftrag sind die<br />

Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens in die Vorbereitungen und<br />

Maßnahmen des Zivil- und Katastrophenschutzes einzuordnen?<br />

5. Welche Schritte sollten die Regierungen des Bundes und der Länder<br />

ergreifen, um die Ärzteschaft zuverlässig in die Organisation der medizinischen<br />

Katastrophenhilfe einzubinden?<br />

6. Wie kann die Fortbildung auf den Gebieten der Toxikologie, der Infektiologie<br />

und der Seuchenabwehr sowie der Gefährdung durch Freisetzung<br />

von Radioaktivität durch die ärztlichen, tierärztlichen und<br />

pharmazeutischen Kammern durchgesetzt und im Sinne des Bevölkerungsschutzes<br />

vertieft werden?<br />

125


7. Wie kann in Zusammenarbeit mit der verfaßten Ärzteschaft, erforderlichenfalls<br />

auch auf juristischem Wege, geklärt werden, ob und inwieweit<br />

allein schon die berufliche Approbation jeden Arzt zwingt, für<br />

Notfall- und Katastrophenlagen zumindest Grundkenntnisse zu erwerben<br />

und sich zur Hilfeleistung zur Verfügung zu stellen?<br />

8. Wie und auf welchem Wege ist es durchsetzbar, daß den Studenten der<br />

Medizin Grundkenntnisse über die Besonderheiten der medizinischen<br />

Hilfe in Katastrophenfällen an allen Hochschulen vermittelt werden?<br />

9. Auf welche Weise läßt sich ein verfügbarer Stamm gut ausgebildeter<br />

Helfer für den Zivil- und Katastrophenschutz schaffen und erhalten?<br />

Ausgangspunkt dazu sollten die von Ahnefeld und Pfenninger entwickelten<br />

Gedanken über das „Ulmer Modell“ sowie Pfenningers Feststellungen<br />

nach Untersuchungen in vier Bereichen der Bundesrepublik<br />

sein.<br />

Im Vordergrund steht hierbei die Frage, ob es möglich ist, zusätzliche<br />

freiwillige Helfer zur Mitwirkung im Rettungsdienst zu gewinnen und<br />

ihre Tätigkeit auch rechtlich abzusichern. Mit einem solchen Verfahren<br />

könnten auf örtlicher und regionaler Ebene rettungsdienstlich erfahrene<br />

Reserven für Großschadensfälle gebildet werden.<br />

10. Welcher allgemeinen und medizinischen Geräte und Ausrüstungen<br />

sowie insbesondere welcher Arznei- und Verbandmittel bedarf es, um<br />

angesichts einer Vielzahl an Katastrophenopfern unverzüglich mit der<br />

Rettung, ersten ärztlichen Hilfe und Herstellung der Transportfähigkeit<br />

beginnen zu können?<br />

Wo und in welchem Umfang müßte solches Material dem zuerst eingreifenden<br />

Rettungsdienst für die ersten Hilfeleistungen zur Verfügung<br />

stehen? Wo und in welchem Umfang müßte ergänzendes Material so<br />

gelagert und jederzeit greifbar bereitgehalten werden, um innerhalb<br />

Stundenfrist einem bis zu 100 km entfernten Ort der medizinischen<br />

Katastrophenhilfe zugeführt werden zu können?<br />

Wie kann die sofortige Verfügbarkeit der am Ort der Ersthilfe dringendst<br />

benötigten Analgetika, Infusionslösungen usw. erreicht werden?<br />

11. Welche Gefahren drohen bei der Vernachlässigung bereits einer oder<br />

mehrerer der zuvor genannten, klärungsbedürftigen Fragen?<br />

12. Gibt es eine Alternative durch Schaffung einer neuen Form effektiver<br />

Mitwirkung der Hilfsorganisationen im Zivil- und Katastrophenschutz,<br />

die dem tatsächlichen Geschehen bei einem Einsatz und der fachlichen<br />

Verantwortung für den Ablauf der Hilfemaßnahmen zum Wohle der<br />

Schadensopfer gerecht wird?<br />

Die Einführung eines jeglichen Verfahrens zum Schutz und zur Hilfe für<br />

gefährdete Menschen sowie die Verantwortung für dessen dauerhafte Funk-<br />

126


tionsfähigkeit – dies muß nachdrücklichst betont werden – liegt ausschließlich<br />

bei den Ministerien des Bundes und der Länder sowie deren nachgeordneten<br />

Behörden. Private Organisationen können und dürfen niemals<br />

anstelle der Behörden die der Bevölkerung durch das Grundgesetz gewährten<br />

Ansprüche auf Schutz und Überleben abzudecken versuchen. Sie haben<br />

ihre Bereitschaft zur Mitwirkung – wohlgemerkt nicht Führung – im Bevölkerungsschutz<br />

freiwillig bekundet und müssen entscheiden, ob und in<br />

welcher Weise sie sich in den vorgegebenen Rahmen einzuordnen bereitfinden.<br />

Es bedarf nun der Entscheidung, daß und ob die von der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in ihrem Gefahrenbericht angeregten Untersuchungen in Angriff genommen<br />

werden. Daß dies eine zeitaufwendige Arbeit sein wird, darf nicht verschwiegen<br />

werden. Es werden neben internen Untersuchungen umfangreiche<br />

Befragungen und Ermittlungen in Zusammenarbeit mit allen Aufgabenträgern,<br />

Interessierten, aber auch noch manchen Desinteressierten<br />

erforderlich werden.<br />

127


128


Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle<br />

Arzneimittelversorgung im Katastrophenfall<br />

Wolfgang Wagner<br />

Unglücksfälle, Großschadenereignisse und Katastrophen sind seit jeher ein<br />

Bestandteil des Weltgeschehens; sie greifen immer wieder unvorhergesehen<br />

und schicksalhaft darin ein.<br />

Unglücksfälle im privaten Bereich, bei Arbeitsprozessen und im Verkehr<br />

sowie plötzliche, vital bedrohliche Erkrankungen sind uns im Alltag vertraut,<br />

auch wenn wir sie möglichst aus unseren Gedanken verbannen.<br />

Großschadensereignisse, wie z.B. der Flughafenbrand in Düsseldorf 1996,<br />

sind außergewöhnlich große Notfälle, die jedoch mit den verfügbaren Mitteln<br />

bewältigt werden können. Bei Katastrophenfällen werden wir mit dem<br />

Problem konfrontiert, daß wir für die Rettungs- und Sicherungsmaßnahmen<br />

sowie die Schadensbegrenzung in der Regel weder ein ausreichendes Potential<br />

an Helfern noch genügend Hilfsmaterial zur Verfügung haben, und daß<br />

eine überregionale Lenkung der Notfallmaßnahmen erforderlich ist.<br />

Was jedoch die Vorsorge für Großunglücke und Katastrophen angeht, so ist<br />

die reale Situation durch folgende Faktoren bestimmt:<br />

– Durch Wohlstand und Abhängigkeit von der Technik ist die moderne<br />

Gesellschaft verwundbar!<br />

– Die Gefahren sind allgemein bekannt!<br />

– Es ist bekannt, wie sie vielfach vermieden werden können!<br />

– Es gibt ausreichende Kenntnisse, welche Vorbereitungen getroffen werden<br />

können und müssen, um Schäden zu begrenzen!<br />

Wir müssen uns heute fragen:<br />

Behandeln Staat und Gesellschaft die Fragen der Notfallvorsorge angemessen?<br />

Sind ausreichende Vorkehrungen für die Notfallvorsorge getroffen?<br />

In der Vergangenheit haben oft heftige Widerstände gegen Katastrophenschutz,<br />

und Katastrophenmedizin immer wieder die Diskussionen um Vorsorgemaßnahmen<br />

für Not- und Katastrophenfälle bestimmt. Sie wurden oft<br />

politisch sehr einseitig und teilweise unsachlich mit Diffamierungen z. B.<br />

„militärischen Zwecken dienend“ belastet.<br />

In unserem hochentwickelten und reichen Land müßten eigentlich in den<br />

letzten 30–40 Jahren alle notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr<br />

bei Katastrophenfällen effizient konzipiert worden sein. Wir, die Teilnehmer<br />

dieser Tagung, kennen die Defizite, und ich verweise nur auf das Gutachten<br />

des Deutschen IDNDR-Komitees für Katastrophenvorbeugung e.V. von<br />

129


1996 sowie den Gefahrenbericht dieser <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern vom Oktober 1996.<br />

Die Diskussion um die Fragen der Notfallvorsorge für den Zivil- und Katastrophenschutz<br />

sind heute durch folgende Fakten und Fragen gekennzeichnet:<br />

– In den letzten 40 Jahren haben sich nur relativ wenig Großschadensereignisse<br />

ereignet, und es hat vor allem keine Katastrophen in Deutschland<br />

gegeben.<br />

– Die umwälzenden politischen Veränderungen Ende der 80er-Jahre haben<br />

das Risiko einer flächendeckenden, militärischen Auseinandersetzung in<br />

Europa sehr reduziert.<br />

– Sind die Strukturen sollten der Zivil- und Katastrophenschutz noch zeitgemäß;<br />

wie sollten sie zukünftig besser gestaltet werden?<br />

– Brauchen wir für den <strong>Zivilschutz</strong> medizinische Notfallvorräte, und wie<br />

sind sie zu finanzieren?<br />

Meinen Vortrag möchte ich nun auf die Aspekte der materiellen Sicherstellung<br />

der medizinisch-pharmazeutischen Versorgung begrenzen.<br />

Wir unterscheiden in der medizinischen Regel- und Notfallversorgung die<br />

Bereiche<br />

Individualmedizin unter Normalbedingungen mit freier Arztwahl<br />

und unabhängiger Therapiefreiheit des Arztes,<br />

Notfallmedizin mit ausreichendem Potential an Ärzten,<br />

medizinischem Assistenzpersonal sowie<br />

Material und Gerät,<br />

Katastrophenmedizin mit simultaner Behandlung vieler Patienten<br />

unter erschwerten Bedingungen und unter<br />

Zeitdruck ohne genügend Ärzte, Helfer,<br />

Material und Gerät.<br />

Die Katastrophenmedizin hat es mit einem begrenzten Spektrum an<br />

Schadensmustern zu tun, die jedoch von der Vielzahl der Patienten und den<br />

äußeren Bedingungen geprägt sind.<br />

– Traumatische Schäden<br />

– Brandverletzungen<br />

– Kälteschäden<br />

– Chemische Schäden<br />

– Strahlenschäden<br />

– Polytraumen<br />

– Vergiftungen<br />

130


– Epidemische Infektionen<br />

– Psychische Schäden<br />

– Versorgungsmängel<br />

Lebensmittel – Arzneimittel<br />

Bei Großschadensereignissen müssen nicht alle klinisch relevanten Arzneimittel<br />

am Schadensort verfügbar sein. Vielmehr können wir uns auf wenige<br />

Arzneimittelgruppen für die vorgenannten Schadensmuster konzentrieren.<br />

Von Bedeutung ist dabei ein planerisches Denken und logistisches Handeln<br />

für verschiedene Verfügungszeiträume.<br />

Verfügungszeiträume 1. sofort: unmittelbar nach Schadensereignis<br />

2. kurzfristig: innerhalb 6–24 Stunden<br />

3. mittelfristig: innerhalb 24–48 Stunden<br />

1. Für die erste, noch präklinische Notfallversorgung benötigen wir an Arzneimitteln<br />

zur sofortigen Verfügbarkeit:<br />

– Analgetika<br />

– Sedativa<br />

– Kreislaufmittel<br />

– Inhalative Kortikoide<br />

– Antidote<br />

– Infusionslösungen<br />

– Kristalloide Lösungen<br />

– Kolloidale Volumenersatzmittel<br />

Beim Einsatz anläßlich des Bombenanschlages auf das Münchener<br />

Oktoberfest hat sich ein Bevorratungskonzept mit kleinen Sets mit Arzneimitteln<br />

und Sanitätsmaterial bewährt, die von dem Rettungspersonal<br />

unmittelbar nach dem Eintreffen am Schadensort bei den Notfallpatienten<br />

für die Erstversorgung deponiert wurden.<br />

2. Für die weitere, in der Regel klinische Versorgung der Notfallpatienten<br />

benötigen wir dann Arzneimittel mit einer kurzfristigen Verfügbarkeit<br />

innerhalb von 6 bis 24 Stunden. Da die allgemein für die Regelversorgung<br />

verfügbaren Vorräte beim Massenanfall von Patienten punktuell<br />

rasch verbraucht werden, muß dann auf kurzem Wege Nachschub verfügbar<br />

gemacht werden. Notfallsituationen sind Streßsituationen für alle<br />

Beteiligten, sowohl für die Helfenden und Rettenden als auch für die<br />

Opfer. Bei prädestinierten Patienten kann es durch den Streß zu einer<br />

Akzentuierung von Grundkrankheiten kommen. Das bedeutet, daß es<br />

z.B. bei Patienten mit kardialen Vorschäden vermehrt zu Angina pectoris-Anfällen<br />

oder Myocardinfarkten kommen kann. Wir müssen also bei<br />

unseren Planungen und Bevorratungen für ausreichend Arzneimittel zur<br />

Behandlung chronischer Erkrankung, die vital bedrohlich sein können,<br />

sorgen.<br />

131


3. Die Versorgung mit Arzneimitteln zur mittelfristigen Verfügbarkeit<br />

innerhalb von 24 bis 48 Stunden dient der allgemeinen Sicherstellung<br />

von Dauermedikationen wie z.B. Diabetes, Hypertonie oder Atemwegserkrankungen.<br />

Auch die Behandlung von besonderen Patientengruppen<br />

muß immer eingeplant werden. Denken Sie nur einmal daran, daß es<br />

durch die schon erwähnten Streßsituationen vermehrt zu Frühgeburten<br />

kommen kann, und diese müssen adäquat versorgt sein. Und wir vergessen<br />

bei allen Vorsorgeplanungen viel zu leicht die Pädiatrie und die<br />

ausreichende Bevorratung mit Arzneimitteln in pädiatrischen Dosierungen<br />

und Darreichungsformen. Hier müssen wir vor allem an spezifische<br />

Infusionslösungen und die adäquaten, geeigneten Medizinprodukte zur<br />

Behandlung von Kindern und vor allem Kleinstkindern sowie Säuglingen<br />

denken.<br />

Welche Arzneimittel und Medizinprodukte für die Notfallversorgung unentbehrlich<br />

sind, das ist bekannt und vielfach veröffentlicht worden. Es gibt<br />

bislang aber noch keine ausreichenden, wissenschaftlichen oder empirischen<br />

Unterlagen über den quantitativen Bedarf an Arzneimitteln und medizinischem<br />

Bedarf bei Großschadensereignissen und Katastrophen. Solch ein<br />

Bedarf ist natürlich immer abhängig von der Anzahl der Patienten sowie der<br />

Art und Größe der Schäden. In der Vergangenheit haben Einberger (3,4,5,6)<br />

und Heidemanns (7,8) hierzu bereits einige wichtige Empfehlungen veröffentlicht,<br />

die jedoch noch nicht ausreichen.<br />

Der Arzneimittelbedarf für die primäre Versorgung von Katastrophenopfern<br />

wird sich oft überschneiden, so daß man davon ausgehen kann, daß ein kalkulierter<br />

Katastrophenvorrat für Polytraumatisierte und Brandverletzte<br />

bereits ein breites Spektrum zu erwartender Personenschäden abdeckt.<br />

Pauschal können Bevorratungsmengen nach folgender Formel ermittelt<br />

werden:<br />

Q = D x 1/100 x A x T<br />

Dabei bedeuten:<br />

Q Bedarfsmenge je Einzeldosis D Tagesbedarf je Patient<br />

I Prozent-Anteil an den Traumen A Angenommene Zahl an Verletzten<br />

T Zeit in Tagen für den Vorrat<br />

Beispiel einer Bedarfsberechnung<br />

Nach einem Erdbeben rechnen wir mit folgendem Patientenanfall:<br />

Polytraumen mit Schock........................60 %<br />

Knochenbrüche ......................................20 %<br />

Quetschungen.........................................10 %<br />

Verbrennungen .........................................5 %<br />

Psychogener Schock ................................5 %<br />

132


Der Bedarf an Analgetika errechnet sich dann nach folgenden Vorgaben:<br />

Bedarf an Analgetika besteht bei 95 % der Verletzten<br />

Initialphase: pro Patient 2 Ampullen eines Analgetikums pro Tag.<br />

präventive Bevorratung für 2 Tage für 100 potentielle Erdbebenopfer<br />

Q = 2 x 95/100 x 100 x 2 = 380<br />

Entsprechend den Vorgaben sind 380 Ampullen Analgetikum einzulagern.<br />

Der Bedarf an Gipsbinden errechnet sich nach den Vorgaben<br />

Bedarf an Gipsbinden besteht bei 20 % der Verletzten.<br />

Pro Patient werden 5 Gipsbinden veranschlagt.<br />

Die Gipsbinden werden nur am Unfalltag benötigt, ein 2-Tage-Vorrat erübrigt<br />

sich.<br />

Es soll ein Vorrat für 100 potentielle Erdbebenopfer angelegt werden.<br />

Q = 5 x 20/100 x 100 = 100<br />

Entsprechend den Vorgaben sind 100 Gipsbinden einzulagern.<br />

Nach den dargestellten Überlegungen und Schemata lassen sich „Versorgungspakete“<br />

für jeden vorstellbaren Großschadenfall zusammenstellen. 1)<br />

Ein dezidierter Vorrat für den Großschadensfall ist in der Finanzierung der<br />

Krankenhäuser nicht vorgesehen. Der Routinevorrat einer Klinik sollte<br />

allerdings die Initialphase eines Großschadensfalls abdecken können. Aufgrund<br />

pragmatischer Fälle und Fallzahlen im Krankenhaus sowie praktizierte<br />

Therapieschemata ergibt sich zum Beispiel als Vorrat für die<br />

Behandlung von 100 Polytraumatisierten in den ersten 48 Stunden folgender<br />

Bedarf1) :<br />

– 600–800 ✕ 500 ml Ringer(lactat)lösung oder<br />

– 400 ✕ 500 ml Kolloidlösung<br />

– 300 ✕ 500 ml Glucoselösung 10%<br />

– 300 ✕ 500 ml Glucoselösung 20% und<br />

– 100 ✕ 500 ml streßadaptierte Aminosäurenlösung oder<br />

– 200 ✕ 1.000 ml Komplettlösung (2-l-Konzept)<br />

– 100 ✕ 1 ml Norepinephrin 0,1mg<br />

– 200 ✕ 100 mg Dexamethason-21-dihydrogenphosphat<br />

– 200 ✕ 10 mg Morphin-HCI<br />

– 100 ✕ 20 mg Morphin-HCI<br />

1) Aus: Taschenbuch der Krankenhauspharmazie 1991/92, Deutscher Apotheken-Verlag, Stuttgart.<br />

133


– 200 ✕ 10 mg Diazepam<br />

– 200 ✕ 20 ml Ketamin-HCI 200 mg<br />

– 200 ✕ 1 Tagesdosis Breitspektrumantibiotikum<br />

– 100 ✕ 250 I.E. Tetanusimmunoglobulin<br />

– 100 ✕ 75 I.E. Tetanus-Adsorbat-Impfstoff<br />

In gleicher Weise wie bei den dargestellten Beispielen ist der Bedarf an<br />

Sanitätsmaterial im weitesten Sinne und an Arzneimitteln für von möglichen<br />

Versorgungsengpässen betroffene Dauerpatienten empirisch zu<br />

ermitteln und für potentielle Opferzahlen hochzurechnen.<br />

Inzwischen arbeiten in einer Arbeitsgruppe der Universität Tübingen Notfall-<br />

und Katastrophenmediziner gemeinsam mit Krankenhausapothekern<br />

an Bevorratungskonzepten für Großschadensereignisse und Katastrophenfälle<br />

134<br />

Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V.<br />

Arbeitsgruppe<br />

„Katastrophenmedizin – Katastrophenpharmazie<br />

Krisenmanagement – Humanitäre Hilfe“<br />

Leitung: Prof. Dr. med. B. D. Domres, Tübingen<br />

– Ermittlung des Versorgungsbedarfs für Not- und Katastrophenfälle<br />

– Festlegung von Bevorratungsvolumina<br />

– Konzeption von Notfalldepots mit Umfang und Standort<br />

– Kostenermittlung<br />

– Beschaffungseinrichtungen<br />

– Logistik<br />

– Arzneimittelüberwachung<br />

– administrative Regelungen<br />

Seit 1993 sind Fachapotheker für Klinische Pharmazie im Bundesverband<br />

Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V. mit den Aufgaben der<br />

„Katastrophenpharmazie“ befaßt.


ADKA-Arbeitsgruppe<br />

„Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle“<br />

Aufgaben<br />

– Einbindung der Katastrophenpharmazie in die Klinische Pharmazie.<br />

– Sammlung von Daten und Fakten zur Notfall und Katastrophenvorsorge<br />

aus den Bereichen Medizin, Pharmazie, Zivil- und Katastrophenschutz.<br />

– Dokumentation und Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

in der Notfall- und Katastrophenmedizin zur Fort- und Weiterbildung<br />

von Krankenhausapothekern.<br />

– Ermittlung des Versorgungsbedarfs in der Notfallvorsorge gemeinsam<br />

mit Katastrophenmedizinern.<br />

– Erarbeitung von Arbeitshilfen für Krankenhausapotheken zur:<br />

Organisation – Logistik – Bedarfsermittlung – Notfallbevorratung.<br />

– Erarbeiten von vereinfachten Herstellungsvorschriften für die notfallmäßige<br />

Arzneimittelherstellung.<br />

– Ergänzung der Rahmenrichtlinien der Bundesapothekenkammer zur<br />

Fachausbildung „Apotheker für Klinische Pharmazie“.<br />

– Erarbeitung von Lehrinhalten zur Katastrophenpharmazie für die Fachausbildung<br />

„Klinische Pharmazie“.<br />

– Vorschläge für die Neukonzeption der Bevorratung mit Arzneimitteln<br />

und Sanitätsmaterial für Großschadensereignisse und Katastrophen.<br />

– Mitwirkung bei der Katastrophenschutz-Planung in Krankenhäusern.<br />

– Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit:<br />

Standesorganisationen<br />

Behörden und Institutionen im Gesundheits- und Krankenhauswesen<br />

Einrichtungen des Rettungswesens, Zivil- und Katastrophenschutzes,<br />

der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin der Bundeswehr.<br />

– Internationaler Erfahrungsaustausch mit Klinischen Pharmazeuten,<br />

Notfall- und Katastrophenmedizinern und Hilfsorganisationen<br />

Spätestens seit den Unglücken von Ramstein, Remscheid und Amsterdam<br />

sind diskriminierende Vorwürfe und Vorurteile bezüglich der Notwendigkeit<br />

einer Katastrophenmedizin und Notfallvorsorge für Großunglücke<br />

nicht mehr diskussionsbestimmend. Anläßlich dieser großen Unglücke sind<br />

jeweils vielfältige Forderungen und Bekenntnisse zu effizienterer Notfallvorsorge<br />

zu hören gewesen. Doch was ist davon geblieben? Was ist vor<br />

allem aus der Notfallbevorratung geworden? Selbst die Feststellung der<br />

Notwendigkeit einer medizinischen Notfallbevorratung im „Gefahrenbe-<br />

135


icht“ der <strong>Schutzkommission</strong> vom Oktober 1996 wurde nicht ernst genommen.<br />

Heute bestimmen erstmals und primär finanzpolitische Aspekte das Maß für<br />

die Zivil- und Katastrophenschutzvorsorge. Angesichts der schwierigen<br />

Finanzsituation des Bundes sowie aufgrund der veränderten politischen und<br />

militärischen Rahmenbedingungen sieht die Bundesregierung derzeit keine<br />

akute Notwendigkeit mehr für eine <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung mit Arzneimitteln<br />

und rechtfertigt so deren Streichung. Daher wurde nun in die endgültige<br />

Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (ZSNeuOG)<br />

vom 25. März 1997 auch keine permanente Sanitätsmaterialbevorratung<br />

mehr aufgenommen sondern folgende Regelung:<br />

136<br />

§ 17 ZSNeuOG<br />

Sanitätsmaterialbevorratung<br />

Das Bundesministerium des Innern kann durch Rechtsverordnung mit<br />

Zustimmung des Bundesrates anordnen, daß nach Maßgabe des Artikels<br />

80a des Grundgesetzes ausreichendes Sanitätsmaterial von Herstellungsbetrieben,<br />

Großhandlungen sowie Öffentlichen- und Krankenhaus-Apotheken<br />

vorgehalten wird, um den zusätzlichen Bedarf im Verteidigungsfall<br />

sicherzustellen. Die §§ 4, 8, und 13 bis 16 des Wirtschaftssicherstellungsgesetzes<br />

in der jeweils geltenden Fassung sind entsprechend anzuwenden.<br />

Der Bundesrat hat in der Sitzung am 19. 12. 1996 diese Regelung folgendermaßen<br />

begründet:<br />

„Eine ersatzlose Streichung des bisherigen § 14 des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes,<br />

der im Frieden eine Sanitätsmaterialbevorratung vorsieht, ist nicht vertretbar,<br />

weil die friedenszeitlichen Vorräte den vermehrten Bedarf in einem<br />

Verteidigungsfall nicht decken können. Nur zusätzlich angelegte Vorräte<br />

gewährleisten dann eine ausreichende Versorgung. Es genügt, diese Vorräte<br />

in einer Krise nach Maßgabe des Artikels 80a GG anzulegen.<br />

Bedenken gegen eine gegebenenfalls entschädigungspflichtige Bevorratung<br />

bestehen angesichts der Bevorratungsregelung im Wirtschaftssicherstellungsgesetz<br />

nicht. Ähnliche Regelungen sind in § 6 des Ernährungssicherstellungsgesetzes,<br />

§ 4 des Verkehrssicherstellungsgesetzes und § 12 des<br />

Wassersicherstellungsgesetzes enthalten.“<br />

Diese Regelung ist keine Regelung, denn sie wird in einem Bedrohungsfall<br />

für die Bundesrepublik Deutschland keine ausreichende<br />

Bevorratung mehr möglich machen!<br />

Aus der Tatsache, daß einerseits die Notwendigkeit zusätzlicher Vorräte<br />

zwar ausdrücklich herausgestellt wird, andererseits aber diese erst in einer<br />

Krisensituation angelegt werden sollen, ergibt sich eine Vielzahl von<br />

Gedanken und Fragen:


– Wann fällt die Entscheidung, eine militärische Krise zu konstatieren?<br />

– Woher sollen dann die Güter kurzfristig geholt werden?<br />

– Es gibt keine weitreichenden Vorräte bei Herstellern, Großhandlungen<br />

und Apotheken!<br />

– Belieferung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten:<br />

kurzfristig: aktueller „Tages“-Bedarf für die Regelversorgung der Patienten.<br />

– Versorgungsengpässe durch Lieferausfälle im Pharma-Bereich gibt es<br />

auch unter friedenszeitlichen Normalbedingungen!<br />

– Die Hersteller sind nicht autark!<br />

Rohstoff und Material-Beschaffung: weltweite Handelsbeziehungen.<br />

– Kriterien für die Herstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten:<br />

„Lean production“ „just-in-time production“<br />

Wirtschaftlichkeit Kostenminimierung<br />

Nachteil: Abhängigkeit von zeitgerechter Zulieferung<br />

Produktionsausfälle: Toyota: Ursache: Großbrand in einem<br />

Zulieferwerk<br />

Februar 1997 Volkswagen: Ursache: Straßenblockaden in<br />

Spanien.<br />

– Der Bund wälzt die Verantwortlichkeit und Kosten für eine Sanitätsmaterialbevorratung<br />

ab auf:<br />

Hersteller · Großhandlungen – Öffentliche Apotheken – Krankenhausapotheken<br />

– Sind davon alle oder nur spezifische Hersteller von Arzneimitteln und<br />

Medizinprodukten betroffen?<br />

– Unterschiedliche Belastungen: Gibt es Wettbewerbsnachteile am<br />

Markt?<br />

– Auswirkungen auf die Kosten im Gesundheitswesen?<br />

Notfallbevorratung – Quo vadis?<br />

Seit 1995 haben wir bekanntlich keine <strong>Zivilschutz</strong>vorräte an Sanitätsmaterial<br />

mehr!<br />

Der ersatzlose Wegfall der Sanitätsmittelbevorratung des Bundes hat nun<br />

akut bundesweit zu einem generellen Bevorratungsdefizit für die medizinische<br />

Materialversorgung in Not- und Katastrophenfällen geführt. Es mangelt<br />

zur Zeit an ausreichenden Vorsorgemaßnahmen der Bundesländer für<br />

die friedenszeitliche Notfallvorsorge, denn sie haben in der Vergangenheit<br />

aufgrund der vorhandenen <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung der Bundesregierung<br />

keine eigene, umfangreichere Bevorratung mit Sanitätsmaterial für Groß-<br />

137


schadensereignisse und Katastrophen in Friedenszeiten vorgenommen. Und<br />

nun fehlen natürlich auch den Bundesländern die erforderlichen finanziellen<br />

Mittel, um kurzfristig medizinische Vorräte zu beschaffen. Argumentativ<br />

wird daher teilweise auf die Vorräte in Öffentlichen Apotheken, Krankenhausapotheken,<br />

des Pharma-Großhandels und der Arzneimittelhersteller<br />

verwiesen, die im Bedarfsfall dann nur noch zusammengeführt werden<br />

müßten.<br />

Dazu ist festzustellen:<br />

– Die Arzneimittelhersteller betreiben aus Kostengründen eine „schlanke“<br />

Produktion ohne umfangreichere Materialbevorratung und ohne größere<br />

Vorräte an Fertigarzneimitteln und Medizinprodukten. Im Großschadensfall<br />

kann u.U. eine begrenzte Produktionserhöhung für bestimmte Präparate<br />

ermöglicht werden.<br />

– Der Pharmazeutische Großhandel ist allgemein nicht auf den Klinikbedarf<br />

und schon gar nicht im größeren Umfang auf die flächendeckende Versorgung<br />

mit Arzneimitteln für die Notfall- und Intensivmedizin eingerichtet.<br />

– Bei zusätzlicher, notfallmäßiger Versorgung durch die Pharmaindustrie<br />

und den Großhandel sind in Krisensituationen auch immer logistische<br />

Probleme einzukalkulieren.<br />

– In den Öffentlichen Apotheken sind die Vorräte nur auf die tägliche Versorgung<br />

im Rahmen der breitgefächerten Individualmedizin ausgerichtet.<br />

Gemäß §15 (1) Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) sind Arzneimittel<br />

und Medizinprodukte in einer Menge vorrätig zu halten, die dem Durchschnittsbedarf<br />

für eine Woche entspricht, was jedoch in der Praxis nicht<br />

immer gegeben ist.<br />

– In den Krankenhausapotheken sind Arzneimittel für den Bedarf von mindestens<br />

2 Wochen vorrätig zu halten. Diese Vorräte sind beim Massenanfall<br />

von Patienten auch nur für begrenzte Zeit verfügbar. Dann wird der<br />

große Bedarf an Arzneimitteln sehr bald zu Engpässen in der Versorgung<br />

führen. Bei Großschadensereignissen wird zusätzlich auch noch der<br />

Rettungs- und Sanitätsdienst bei den Krankenhäusern um Ergänzung von<br />

dringend benötigten Arzneimitteln und Sanitätsmaterial für die notfallmäßige<br />

Erstversorgung der Opfer bitten.<br />

– Die Bundeswehr ist zu Friedenszeiten in der Lage und bereit, im Rahmen<br />

der zivilmilitärischen Zusammenarbeit bei Großschadenereignissen und<br />

Katastrophen Personal- und Materialhilfe zu leisten.<br />

Notfallvorsorge bedeutet immer Zusatzbevorratung für außergewöhnliche<br />

Ereignisse; und diese kann nicht aus dem für die Regelversorgung der<br />

Bevölkerung verfügbaren Potential abgezogen werden. Wir benötigen also<br />

dringend ausreichende Maßnahmen zur Versorgung mit Arzneimitteln und<br />

Sanitätsmaterial bei Not- und Katastrophenfällen und letztendlich natürlich<br />

138


auch im Fall äußerer Bedrohung, der niemals eintreten möge. Im Rahmen<br />

einer gerechten Lastenteilung muß ein gemeinsames Konzept von Bund und<br />

Ländern für die Arzneimittelbevorratung gefunden werden.<br />

Um die Defizite bei der Notfallbevorratung so bald wie möglich zu beseitigen,<br />

und in Anbetracht der knappen öffentlichen Haushaltsmittel wurde<br />

nun dem Land Nordrhein-Westfalen ein mehrstufiges Konzept vorgeschlagen,<br />

das in einem mehrjährigen Verfahren aufgebaut werden könnte.<br />

1. Stufe<br />

– In allen Kommunen/Kreisen des Landes wird ein Ergänzungsvorrat<br />

für die erste präklisch-medizinische Versorgung beim Massenanfall von<br />

Patienten am Schadensort geschaffen.<br />

a) Ein einheitlich festgelegter Zusatzvorrat für den Rettungsdienst mit<br />

Arzneimitteln, Medizinprodukten und Sanitätsmaterial für die Versorgung<br />

von 40–50 Notfallpatienten.<br />

b) Ein Set mit Antidoten für 100 Vergiftungspatienten<br />

(einschließlich des Rettungspersonals)<br />

c) Sets für 10 Verbrennungspatienten.<br />

Diese Notfallvorräte werden in Container verpackt und bei den Rettungsdiensten<br />

der Kommunen und Landkreise zentral und jederzeit verlastbar<br />

bereitgestellt. Durch ein Zusammenführen dieser Notfallvorräte wird dann<br />

im Bedarfsfall schnell eine große Materialreserve für den Rettungsdienst<br />

und Katastrophenschutz in einem Schadensraum ermöglicht.<br />

2. Stufe<br />

– Schwerpunktmäßig werden dezentrale Vorräte an Arzneimitteln und<br />

Medizinprodukten bei ausgewählten Krankenhausapotheken mit Landesmitteln<br />

angelegt. In dieses Konzept sollten neben den Apotheken der Universitätskliniken<br />

auch andere leistungsfähige Krankenhausapotheken auf<br />

Kreisebene bzw. in Großstädten einbezogen werden, damit die Vorräte<br />

überschaubar und breit gestreut schnell verfügbar sind. Für die Versorgung<br />

bei Großschadensfällen ist ein logistisches Netzwerk zu schaffen.<br />

Eine Reserve für Not- und Katastrophenfälle bei Klinikapotheken hat<br />

folgende Vorteile:<br />

– sie ist jederzeit verfügbar,<br />

– sie wird sachgerecht verwaltet,<br />

– sie ist kostengünstig durch: – das Prinzip der einmaligen Finanzierung,<br />

– die Umwälzung im klinischen Betrieb,<br />

– die Vermeidung von Verfall.<br />

3. Stufe<br />

– Nach wie vor ist eine <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten<br />

und Sanitätsmaterial unverzichtbar. Aufbauend auf eine<br />

139


ausreichende Notfallbevorratung der Länder könnte die <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung<br />

zukünftig einen erheblich geringeren Umfang haben als in der<br />

Vergangenheit. Dafür wären m.E. dann nur noch ca. 8 zentrale Depots<br />

erforderlich. Die Beschaffung und Lagerung sollte sich an der Praxis der<br />

Sanitätsmateriallagerung der Bundeswehr orientieren und ggf. auch mit<br />

ihr gemeinsam organisiert werden.<br />

Im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen<br />

sollten – zumindest in der Phase des Aufbaus einer Notfallbevorratung –<br />

auch die Vorräte an Arzneimitteln, Sanitätsmaterial und medizinischem<br />

Gerät der Bundeswehr bei Großschadensereignissen und Katastrophen zur<br />

Verwendung im zivilen Bereich verfügbar sein. Dazu müssen allerdings die<br />

arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen für die Verwendung von Arzneimitteln<br />

(ohne Verfalldatum) aus Beständen der Bundeswehr für den notfallmäßigen<br />

Einsatz in Zivil- und Katastrophenschutz geschaffen werden,<br />

damit diese Arzneimittel ggf. auch Patienten ausgehändigt werden können.<br />

Generell wäre über die Aufbauphase hinaus eine Verwendung dieser BW-<br />

Vorräte in Notfällen erstrebenswert.<br />

Die Pharmazeutische Industrie unterhält nur begrenzte Produktionsvorräte<br />

an Fertigarzneimitteln, Medizinprodukten, Rohstoffen und Verpackungsmaterial.<br />

Für große Schadensereignisse könnte ein Teil der Notfallbevorratung<br />

auch mit ausgewählten Pharma-Herstellern als zusätzliche „roll on –<br />

roll of – Vorräte“ vereinbart werden. Diese würden dann permanent umgewälzt,<br />

so daß kein Verfall entsteht. Eine solche Bevorratung müßte auch<br />

nicht gekauft werden; vielmehr wären hier nur die Kosten für Verzinsung<br />

und Lagerhaltung den Herstellern zu vergüten.<br />

In Detmold wurde 1996 eine Apotheke der Bundeswehr aufgelöst. Die dort<br />

vor wenigen Jahren mit Steuermitteln beschafften, modernen und vorbildlichen<br />

Produktionseinrichtungen sind geeignet zur Herstellung von Notfallarzneimitteln,<br />

Antidoten und Infusionslösungen. Die Fachhochschule<br />

Lippe beabsichtigt, in den Räumlichkeiten dieser ehemaligen Bundeswehr-<br />

Apotheke nun einen Studiengang „Pharmatechnik“ einzurichten. Hier<br />

bestünde nun die Möglichkeit, daraus gleichzeitig mit staatlicher Hilfe eine<br />

gemeinnützige Produktionsstätte für Antidote und Notfallarzneimittel für<br />

den Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> zu schaffen. Damit wäre das Problem<br />

der kurzfristigen Bereitstellung von Antidoten in größerer Menge nicht<br />

länger ein so schwieriges Problem.<br />

Bei Großschadenereignissen und Katastrophen werden die Krankenhäuser<br />

durch einen Massenanfall von Patienten und Verletzten organisatorisch in<br />

allen Bereichen erheblich betroffen und bis zur extremen Belastung gefordert.<br />

Je nach Umfang des Geschehens und der Routinebevorratung der<br />

Krankenhäuser sowie der sie versorgenden Apotheken bei dem unerwartet<br />

großen Anfall von Patienten sehr schnell zu Versorgungsengpässen führen.<br />

Selbst Großunglücke, die man noch nicht als Katastrophe bezeichnen kann,<br />

erfordern durch den plötzlichen Massenanfall von Verletzten oder Erkrank-<br />

140


ten von den betroffenen Krankenhäusern eine enorme Leistungssteigerung<br />

bei gleichzeitig eingeschränkten personellen und materiellen Ressourcen.<br />

Aber bereits die notwendigen Vorsorgeplanungen im personellen, materiellen<br />

und organisatorischen Bereich des klinikbetrieblichen Katastrophenschutzes<br />

sind durchweg nicht ausreichend bis mangelhaft. Das gilt auch für<br />

die Krankenhausapotheken und erst recht für die krankenhausversorgenden<br />

Öffentlichen Apotheken, die alle organisatorisch noch nicht auf eine Notfallversorgung<br />

so vorbereitet sind, um bei außergewöhnlichen Ereignissen<br />

problemlos damit fertig zu werden. Dieses großes Defizit muß in allernächster<br />

Zeit beseitigt werden.<br />

In Notfallsituationen von größeren Dimensionen fällt den Krankenhausapotheken<br />

in der jeweils betroffenen Region eine bedeutende Schlüsselposition<br />

in der medizinischen Versorgung zu. Sobald diese Apotheken ihren<br />

Versorgungsauftrag nicht mehr erfüllen können, ist den ärztlichen und<br />

pflegerischen Bemühungen bald ein Ende gesetzt. Dann werden alle<br />

Bemühungen um die rechtzeitige Bergung der Katastrophenopfer und die<br />

Einsatzbereitschaft des Rettungspersonals in Frage gestellt. Denn, wenn<br />

schon wenige Stunden nach dem Unglücksgeschehen eine Materialknappheit<br />

in den Apotheken eintritt, dann können die Therapiemaßnahmen nicht<br />

mehr oder nur unzureichend durchgeführt werden.<br />

Wie ist es nun um die Bevorratung der Krankenhäuser und ihrer Apotheken<br />

für Not- und Katastrophenfälle bestellt, die im Notfall die erste Anforderungswelle<br />

trifft? Zunächst einmal fehlt meist schon entsprechender Lagerraum<br />

für eine Zusatzbevorratung. Weiterhin hemmen enge Budgetvorgaben<br />

und akut besonders die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen die notwendigen<br />

Vorsorgemaßnahmen. Weder die Kostenträger des Gesundheitswesens<br />

noch die Träger der Krankenhäuser können oder wollen die Notfallbevorratung<br />

finanziell tragen. Eine ordnungsgemäße Versorgung der<br />

Patienten mit Arzneimitteln bei Großunglücken und im Katastrophenfall<br />

gehört aber vor allem bei den Krankenhausapotheke zu den besonderen<br />

Aufgaben. Sie können aber nicht zwangsweise zu höherer Bevorratung verpflichtet<br />

werden, um staatliche Vorsorgedefizite auszugleichen.<br />

Da den Krankenhausapotheken bei Großschadenereignissen und im<br />

Katastrophenfall eine bedeutende Schlüsselstellung zufällt, haben 1996<br />

Krankenhausapotheker ein Handbuch zum „Management der Krankenhausapotheke<br />

bei Großschadenereignissen und im Katastrophenfall“ für<br />

die Krankenhausapotheke als Organisationshilfe zur Verfügung gestellt. Es<br />

soll als Arbeits- und Organisationshilfe der Krankenhausapotheke dienen.<br />

Nur organisatorisch gut vorbereitet kann die Sicherstellung der Versorgung<br />

des Krankenhauses mit Arzneimitteln und ggf. auch mit medizinischem<br />

Sachbedarf in Ausnahmesituationen und damit unter erheblich veränderten,<br />

d.h. erschwerten Rahmenbedingungen letztlich gewährleistet werden.<br />

141


Die „Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle“ ist eine neue Aufgabe im<br />

Spektrum der Klinischen Pharmazie. Sie dient der Sicherstellung der medizinischen<br />

Versorgung bei einem Massenanfall von Patienten bei Epidemien,<br />

Großunglücken und Katastrophen. Sie ist eine notwendige Voraussetzung<br />

für die Wirksamkeit der Katastrophenmedizin, die definitionsgemäß die<br />

simultane Behandlung einer Vielzahl von Patienten unter erschwerten<br />

Bedingungen mit unzureichenden Mitteln und unter erheblichem Zeitdruck<br />

sicherstellen muß. Die „Katastrophenpharmazie“ hat folgende Aufgaben in<br />

der Notfallversorgung:<br />

142<br />

Organisation – Logistik – Bedarfsermittlung – Notfallbevorratung<br />

– notfallmäßige Arzneimittelherstellung.<br />

Klinische Apotheker und Apothekerinnen sind als Spezialisten für die Katastrophenlogistik<br />

im klinisch-pharmazeutischen Bereich unentbehrlich, auch<br />

wenn sie bislang nur selten durch Großschadensfall besonders herausgefordert<br />

worden sind. Die Aufgaben der Notfallversorgung sind im Prinzip auch<br />

primär von Krankenhausapotheken und weniger von Krankenhausversorgenden<br />

Öffentlichen Apotheken zu erfüllen.<br />

Es ist übrigens einmal festzustellen, daß es bis heute noch keine eindeutige<br />

Aufgabenzuweisung für die Apotheken im Katastrophenfall allgemein und<br />

für Apotheker/innen im Katastrophenschutz speziell gibt. Dabei ist doch die<br />

Arzneimittelversorgung nicht nur eine selbstverständliche sondern auch<br />

eine staatlich delegierte Aufgabe an den Apotheker; aber pharmazeutisches<br />

Fachwissen wird im Katastrophenschutz und <strong>Zivilschutz</strong> bislang noch zu<br />

wenig genutzt.<br />

Die Fachaoptheker für Klinische Pharmazie in Deutschen Gesellschaft für<br />

Katastrophenmedizin und im Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker<br />

arbeiten gemeinsam mit den Notfall- und Katastrophenmedizinern an<br />

zukunftsorientierten Strategien des Managements bei Großschadenereignissen.<br />

Zusammenfassung<br />

Weniger die militärischen Konflikte als vielmehr unerwartete Notsituationen<br />

wie Großunglücke und Katastrophen bedrohen immer wieder die<br />

Menschheit und hinterlassen einen Massenanfall von Patienten mit identischen<br />

Krankheitsbildern und Verletzungsmustern. Entsprechend entsteht<br />

unvermittelt ein großer Bedarf an Arzneimitteln, Medizinprodukten und<br />

Sanitätsmaterial. Wir müssen daher für derartige Schadensereignisse gut<br />

organisierte sowie umfangreiche materielle Vorbereitungen treffen. Die Tatsache,<br />

daß wir in der Vergangenheit nur wenig von Großschadensereignissen<br />

oder gar Katastrophen betroffen waren, darf uns nicht in Sicherheit<br />

wiegen und die Vorsorgemaßnahmen abbauen lassen.


Die wirtschaftlich kalkulierte Logistik der Krankenhäuser sichert die breite<br />

Routineversorgung; sie ist bei einem Großschadensfall jedoch schnell überfordert.<br />

Da die Versorgung im Katastrophenfall jeglicher Art von vornherein<br />

die Leistungskapazität der Krankenhäuser und z.Zt. auch des Rettungsund<br />

Sanitätsdienstes übersteigt, sind überregional präventive Maßnahmen<br />

erforderlich. Zur Sicherung der medizinischen Versorgung wäre es zweckmäßig<br />

den Krankenhausapotheken einen Anteil der erforderlichen Vorräte<br />

an Arzneimitteln und medizinischem Sachbedarf als Notfalldepots zuzuordnen.<br />

Für die Bewältigung von Großschadensfällen und Katastrophen<br />

mit einem Massenanfall von Patienten sind allgemein verwertbare Rahmenkonzepte<br />

für die gesamte medizinische Versorgung zu formulieren. Planung<br />

bedeutet Prioritäten in der Organisation für den Ernstfall zu setzen.<br />

Zur Versorgung der Krankenhäuser muß die jeweilige Apotheke eine individuelle<br />

auf die Klinik bezogene Bedarfsermittlung und Notfallbevorratung<br />

konzipieren, um eine möglichst autarke Versorgung der Patienten sowohl<br />

für die erste Zeit nach einem Schadenereignis als auch für Perioden von<br />

Versorgungengpässen sicherstellen. Alles, was nicht im voraus geplant<br />

wird, muß im Notfall durch Improvisation geregelt werden. Der jeweilige<br />

Einzelfall wird zwar immer wieder ein ordentliches Maß an Improvisation<br />

erfordern; mit einem guten Rahmenkonzept kann man diesen Anteil jedoch<br />

auf ein Minimum reduzieren.<br />

Die Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle ist ein neues Aufgabengebiet<br />

der Klinischen Pharmazie mit realen Bezügen zur Notfall- und Katastrophenmedizin.<br />

Sie kann wesentlich dazu beitragen, den medizinischen Versorgungsauftrag<br />

der Krankenhäuser im Großschadensfall sicherzustellen.<br />

Eine ausreichende Bevorratung mit Arzneimitteln für Großschadenereignisse<br />

gibt es zur Zeit nicht mehr; sie muß baldbmöglichst mit zukunftsorientierten<br />

Konzepten und unter Berücksichtigung der finanziellen Machbarkeit<br />

neu konzipiert werden. Wir benötigen ein sinnvolles Prinzip der<br />

dualen Pflichtenverteilung für den Zivil- und Katastrophenschutz mit neuen<br />

Konzeptionen einer umfassenden Notfallvorsorge. Der Bund, die Bundesländer<br />

und die Kommunen müssen gemeinsam die medizinische Bevorratung<br />

für friedenszeitliche Not- und Katastrophenfälle sowie für den Verteidigungsfall<br />

finanzieren. Dadurch würde die bislang einseitig vom Bund<br />

getragene finanzielle Belastung für die <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung deutlich<br />

gemindert. Es ist auch wenig sinnvoll, wenn nun jedes Bundesland nun ein<br />

eigenes Modell der medzinischen Notfallbevorratungt entwickelt und<br />

umsetzt. Gemeinsame und koordinierte Beschaffungsmaßnahmen für standardisierte<br />

Vorräte an Arzneimitteln und Sanitätsmaterial können den zur<br />

Notfallvorsorge verpflichteten Institutionen auf Bundes- und Landesebene<br />

enorme Finanzmittel ersparen. Denkbar wäre hier auch eine Kooperation<br />

mit der Bundeswehr.<br />

Die Notwendigkeit Vorsorge zu treffen und Arzneimittel sowie Sanitätsmaterial<br />

vorrätig zu halten, kann nicht nur als Aufgabe den Pharmazeutischen<br />

Herstellern und Großhändlern, Apotheken und Krankenhäusern zugewiesen<br />

143


werden; sie ist nach wie vor eine staatliche Aufgabe im Rahmen des Zivilund<br />

Katastrophenschutzes.<br />

Notfallvorsorge: bedeutet Zusatzbevorratung für außergewöhnliche<br />

Ereignisse<br />

Zusatzbevorratung: kann nicht zusätzlich zum Bedarf für die Regelversorgung<br />

der Bevölkerung ad hoc produziert<br />

und beschafft werden.<br />

Forderung: wir benötigen ausreichende und rechtzeitige<br />

Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung<br />

der Bevölkerung mit Arzneimitteln in Krisensituationen<br />

Wenn wir erst in einer Krise Vorräte anlegen, dann wird es uns genauso<br />

ergehen wie dem Eichhörnchen, das zwangsläufig verhungert, wenn es<br />

erst im Winter bei tiefem Schnee Nüsse sammeln wollte.<br />

Literatur<br />

(1) Ahnefelder, F.W. – Dick, W. – Kilian, J. – Schuster, H.-P.<br />

Notfallmedizin<br />

Springer Verlag, Berlin – Heidelberg (1986)<br />

(2) VBannert, Ch. – Hehenberger, H.<br />

Herstellung von Arzneimitteln im Katastrophenfall<br />

Krankenhauspharmazie 5, 105–107 (1983)<br />

(3) Einberger, C.<br />

Die Aufgabe einer Krankenhausapotheke im Katastrophenfall<br />

Krankenhauspharmazie 7, 296–300 (1983)<br />

(4) Einberger, C.<br />

Katastrophenvorsorge – Vorsorge nicht nur für einen Unglückstag<br />

Deutsche Apotheker Zeitung 31, 1621–1622 (1988)<br />

(5) Einberger, C.<br />

Prävention für Brandkatastrophen – Katastrophenvorsorge und Pharmazie<br />

Deutsche Apotheker Zeitung 25, 1336–1338 (1987)<br />

(6) Einberger, C.<br />

Katastrophenvorsorge für Polytraumatisierte<br />

Deutsche Apotheker Zeitung 34, 1714–1715 (1987)<br />

(7) Heidemanns, H.-A. – Vollhard, H. – Engelhardt, K.P.<br />

Die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung mit Arzneimitteln in einem Katastrophenfall<br />

Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4, 53–63 (1984)<br />

(8) Heidemanns, H.<br />

Katastrophenfälle � Der Bedarf an Arzneimitteln, Verbandmitteln und medizinischen Hilfsmitteln<br />

Deutsche Apotheker Zeitung 8, 356–358 (1980)<br />

(9) Jansen, H.<br />

Notfalleinsatzplan im Krankenhaus<br />

Krankenhaus Umschau 3, 168–171 (1989)<br />

(10) Rossi, R.<br />

Notfallmedikamente in der Apotheke<br />

Deutsche Apotheker Zeitung 27, 1437–1442 (1989)<br />

144


(11) Schäfer, R.D. – Udelhoven, P. (Red.)<br />

Medizinische Katastrophenhilfe<br />

Band 1 Schriftenreihe der Akademie für ärztliche Fortbildung<br />

Ärztekammer Nordrhein � Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (1982)<br />

(12) Suren, E.G. – Tscherne, H.<br />

Hinweise zur Erstellung eines Katastropheneinsatzplanes für Krankenhäuser<br />

Niedersächsisches Ärzteblatt 17, 612–616 (1980)<br />

(13) Wagner, W.<br />

Katastrophenpharmazie – Aufgaben der Krankenhausapotheke<br />

Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin<br />

Kongreßband „Katastrophenmanagement im Krankenhaus, Malente 1990<br />

(14) Wagner, W.<br />

Notfall- und Katastrophenvorsorge – Aufgaben der Krankenhausapotheke<br />

Krankenhauspharmazie 4, 143–146 (1991)<br />

(15) Wagner, W.<br />

Bevorratung mit Arzneimitteln für Not- und Katastrophenfälle<br />

Notfallvorsorge und Zivile Verteidigung 3, 35–37 (1992)<br />

(16) Wagner, W.<br />

Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle – Autarke Versorgung der Patienten sicherstellen!<br />

Krankenhaus Arzt 6, 277–283 (1994)<br />

(17) Wagner, W.<br />

Katastrophenpharmazie<br />

SEG-Magazin 4, 33 (1994)<br />

(18) Kommission „Krankenhausapotheke und Arzneimittelwesen der Deutschen Krankenhausgesellschaft<br />

Arznei- und Verbandmitelliste für Krankenhäuser als Vorhaltung für Not- und Katastrophenfälle<br />

Krankenhauspharmazie 6, 283–285 (1986)<br />

(19) VBundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V.<br />

Binsack, G. – Einberger, C. – Heidemanns, H.A. – Rothenhäuser, K. – Strehl, E. – Wagner, W. (Redaktion)<br />

Kompendium<br />

Management der Krankenhausapotheke bei Großschadensereignissen und Katastrophen<br />

Eigenverlag<br />

(20) Deutscher Bundestag – 13. Wahlperiode<br />

Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz –<br />

ZSNeuOG)<br />

Drucksache 13/4980<br />

145


146


Empfehlungen zur Bevorratung von Medikamenten<br />

für den Katastrophenschutz mit <strong>Zivilschutz</strong><br />

B. Domres<br />

Zur Novellierung der <strong>Zivilschutz</strong>gesetzgebung (ZSNeuOG)<br />

Der Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> gehören zu den Aufgaben, die die Bundesrepublik<br />

Deutschland im Rahmen der Daseinsfürsorge für ihre Staatsangehörigen<br />

zu erfüllen hat. Bis zur Novellierung der <strong>Zivilschutz</strong>gesetzgebung<br />

in diesem Jahr war die Aufgabe des Schutzes der Zivilbevölkerung<br />

in bewaffneten Konflikten dem Bund zugeordnet, während der Katastrophenschutz<br />

historisch und nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes<br />

Sache der Länder war.<br />

Die jetzt geltenden Änderungen des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes beinhalten, daß<br />

der gesamte <strong>Zivilschutz</strong> den Ländern übertragen ist.<br />

Dabei werden den Ländern keine einheitlichen Strukturen vorgeschrieben.<br />

Der Bund kann bei Katastrophen und Konflikten, die die Ländergrenzen<br />

überschreiten, lediglich mittels der Notstandsgesetzgebung gemäß den<br />

Artikeln des § 115 GG den Landesregierungen und Landesbehörden Weisungen<br />

erteilen. Damit ist fraglich, ob der Bund noch seine Aufgaben im<br />

<strong>Zivilschutz</strong> erfüllt. Mit dem Ziel, weitere Kosten einzusparen, gibt der Bund<br />

die Bevorratung von Arzneimitteln und Sanitätsmaterial auf, die er zur Versorgung<br />

100 000 Betroffener vorhielt. Die Bevorratung wurde auch nicht an<br />

die Länder weitergegeben.<br />

Erschwerend kommt noch hinzu, daß der Bund auch die 68 teilgeschützten<br />

Hilfskrankenhäuser samt ihrer Vorräte aufgibt.<br />

Bisher unterhielt der Bund 21 voll geschützte Hilfskrankenhäuser mit<br />

15 000 Betten und 68 teil geschützte Hilfskrankenhäuser mit 25 000 Betten.<br />

Weiter vorgehalten werden also noch 15 000 Betten in geschützten Hilfskrankenhäusern,<br />

entsprechend für nur 0,02 % der Bevölkerung. Zum Vergleich<br />

bevorratet die Schweiz Betten für 1,5 % der Bevölkerung.<br />

Diese Situation der Arzneimittelversorgung bei Großschadensereignissen<br />

und Katastrophen veranlaßte die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin<br />

zu einer Resolution.<br />

Weitere Initiativen der <strong>Schutzkommission</strong>, ihr Bericht zur Gefahrenlage<br />

1996 und auch die Initiativen verantwortungsbewußter Apotheker in der<br />

Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin bewirkten schließlich, daß<br />

das Gesetz zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (ZSNeuOG) im Vermittlungsausschuß<br />

durch den § 17 geändert wurde: Gemäß diesem Paragraph<br />

darf das Bundesministerium des Innern mit Zustimmung des Bundesrates<br />

eine Bevorratung im Krisenfall anordnen.<br />

147


§ 17<br />

Sanitätsmittelbevorratung<br />

Das Bundesministerium des Innern kann durch Rechtsverordnung<br />

mit Zustimmung des Bundesrates anordnen, daß nach Maßgabe des<br />

Artikels 80a des Grundgesetzes ausreichend Sanitätsmaterial von<br />

Herstellerbetrieben, Großhandlungen sowie Öffentlichen- und Krankenhausapotheken<br />

vorgehalten wird, um den zusätzlichen Bedarf im<br />

Verteidigungsfall sicherzustellen.<br />

Der Bundesrat hat in der Sitzung am 19. 12. 1996 diese Regelung folgendermaßen<br />

begründet:<br />

„Eine ersatzlose Streichung des bisherigen § 14 des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes, der<br />

im Frieden eine Sanitätsbevorratung vorsieht, ist nicht vertretbar, weil die<br />

friedenszeitlichen Vorräte den vermehrten Bedarf in einem Verteidigungsfall<br />

nicht decken können. Nur zusätzlich angelegte Vorräte gewährleisten<br />

dann eine ausreichende Versorgung.<br />

Es genügt, diese Vorräte in einer Krise nach Maßgabe des Artikels 80a GG<br />

anzulegen.“<br />

Als friedensmäßige Vorratsreichweite bei Verbandstoffen wird (nach Angaben<br />

von C. Eilenberger) optimistisch ein Zeitraum von 9–12 Wochen<br />

angenommen, aufgeteilt nach folgenden Zeiträumen:<br />

– bei den Herstellern 4 Wochen<br />

– beim Pharma-Großhandel 3–4 Wochen<br />

– bei den Kliniken 2 Wochen<br />

– bei den Apotheken 2 Wochen<br />

Zur Zeit liegt die Vorratsreichweite für Medikamente bei 1–3 Monate.<br />

Offene Fragen der Medikamentenbevorratung<br />

Aus der Tatsache, daß die für notwendig erachtete Bevorratung von Medikamenten<br />

und Sanitätsmaterial erst im Krisenfall vom Bund angeordnet<br />

werden kann, ergeben sich einige zu lösende Fragen und Aufgaben:<br />

– Reicht die Zeit für die Produktion der Medikamente, wenn damit erst im<br />

Krisenfall begonnen wird? Die Industrie ist von der Zulieferung z.B. von<br />

Rohstoffen aus dem Ausland abhängig. Die Produktionskapazität ist<br />

begrenzt auf eine just in time production.<br />

– Soll das Spektrum der Bevorratung auch die Regelversorgung der Bevölkerung<br />

einschließen? Resourcen, die die Regelversorgung im Krisenfall<br />

bewältigen sollen, fallen häufig infolge zufälliger und beabsichtigter Zerstörung<br />

aus.<br />

148


– Soll die Bevorratung in erster Linie die typischen Schädigungsmuster der<br />

Krisen berücksichtigen? Mechanische, thermische, chemische Verletzungen,<br />

infektions- und strahlenbedingte Schäden?<br />

– Soll die Bevorratung zentral oder dezentral organisiert werden?<br />

– Kann im Sinne der zivilmilitärischen Zusammenarbeit die Bundeswehr<br />

die Lagerung der Vorräte in ihren Depots und Einrichtungen unterstützen?<br />

Das Subsidiaritätsprinzip darf hier nicht dazu dienen, die bewußten Versäumnisse<br />

des Bundes und der Länder zu kompensieren.<br />

– Für wieviele Menschen und für welchen Zeitraum ist die Bevorratung zu<br />

bemessen?<br />

– Aus welchem Budget sind die Vorräte zu finanzieren?<br />

Die Arbeitsgruppe „Katastrophenmedizin, Katastrophenpharmazie,<br />

Krisenmanagement, Humanitäre Hilfe“ der Deutschen Gesellschaft für<br />

Katastrophenmedizin bemüht sich, diese Fragen zu klären und Empfehlungen<br />

für die Bevorratung zu erarbeiten.<br />

Bevorratung, wesentliche Aufgabe der Preparedness Phase<br />

Katastrophen selbst und die Zeit zwischen 2 Katastrophen teilt man in verschiedene<br />

Stadien und Phasen ein. Die Bevorratung fällt als wesentliche<br />

Aufgabe in die Phase Preparedness also der Vorsorge. Allerdings beginnt<br />

die Vorsorge weit vor der Vorhersage oder der Alarmphase einer Katastrophe<br />

oder Krise. Nach heutigem Stand der Wissenschaften ist weder die<br />

Behauptung richtig, man könne Erdbeben vorhersagen, noch die gegenteilige<br />

Meinung, Erdbeben seien nicht vorhersagbar.<br />

Vor allem gelingt es noch nicht, zugleich die exakte Lokalisation des Epizentrums,<br />

das Ausmaß auf der Richterskala und den genauen Zeitpunkt zu<br />

errechnen.<br />

Als gesichert aber gilt, wie ein Seismologe es formulierte, daß „the probability<br />

of occurence of an maior earthquake depends on the magnitude of<br />

the seismic quietness before“. Für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens<br />

eines größeren Erdbebens spricht die große seismologische Ruhe vor solch<br />

einem Ereignis.<br />

149


150


SCHUTZ VOR B-WAFFEN IN DEN HÄNDEN VON<br />

TERRORISTEN<br />

– Möglichkeiten und Grenzen –<br />

T. Sohns<br />

Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />

Neuherbergstr. 11, D-80937 München<br />

Zusammenfassung: Diese Arbeit behandelt mögliche Gefahren für die<br />

Zivilbevölkerung durch biologische (B-)Kampfstoffe in den Händen von<br />

Terroristen („B-Terrorismus“) und gibt Empfehlungen für entsprechende<br />

Schutzmaßnahmen. Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen – so auch<br />

B-Terrorismus – besitzt zwar eine wesentlich geringere Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

als Terrorismus mit konventionellen Waffen, er stellt aber<br />

eine reale Gefahr dar, auf die Deutschland ungenügend vorbereitet ist. Die<br />

<strong>Folge</strong>n von B-Terrorismus können im umgekehrten Verhältnis zur Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

stehen. Es ist daher notwendig, alle Möglichkeiten zur<br />

Prävention von B-Terrorismus zu nutzen und ergänzend dazu die B-Schutzfähigkeit<br />

der zivilen Behörden und Einsatzkräfte zu verbessern.<br />

Dieses Thema fällt zwar nicht in die Zuständigkeit der Streitkräfte, jedoch<br />

sind die verantwortlichen deutschen Behörden auf die B-Schutzexpertise<br />

der Bundeswehr angewiesen, denn nur sie verfügt über hauptamtliche<br />

Experten.<br />

Zum Autor: Oberstarzt Dr. Sohns ist Sanitätsoffizier der Bundeswehr. In den<br />

letzten Jahren hat er sich sowohl mit sanitätsdienstlicher Planung und<br />

Grundsatzarbeit als auch mit Medizinischem ABC-Schutz befaßt. Zur Zeit<br />

ist er stellvertretender Kommandeur der Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />

und Leiter des Bereichs Studien und Wissenschaft. Davor war er in Stabsverwendungen<br />

im Bundesministerium der Verteidigung und beim Supreme<br />

Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) der NATO tätig.<br />

Schlüsselbegriffe: B-Kampfstoff, B-Waffen, Bakterien, Dekontamination,<br />

Epidemie, Pandemie, Quarantäne, Ressourcen, Risiko, Seuche, Terrorismus,<br />

Toxine, Viren<br />

Die in diesem Artikel dargelegten Analysen und Bewertungen geben die<br />

Meinung des Autors wieder und stellen nicht die amtliche Auffassung des<br />

Bundesministeriums der Verteidigung oder der Bundesregierung dar.<br />

1. TERRORISMUS<br />

Terrorismus ist die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit der<br />

Absicht, eine Atmosphäre von Furcht und Beunruhigung durch Taten zu<br />

schaffen, die andere zwingen, Handlungen zu begehen, die sie unter anderen<br />

Umständen nicht ausführen würden oder beabsichtigte Handlungen zu<br />

151


unterlassen. Alle terroristischen Akte sind Verbrechen. Viele wären außerdem<br />

Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht, wenn ein Kriegsstatus existierte.<br />

Die Motive aller Terroristen sind politisch, und terroristische Akte<br />

werden generell so ausgeübt, daß größtes öffentliches Aufsehen erreicht<br />

wird. Terroristen können als Einzeltäter agieren oder in Gruppierungen<br />

organisiert sein. In Gegensatz zu anderen Kriminellen bezichtigen sich<br />

Terroristen oft ihrer Taten. Terroristische Akte zielen darauf ab, Wirkungen<br />

über den direkten materiellen Schaden hinaus zu erreichen. 1<br />

Werden in diesem Sinn biologische (B-)Kampfstoffe oder B-Waffen<br />

benutzt, so ist der Tatbestand von B-Terrorismus erfüllt.<br />

B-Waffen (synonym: B-Kampfmittel) bestehen aus B-Kampfstoff und Einsatzmittel.<br />

B-Kampfstoffe sind zu nicht-friedlichen Zwecken produzierte<br />

vermehrungsfähige Mikroorganismen und Gifte biologischen Ursprungs,<br />

die durch ihre Wirkung auf Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende<br />

Handlungsunfähigkeit oder eine Dauerschädigung herbeiführen können.<br />

Für biologische Kampfstoffe können Erreger von übertragbaren und nichtübertragbaren<br />

Krankheiten und Toxine verwendet werden. 2 B-Kampfstoffe<br />

können bekannte, unbekannte natürlich vorkommende (ggf. mutierte), oder<br />

unbekannte im Labor manipulierte Erreger enthalten.<br />

B-Waffen und -Kampfstoffe sind völkerrechtlich geächtet3 und in Deutschland<br />

durch strafbewehrte Gesetze verboten. 4<br />

Motivation und Vorgehensweise einzelner Terroristengruppen tendierten in<br />

der jüngeren Vergangenheit dahin, möglichst hohe Todesopferzahlen zu<br />

erzielen. Aus US-Statistiken geht hervor, daß in den 1990er Jahren weltweit<br />

die Anzahl terroristischer Anschläge zwar abgenommen hat, die Gesamtzahl<br />

ihrer jährlichen Todesopfer aber dennoch anstieg. 5,6 Das US Department<br />

of State stellte hierzu im April 1999 fest: „Im Jahr 1998 gab es 273<br />

internationale terroristische Anschläge, ein Rückgang gegenüber den 304<br />

Anschlägen im Vorjahr und der niedrigste Jahreswert seit 1971. Die<br />

Gesamtzahl der in terroristischen Anschlägen Getöteten und Verletzten<br />

jedoch war die höchste bisher registrierte: 741 Personen starben, und 5.952<br />

Personen erlitten Verletzungen.“ 7<br />

1 Vgl. US Advisory Panel to Assess Domestic Response Capabilities for Terrorism Involving Weapons of<br />

Mass Destruction: First Annual Report to The President and The Congress, vom 15. Dezember 1999<br />

2 Vgl. T. Sohns, L. Szinicz, E.-J. Finke, M. Abend, D. van Beuningen: Gesundheitsschäden durch ABC-<br />

Kampfmittel und ähnliche Noxen, in Notfallmedizin, hrsg. von Hempelmann, Adams, Sefrin, Thieme<br />

Verlag Stuttgart, New York 1999<br />

3 Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer)<br />

Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen vom 10. April 1972<br />

4 Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen (Kriegswaffenkontrollgesetz)<br />

5 Zur Vertiefung vgl. US Advisory Panel (siehe Fußnote 1), Seite 7 ff<br />

6 Vgl. auch G. Neuneck, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen – eine neue Symbiose? in Vierteljahresschrift<br />

für Sicherheit und Frieden, Heft 4, 1997, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, Seite<br />

243<br />

7 Patterns of Global Terrorism 1998, Office of the Coordinator for Counterterrorism (Washington, D.C.: US<br />

Department of State Publication 10610, April 1999)<br />

152


Internationale terroristische Anschläge nach Regionen 1993–98 8<br />

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1993–1998<br />

Summe %<br />

Afrika 6 25 10 11 11 21 84 4,07<br />

Asien 37 24 16 11 21 49 158 7,65<br />

Eurasien 5 11 5 24 42 14 101 4,89<br />

Lateinamerika 97 58 92 84 128 110 569 27,54<br />

Mittlerer Osten 100 116 45 45 37 31 374 18,10<br />

Nordamerika 1 0 0 0 13 0 14 0,68<br />

Westeuropa 185 88 272 121 52 48 766 37,08<br />

Gesamt: 431 322 440 296 304 273 2.066 100,00<br />

Anzahl der Opfer nach Regionen 1993–98 9<br />

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1993–1998<br />

Summe %<br />

Afrika 7 55 8 80 28 5.379 5.557 28,09<br />

Asien 135 71 5.639 1.507 344 635 8.331 42,11<br />

Eurasien 1 151 29 20 27 12 240 1,21<br />

Lateinamerika 66 329 46 18 11 194 664 3,36<br />

Mittlerer Osten 178 256 445 1 097 480 68 2.524 12,76<br />

Nordamerika 1.006 0 0 0 7 0 1.013 5,12<br />

Westeuropa 117 126 287 503 17 405 1.455 7,35<br />

Gesamt: 1.510 988 6.454 3.225 914 6.693 19.784 100,00<br />

Zu bedenken gilt auch, daß in vielen Anschlägen die kriminelle Energie auf<br />

weit schlimmere <strong>Folge</strong>n ausgerichtet war als der relativ glimpfliche Ausgang<br />

suggeriert, der in die Statistiken eingeht. So wurden z.B. durch die<br />

Autobombe in der Tiefgarage des World Trade Center in New York im<br />

Februar 1993 zwar „nur“ 6 Menschen getötet und ca. 1.000 verletzt, geplant<br />

war aber das Verderben von Zehntausenden von Menschen, 10 die sich in<br />

dem über 100 Stockwerke hohen Gebäude und in seinem Umkreis aufhielten.<br />

Setzt man diese Tendenz zu steigender Letalität mit dem Tabubruch der<br />

Aum-Shinrikyo-Sekte in Verbindung, die als erste terroristische Gruppierung<br />

B- und C-Kampfstoffe einsetzte, um große Zahlen von Menschen zu<br />

8 Quelle: Patterns of Global Terrorism 1998 (siehe Fußnote 7)<br />

9 Quelle: Patterns of Global Terrorism 1998 (siehe Fußnote 7)<br />

10 Quelle: US Advisory Panel (siehe Fußnote 1)<br />

153


töten, so wird die potentielle Gefahr durch Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen11<br />

deutlich.<br />

Zu der kriminellen Energie einzelner terroristischer Gruppierungen kommen<br />

als zusätzliche Gefahrenfaktoren die erweiterten Zugriffsmöglichkeiten<br />

auf Material und Wissen zur Herstellung und für den Einsatz von<br />

Massenvernichtungswaffen. So haben beispielsweise die deutschen Sicherheitsbehörden<br />

seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion jährlich ca.<br />

100 Fälle von illegalem Handel mit Nuklearmaterial registriert. 12 Entsprechende<br />

Vorfälle mit B-Kampfstoffen aus dem Bestand der ehemaligen<br />

Sowjetunion13 sind bisher nicht bekannt geworden, allerdings wären sie<br />

auch wesentlich schwieriger zu entdecken. Bauanleitungen und Fertigungshinweise<br />

für Massenvernichtungswaffen finden sich in der Untergrundliteratur<br />

ebenso wie in öffentlichen Bibliotheken und sind nicht zuletzt im<br />

Internet frei verfügbar. 14 Ein weiterer Gefahrenfaktor entsteht aus der Tatsache,<br />

daß Dual-Use-Technologien die Herstellung und den Einsatz von<br />

B- und C-Kampfstoffen erleichtern. Stetige Verbesserungen in der Biotechnologie<br />

begünstigen die Produktion biologischer Kampfstoffe in kleineren<br />

Anlagen und erhöhen das Risiko der heimlichen Produktion.<br />

2. B-TERRORISMUSRISIKEN<br />

2.1 Risikoabschätzung<br />

Risiken haben eine qualitative und eine quantitative Komponente. Dies<br />

bedeutet in Bezug auf B-Terrorismusrisiken:<br />

– Qualität: Feststellung, welche Terroristen Zugang zu welchen B-Kampfmitteln<br />

haben oder erlangen können.<br />

– Quantität: Intensität eines Risikos als wesentlicher Faktor der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

eines Anschlags.<br />

Ein B-Terrorismusrisiko besteht, wenn Terroristen über B-Kampfstoffe verfügen<br />

oder in ihren Besitz gelangen können. Die Intensität dieses Risikos ist<br />

von Faktoren abhängig wie z.B. Präzedenzfällen, in denen Terroristen<br />

11 Waffe oder Einrichtung, die dazu bestimmt oder in der Lage ist, durch Freisetzung, Verbreitung oder<br />

Einwirkung von ionisierender Strahlung, Radionukliden, Krankheitserregern, Giften biologischen<br />

Ursprungs, Chemikalien oder ihrer Vorläufer viele Menschen zu töten oder gesundheitlich schwer zu<br />

schädigen.<br />

(modifiziert nach Nunn-Lugar-Domenici Act, USA, 1996)<br />

12 Vgl. T. Sohns, Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen: Herausforderungen für Entscheidungsträger,<br />

Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 3, 1999, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-<br />

Baden, Seite 181, „Radiologische Waffen“<br />

13 Nach Angaben von K. Alibek (siehe Fußnote 47): 20 t Pockenviren, 200 t Milzbrandsporen und 200 t<br />

Pesterreger; der Verbleib dieser Bestände ist nicht bekannt<br />

14 Einen Eindruck über die Subkultur destruktiver und krimineller Literatur vermittelt der Artikel von<br />

J. Heepe, ABC-Waffen in Terroristenhand - technische Gefahren, Vierteljahresschrift für Sicherheit und<br />

Frieden, Heft 4, 1997, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden<br />

154


ereits Massenvernichtungswaffen eingesetzt haben, dem Schwierigkeitsgrad<br />

bei der Beschaffung von B-Kampfstoffen, dem Ausmaß unserer Vulnerabilität<br />

und dem potentiellen Nutzen eines solchen Anschlags für die<br />

Terroristen.<br />

Das Risiko wird zur Bedrohung, wenn die Terroristen konkrete Angriffsabsichten<br />

haben. Solche Absichten können sich aus welt- und gesellschaftspolitischen<br />

Konstellationen oder auch aus der persönlichen Situation eines<br />

einzelnen Fanatikers ergeben – Faktoren, auf die im Rahmen dieses Artikels<br />

nicht eingegangen werden kann.<br />

Staaten und Terroristen verursachen, wenn sie B-Waffen besitzen, unterschiedliche<br />

Risiken, denn ihre Interessen und Motive sind verschieden. 15<br />

– Staaten, die sich unter Inkaufnahme aller damit verbundenen Nachteile<br />

dem B-Waffenübereinkommen 16 verweigern, können aus dem Besitz von<br />

B-Waffen eher politischen als militärischen Nutzen ziehen, d.h. solange<br />

sie sie nicht einsetzen nutzen sie ihnen am meisten. Unter diesen Umständen<br />

könnten sie es sogar als nützlich ansehen, wenn übertriebene Nachrichten<br />

über ein von ihnen durchgeführtes geheimes B-Waffenprogramm<br />

in Umlauf sind. Solche Staaten könnten den Besitz von B-Waffen zur<br />

Machtprojektion und zur Abschreckung eines konventionell überlegenen<br />

oder nuklear bewaffneten Gegners anstreben. Ein diktatorisches Regime<br />

könnte versuchen, sein Überleben zu sichern, indem es B-Waffen als<br />

letzte Zuflucht für den Fall vorhält, daß seine Führerschaft bedroht ist.<br />

– Das von B-Waffen in den Händen von Terroristen ausgehende Risiko ist<br />

wesentlich höher, denn sie müssen ihre Fähigkeiten viel unmittelbarer<br />

und dramatischer in Szene setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Gerüchte<br />

über den Besitz von B-Waffen reichen Terroristen nicht aus, um sich eine<br />

Regierung gefügig zu machen. Zum Beweis ihrer Fähigkeiten müßten sie<br />

entweder eine Probe ihres Kampfstoffs hinterlegen oder ihn tatsächlich<br />

einsetzen. Terroristen, die aus ihrer Sicht noch Rechnungen mit Regierungen,<br />

Behörden oder Einrichtungen zu begleichen haben, könnten ihre<br />

B-Waffen als Instrument der Vergeltung benutzen.<br />

Ein wesentlicher Faktor für die Risikoeinschätzung ist die Feststellung, ob<br />

es Einzelpersonen und Gruppierungen mit terroristischen Absichten bisher<br />

jemals gelungen ist, in den Besitz von Erregern zu gelangen, die zur Herstellung<br />

von B-Kampfstoffen geeignet sind. Wenn sie sogar in den Besitz<br />

eines wirksamen Kampfstoffs gelangt sind, ist dies als Intensitätssteigerung<br />

des Risikos zu bewerten. Eine weitere, höhere Risikostufe liegt vor, wenn<br />

sie auch die kriminelle Energie zum Einsatz des Kampfstoffs aufgebracht<br />

15 Vgl. G. S. Pearson, M. I. Chevrier, An Effective Prohibition of Biological Weapons, in J. Lederberg<br />

(Editor), Biological Weapons: Limiting the Threat, Belfer Center for Science and International Affairs,<br />

J. F. Kennedy School of Government, Harvard University, Cambridge, Massachusetts 02138, 1999<br />

16 siehe Fußnote 3<br />

155


haben. Leider hat es bereits auf jedem dieser Risikoniveaus Vorfälle von B-<br />

Terrorismus gegeben, wie folgende Beispiele zeigen:<br />

– Anfang der achtziger Jahre wurde in Paris in einer von der Rote-Armee-<br />

Fraktion (RAF) benutzten Wohnung ein „Heimlabor“ entdeckt, in dem<br />

Clostridium botulinum kultiviert wurde. 17,18 Das aus solchen Kulturen<br />

gewinnbare Botulinumtoxin ist die giftigste bekannte Substanz überhaupt.<br />

19<br />

– In The Dalles, einer Kleinstadt im Nordwesten von Oregon in den USA<br />

kontaminierte die Rajneeshi-Sekte im September 1994 in örtlichen<br />

Restaurants Lebensmittel mit Salmonellen. Insgesamt erkrankten 751<br />

Menschen – fast zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Der Grund für den<br />

Ausbruch dieser Krankheit wurde erst nach einem Jahr durch die Aussagen<br />

eines abtrünnigen Sektenmitglieds bekannt. Es gab an, die<br />

Rajneeshi hätten herausfinden wollen, ob sie die Menschen durch die<br />

Verbreitung einer Krankheit davon abhalten könnten, bei den Kommunalwahlen<br />

im November 1994 gegen die Interessen der Sekte zu<br />

stimmen. 20<br />

– 1993 wurde ein US-Extremist bei dem Versuch gefaßt, 130 g Rizin21 über<br />

die Grenze von Alaska nach Kanada zu schmuggeln. Das Toxin sollte als<br />

B-Kampfstoff eingesetzt werden. 22,23 Rizin ist leicht herzustellen, und<br />

die zur Rizin-Produktion erforderlichen Materialien und Kenntnisse sind<br />

frei zugänglich. In den 18 Monaten bis April 1997 hat das NAMRI24 in<br />

den USA sechsmal Rizin in Material nachgewiesen, das von der Polizei<br />

beschlagnahmt worden war. 25<br />

– Daß es sogar möglich sein kann, hochpathogene Krankheitserreger per<br />

Post zu beziehen, beweist ein weiterer Vorfall in den USA. Dort hat 1995<br />

ein wegen extremistischer Aktivitäten aus der US Environmental Protection<br />

Agency entlassener Angestellter unter Nutzung seiner ehemaligen<br />

Identifikationsnummer bei der American Type Culture Collection gefriergetrocknete<br />

Pestbakterien bestellt und auch erhalten. In seiner Wohnung<br />

wurden neben drei Röhrchen mit lyophilisierten Yersinia pestis-Stämmen<br />

auch Handgranatenzünder und diverse Sprengsatzteile beschlagnahmt. 26<br />

17 West German Terrorists Said to Test Bacteria, International Herald Tribune, 8./9. November 1980,<br />

Seite 2<br />

18 R. Purver (Canadian Security Intelligence Service), Chemical and Biological Terrorism: The Threat<br />

According to the Open Literature, als Manuskript gedruckt, Juni 1995<br />

19 1 g Botulinumtoxin ist theoretisch ausreichend, um über 10 Millionen Menschen zu töten<br />

20 T. J. Török et al, A Large Community Outbreak of Salmonellosis Caused by Intentional Contamination<br />

of Restaurant Salad Bars, in: JAMA; 6.8.1997, Bd. 278, Nr. 5, S. 389-395<br />

21 1 g des Toxins Rizin reicht theoretisch aus, um über 1.000 Menschen zu töten<br />

22 J. Kifner, Man is Arrested in a Case Involving Deadly Poison, in: The New York Times, 23.12.1995<br />

23 J. Stephenson, Confronting a Biological Armageddon: Experts Tackle Prospect of Bioterrorism, in:<br />

JAMA, 5/1996 v. 7.8.1996, S. 349-351<br />

24 Naval Medical Research Institute, Bethesda, USA<br />

25 Nach Angaben eines Vertreters des NAMRI am 29.4.1997<br />

26 Health Letter des CDC (Centers for Disease Control), Atlanta, 29.5/5.6.1995, S. 5<br />

156


– Die Aum-Shinrikyo-Sekte hat nicht nur bei den Terroranschlägen in Matsumoto<br />

1994 und Tokio 1995 den C-Kampfstoff Sarin eingesetzt. 27 Sie<br />

hat auch Anthraxsporen28 und Botulinumtoxin ausgebracht, allerdings<br />

ohne daß entsprechende Erkrankungsfälle bekannt geworden (erkannt<br />

worden?) sind. Carus berichtet hierzu in seiner umfassenden Literaturauswertung<br />

über Bioverbrechen und B-Terroranschläge, 29 daß Aum-<br />

Shinrikyo<br />

+ im April 1990 von Fahrzeugen aus Botulinumtoxin gegen das japanische<br />

Parlament in Tokio, die Stadt Yokohama, den US Marinestützpunkt<br />

Yokosuka und den internationalen Flughafen Narita einsetzte,<br />

+ Anfang Juni 1993 von einem Fahrzeug aus in der Innenstadt von Tokio<br />

Botulinumtoxin versprühte, um die geplante Hochzeit des japanischen<br />

Kronprinzen Haruhito abzubrechen,<br />

+ Ende Juni 1993 versuchte, vom Dach eines Aum-eigenen Gebäudes<br />

aus mit einem Sprühgerät Anthraxsporen über Tokio zu verbreiten,<br />

+ im Juli 1993 von einem umgebauten Lastkraftwagen Anthraxsporen<br />

abblies, um das Gebiet um das japanische Parlament im Zentrum von<br />

Tokio zu verseuchen,<br />

+ später im Juli 1993 nochmals von einem umgebauten Lastkraftwagen<br />

aus Anthraxsporen versprühte - diesmal war der Angriff gegen den<br />

Kaiserpalast in Tokio gerichtet,<br />

+ am 15. März 1995 drei zur Freisetzung von Botulinumtoxin präparierte<br />

Aktenkoffer in der Tokioter U-Bahn aufstellte. Scheinbar habe der<br />

Verantwortliche jedoch Skrupel bekommen und das Gift durch eine<br />

ungiftige Substanz ersetzt. Der Fehlschlag dieses Angriffs habe zu der<br />

Entscheidung geführt, daß Aum-Shinrikyo am 20. März 1995 den chemischen<br />

Kampfstoff Sarin in der Tokioter U-Bahn einsetzte.<br />

Diese Vorfälle bedeuten eine neue Dimension des Terrorismus. Jeder Vorfall<br />

überrascht durch seine individuelle Kombination von krimineller Energie,<br />

Ideenreichtum, Abwegigkeit und Unvorhersagbarkeit. Verbrechen dieser<br />

Art sind mit einer großen Vielfalt von Motiven und Szenarien an jedem Ort<br />

der Welt möglich, auch in Deutschland. Als Täter kommt die gesamte<br />

Spannweite vom isolierten Fanatiker bis zur staatlich unterstützten oder<br />

gelenkten Gruppierung in Frage.<br />

27 In Matsumoto wurden 7 Menschen getötet; in Tokio wurden 12 Menschen getötet und 5.500 wurden in<br />

Krankenhäusern registriert<br />

28 Erreger des Milzbrands, das Einatmen der Sporen führt zum tödlichen Lungenmilzbrand; die Sporen sind<br />

sehr umweltresistent und können jahrzehntelang infektionsfähig überleben<br />

29 W. S. Carus, „Bioterrorism and Biocrimes - The Illicit Use of Biological Agents in the 20th Century“,<br />

Center for Counterproliferation Research, National Defense University, August 1998 (March 1999 revision)<br />

157


Eine ausgeprägte Risikoperzeption und ein entsprechendes Programm zum<br />

Schutz der Zivilbevölkerung gegen B-Terrorismus gibt es in den USA. Die<br />

US-Regierung hat Spezialeinheiten der Army und des Marine Corps zur<br />

Hilfeleistung bei ABC-Terrorismus aufgestellt (insgesamt etwa 500 Personen).<br />

Für die Olympischen Spiele 1996 wurden mehrere hundert<br />

Angehörige dieser Spezialeinheiten für den Fall eines Terroranschlags um<br />

Atlanta zusammengezogen. 30 Ein systematisches Ausbildungsprogramm<br />

der US-Streitkräfte für zivile Entscheidungsträger und Einsatzkräfte (Polizei,<br />

Feuerwehr etc.) von 120 US-Großstädten wurde etabliert. 31 Verteidigungsministerium<br />

und Public Health Service haben 262 Millionen US-<br />

Dollar für ein fünfjähriges Bereitschaftsprogramm für innere Sicherheit<br />

erhalten. Die Marine Corps Chemical/Biological Incident Response Force<br />

(CBIRF) wurde der Öffentlichkeit am 30. April 1997 mit einer Übung auf<br />

dem Capitol Hill in Washington vorgestellt. 32<br />

2.2 Besonderheiten von B-Kampfstoffeinsätzen<br />

Mit B-Kampfstoffen können sehr weiträumige Angriffe durchgeführt werden.<br />

Vor einigen Jahrzehnten zeigten Ausbreitungsexperimente mit Mikroorganismen,<br />

daß es bei entsprechender Windlage ohne weiteres möglich ist,<br />

von einem Flugzeug aus ein Gebiet von 100.000 km2 zu verseuchen.<br />

Ein B-Angriff kann verdeckt durchgeführt werden, denn B-Kampfstoffe<br />

sind unsichtbar, geruchs- und geschmacklos. Auch eine Mischung mehrerer<br />

B-Kampfstoffe oder die Kombination mit Radionukliden und C-Kampfstoffen<br />

zu Verschleierungszwecken ist nicht auszuschließen. Aus UNS-<br />

COM33-Kreisen verlautete zum Beispiel, daß Hinweise auf irakische C-<br />

Waffen gefunden wurden, denen B-Kampfstoffe beigemischt waren oder<br />

werden sollten.<br />

Ebenfalls heimtückisch und für den verdeckten Einsatz besonders nutzbar<br />

sind die Mimikry-Eigenschaften von B-Kampfstoffen. Hiermit ist das<br />

Nachahmen natürlich vorkommender Krankheiten gemeint. Ein verdeckter<br />

B-Kampfstoffeinsatz kann erst dann als bewiesen gelten, wenn bei ungewöhnlichen<br />

Erkrankungs- und Todesfällen eine natürliche Ursache ausgeschlossen<br />

werden konnte.<br />

Einige B-Kampfstoffe können Seuchen auslösen. Kein anderes Kampfmittel<br />

kann sich nach seinem Einsatz noch selbst vermehren. Tiere und deren<br />

Ektoparasiten können zum Reservoir bzw. Überträger für die Krankheitserreger<br />

werden und die Erhaltung, Ausbreitung oder Neubildung von<br />

Seuchenherden verursachen.<br />

30 J. Stephenson (Fußnote 23)<br />

31 Jane’s Defense Weekly, 23. April 1997, S. 6; aktualisiert durch die persönliche Mitteilung eines Vertreters<br />

des US HQDA (DASG-HDC), Oktober 1998<br />

32 US Marine Corps, A Certain Force for an Uncertain World, http://www.usmc.mil/ vom 7. Mai 1997<br />

33 United Nations Special Commission<br />

158


2.3 Zugangsmöglichkeiten zu B-Kampfstoffen<br />

Als B-Kampfstoffe eignen sich bösartige und umweltresistente Stämme<br />

gefährlicher Krankheitserreger (Bakterien und Viren). Die meisten von<br />

ihnen kommen unter natürlichen Bedingungen in tierischen Reservoiren<br />

vor.<br />

Auch gefährliche, umweltstabile Gifte biologischen Ursprungs – Toxine –<br />

kommen in Frage: z. B. Botulinumtoxin, das etwa 15.000fach toxischer als<br />

der giftigste chemische Kampfstoff, VX, und 100.000mal giftiger als das<br />

von der Aum-Sekte 1994/95 eingesetzte Sarin ist. 34<br />

Nachfolgende Zusammenstellung 35 zeigt eine Auswahl von Erregern und<br />

Toxinen, die von verschiedenen Nationen für die Herstellung von B-Kampfstoffen<br />

benutzt wurden („Das dreckige Dutzend“) und grundsätzlich auch<br />

für terroristische Aktionen in Frage kommen.<br />

Bakterien Viren Toxine<br />

Bazillus anthracis (Sporen) Variolavirus Clostridium botulinum Toxine<br />

Lungenmilzbrand Pocken Botulismus<br />

Yersinia pestis Venezuelan Equine Rizin<br />

Lungenpest Encephalitis Virus, VEE<br />

Venezolanische equine<br />

Enzephalitis<br />

Rizin-Intoxikation<br />

Francisella tularensis Marburgvirus Staphylokokken-Enterotoxin<br />

Tularämie<br />

Brucella suis, B. melitensis<br />

Brucellosen<br />

Coxiella burnetii<br />

Q-Fieber<br />

Burkholderia mallei /<br />

pseudomallei<br />

Rotz / Melioidose<br />

Marburg-Fieber B (SEB)<br />

SEB-Intoxikation<br />

Die Bevorzugung dieser Krankheitserreger und Toxine für militärische<br />

Zwecke – zu denen sie besonders wirksam als Aerosol 36 eingesetzt würden<br />

– bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß sie auch die erste Wahl für Terroristen<br />

sein müssen. Angst, Schrecken, Verunsicherung, Krankheit und Tod<br />

könnten Terroristen auch mit weniger gefährlichen Einsatzformen und<br />

34 Medical Management of Biological Casualties, Handbook, US Army Medical Research Institute of Infectious<br />

Diseases, Fort Detrick, Maryland, März 1996<br />

35 Quelle: siehe T. Sohns et al. (Fußnote 2), aktualisiert<br />

36 Beim Einatmen des Aerosols werden die Lungen der Opfer mit massiven Keimzahlen belastet. Die<br />

Erkrankung verläuft dadurch sehr heftig und entsprechend der Eintrittspforte als „Lungenform“, die normalerweise<br />

nicht oder nur selten auftritt (z.B. Milzbrand tritt beim Menschen in der Regel als Haut- oder<br />

Darmmilzbrand auf).<br />

159


Agenzien verbreiten, zum Beispiel durch Kontamination von Trinkwasser<br />

und Lebensmitteln mit Salmonellen (Erreger von Salmonellosen, Typhus<br />

und Paratyphus), Shigellen (Ruhrerreger) oder Vibrionen (Choleraerreger).<br />

Auch Agenzien, die für den Menschen ungefährlich sind, jedoch Tiere und<br />

Pflanzen töten oder schädigen, kommen für B-Terrorismus in Betracht. Der<br />

Einsatz solcher B-Kampfstoffe gegen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie<br />

kann verheerende wirtschaftliche <strong>Folge</strong>n haben und daher ebenfalls<br />

für Terroristen interessant sein.<br />

Die bekannten in Frage kommenden Erreger und Toxine sind in der Ausfuhrliste<br />

zur Außenwirtschaftsverordnung sowie in der Kriegswaffenliste37 aufgeführt.<br />

Eine wesentliche Rolle für die Bewertung des B-Terrorismusrisikos spielt<br />

die Abschätzung der Möglichkeiten potentieller Täter, in den Besitz geeigneter<br />

Erreger und Toxine zu gelangen. Unter Voraussetzung der erforderlichen<br />

Sachkenntnis und Ausstattung ist dies vor allem auf folgenden<br />

Wegen möglich:<br />

– Gewinnung aus einem natürlichen Reservoir oder von erkrankten Menschen,<br />

– Ankauf aus einer mikrobiologischen Stammsammlung,<br />

– Beschaffung aus einem mikrobiologischen <strong>Forschung</strong>s- oder Diagnostiklabor<br />

bzw. einem Krankenhaus,<br />

– Erwerb von einem korrupten Mitarbeiter aus dem B-Waffenrüstungsprogramm<br />

eines Risikostaats,<br />

– Ausrüstung von Terroristen durch einen staatlichen Sponsor.<br />

Nicht auszuschließen ist auch die Möglichkeit, daß virulente Erregerstämme<br />

oder fertige B-Kampfstoffe aus Rüstungsprogrammen instabiler<br />

oder zerfallener Staaten, die B-Waffenentwicklung betreiben oder betrieben<br />

haben, in die Hände von Terroristen gelangen.<br />

Sofern Terroristen nicht Zugriff auf Erreger oder B-Kampfstoffe aus staatlichen<br />

B-Waffenprogrammen haben, müßten sie eine ganze Reihe schwieriger<br />

wissenschaftlicher und technischer Probleme lösen. Vergleichsweise<br />

einfach ist noch der Erwerb der Kenntnisse, Grundstoffe und Ausstattung<br />

zur Herstellung von Rizin. Schwieriger ist die Beschaffung geeigneter<br />

Krankheitserreger. Mit Ausnahme des Pockenerregers kommen sie zwar in<br />

der Natur vor, d. h. in tierischen Reservoiren oder im Boden (z. B. Milzbrandsporen),<br />

dennoch bliebe es aber schwierig, in den Besitz eines besonders<br />

bösartigen und umweltresistenten Stammes für die Kampfstoffproduktion<br />

zu gelangen.<br />

37 Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 22.11.1990,<br />

Bundesgesetzblatt Teil I, Seite 2506–2519<br />

160


Am schwierigsten ist die Beschaffung der oben genannten Viren und die<br />

Produktion von B-Kampfstoffen auf ihrer Basis. Nur sehr wenige hochqualifizierte<br />

Experten sind imstande, solche Substanzen herzustellen. Doch<br />

auch für die Herstellung von bakteriellen B-Kampfstoffen und Toxinen gibt<br />

es Hürden, die nicht einfach zu nehmen sind. So müßten die Terroristen<br />

geeignete natürliche Reservoire finden oder sich illegal eine andere Bezugsquelle<br />

erschließen. Im letzteren Fall benötigten sie neben entsprechendem<br />

Fachwissen entweder selbst Zugang zur Quelle oder Unterstützung durch<br />

kriminelle Verkäufer, Sympathisanten oder staatliche Sponsoren, die<br />

Zugriff auf eine Stammsammlung haben.<br />

Hätten die Täter all diese Hürden bei der Beschaffung eines geeigneten<br />

Erregers überwunden und die technischen Probleme seiner Massenproduktion<br />

gelöst, so müßten sie entscheiden, ob sie ihn direkt aus dem Fermenter<br />

heraus, also in flüssiger Form verwenden wollen. In diesem Fall müßten sie<br />

eine aus militärischer Sicht geringere, aber für terroristische Zwecke ggf.<br />

durchaus hinreichende Effizienz akzeptieren.<br />

Die Alternative wäre der Versuch, den Kampfstoff zu optimieren, d.h. den<br />

Erreger zu trocknen und zu inhalierbarem Staub zu verarbeiten. Dazu müssen<br />

die Mikroorganismen mit einer Schutzschicht versehen werden, damit<br />

sie – ohne abzusterben – in der Luft schwebend weiträumig vom Wind verbreitet<br />

werden können. Glücklicherweise verlangt das Herstellungsverfahren<br />

hochentwickelte biotechnische und aerobiologische Fähigkeiten, denn<br />

allzu leicht können die Erreger bei der Verarbeitung inaktiviert werden oder<br />

als Aerosol eine mangelhafte Stabilität aufweisen. Bisher sind keine Fälle<br />

bekannt geworden, in denen Terroristen diese Optimierungsstufe erreicht<br />

haben. Andererseits kann ihnen in Abhängigkeit vom Genius nur eines einzelnen<br />

Wissenschaftlers oder Technikers allen Schwierigkeiten zum Trotz<br />

dennoch der Durchbruch gelingen.<br />

2.4 Einsatzmittel für B-Kampfstoffe<br />

Einsatzmittel geben ebenso wie Know-how und logistische Fähigkeiten<br />

potentieller Täter Hinweise für die Risikobewertung. Luftfahrzeuge, insbesondere<br />

Agrarflugzeuge mit Sprühvorrichtungen, Drohnen, Land- und Wasserfahrzeuge,<br />

aber auch einfache Pflanzensprühgeräte und Trinkwasserversorgungssysteme<br />

können von Terroristen zur Verbreitung von B-Kampfstoffen<br />

benutzt werden. Zum Beispiel könnte man Aerosolgeneratoren unter<br />

der Plane eines Pkw-Anhängers verstecken und auf diese Weise an fast<br />

jeden Ort bringen. Niemand würde bemerken, wenn z. B. Milzbrandsporen<br />

in die Ansaugrohre der Klimaanlage eines Einkaufszentrums oder Bürogebäudes<br />

geblasen würden. In der darauffolgenden Nacht würden hunderte<br />

oder tausende Menschen in weitem Umkreis eine schnell voranschreitende,<br />

ungewöhnliche Krankheit aufweisen und binnen Tagen unter den Zeichen<br />

von blutigem Husten, akutem Atem- und Herzversagen versterben. Die<br />

behandelnden Ärzte hätten keine Chance, die gemeinsame Ursache der<br />

161


Erkrankungen rasch genug zu erkennen, um die erforderliche, vielleicht<br />

noch lebensrettende Therapie einzuleiten. Auch die Alarmierung der<br />

Gesundheits- und Sicherheitsbehörden käme nicht zeitgerecht. Die Täter<br />

könnten zu diesem Zeitpunkt längst außer Landes sein. Problematisch wäre<br />

auch eine Trinkwasserverseuchung oder -vergiftung etwa durch Staphylokokken-Enterotoxin<br />

B, das hitzestabil ist und auch durch Abkochen nicht<br />

inaktiviert werden kann.<br />

2.5 Potentielle Täter und Motive<br />

Aus welchen Motiven könnten Terroristen versuchen, sich mit biologischen<br />

Kampfmitteln zu bewaffnen? 38 Aus der bisher bekannt gewordenen geringen<br />

Fallzahl lassen sich allgemeingültige Aussagen oder Prognosen nur<br />

eingeschränkt herleiten.<br />

Zu unterscheiden ist zwischen isoliert agierenden Einzeltätern, Gruppen<br />

und Sekten sowie staatlich unterstützten und gelenkten Terroristen. Daß<br />

Einzeltäter und Gruppierungen auch ohne staatliche Sponsoren imstande<br />

sind, in den Besitz von B-Kampfstoffen zu gelangen oder sie zu produzieren,<br />

ist durch Ereignisse in Japan und den USA belegt. 39,40,41 Diese Terroristen<br />

können primär aus folgenden Motiven nach B-Waffen streben: 42<br />

– die Fähigkeit zum Töten möglichst vieler Menschen erlangen, um „die<br />

Feinde zu vernichten,“<br />

– Angst und Schrecken erzeugen, um ein Regierungssystem zu untergraben,<br />

– eine Position erringen, von der aus mit unerreichbarer Stärke verhandelt<br />

werden kann,<br />

– große soziale und wirtschaftliche Wirkung erzielen.<br />

Am ehesten besteht bei fundamentalistischen Gruppierungen, religiösen<br />

Weltuntergangs-Sekten und Gruppen, die von extremen Einzelzielen besessen<br />

sind, die Gefahr, daß sie versuchen, in den Besitz von B-Waffen zu<br />

gelangen. 43<br />

Weitere Gruppierungen, die Zugang zu B-Waffen bekommen könnten, sind<br />

staatlich unterstützte oder gelenkte Terroristen. Aus der offenen Literatur<br />

38 Zu der Frage, warum B-Waffen im Arsenal von Terroristen bisher nur eine geringe Rolle spielen, vgl. R.<br />

Purver, Understanding Past Non-Use of Chemical and Biological Warfare Agents by Terrorists, Vortrag<br />

während der Tagung zum Thema „ChemBio Terrorism: Wave of the Future?“, die vom Chemical and Biological<br />

Arms Control Institute in Washington, D.C., am 29. April 1996 veranstaltet wurde<br />

39 Vgl. W. S. Carus (Fußnote 29)<br />

40 J. P. O’Neill (FBI), Statement, Hearing on Terrorist Use of Nuclear/Biological/Chemical Agents, Permanent<br />

Subcommittee on Investigations, United States Senate, 1. November 1995<br />

41 Vgl. T. J. Török et al. (Fußnote 20)<br />

42 siehe US Advisory Panel (Fußnote 1), Seite 9 ff<br />

43 siehe US Advisory Panel (Fußnote 1), Seite 9 ff<br />

162


ist bekannt, daß etwa ein Dutzend Länder mikrobiologische <strong>Forschung</strong>sund<br />

Entwicklungsaktivitäten betreiben, die nicht in Einklang mit dem B-<br />

Waffenübereinkommen 44 stehen. Aus ihren Arsenalen könnten Terroristen<br />

B-Waffen erhalten.<br />

Proliferationsrisiken: Vermutete B-Waffenprogramme 45<br />

Länder Carus Harris Guardian McGeorge FIS ACDA Gesamt %<br />

(policy (USG (London) Def & FA 1993 1993<br />

paper) Officials)<br />

Libyen + + + + + 5 83<br />

Nordkorea + + + + + 5 83<br />

Irak + + + + + 5 83<br />

Taiwan + + + + 4 67<br />

Syrien + + + + 4 67<br />

Sowjetunion 46,47 + + + + 4 67<br />

Israel + + + + 4 67<br />

Iran + + + + 4 67<br />

China + + + + 4 67<br />

Ägypten + + + 3 50<br />

Vietnam + 1 17<br />

Laos + 1 17<br />

Kuba + 1 17<br />

Bulgarien + 1 17<br />

Indien + 1 17<br />

Zum Teil ist auch bekannt, an welchen Erregern und Toxinen in „Risikostaaten“<br />

gearbeitet wird. Einige dieser Staaten stehen zusätzlich in Verdacht,<br />

den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Aus der Staatsangehörigkeit<br />

von Terroristen können sich daher Anhaltspunkte ergeben, zu<br />

welchen B-Kampfstoffen sie Zugang haben könnten. Andererseits würden<br />

diese Staaten aber natürlich sogleich in Verdacht geraten, wenn in einem<br />

terroristischen Anschlag ein B-Kampfstoff angewandt würde, der in ihrem<br />

Arsenal vermutet wird. Dies wäre für sie mit einem erheblichen politischen,<br />

wirtschaftlichen und militärischen Risiko verbunden. Daher dürfte die<br />

44 siehe Fußnote 3<br />

45 Zusammenstellung durch das Office of Technology Assessment (OTA) aus verschiedenen Quellen; In: US<br />

Congress, Office of Technology Assessment, Proliferation of Weapons of Mass Destruction: Assessing of<br />

Risks, OTA-ISC-559 (Washington, DC: US Government Printing Office, August 1993)<br />

46 Vgl. R. Preston, The Bioweaponeers, in: The New Yorker, 02.03.98; http://jya.com/bioweap.htm<br />

47 Vgl. Ken Alibek mit Stephen Handelman, Direktorium 15 - Rußlands Geheimpläne für den biologischen<br />

Krieg, Econ Verlag München-Düsseldorf GmbH 1999 (engl. Originaltitel: Biohazard: The Chilling True<br />

Story of the Largest Covert Biological Weapons Program in the World - Told From Inside by the Man<br />

Who Ran It, Random House Inc., New York, May 1999)<br />

163


Hemmschwelle für eine Ausstattung von Terroristen mit B-Kampfstoffen<br />

allgemein relativ hoch sein.<br />

2.6 Nachahmer und Irreführer<br />

Nicht nur „echte“ B-Terroristen können die Öffentlichkeit in Angst und<br />

Schrecken versetzen. Auch andere Personen können allein mit der Drohung,<br />

biologische Kampfstoffe anzuwenden, eine folgenschwere Verunsicherung<br />

auslösen. Die zuständigen Behörden müssen darauf vorbereitet<br />

sein, in solchen Fällen so schnell wie möglich einen echten B-Terroranschlag<br />

auszuschließen. Dennoch darf es bis zum Zeitpunkt der Identifikation<br />

eines Falles als Irreführung kein „Sicherheitsleck“ geben. Hierzu<br />

bedarf es entsprechender Ausbildung und Ausrüstung, fertiger Einsatzpläne<br />

und der Unterstützung durch exzellente mikrobiologische Laborfähigkeiten.<br />

In den Vereinigten Staaten führt das FBI ständig etwa 50 bis 60 Untersuchungen<br />

in Verbindung mit B-Terrorismus durch. 48 Bei der weit<br />

überwiegenden Zahl der Vorfälle handelt es sich um Nachahmungs- und<br />

Irreführungsdelikte.<br />

Einen Eindruck von den möglichen Auswirkungen eines vorgetäuschten B-<br />

Terroranschlags in einer Großstadt vermittelte ein Vorfall, der am Donnerstag,<br />

dem 25. April 1997, in Washington, D.C., nur wenige hundert Meter<br />

vom Weißen Haus entfernt stattfand. In einem Gebäude der jüdischen<br />

B’nai-B’rith-Organisation traf gegen 11.00 Uhr vormittags ein Brief ein,<br />

aus dem eine rote Flüssigkeit herausrann. Er enthielt eine Petrischale und<br />

eine Mitteilung mit den Worten „Amthrax“ (richtige Schreibweise: Anthrax;<br />

Milzbrand) und einigen Angaben zufolge auch „Yersinia“ (Y. pestis ist der<br />

Erreger der Pest). Die beiden Männer, die den Brief geöffnet hatten, klagten<br />

kurz nach Alarmierung der Polizei über Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit.<br />

Das Gebäude mit über 100 Beschäftigten wurde daraufhin unter<br />

Quarantäne gestellt, und die Umgebung – d. h. ein Teil des Zentrums von<br />

Washington – wurde abgesperrt. Vor ihrem Transport in Krankenhäuser<br />

wurden die Opfer dekontaminiert. Dies mußte unter freiem Himmel und<br />

zum Teil bei strömendem Regen improvisiert werden. Es mußte Vorsorge<br />

getroffen werden, daß keine Erreger in die Kanalisation und auf dort lebende<br />

Nager verschleppt würden. Erst gegen 21.00 Uhr wurde von den Behörden<br />

vorläufige Entwarnung gegeben, obwohl die Substanz bis zu diesem<br />

Zeitpunkt noch nicht endgültig identifiziert worden war.<br />

Weitere Beispiele: Einmal mußten 800 Menschen mehrere Stunden lang in<br />

einem Nachtclub unter Quarantäne gestellt werden. In einem anderen Fall<br />

mußten am 24. Dezember 1998 in einem Einkaufszentrum 200 Menschen<br />

48 Nach Angaben von R. Blitzer, Leiter des FBI Domestic Terrorism and Counterterrorism Planning Section,<br />

in ABCNews PrimeTime Live Show, USA, 25 Februar 1998; Für eine schriftliche Aufzeichnung siehe:<br />

http://www.infowar.com/WDM/wmd_030298a_s.html-ssi<br />

164


ihre Kleidung ablegen und sich mit Bleichmittel waschen. 49 Die Klärung<br />

der Frage, ob es sich jeweils um eine echte oder eine leere Drohung handelt,<br />

ist von großer Tragweite und natürlich zeitintensiv und aufwendig.<br />

2.7 Potentielle Anschlagsziele<br />

Schließlich müssen in der Risikobewertung auch potentielle Ziele analysiert<br />

werden. Für terroristische Anschläge eignen sich vor allem Großstädte<br />

(Hauptstädte), Areale von besonderer Bedeutung für Wirtschaft, Verkehr<br />

oder Militär (z. B. Messegelände, Einkaufszentren, Häfen, Flugplätze), Versammlungsstätten<br />

(z. B. Stadthallen, Sportstadien) und künstlich belüftete<br />

Bauten (z. B. Regierungs-, Parlaments- und Gerichtsgebäude und insbesondere<br />

U-Bahnsysteme). 50 Wie Ereignisse aus jüngerer Zeit in den USA<br />

belegen, können auch Einzelpersonen Ziel heimtückischer B-Kampfstoffanschläge<br />

sein. 51 Auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes<br />

kann durch terroristische Anschläge auf Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie<br />

schwer geschädigt werden.<br />

2.8 Gefahren für die Allgemeinheit<br />

Zur Risikobewertung zählt auch die Analyse möglicher Gefahren für die<br />

Allgemeinheit. B-Kampfstoffe haben sehr unterschiedliche Wirkungen.<br />

Erreger und Gifte können tödliche Krankheiten verursachen, die jedoch –<br />

wie im Falle von Lungenmilzbrand oder Botulismus – nicht ansteckend sein<br />

müssen. Aber es gibt auch Beispiele für B-Kampfstoffe, die übertragbare<br />

Krankheiten verursachen und so Epidemien auslösen können. Diese Gefahr<br />

besteht u. a. bei der Lungenpest und bei Pocken.<br />

Im Fall der Pocken wären aufgrund der mittlerweile geringen Durchimpfungsrate<br />

der Bevölkerung in Verbindung mit dem weltweiten schnellen<br />

Reiseverkehr durchaus größere Seuchenzüge mit hoher Letalität zu befürchten,<br />

sofern nicht sofort Quarantänemaßnahmen und Riegelungsimpfungen<br />

erfolgten. Nur wenige Staaten verfügen noch über Pockenimpfstoff;<br />

Deutschland gehört nicht zu ihnen. Obwohl die Pocken für ausgerottet<br />

gehalten werden, ist es nicht auszuschließen, daß Terroristen Zugriff auf<br />

Variolaviren (Erreger der Pocken) erlangen. 52 Bei diesen Hochrisiko-Erregern<br />

besteht das Risiko einer Pandemie nicht nur beim vorsätzlichen<br />

49 Über diese beiden Fälle wurde in The Lancet Bd. 353, 9. Januar 1999, S. 130 berichtet<br />

50 Vgl. ausf. L. A. Cole, Clouds of Secrecy. The Army’s Germ Warfare Tests over Populated Areas, Totowa,<br />

N.J., 1988; ders., The Eleventh Plague. The Politics of Biological and Chemical Warfare, New York 1997<br />

51 R. Purver (Fußnote 17)<br />

52 Vgl. hierzu als offene Literatur R. Preston, The Demon in the Freezer - How smallpox, a disease officially<br />

eradicated years ago, became the biggest bioterrorist threat we now face, The New Yorker, 12.07.99, Seite<br />

44–61; http://cryptome.org/smallpox-wmd.htm<br />

165


Kampfstoffeinsatz, sondern bereits beim unsachgemäßen Umgang oder<br />

einem Unfall mit dem Virus im Labor.<br />

Andere Erreger, z. B. Q-Fieber- und Brucellosebakterien, würden lediglich<br />

eine Massenerkrankung verursachen, die jedoch zumeist gutartig verläuft<br />

und nur vereinzelt – bei Opfern mit geschwächtem Immunsystem – zum<br />

Tod führt.<br />

Eine Expertenkommission der WHO veröffentlichte 1970 Modellrechnungen,<br />

53 denen zufolge bei einem Sprühangriff mit 50 kg Milzbrandsporen<br />

von einem Flugzeug aus in einer Großstadt mit 500.000 Einwohnern bis zu<br />

95.000 Tote und 125.000 Erkrankte zu erwarten wären. Auch wenn die<br />

damals zugrunde gelegten Modelle für heutige Großstädte nicht mehr voll<br />

anwendbar sein mögen, wären die zu erwartenden Verluste von der Größenordnung<br />

her mit denen eines Atombombeneinsatzes vergleichbar.<br />

3. GEGENMASSNAHMEN BEI EINEM<br />

B-TERRORANSCHLAG<br />

3.1 Prävention<br />

Durch kontinuierliche nachrichtendienstliche Beobachtung, Analyse und<br />

Bewertung der Aktivitäten verdächtiger Personen und Organisationen sowie<br />

der militärischen und zivilen Technologieaktivitäten („dual-use“– Problematik)<br />

von „Risikostaaten“ können die Chancen erhöht werden, daß die Absichten<br />

von B-Terroristen rechtzeitig erkannt, konkrete Hinweise für Fahndungen<br />

gegeben und so terroristische Anschläge verhindert werden können.<br />

Eine enge Zusammenarbeit der Nachrichtendienste untereinander und auch<br />

zwischen Nachrichtendiensten und Kriminalpolizei auf internationaler und<br />

nationaler Ebene ist hierzu notwendig. Die Herausforderung besteht darin,<br />

in großen Informationsmengen verborgene Hinweise auf B-terroristische<br />

Aktivitäten zu erkennen. Die dazu erforderliche Fähigkeit muß durch eine<br />

fundierte Ausbildung erworben und durch ständige Fortbildung erhalten<br />

und vertieft werden. Zur abschließenden Bewertung verdächtiger Beobachtungen<br />

und Steuerung gezielter Ermittlungen ist der Sachverstand von B-<br />

Schutzexperten erforderlich. Wie die meisten Länder hat auch Deutschland<br />

jedoch nur wenige entsprechend ausgebildete Experten. Von Ausnahmen<br />

abgesehen gehören sie der Bundeswehr an, stellen aber auch dort nur eine<br />

sehr kleine Gruppe dar. 54<br />

Auf der Ebene der lokalen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehren schafft<br />

ebenfalls eine entsprechende Ausbildung die Voraussetzungen, daß verdächtige<br />

Aktivitäten rechtzeitig erkannt und unterbunden werden können.<br />

53 Health Aspects of Chemical and Biological Weapons, WHO, 1970<br />

54 Vgl. T. Sohns (Fußnote 12), Seite 187 „Schutz der Zivilbevölkerung“ und „Kontinuität und Planungssicherheit“<br />

166


Auch eine Öffentlichkeit, die über die Möglichkeit von B-Terrorismus so<br />

informiert ist, daß sie die damit verbundenen Risiken nüchtern wahrnimmt<br />

und aufmerksam ist, kann sachdienliche Hinweise liefern und so zu einer<br />

rechtzeitigen Aufdeckung von Anschlägen beitragen.<br />

3.2 Einsatzleitung<br />

Für die Bewältigung der Krisensituation, die durch Androhung oder Ausübung<br />

eines B-Terroranschlags entsteht, müssen gesetzlich abgesicherte<br />

Alarmpläne in Kraft sein, die die Einrichtung einer Einsatzleitung von<br />

Anfang an auf höchster Ebene vorsehen. Die Einsatzleitung muß klar definierte<br />

Verantwortlichkeiten und Vollmachten haben. Ihr sollten B-Schutzexperten<br />

direkt zugeordnet sein.<br />

Wegen der möglicherweise sehr weiträumigen Ausbreitung von B-Kampfstoffaerosolen<br />

kann – einer radiologischen Gefahrenlage vergleichbar –<br />

ein unverzüglicher Informationsaustausch und eine Zusammenarbeit mit<br />

benachbarten Bundesländern und Nachbarstaaten erforderlich sein.<br />

3.3 Lagebeurteilung<br />

Bei einem angedrohten oder behaupteten Einsatz von B-Kampfstoffen, der<br />

(noch) nicht zu Erkrankungsfällen geführt hat 55 , muß die Einsatzleitung<br />

rasch klären, ob eine wirkliche Gefahrenlage besteht, oder ob es sich nur um<br />

Irreführung handelt. Die Klärung des Sachverhalts und Entscheidung über<br />

<strong>Folge</strong>maßnahmen ist von großer Tragweite. Menschenleben, materielle<br />

Werte und das Vertrauen der Bürger in ihren Staat hängen davon ab.<br />

Im ungünstigeren Fall werden erst Informationen aus Arztpraxen und Krankenhäusern<br />

die frühesten Hinweise auf einen B-Terroranschlag liefern. Aus<br />

dem Zeitpunkt des Beginns und der Anzahl gleichartiger, synchron verlaufender<br />

Erkrankungen, ihren Leitsymptomen und den Ergebnissen von<br />

Labor-Schnelltests lassen sich vorläufige Rückschlüsse auf die Art des<br />

Kampfstoffs ziehen. Durch Befragung der Patienten über ihren Aufenthaltsort<br />

und ihre Aktivitäten zur Zeit der vermutlichen Exposition können Einsatzort,<br />

-art und Ausbreitungszonen des B-Kampfstoffs näherungsweise<br />

ermittelt werden.<br />

So schnell wie möglich muß festgestellt werden, ob es sich um eine übertragbare<br />

und ggf. lebensbedrohliche Krankheit handelt und welche Gebiete<br />

noch oder bereits kontaminiert bzw. gefährdet sind. Die ansässige Bevölkerung<br />

muß gewarnt und eventuell evakuiert bzw. abgesondert werden. Ggf.<br />

sind Dekontaminationsmaßnahmen erforderlich.<br />

55 Die Inkubationszeit von B-Kampfstofferkrankungen liegt bei Stunden bis Tagen; vgl. T. Sohns et al. (Fußnote<br />

2)<br />

167


3.4 Ausbruchsmanagement<br />

Falls die Freisetzung von Erregern gefährlicher übertragbarer Krankheiten<br />

angedroht wurde oder bereits erfolgt ist, muß die Einsatzleitung ein effektives<br />

Ausbruchsmanagement vorbereiten bzw. durchführen. Dazu zählen die<br />

Planung und Steuerung aller notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung<br />

von Epidemien wie z. B. Austeilung von Antibiotika und Durchführung von<br />

Impfaktionen, Absonderung und Versorgung kampfstoffexponierter Personen<br />

sowie Sicherstellung der Behandlung quarantänisierter Patienten. Von<br />

der Rechtzeitigkeit und Qualität des Ausbruchsmanagements hängt es ab, ob<br />

eine Epidemie eingedämmt und weitere Epidemiewellen verhindert werden<br />

können. In der Einsatzleitung müssen hierzu B-Schutzexperten sowie Vertreter<br />

der Gesundheits-, Sicherheits- und Ordnungsbehörden mitwirken.<br />

3.5 Öffentlichkeitsarbeit, Evakuierung, Verkehrslenkung<br />

Die erforderlichen Maßnahmen unterscheiden sich grundsätzlich nicht von<br />

anderen Gefahrensituationen für die Allgemeinheit, in denen ebenfalls eine<br />

weitere Verschärfung der Lage durch einen Panikausbruch vermieden werden<br />

muß. Um Irritationen auszuschließen, sollte die Unterrichtung der<br />

Öffentlichkeit nur durch die Einsatzleitung erfolgen. Für die Formulierung<br />

dieser Informationen ist der Sachverstand von B-Schutzexperten zu nutzen.<br />

Es ist davon auszugehen, daß wesentliche Teile der Bevölkerung versuchen<br />

werden, gefährdete oder kontaminierte Gebiete rasch zu verlassen.<br />

3.6 Objektschutz<br />

Bei einer nicht näher spezifizierten Androhung eines B-Terroranschlags<br />

muß der Objektschutz auf Belüftungssysteme von Gebäuden, in denen sich<br />

viele Personen aufhalten, sowie U-Bahnen und auf die Infrastruktursysteme<br />

der zentralen Wasserversorgung konzentriert werden.<br />

3.7 Spüren von B-Kampfstoffen<br />

Die schnelle Identifizierung kontaminierter Gefahrenbereiche ist für die<br />

Lagebeurteilung und Festlegung des weiteren Vorgehens von großer Bedeutung.<br />

Zu diesem Zweck müssen Spürtrupps die fraglichen Areale auf<br />

Kampfstoffspuren untersuchen.<br />

Von einer zufriedenstellenden technischen Lösung der Kampstoffdetektion<br />

sind wir noch weit entfernt. Ein tragbares automatisches Spürgerät ist nicht<br />

in Sicht. Spüren und Probennahme erfordern den Einsatz hochqualifizierter<br />

Fachkräfte mit geeigneter Schutzausrüstung. Zudem besteht Bedarf an<br />

Untersuchungseinrichtungen, die in der B-Diagnostik erfahren sind und<br />

über Labors der Biosicherheitsstufe L 3 und ggf. L 4 verfügen. Bis erste<br />

168


verläßliche Resultate vorliegen, können mehrere Stunden oder sogar einige<br />

Tage vergehen.<br />

3.8 Markieren, Absperren und Bewachen von Gefahrenbereichen<br />

Erkannte Gefahrenbereiche müssen unverzüglich entsprechend ausgewiesen<br />

und bis auf weiteres abgesperrt werden. Je weniger wir über den eingesetzten<br />

Kampfstoff wissen, desto umfangreicher müssen die Sicherheitsvorkehrungen<br />

sein. Im schlimmsten Fall besteht nicht nur die Notwendigkeit,<br />

kontaminierte Gebiete abzusperren, sondern auch Quarantänebereiche<br />

einzurichten.<br />

Das zum Markieren, Absperren und Bewachen eingesetzte Personal muß<br />

psychisch stabil, auftragsgerecht ausgebildet und ausgerüstet und mit Einzelschutz<br />

(siehe 3.14 Einzelschutz) ausgestattet sein.<br />

3.9 Dekontamination<br />

Je nach Wetterlage und Stabilität des eingesetzten Kampfstoffes kann die<br />

Inaktivierung Stunden oder – wie im Fall von Milzbrandsporen – Jahrzehnte<br />

dauern. Hiervon ist abhängig, ob und mit welchem Aufwand eine<br />

Dekontamination durchzuführen ist. Vorrangig dekontaminiert werden<br />

müssen gesunde Personen, Verletzte und Kranke, Tiere, Lebensmittel,<br />

Trinkwasser, einsatzwichtiges Gerät und Verkehrswege. Tierkadaver und<br />

nicht dekontaminiertes Material müssen sachgerecht entsorgt werden.<br />

Für die wichtigsten B-Terrorismusszenarien müssen im Rahmen der Notfallvorsorge-Planung<br />

geeignete Dekontaminationsverfahren erarbeitet und<br />

die zur Durchführung erforderlichen Kräfte und Mittel eingeplant werden.<br />

Die Streitkräfte können bei der Dekontamination personelle und materielle<br />

Unterstützung leisten.<br />

3.10 Unterstützungsleistungen der Streitkräfte<br />

Je nach Gefahrenlage und Bedarf kann die Bundesregierung oder eine Landesregierung<br />

die Bundeswehr zur Bewältigung der Situation heranziehen.<br />

Die Bundeswehr hält für solche Situationen derzeit jedoch keine besonderen<br />

Kräfte und Mittel bereit. Dennoch sollte das Zusammenwirken ziviler<br />

und militärischer Stellen geübt und praktiziert werden.<br />

3.11 Technische Warnsysteme<br />

Schützen kann sich nur, wer rechtzeitig gewarnt wird. Hierzu werden automatische<br />

Warngeräte benötigt. Leider verfügt die Bundeswehr wie die<br />

Streitkräfte der meisten Länder noch nicht über derartige Geräte. Seit den<br />

169


Enthüllungen über das irakische B-Waffenprogramm arbeiten die Streitkräfte<br />

verschiedener Länder mit Hochdruck an Warngeräten zur automatischen<br />

Detektion von B-Kampfstoffaerosolen. Während das geforderte<br />

Fernortungsgerät auf Laserbasis mit einer Reichweite von ca. 30 km auch in<br />

den kommenden Jahren noch nicht realisierbar sein wird, hat die US-Army<br />

1996 ein Warngerät eingeführt, das permanent Luft ansaugt und sie auf<br />

ihren Gehalt an biologischen Partikeln untersucht. 56,57 Das System heißt<br />

Biological Integrated Detection System (BIDS) und ist so komplex, daß es<br />

auf einem Kleinlastwagen mit Einachsanhänger montiert werden muß. Das<br />

BIDS der ersten Entwicklungsstufe muß von hochqualifizierten Spezialisten<br />

des US Army Chemical Corps bedient werden. Eine Adaption an die<br />

konzeptionellen Rahmenbedingungen von Streitkräften anderer Länder<br />

könnte Schwierigkeiten mit sich bringen. Daher werden die meisten Länder<br />

noch so lange auf US-amerikanische Unterstützung bei der B-Detektion<br />

angewiesen bleiben, bis ihre eigenen Streitkräfte ein entsprechendes System<br />

aus eigener Entwicklung einführen können.<br />

Wir müssen also derzeit hinnehmen, daß wir einen B-Angriff vermutlich<br />

nicht bemerken würden. Erst das plötzliche Auftreten ungewöhnlicher<br />

Massenerkrankungen wäre ein erster konkreter Hinweis.<br />

3.12 Nachweis eines B-Kampfstoffeinsatzes<br />

Bei Auftreten ungewöhnlicher Erkrankungen und Todesfälle sind vor dem<br />

Hintergrund eines B-Terrorismus-Szenarios vor allem zwei Fragen zu<br />

klären: Erstens muß so schnell wie möglich eine Identifizierung des Erregers<br />

oder Toxins erfolgen, damit gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen<br />

werden können. Zweitens muß festgestellt werden, ob die aufgetretenen<br />

Erkrankungen und Todesfälle durch einen B-Kampfstoff hervorgerufen wurden<br />

oder ob ihnen eine natürliche Ursache zugrunde liegt. Auch wenn sich<br />

jemand für einen B-Kampfstoffeinsatz verantwortlich erklärt, entbindet dies<br />

die Staatsorgane nicht von der Notwendigkeit einer kritischen Prüfung und<br />

eindeutigen Beweisführung. Die Fähigkeit zur Aufklärung der Ursachen ist<br />

für die Lagebeurteilung und Entscheidungen über das weitere Vorgehen<br />

von ausschlaggebender Bedeutung. Gegebenenfalls wird das Nachweisergebnis<br />

zur Begründung weitreichender politischer oder sogar militärischer<br />

Maßnahmen herangezogen.<br />

Zur Klärung des Sachverhalts ist das Zusammenwirken von Fachleuten insbesondere<br />

aus den Bereichen B-Schutz, Gesundheitswesen, Polizei und<br />

Nachrichtendiensten notwendig. Erste wichtige Indizien für einen Kampfstoffeinsatz<br />

können nach einigen Stunden aus den Krankenhäusern kommen,<br />

wenn die Ärzte dort plötzlich mit großen Zahlen von Patienten kon-<br />

56 Vgl. Biowar, Are We Ready? in: International Defense, März 1995<br />

57 Jane’s Defense Weekly, 3. Juni 1995, S. 24<br />

170


frontiert werden, die alle das gleiche Stadium einer ungewöhnlichen Krankheit<br />

aufweisen. Weitere wesentliche Beiträge zum Nachweis werden später<br />

– nach Tagen oder unter Umständen sogar erst mit monatelanger Verzögerung58<br />

– aus in- und ausländischen Speziallabors kommen, in denen eine<br />

Identifizierung und Differenzierung des Erregers oder des Toxins durchgeführt<br />

wurde. Nachteilig kann sich hier auswirken, daß in Westeuropa für die<br />

Schnelldiagnostik, Identifizierung und Serodiagnostik von z.B. Pest-, Milzbrand-,<br />

Rotz-, Pocken- und Marburgfiebererregern keine validierten Diagnostika<br />

kommerziell verfügbar sind. Solche Diagnostika werden derzeit<br />

lediglich von einigen Untersuchern in Kleinstmengen für den Eigenbedarf<br />

hergestellt.<br />

Zu untersuchen sind Luft-, Wasser-, Boden- und andere Materialproben,<br />

menschliches und tierisches Untersuchungsmaterial einschließlich Leichen,<br />

Tierkörper, Schädlinge und Vektoren. Probennahme und -auswertung erfordern<br />

eine spezielle Ausbildung, Ausrüstung und Infrastruktur (vgl. 3.7<br />

Spüren von B-Kampfstoffen).<br />

Von besonderer Beweiskraft für einen Kampfstoffeinsatz kann der Nachweis<br />

eines Erregerstammes sein, der in der betroffenen Region bisher nicht<br />

aufgetreten oder gentechnisch verändert ist.<br />

3.13 Medizinische Versorgung<br />

Die erfolgreiche Identifizierung und Differenzierung eines Erregers oder<br />

Toxins ist Voraussetzung für eine gezielte Therapie, sofern eine solche überhaupt<br />

möglich ist. Leider müssen wir annehmen, daß die Krankheitsursache<br />

zunächst unbekannt und daher nur eine symptomatische Behandlung möglich<br />

ist. Bei Infektionskrankheiten unbekannter Ursache kommen in erster<br />

Linie Breitbandantibiotika in hoher Dosierung in Betracht. Durch die<br />

gleichzeitig auftretende große Anzahl schwerer Verlaufsformen und den<br />

resultierenden Arzneimittelbedarf wird es bald zu logistischen und infrastrukturellen<br />

Engpässen kommen. Verstärkt werden dürften diese noch<br />

durch die Notwendigkeit von Schutz- und Absonderungsmaßnahmen zur<br />

Verhinderung von Sekundärepidemien, durch Ausfälle beim medizinischen<br />

Personal sowie gegebenenfalls durch panikbedingte Transportprobleme.<br />

Gegen einige der B-relevanten Erreger ist eine Prophylaxe in Form von<br />

Impfungen, Antisera- oder Antibiotikagabe grundsätzlich möglich und<br />

gegebenenfalls zur Verhinderung einer Ausbreitung von Seuchen auch<br />

erforderlich, insbesondere bei den Pocken. Die rechtzeitige Verfügbarkeit<br />

ausreichender Mengen dieser Arzneimittel ist derzeit aber nicht sichergestellt.<br />

58 Vgl. zu den Problemen ausf. Nilesh Parmar, It Was the Plague, Or Was It?, in: India Today, 30.11.1994<br />

171


3.14 Einzelschutz<br />

Die Einzelschutzausstattung besteht aus einer ABC-Schutzmaske und<br />

Schutzbekleidung mit Handschuhen. Einzelschutz ist erforderlich für alle<br />

Kräfte, die in potentiell kontaminierten Zonen eingesetzt werden. Die Bundeswehr<br />

verfügt wie die Streitkräfte vieler anderer Länder über große<br />

Bestände an Einzelschutzausstattung, mit der alle Soldaten ausgestattet<br />

sind. Durch diesen Schutz können sie einen Angriff mit B-Waffen ohne<br />

Gesundheitsstörungen überstehen. Mit Einschränkungen sind Einsätze in<br />

kontaminiertem Gebiet für mehrere Stunden möglich. Auch zivile Kräfte<br />

sind teilweise mit ähnlichen Schutzsystemen ausgestattet.<br />

Für spezielle Aufgaben wie die Dekontamination von Patienten, ihren<br />

Abtransport und ihre weitere medizinische Versorgung sind besondere Einzelschutzausstattungen<br />

erforderlich.<br />

3.15 Sammelschutz<br />

Sammelschutz dient in erster Linie dazu, in kontaminierter Umgebung die<br />

Möglichkeit zur Erholung des Personals oder für Tätigkeiten zu schaffen,<br />

die ein sauberes Milieu erfordern. In einer Einrichtung mit Sammelschutz<br />

können sich mehrere Personen ohne Maske und Schutzbekleidung aufhalten.<br />

Von Interesse kann möglicherweise der „ABC-Sammelschutz, Gruppe,<br />

tragbar“ sein, über den die Bundeswehr verfügt und der leicht zu transportieren<br />

und zu handhaben ist. Er besteht aus einer mit gefilterter Luft aufblasbaren<br />

Hülle von der Größe eines kleinen Zimmers und ist für den<br />

Gebrauch in festen Unterkünften vorgesehen.<br />

3.16 Bestattung der Opfer<br />

Im Fall einer Massenerkrankung oder -vergiftung in einer Großstadt muß<br />

die Kapazität zur Bestattung von täglich mehreren tausend Verstorbenen<br />

geschaffen werden. Notfallvorsorgepläne müssen vorhanden sein, die die<br />

erforderlichen antiepidemischen Sicherheitsvorkehrungen ausweisen.<br />

4. BEWERTUNG DER SITUATION<br />

Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen – so auch B-Terrorismus –<br />

besitzt zwar eine wesentlich geringere Eintrittswahrscheinlichkeit als Terrorismus<br />

mit konventionellen Waffen, er stellt aber eine reale Gefahr dar,<br />

auf die Deutschland ungenügend vorbereitet ist.<br />

Die Rajneeshi-Sekte und die Aum-Shinrikyo-Sekte haben, indem sie B-<br />

Kampfstoffe tatsächlich einsetzten, ein Tabu gebrochen. Daß durch ihre<br />

172


Anschläge keine Menschen zu Tode kamen, mindert ihre Bedeutung als<br />

Präzedenzfälle nicht. Terroristische Zielsetzungen wie das Schaffen einer<br />

Atmosphäre von Furcht und Verunsicherung, lassen sich auch mit mäßig<br />

wirksamen Kampfstoffen erreichen. Eindrucksvoll wird dies durch den<br />

Anschlag der Aum-Shinrikyo am 20. März 1995 mit dem chemischen<br />

Kampfstoff Sarin belegt. Obwohl die theoretische Wirksamkeit von Sarin<br />

bei weitem nicht erreicht wurde und nur 12 Menschen umkamen, erschütterte<br />

dieser Anschlag zutiefst das Bewußtsein des japanischen Volkes, das<br />

bis dahin geglaubt hatte, in einem der sichersten Staaten der Welt zu leben.<br />

Auch trug dieser Anschlag wesentlich dazu bei, daß die USA ihre Ausgaben<br />

für Counterterrorism Programs dramatisch gesteigert haben (1996: 5,7 Mrd<br />

$; 2000: 10 Mrd $ 59,60 ).<br />

Die <strong>Folge</strong>n von B-Terrorismus können im umgekehrten Verhältnis zur Eintrittswahrscheinlichkeit<br />

stehen. Ohne die Prävention zu vernachlässigen,<br />

muß daher die B-Schutzfähigkeit der zivilen Behörden und Einsatzkräfte<br />

für den Fall verbessert werden, daß es zu einem Anschlag kommt.<br />

Die Vulnerabilität unserer hoch zivilisierten und technisierten Welt durch B-<br />

Terrorismus ist groß. Hier bestehen eindeutige konzeptionelle und finanzielle<br />

Defizite. Es gibt jedoch eine Vielzahl sinnvoller und hochwirksamer<br />

Gegenmaßnahmen, für die die entsprechenden Kräfte und Mittel bereitgestellt<br />

werden müssen.<br />

Aus dem Umgang von Terroristen mit Erregern gemeingefährlicher übertragbarer<br />

Krankheiten können Gefahren für Deutschland auch dann hervorgehen,<br />

wenn die Aktivitäten der Täter auf der anderen Seite der Erde stattfinden.<br />

Insbesondere beim Variolavirus, dem Erreger der Pocken, besteht<br />

das Risiko einer Pandemie nicht nur beim vorsätzlichen Kampfstoffeinsatz,<br />

sondern bereits beim unsachgemäßen Umgang oder einem Unfall mit dem<br />

Virus im Labor. Obwohl die Pocken für ausgerottet gehalten werden, ist es<br />

nicht auszuschließen, daß Terroristen Zugriff auf Variolaviren erlangen. 61<br />

Aufgrund der mittlerweile geringen Durchimpfungsrate der Bevölkerung<br />

und des weltweiten schnellen Reiseverkehrs wären im Fall der Pocken<br />

durchaus größere Seuchenzüge mit hoher Letalität zu befürchten, sofern<br />

nicht sofort Quarantänemaßnahmen und Riegelungsimpfungen erfolgen.<br />

Deutschland besitzt jedoch keinen Pockenimpfstoff mehr.<br />

Eine wesentliche Lehre aus den wenigen echten und vielen vorgetäuschten B-<br />

Terrorismusereignissen in den USA ist, daß der Staat fähig sein muß, einen<br />

echten Anschlag rasch auszuschließen und zu entwarnen bzw. gezielte<br />

Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Verunsicherung der Bevölkerung nimmt<br />

59 Quelle: US Advisory Panel (siehe Fußnote 1), Seite 2<br />

60 Zum Vergleich: 10 Mrd $ entsprechen fast der Hälfte des deutschen Verteidigungsetats 2000 (45,3 Mrd<br />

DM)<br />

61 Vgl. R. Preston (Fußnote 52)<br />

173


apide zu, wenn sie bemerkt, daß die staatlichen Organe nicht urteilssicher<br />

und handlungsfähig sind.<br />

Die Analysen und Feststellungen des US Advisory Panel to Assess Domestic<br />

Response Capabilities for Terrorism Involving Weapons of Mass Destruction62<br />

sind grundsätzlich auch für Deutschland von großem Wert. Ein entsprechendes<br />

Ressort-übergreifendes deutsches Gremium sollte untersuchen,<br />

welche der amerikanischen Feststellungen auf Deutschland übertragbar sind<br />

und welche ggf. durch eigene Analysen und Feststellungen ergänzt werden<br />

müssen.<br />

5. VORSCHLÄGE FÜR EIN ANTI-B-TERRORISMUS-<br />

KONZEPT<br />

5.1 Prävention<br />

Mit politischen Mitteln muß zunächst versucht werden, die Ursachen des<br />

Terrorismus zu beseitigen, die Entwicklung, Herstellung und Lagerung von<br />

B-Waffen zu unterbinden und die Proliferation von B-Waffentechnologie<br />

durch Nichtverbreitungs- und Exportkontrollregimes einzudämmen. Fortschritte<br />

könnten durch eine substanzielle Verstärkung des B-Waffenübereinkommens<br />

erzielt werden. Die Nachrichtendienste befreundeter Nationen<br />

müssen bei der weltweiten Verfolgung von verdächtigem Personal und<br />

Material kooperieren. Routinemäßig sollte auch die Untergrundliteratur, 63<br />

sowohl auf Papier als auch im Internet, ausgewertet und nach ihren Autoren<br />

gefahndet werden.<br />

Im Zusammenwirken mit befreundeten Nationen müssen wir die russische<br />

Regierung bei der Konversion der ehemaligen sowjetischen militärischen<br />

B-<strong>Forschung</strong>seinrichtungen unterstützen, deren Mitarbeiter nach Ausbleiben<br />

der Mittel aus dem russischen Verteidigungshaushalt teilweise in<br />

schwierige Situationen geraten sind. Aus der Notlage von Wissenschaftlern<br />

können erhebliche Proliferationsrisiken mit unabsehbaren Konsequenzen<br />

erwachsen. 64,65<br />

Der Zugang zu potentiellen B-Waffenbestandteilen muß auf internationaler<br />

und nationaler Ebene erschwert werden: Erstens kann der Mißbrauch von<br />

biologischen Substanzen und „dual-use“-Geräten durch Exportkontrollmaßnahmen<br />

eingedämmt werden. Solche Materialien und Geräte sollten<br />

nur an Länder geliefert werden, die die Bedingungen des B-Waffenübereinkommens<br />

erfüllen. Zweitens sollten nationale Behörden, die Umgangs-<br />

62 siehe Fußnote 1<br />

63 Vgl. J. Heepe (Fußnote 14)<br />

64 Vgl. R. Preston (Fußnote 46)<br />

65 J. Matloff, Danger from Russia’s Scientists: Selling Weapons Know-How, in: The Christian Science<br />

Monitor, 13.02.98; http://www.csmonitor.com/durable/1998/02/13/intl/intl.4.html<br />

174


oder Exportgenehmigungen für gefährliche Erreger erteilen oder den<br />

Betrieb von Sicherheitslabors genehmigen, Schulungsangebote und regelmäßige<br />

Informationen über militärische und „dual-use“-Technologieaktivitäten<br />

von Risikostaaten und aufgedeckte Fälle von B-Terrorismus erhalten.<br />

Dies gilt auch für Zoll- und Polizeibehörden sowie Industrieverbände<br />

und wissenschaftliche Institute.<br />

Schließlich könnte die Präventivarbeit durch spezielle Ausbildungsprogramme<br />

für Mitarbeiter der Nachrichtendienste und der Kriminalpolizei<br />

verbessert werden. Sie sollten noch enger mit den B-Schutzexperten der<br />

Bundeswehr zusammenarbeiten.<br />

5.2 Schadensbegrenzung<br />

Da auch mit den zuletzt beschriebenen Maßnahmen die Risiken lediglich<br />

verringert, aber nicht ausgeschlossen werden können, müssen zivile Behörden<br />

und die Streitkräfte auf die Gefahrenabwehr im Falle einer Androhung<br />

oder eines Einsatzes von B-Kampfmitteln vor terroristischem Hintergrund<br />

vorbereitet sein. Die Bundeswehr sollte mit der Durchführung eines Ausbildungsprogramms<br />

für Mitarbeiter der Polizei und Feuerwehr und für<br />

Führungspersonal der Strafverfolgungsbehörden, des Gesundheitswesens<br />

sowie von staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen (z. B. Rotes<br />

Kreuz) beauftragt werden. Hierzu müssen jedoch die notwendigen Ressourcen<br />

bereitgestellt werden.<br />

Studien sollten mit dem Ziel in Auftrag gegeben werden, mögliche B-Terrorismusszenarien<br />

zu analysieren, besonders gefährdete Einrichtungen in<br />

Deutschland zu ermitteln und Ansätze zur Prävention und Bewältigung von<br />

B-Terroranschlägen zu bestimmen.<br />

Die Streitkräfte sollten solche Studien durch den Sachverstand ihrer B-<br />

Schutzexperten und ihre im Rahmen von Studien und Übungen gesammelten<br />

Erfahrungen unterstützen. Zudem entwickelt die Bundeswehr mit Hilfe<br />

von anderen Ländern – vor allem den USA – ein computergestütztes Expertensystem66<br />

für den Medizinischen B-Schutz. 67 Dies könnte für den zivilen<br />

Bedarf weiterentwickelt und verfügbar gemacht werden.<br />

Für die Bewältigung von B-Gefahrenlagen muß ein sinnvolles Zusammenwirken<br />

aller Staatsorgane und ihrer Einsatzmittel sichergestellt werden.<br />

Hierzu müssen sich zivile und militärische Stellen gegenseitig über ihre<br />

66 Das NBC Medical Planning System (NBCMedPlanS) ist ein computergestütztes Expertensystem für die<br />

sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung unter ABC-Bedingungen. NBCMedPlanS errechnet für nutzerdefinierte<br />

Szenarien die Anzahl, Art und Schwere der Erkrankungen (Inzidenzmodul von NBCMedPlanS)<br />

sowie die zur Versorgung der Patienten erforderlichen Kräfte und Mittel des Gesundheitswesens (Ressourcenmodul)<br />

67 Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit B-Kampfstoffexponierter; medizinische Beiträge zum<br />

Nachweis von B-Kampfstoffeinsätzen<br />

175


Leistungsfähigkeit informiert halten. Das Zusammenwirken ziviler und<br />

militärischer Kräfte muß gemeinsam geplant, gelehrt und geübt werden.<br />

Ein Konsens für eine Impfpolitik für den Fall einer terroristischen B-Bedrohung<br />

in Deutschland muß gefunden werden. Da gemeingefährliche übertragbare<br />

Krankheiten sich schnell weltweit ausbreiten können, sollte ergänzend<br />

auch ein Übereinkommen im internationalen Rahmen angestrebt<br />

werden. Das Ziel sollte sein, die rechtzeitige Verfügbarkeit arzneimittelrechtlich<br />

zugelassener Impfstoffe in ausreichenden Mengen68 sicherzustellen<br />

und eine gemeinsame Impfpolitik zu vereinbaren.<br />

Viele mit B-Terrorismus und Impfungen assoziierte Probleme sind durchaus<br />

lösbar. Ein möglicher Ansatz wäre die Impfung spezieller Einsatzkräfte in<br />

Verbindung mit einer Impfstoffvorratshaltung auf supranationaler Ebene,<br />

z.B. auf EU-Ebene, für den Katastrophenfall. Außerdem besteht die Aussicht,<br />

daß moderne Impfstoffgenerationen entwickelt werden können, die in<br />

Hinblick auf die Immunogenität noch weitere erhebliche Fortschritte bringen.<br />

Ergänzend zur supranationalen Vorratshaltung von Impfstoffen muß auf<br />

nationaler Basis der schnelle logistische Zugriff auf Desinfektionsmittel,<br />

Diagnostika, Antisera und Antibiotika sichergestellt werden.<br />

Die Regierungen müssen für die spezielle Diagnostik und Therapie gefährlicher<br />

übertragbarer Krankheiten ungeachtet ihrer möglichen Ursache<br />

Grundkapazitäten vorhalten. Gleiches gilt für den Transport hochkontagiöser<br />

Patienten. Während der Pestepidemie in Indien 1994 und der Ebolaepidemie<br />

in Zaire 1995 wurde z. B. in Deutschland auf Seiten des öffentlichen<br />

Gesundheitswesens ein erhebliches Defizit im Management hochkontagiöser<br />

Infektionskrankheiten festgestellt. Der Grundbedarf an Einrichtungen<br />

der Sicherheitsstufen L3 und L4 im Rahmen der Katastrophenvorsorge<br />

muß daher entsprechend dem von der Arbeitsgruppe Seuchenschutz<br />

unter Federführung des RKI erarbeiteten Konzept69 modernisiert und ausgebaut<br />

werden. Die Bundeswehr hat an der Erarbeitung des Konzeptes mitgewirkt.<br />

Auf dem Gebiet des B-Schutzes besteht ferner ein dringlicher <strong>Forschung</strong>sund<br />

Entwicklungsbedarf: Die Ausstattungslücke bei den automatischen<br />

Detektions- und Spürsystemen muß geschlossen, das Spektrum detektierbarer<br />

B-Agenzien erweitert, der dafür notwendige Zeitbedarf verringert und<br />

68 Vgl. hierzu: Steve Sternberg, Bottleneck Keeps Existing Vaccine off the Market, in: Science, Jg. 266 v.<br />

7.10.1994; ferner E. J. Finke et al., List of Vaccines and Immunoglobulins for the Prevention of Health<br />

Disorders by Potential BW-Agents, Sanitätsakademie der Bundeswehr, Bereich Studien und Wissenschaft,<br />

Institut für Mikrobiologie, München, Manuskript zur 3. Med B-Schutz Tagung des BMVg, Oktober<br />

1996<br />

69 R. Fock, A. Wirzt, M. Peters, E.-J. Finke, U. Koch, D. Scholz, M. Niedrig, H. Bußmann, G. Fell, H. Bergmann,<br />

Management und Kontrolle lebensbedrohender hochkontagiöser Infektionskrankheiten. Bundesgesundheitsblatt<br />

Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz, Bd 42 S. 389 ff Springer Verlag Berlin, Heidelberg<br />

1999<br />

176


die Spezifität und Sensitivität der Methoden verbessert werden. Für alle<br />

relevanten B-Kampfstoffe müssen schnell wirksame Prophylaktika, insbesondere<br />

Impfstoffe und therapeutische Konzepte, gefunden werden. Diesem<br />

Bedarf stehen in Deutschland vollkommen unzureichende personelle und<br />

finanzielle Ressourcen gegenüber.<br />

Viele sinnvolle Maßnahmen erfordern jedoch nur einen geringen Aufwand.<br />

Zum Beispiel könnten bei entsprechender Sachkenntnis elementare Erfordernisse<br />

des B-Schutzes durch Baubehörden und Architekten bei der Planung<br />

von Bauvorhaben oder durch Geschäftsleute und Wissenschaftler bei<br />

der Weitergabe potentiell gefährlicher technischer Geräte, Krankheitserreger<br />

und Kenntnisse an Dritte weitgehend kostenneutral umgesetzt<br />

werden.<br />

Über die Gefahren von B-Waffen und ihrer Weiterverbreitung wird in<br />

Deutschland zu wenig geschrieben und gesprochen. Eine angemessene,<br />

nüchterne Risikoperzeption fehlt daher sowohl in der Öffentlichkeit und den<br />

Medien als auch bei den politischen und behördlichen Entscheidungsträgern.<br />

70 Entsprechend gering ist die Unterstützung für Bemühungen um die<br />

Verbesserung des B-Schutzes, die natürlich nicht zum Nulltarif zu haben ist.<br />

Verhängnisvoll an dieser Situation ist, daß die Uninformiertheit von Öffentlichkeit<br />

und Entscheidungsträgern einseitig besteht. Ernsthaft interessierten<br />

Terroristen dagegen sind nicht kontrollierbare Informationen über B-<br />

Kampfstoffe in „schwarzen Kochbüchern“ der Untergrundliteratur und im<br />

Internet zugänglich. 71 Das Argument, durch die Thematisierung der Gefahren<br />

von B-Terrorismus würden entsprechende Aspiranten erst auf Ideen<br />

gebracht, ist nicht (mehr?) richtig.<br />

Durch eine offene und sachliche Informationspolitik über die Gefahren von<br />

B-Waffen und ihrer Weiterverbreitung sowie über die Finanzierung entsprechender<br />

Schutzprogramme ließen sich schon bald deutliche Verbesserungen<br />

erreichen.<br />

70 Vgl. J. D. Douglas jr., Weapons of Mass Destruction – A Biological Weapons Threat Worse Than Saddam,<br />

10.03.98; http://www.infowar.com/WMD/wmd_032698a_j.html-ssi<br />

71 Vgl. J. Heepe (Fußnote 14)<br />

177


178


<strong>Neue</strong>s Konzept zur Zivilverteidigung in Israel<br />

H. Reichenbach<br />

1. Einleitung<br />

Wenn ich über das neue Konzept zur Zivilverteidigung in Israel berichte, so<br />

möchte ich zunächst die Quellen nennen, aus denen ich meine Kenntnisse<br />

zum Thema schöpfte. Im wesentlichen stütze ich mich auf Informationen,<br />

die anläßlich eines Symposiums in Israel im Oktober 1996 vermittelt wurden.<br />

Außerdem konnte ich im Anschluß an jene Tagung an einem Versuch<br />

auf dem Testgelände des Home Front Command teilnehmen – der für Zivilverteidigung<br />

zuständigen israelischen Dienststelle. Bei diesem Versuch<br />

wurde ein 5-geschossiges Wohngebäude der Wirkung einer derart gewählten<br />

Sprengstoffdetonation ausgesetzt, daß zwar keine strukturellen, wohl<br />

aber erhebliche Schäden an einzelnen Wandelementen eintraten.<br />

Zunächst möchte ich der <strong>Schutzkommission</strong> – besonders der Geschäftsführung<br />

– dafür danken, daß ich das<br />

Specialty Symposium on Structures Response<br />

to Impact and Blast<br />

vom 6.–10. Oktober 1996 in Tel Aviv, Israel,<br />

besuchen konnte. Dank gebührt aber auch dem Veranstalter, besonders Prof.<br />

D. Yankelevsky, der mich als Keynote-Speaker eingeladen hatte, sowie<br />

Oberst Sofrin vom Home Front Command, der mir einige Kopien seiner<br />

Viewgraphs zur Verfügung stellte. Zudem hatte ich Gelegenheit in den USA<br />

an dem<br />

8th International Symposium on Interaction of the<br />

Effects of Munition with Structures<br />

vom 21–25 April 1997 in McLean, Virginia,<br />

teilzunehmen, bei dem eine besondere Sitzung den Ergebnissen der vom<br />

Home Front Command durchgeführten Experimente gewidmet war.<br />

2. Zielsetzung der Tagung<br />

Erklärtes Ziel der wissenschaftlichen Tagung in Israel, an der etwa<br />

120 Wissenschaftler teilnahmen und 64 Vorträge gehalten wurden, war es,<br />

in einem international besetzten Gremium über folgende Problemfelder zu<br />

diskutieren:<br />

179


Impakteinwirkungen<br />

Blastbelastung<br />

Erdstoß<br />

Wechselwirkung Boden/Bauwerk<br />

Unterirdische Bauwerke<br />

Materialverhalten bei dynamischer Beanspruchung<br />

Zerstörungsmechanismen<br />

Verhalten urbaner Strukturen gegenüber Blast<br />

Wiederinstandsetzung von Gebäuden<br />

Erprobung von Bauweisen<br />

Meßtechnik<br />

Hier und heute möchte ich aber darauf gar nicht weiter eingehen. Viel interessanter<br />

war – wie sich nämlich erst vor Ort herausstellte – daß die erwähnte<br />

Tagung von den Veranstaltern als willkommene Gelegenheit benutzt<br />

wurde, das neue Konzept der israelischen Zivilverteidigung vorzustellen<br />

und die Neuorientierung der Schutzdoktrin als <strong>Folge</strong> der veränderten<br />

Bedrohung durch die angrenzenden arabischen Staaten zu begründen. Darüber<br />

möchte ich berichten.<br />

3. Bedrohungsanalyse<br />

Ein schlüssiges Konzept jeglicher Zivilverteidigung muß sich selbstverständlich<br />

an der real vorhandenen Bedrohung orientieren. Schon bei der<br />

Grußadresse zur Tagungseröffnung hob das Knesseth-Mitglied, Dr. Sneh,<br />

– ein ehemaliger Armeegeneral und im vorherigen Kabinett Gesundheitsminister<br />

– hervor, daß die israelische Bevölkerung im höchsten Maße<br />

gefährdet sei und nannte folgende Gründe für die enorme Verwundbarkeit<br />

Israels:<br />

– Extrem hohe und rasch wachsende Bevölkerungsdichte in einem schmalen<br />

und langen Streifen an der Mittelmeerküste, etwa zwischen Haifa und<br />

Ascalon.<br />

– Konzentration der Wirtschaft und der Finanzwelt in den Städten Haifa<br />

und Tel Aviv.<br />

– Feindlich gesinntes Umfeld,<br />

– das mit modernen Waffen, u. a. mit weitreichenden Waffenträgern, d. h.<br />

Raketen ausgerüstet ist oder bald sein wird,<br />

– das durch seine Waffensysteme jeden Punkt Israels in kürzester Zeit aus<br />

verschiedenen geographischen Richtungen erreichen kann,<br />

– das in Israel Warnzeiten von nur noch etwa 3 Minuten erlaubt.<br />

180


4. <strong>Zivilschutz</strong>relevante <strong>Folge</strong>rungen<br />

Welche <strong>Folge</strong>rungen ergeben sich aufgrund dieser Bedrohungsanalyse für<br />

die Zivilverteidigung?<br />

Zunächst ist festzustellen, daß in Israel militärische und zivile Verteidigung<br />

keine Gegensätze sind, sondern beide die gemeinsame Aufgabe haben, der<br />

Bevölkerung in jeglicher Situation ein Überleben zu gewährleisten. Daher<br />

ist es nur folgerichtig, daß der <strong>Zivilschutz</strong>, als wesentlicher Teil der Gesamtverteidigung,<br />

dem Verteidigungsminister unterstellt ist – wie übrigens in<br />

den meisten Ländern.<br />

Da sich die Verteidigungsdoktrin der jeweils vorhandenen Bedrohung anzupassen<br />

hat, bleibt nicht aus, daß sie sich im Laufe der Jahre erheblich verändert<br />

hat. Dazu ein kurzer Rückblick.<br />

Genügte in den Anfangsjahren des Staates Israel eine bodengestützte Armee,<br />

die das Eindringen fremder Truppen verhindern und aus dem Stand eine<br />

Gegenoffensive starten konnte, war später, als der Gegner über Angriffsflugzeuge<br />

verfügte, der massive Aufbau eigener Luftstreitkräfte erforderlich.<br />

Israels Ziel war dabei stets, Kampfhandlungen vom eigenen Land fernzuhalten<br />

und in das Gebiet des Gegners zu verlagern. Ursprünglich hatte<br />

Israel eine lange Küstenlinie entlang des Mittelmeers aber eine Landbreite an<br />

der engsten Stelle von nur etwa 16 km. Aus israelischer Sicht war es daher<br />

aus nationalem Sicherheitsinteresse unabdingbar notwendig, Pufferzonen zu<br />

errichten, z.B. durch Besetzung der Westbanks und der Golanhöhen.<br />

Heute, das bedeutet seit Ende des Golfkrieges, ist durch die Aufrüstung arabischer<br />

Staaten mit weitreichenden Raketenwaffen eine völlig neue Lage<br />

entstanden. Diese kann durch die Luftstreitkräfte nicht mehr beherrscht<br />

werden. Dazu sind allenfalls nur noch Antiraketenwaffen in der Lage. Man<br />

bräuchte dafür allerdings eine außerordentlich große Anzahl, was unrealistisch<br />

hohe Kosten verursachen würde.<br />

Neben der kurzen Warnzeit bereitet besondere Sorgen die Fähigkeit des<br />

Irans zum Bau atomarer und anderer Sprengköpfe, sowie die Unterstützung<br />

durch Nordkorea bezüglich weitreichender Waffenträger. Reichweiten von<br />

7 000 km wurden genannt, die ausreichen würden, um Mitteleuropa aus<br />

Ländern zu erreichen, die Israel als seine Gegner betrachtet. (Im übrigen<br />

wurde diese Einschätzung auch durch Hansjörg Geiger, dem Leiter des<br />

BND, in einer Sendung der ARD, „Bonn direkt“, am 2. Februar 1997<br />

bestätigt mit einer Zeitschätzung für die Realisierung von etwa 10 Jahren.<br />

Diese Zeitangabe, z.T. sogar noch kürzer, war auch in Israel zu hören).<br />

Die Doktrin, kriegerische Ereignisse vom eigenen Lande fernzuhalten und<br />

in das Gebiet des Gegners zu verlegen ist nicht mehr haltbar. Vielmehr ist<br />

davon auszugehen, daß Ziele im eigenen Land angegriffen werden, daß<br />

damit das eigene Land zum Kriegsschauplatz wird. Der Zivilverteidigung,<br />

d.h. dem Schutz der Bevölkerung vor Ort kommt daher künftig prioritäre<br />

Bedeutung zu.<br />

181


Waren ursprünglich die Aufwendungen für den unmittelbaren, passiven<br />

Schutz der Bevölkerung recht bescheiden, da man die Doktrin der Vorwärtsverteidigung<br />

hatte und die finanziellen Ressourcen bevorzugt für eine<br />

starke Land- und Luftverteidigung benötigte, ist nunmehr ein drastisches<br />

Umdenken erforderlich. Die heutige Lage gebietet es, für die Zivilverteidigung<br />

zunehmend steigende Mittel bereitzustellen und zwar auf Kosten der<br />

militärischen. Diese Mittel werden vorzugsweise für bauliche Schutz- und<br />

Verstärkungsmaßnahmen eingesetzt.<br />

Der Golfkrieg machte auch noch eine andere Schwachstelle im bisherigen<br />

Schutzkonzept deutlich. Die Hilfs-, Rettungs-, Schutz- und Versorgungsdienste<br />

arbeiteten völlig unkoordiniert. Kompetenzprobleme im Katastrophen-Management<br />

traten in erschreckender Weise zutage. (Hatten wir in<br />

Deutschland vor Jahren nicht auch ähnliche Erfahrungen bei größeren<br />

Katastrophen machen müssen?). Israel hat gehandelt. Um nämlich dieses<br />

Dilemma zu beheben, wurde inzwischen als Teil des neuen Konzepts das<br />

Home Front Command geschaffen, das organisatorisch dem Verteidigungsministerium<br />

untersteht und von einem General befehligt wird. Derzeit<br />

nimmt diese Funktion General Arad wahr, der zuvor Kommandeur der Panzertruppen,<br />

Kommandeur der Luftstreitkräfte und auch schon zuständig für<br />

Ausbildung und Schulung der Streitkräfte war, der also über eine reiche<br />

militärische Erfahrung verfügt. Im Kriegs- und Katastrophenfall sind die an<br />

sich selbständigen Hilfs- und Rettungsdienste unmittelbar dem Home Front<br />

Command unterstellt. Nur dieses allein entscheidet über Art und Einsatz der<br />

jeweils zu treffenden Hilfsmaßnahmen. Dieses Command hat auch die<br />

Aufgabe, die Schutzdoktrin aufgrund der heutigen Bedrohungssituation zu<br />

erarbeiten einschließlich der baulichen Detailmaßnahmen.<br />

5. <strong>Neue</strong>s Schutzkonzept<br />

Um die Änderungen des neuen Schutzkonzepts deutlich zu machen, seien<br />

die Grundsätze und Annahmen der alten Doktrin stichwortartig aufgelistet:<br />

182<br />

Art der Bedrohung ➮ Luftangriffe<br />

Warnzeit ➮ etwa 15 Minuten<br />

Lage der Schutzbunker ➮ in Kellern oder in Gebäudenähe<br />

Schlagwort: CIVILIANS GO DOWN TO THE SHELTERS<br />

Aufenthalt im geschlossenen<br />

Bunker ➮ bis zu 1 Stunde<br />

Ausstattung ➮ Möglichkeiten zur Installation<br />

von Belüftungs- und Filtersystemen<br />

gegen chemische<br />

Angriffe sind vorzusehen.


Im Vergleich zu dem bisherigen, alten Konzept, sei die neue Doktrin und<br />

ihr zugrunde liegende Annahmen in Stichworten genannt:<br />

Art der Bedrohung ➮ Luftangriffe, Boden-Boden<br />

Raketen<br />

Warnzeit ➮ etwa 3 Minuten<br />

Schutzraum ➮ vorgesehen in jeder Wohnung<br />

(protective space) oder jedem Korridor<br />

SCHLAGWORT: THE „PROTECTIVE SPACE“ COMES TO<br />

THE CIVILIANS<br />

Aufenthalt im geschlossenen<br />

schützenden Raum ➮ etwa 3 Stunden<br />

Ausstattung ➮ Möglichkeiten zur Installation<br />

von Lüftungs- und Filtersystemen<br />

gegen chemische<br />

Bedrohung sind vorzusehen,<br />

ebenso Stromanschluß, Notlicht,<br />

TV und Radio.<br />

Überlebensrate ➮ wegen der größeren Zahl der<br />

schützenden Räume und ihrer<br />

räumlichen Verteilung ist die<br />

Überlebensrate die gleiche wie in<br />

den bisherigen höherwertigeren<br />

Schutzbunkern.<br />

Zugänglichkeit ➮ leicht, da der schützende Raum<br />

immer innerhalb des Gebäudes<br />

liegt.<br />

Aufgrund der kurzen Warnzeit ist es der Bevölkerung heute nicht mehr<br />

möglich, Großschutzräume in der Nachbarschaft und auch eigene Kellerräume<br />

in mehrgeschossigen Wohngebäuden rechtzeitig aufzusuchen. Daher<br />

müssen Schutzräume in unmittelbarer Nähe der Arbeits- und Lebensbereiche<br />

der Bevölkerung bereitgestellt werden. (Derartige Gedanken sind<br />

natürlich nicht neu, sie wurden auch früher schon in Deutschland artikuliert.<br />

Ich nenne nur das Stichwort „Überlebensinseln“).<br />

Per Gesetz ist nunmehr in Israel vorgeschrieben, daß jedes Wohnhaus und<br />

jedes Gebäude, das während einer Bedrohung in Nutzung sein könnte (z.B.<br />

Behörden, Schulen, Fabriken) im Innern liegende schützende Räume (protective<br />

space) besitzen muß. Diese Räume sollen Schutz gegen Blast und<br />

Splitter bieten. Wenn auch keineswegs ein Komfortschutz angestrebt wird,<br />

so sollen – aufgrund der klimatischen Bedingungen in Israel – Belüftungseinrichtungen<br />

und möglichst auch Filtersysteme vorhanden sein. Wenn letztere<br />

fehlen, müssen Gasmasken bereit liegen.<br />

183


In Abbildung 1 und 2 sind beispielhaft zwei Grundrisse gezeigt wie sich<br />

diese Räume in die Wohngebäude einfügen. Grundsätzlich stehen diese<br />

Räume zur wohnlichen Nutzung zur Verfügung (z.B. als Schlafraum, als<br />

Hobbyraum u.a.) Alle Schutzräume eines mehrgeschossigen Bauwerks sind<br />

unmittelbar übereinander anzuordnen, so daß ein stabiler Schutzturm<br />

entsteht. Nach neuesten Vorstellungen werden die Umfassungsbauteile<br />

als zweischalige, bewehrte Betonwände von je 25 cm Dicke hergestellt.<br />

Zwischen beiden bleibt ein Luftspalt, um eine direkte Kopplung bei Impaktbelastung,<br />

etwa durch Trümmer, zu vermeiden. Fenster in geschützten<br />

184<br />

Abbildung 1: Protective Space in the Apartement (p.s.a)<br />

Abbildung 2: Protective Space in the Floor (P.S.F.)


Räumen sind erlaubt, es müssen aber Maßnahmen getroffen werden, um<br />

Glas-Splitter zu vermeiden. Dies kann etwa durch Kunststoffolien erreicht<br />

werden. Außerdem müssen im Ernstfall die Fenster durch Stahl-Fensterläden<br />

druckdicht verschlossen werden. Im übrigen sind derartige Bauelemente<br />

wie auch die Drucktüren genormt und können von jedermann im<br />

Baumarkt gekauft und eingebaut werden.<br />

Als Schutz gegen terroristische Aktivitäten, denen zunehmende Bedeutung<br />

beigemessen werden, sollen Gebäude nur über eine Schleuse zu betreten<br />

sein. Die beiden Schleusentüren sind dabei winklig anzuordnen. Verschiedene<br />

konstruktive Lösungen – auch solche für einen nachträglichen Einbau<br />

– wurden vorgestellt, mit z.T. recht ansprechenden architektonischem<br />

Erscheinungsbild. Allenthalben waren auf der Fahrt durch Israel reale Ausführungen<br />

in neuen Siedlungsgebieten zu sehen.<br />

Für den Ausbau von schützenden Räumen in vorhandener Bausubstanz<br />

spielen natürlich Verstärkungsmaßnahmen von tragenden Elementen eine<br />

wichtige Rolle. Als Richtwert für derartige Maßnahmen gilt eine Resistenz<br />

gegen Blastwellen mit Spitzendruck 0,9 bar. Man hat für diese Zwecke<br />

u.a. Holzzementsteine entwickelt, die geringes Gewicht haben, auch von<br />

Laien leicht übereinander gesetzt werden können und so geformt sind, daß<br />

horizontale und vertikale Bewehrungsstäbe leicht eingesetzt werden können,<br />

bevor die Hohlräume mit Mörtel gefüllt werden. Auch faserverstärkte<br />

Klebebänder werden benutzt, um die Wände zu verstärken und eine Fragmentierung<br />

zu vermindern. Durch einfache, vorgesetzte Wände kann die<br />

dynamische Belastung von Schutzräumen durch Blastwellen und auch der<br />

Splitterdurchschlag erheblich gemindert werden. Tragende Stützen und<br />

Säulen können z.B. durch Umbauungen gegen Ansprengungen geschützt<br />

werden. Diese Ideen sind ebenfalls keinesfalls neu, ich möchte nur an<br />

Arbeiten des Fachausschusses I der Kommission in den zurückliegenden<br />

Jahren erinnern. Hier ist ein beachtliches Wissen erarbeitet worden, das in<br />

internationalen Gremien besser eingebracht werden müßte, als es mir bisher<br />

der Fall zu sein scheint.<br />

Bei terroristischen Anschlägen gehen bekanntlich die gefährlichsten Wirkungen<br />

von Glassplittern und fliegenden Trümmern aus. Als ausgezeichnetes<br />

Mittel gegen Verletzungen durch Glassplitter haben sich – neben<br />

Mehrschicht-Fenstern und Klebefolien – Vorhänge aus reißfestem Stoff<br />

erwiesen. Es wurde berichtet, daß ausgezeichnete experimentelle Ergebnisse<br />

selbst dann erzielt wurden, wenn der Spitzenüberdruck der Blastwelle bei<br />

über ein bar lag. Diese Schutzmaßnahme wird tatsächlich auch angewandt.<br />

So wunderte ich mich am ersten Tag beim Einzug in mein Hotel-Zimmer in<br />

Tel Aviv, daß dichte Vorhänge den herrlichen Ausblick auf das Mittelmeer<br />

versperrten und das Zimmer im Dunkeln lag. Der Grund wurde mir dann<br />

schließlich später klar.<br />

Neben dem unmittelbaren Schutz vor Ort, – Sie erinnern sich sicher an das<br />

in unserer Kommission häufig erwähnte Schlagwort: „Schutz kommt vor<br />

185


Retten“ – spielen natürlich auch Rettungsmaßnahmen eine wichtige Rolle.<br />

Es wurde berichtet, daß die Rettungseinheiten inzwischen so organisiert<br />

sind, daß sie in kürzester Zeit am Ort eines Schadensereignisses eintreffen<br />

können, d.h. innerhalb von weniger als 30 Minuten. Dieser Zeitraum wird<br />

für die Versorgung von Verletzten und Vergifteten als ausreichend erachtet.<br />

6. Experimentelle Validierung<br />

Die Empfehlungen im Rahmen des neuen Schutzkonzepts sind nicht nur<br />

theoretisch erarbeitet, sondern wurden (bzw. werden) experimentell nachgeprüft.<br />

Dazu steht dem Home Front Command ein eigener Versuchsplatz<br />

in der Sinai-Wüste in der Nähe der Stadt Eilat zur Verfügung.<br />

In enger Zusammenarbeit zwischen der US Special Weapons Agency (vormals<br />

DNA) und dem israelischen Home Front Command wird ein langfristig<br />

geplantes Programm durchgeführt, bei dem mehrere Objekte in<br />

Originalgröße aus verschiedenen Entfernungen angesprengt werden. Nach<br />

neuesten Angaben sind für 1998 zahlreiche weitere Tests vorgesehen. Es<br />

wäre sicher sinnvoll, wenn BZS, BMBau und auch die <strong>Schutzkommission</strong><br />

durch Beobachter vertreten wäre und unmittelbaren Kontakt halten würden<br />

zu solchen Organisationen, die sich intensiv um den Schutz und Schutzmöglichkeiten<br />

für die Zivilbevölkerung bemühen. Es wäre sicher auch<br />

sinnvoll, wenn der Sachverstand der Kommission bei internationalen<br />

Kooperationen besser zur Geltung gebracht würde.<br />

7. Fazit<br />

Die Notwendigkeit und die Bedeutung einer wirksamen Zivilverteidigung<br />

steht in einem Land wie Israel außer Frage und wird von der Bevölkerung<br />

voll akzeptiert, zumal dort stets mit terroristischen und militärischen Angriffen<br />

gerechnet werden muß. Beeindruckend ist die Zielstrebigkeit und<br />

der Elan, mit dem Probleme der Zivilverteidigung aufgegriffen und konsequent<br />

einer schnellen Lösung zugeführt werden. Wenn das eigene Überleben<br />

unmittelbar bedroht ist, so findet man eben viel schneller innovative<br />

Lösungen, als in langwierigen Kompetenz- und Abstimmungsgesprächen<br />

zwischen verschiedenen zuständigen Behörden. Wenn Angehörige des<br />

Home Front Command über Schutz der Zivilbevölkerung sprechen, so spürt<br />

man deutlich eine von unbedingtem Überlebenswillen geprägte innere Einstellung.<br />

Unwillkürlich stellt man auch Vergleiche an über die Anstrengungen in<br />

Ländern, die sich nicht unmittelbar bedroht fühlen oder eine Bedrohung gar<br />

negieren. Vergleiche dieser Art fallen ziemlich ernüchternd aus. Könnte es<br />

bei den heutigen terroristischen Aktivitäten und den Unruheherden in unserer<br />

unmittelbaren Nachbarschaft nicht doch auch sein, so fragt man sich,<br />

daß unsere Bevölkerung früher oder später, ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt<br />

sein könnte? Ich lasse die Frage im Raume stehen.<br />

186


Die Elektromagnetische Verträglichkeit komplexer<br />

für den <strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />

Jan Luiken ter Haseborg<br />

Einleitung<br />

Die EMV ist allgemein die Fähigkeit einer elektrischen Einrichtung, in<br />

ihrer elektromagnetischen Umgebung zufriedenstellend zu funktionieren,<br />

ohne diese Umgebung, zu der auch andere Einrichtungen gehören können,<br />

unzulässig zu beeinflussen. Die EMV berücksichtigt somit einerseits die<br />

elektromagnetische Störaussendung, d.h. die von elektrischen Einrichtungen<br />

emittierte elektromagnetische Strahlung und andererseits die elektromagnetische<br />

Störfestigkeit dieser Einrichtungen, das bedeutet, die Widerstandsfähigkeit<br />

elektrischer Einrichtungen gegenüber elektromagnetischer<br />

Strahlung. Die Quellen elektromagnetischer Strahlung werden in natürliche<br />

Quellen und Man-made-noise-Quellen eingeteilt. Zu den natürlichen Quellen<br />

gehören u.a. Blitzentladungen (LEMP: lightning electromagnetic<br />

pulse). Die NEMP-Störungen (NEMP: nuclear electromagnetic pulse)<br />

zählen eigentlich nicht zu den natürlichen Störungen, dennoch sollen sie<br />

hier dazu gezählt werden, weil es viele Parallelen zu den Blitzstörungen<br />

gibt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen LEMP- und NEMP-Störungen<br />

besteht jedoch in der erheblich kleineren Anstiegszeit bei den NEMP-<br />

Störungen, die im NEMP-Fall im Nanosekunden- und im LEMP-Fall im<br />

Mikrosekundenbereich liegt. Das bedeutet wesentlich höhere induzierte<br />

Spannungen als dies bei Blitzstörungen der Fall ist. Zu den Man-madenoise-Quellen<br />

gehören alle elektrischen Einrichtungen, die elektromagnetische<br />

Strahlung emittieren. Die Liste dieser Einrichtungen kann beliebig<br />

weit ausgedehnt werden. In der klassischen EMV gehören LEMP- und<br />

NEMP-Störungen nicht zu den typischen EMV-Störungen, da sie sich in<br />

ihren Grenzwerten und Normen teilweise erheblich von denen typischer<br />

EMV-Störungen unterscheiden. LEMP- und NEMP-Störungen sollen im<br />

Rahmen dieser Betrachtungen, bei denen es ganz allgemein um die elektromagnetische<br />

Beeinflussung elektrischer Einrichtungen geht, entsprechend<br />

mitberücksichtigt werden.<br />

EMV auf der Geräteebene und auf der Systemebene<br />

Die Begriffe „Gerät“, „Anlage“, „Einrichtung“ und „System“ sind genormt.<br />

Danach ist ein Gerät eine technische Einrichtung zur Erfüllung einer vorgegebenen<br />

Funktion, die eine Anzahl untergeordneter Einheiten mechanisch<br />

und elektrisch zusammenfaßt, während ein System die Gesamtheit<br />

von zueinander in Beziehung stehenden Geräten (auf einem Geräteträger)<br />

bezeichnet. Der Begriff Einrichtung ist der Sammelbegriff für Betriebsmittel<br />

und Anlage bzw. Gerät und System.<br />

187


Bild 1: Schematische Darstellung eines aus mehreren Systemkomponenten<br />

bestehenden Systems<br />

Um die EMV eines Gerätes oder eines Systems sicherzustellen, muß gelten:<br />

– die Störaussendung (Emission) elektromagnetischer Energie darf bestimmte<br />

in Normen festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten<br />

– die Störfestigkeit darf bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht<br />

unterschreiten bzw. die Störempfindlichkeit darf bestimmte in Normen<br />

festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten.<br />

Der Festlegung von Grenzwerten kommt sehr hohe Bedeutung zu, denn<br />

diese legen fest, ob einer elektrischen Einrichtung die „Elektromagnetische<br />

Verträglichkeit“ bescheinigt werden kann bzw., ob und in welchem Umfang<br />

Maßnahmen zur Sicherstellung der EMV durchgeführt werden müssen.<br />

Zur Vermeidung von Handelshemmnissen innerhalb der Europäischen<br />

Union hat der Rat der EU am 3. Mai 1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften<br />

der Mitgliedsstaaten über die Elektromagnetische Verträglichkeit<br />

eine entsprechende Rahmenrichtlinie, die Richtlinie 89/336 EWG erlassen.<br />

Mit dem Erlaß dieser Rahmenrichtlinie wurde die EMV zum Schutzziel<br />

erklärt, dem jede elektrische Einrichtung, die ab dem 1. 1. 1992 innerhalb<br />

der EU in Verkehr gebracht werden bzw. in Betrieb gehen soll, genügen<br />

muß. Die Richtlinie enthält keine technischen Details, sondern nur grobe<br />

Schutzziele. Die Schutzanforderungen sind in Artikel 4 formuliert, während<br />

Artikel 3 etwas für die Hersteller und Betreiber und Artikel 12 etwas über<br />

188


die zugehörigen Termine aussagt. Danach mußten alle Mitgliedsstaaten der<br />

EU erforderliche Vorkehrungen treffen, damit die in Artikel 2 der Rahmenrichtlinie<br />

bezeichneten Geräte nach dem 31. 12. 1991 nur dann in Verkehr<br />

gebracht bzw. in Betrieb genommen werden dürfen, wenn sie – eine einwandfreie<br />

Installierung und Wartung sowie ein vorschriftsmäßiger Betrieb<br />

vorausgesetzt – die in der Richtlinie festgelegten Schutzanforderungen<br />

erfüllen. Die von der EU zugestandene Übergangsfrist, die erforderlich war,<br />

um Nachqualifikationen auslaufender Produktserien zu vermeiden, ist zum<br />

31. 12. 95 abgelaufen. Die Rahmenrichtlinie ist von den einzelnen EU-Mitgliedsländern<br />

in nationales Recht umzusetzen. Die Bundesrepublik<br />

Deutschland hat diese Umsetzung am 9. November 1992 durch Erlaß des<br />

Gesetzes über die Elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten (EMVG)<br />

vollzogen. Inzwischen ist das EMVG bereits mit dem Ersten Gesetz zur<br />

Änderung des Gesetzes über die Elektromagnetische Verträglichkeit von<br />

Geräten in der Fassung vom 30. August 1995 ein erstes Mal aktualisiert<br />

worden. Mit der Neufassung des Gesetzes vom 18. 9. 1998 erfüllte der deutsche<br />

Gesetzgeber eine weitere Forderung, die aufgrund einer Kritik durch<br />

die EU-Kommission entstanden ist.<br />

In Deutschland sind Gesetze zur Funkentstörung seit langem bekannt.<br />

Wesentlich neu in diesem Zusammenhang sind im EMV-Gesetz Bestimmungen<br />

über die Störfestigkeit von Geräten, die bisher ausschließlich in der<br />

Verantwortung der Gerätehersteller lagen. Das EMV-Gesetz löst das Hochfrequenzgeräte-<br />

und das Funkstörgesetz ab.<br />

Es stellt sich nun zu Recht die Frage, ob damit nicht grundsätzlich alle Probleme<br />

elektromagnetischer Störbeeinflussung gelöst sind. Ganz allgemein<br />

läßt sich feststellen, daß die EMV von Einzelgeräten (Querschnittsgeräten)<br />

durch die EMV-Gesetzgebung weitestgehend sichergestellt ist. Dieses ist<br />

für aus Einzelgeräten bestehende Systeme in der Regel nicht mehr gegeben.<br />

In dem hier interessierenden Zusammenhang können exemplarisch folgende<br />

für den <strong>Zivilschutz</strong> relevante Systeme genannt werden:<br />

– zentrale Telekommunikationseinrichtungen, z. B. Radio- und Fernsehsender<br />

sowie persönliche Telekommunikationseinrichtungen, z. B. Radiound<br />

Fernsehempfänger, Telefon, Fax und PC<br />

– Telekommunikationseinrichtungen in Verbindung mit Alarmierungssystemen<br />

im Rettungswesen (Feuerwehr, Katastrophenschutz usw.)<br />

– Versorgungseinrichtungen, in erster Linie Krankenhäuser mit ihren vielfältigen<br />

elektronisch-medizinischen Einrichtungen.<br />

Diese genannten Systeme haben gemeinsam, daß sie zum Teil mehr oder<br />

weniger sehr weit ausgedehnt und, das ist insbesondere ein Merkmal<br />

moderner Systeme, untereinander sehr stark vernetzt sind. Ferner bestehen<br />

diese aus unterschiedlichen Querschnittsgeräten sowie Subsystemen, die<br />

einerseits, elektromagnetisch gesehen, sehr empfindliche Komponenten,<br />

z.B. Bildverarbeitungskomponenten, und andererseits energietechnische<br />

189


Komponenten enthalten können. Die energietechnischen Komponenten,<br />

z.B. drehzahlgeregelte elektromotorische Antriebe, unterbrechungsfreie<br />

Stromversorgungen (USV) und Röntgenanlagen, die, elektrotechnisch gesehen,<br />

oftmals aus dem leistungselektronischen oder aus dem hochspannungstechnischen<br />

Bereich stammen, emittieren in der Regel in erheblichem<br />

Umfang sowohl leitungsgebunden als auch über das elektromagnetische<br />

Feld Störenergie, die dann in andere elektrische Einrichtungen insbesondere<br />

in Leitungen einkoppelt.<br />

Zusammenfassend kann ganz allgemein festgestellt werden, daß die<br />

störungsfreie Funktion der angesprochenen komplexen Systeme gefährdet<br />

ist durch:<br />

– interne Störungen, d. h. Störungen, die von Komponenten des eigentlichen<br />

Systems bzw. durch die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen<br />

Komponenten dieses Systems verursacht werden,<br />

– externe Störungen, das sind Störungen, die von anderen Systemen verursacht<br />

werden und drahtlos, also über das elektromagnetische Feld, und<br />

aufgrund entsprechender Vernetzungen leitungsgebunden in das betrachtete<br />

System eingekoppelt werden,<br />

– eine spezielle Gruppe externer Störungen, nämlich LEMP- und NEMP-<br />

Störungen.<br />

Das Bild 2 zeigt als Beispiel ein rechnergestütztes Einsatzlenkungssystem<br />

für die Alarmierung der Berufsfeuerwehr einer deutschen Großstadt. Es<br />

handelt sich um ein System, das aus unterschiedlichen analogen und digitalen<br />

Komponenten einschließlich umfangreicher Sende- und Empfangsanlagen<br />

besteht. Im einzelnen zählen dazu der Einsatzleitrechner (ELR)<br />

und das an diesen angeschlossene Text- und Datenübertragungssystem<br />

(TUDUS). Das digitale Alarmierungssystem ist über ein Gateway an das<br />

TUDUS angeschlossen. Die Alarmmeldungen werden sowohl leitungsgebunden<br />

als auch drahtlos an die Einsatzkräfte übermittelt. Bei solch einem<br />

System ist es wichtig, daß Alarmmeldungen zuverlässig, reproduzierbar<br />

und „schnell“ übermittelt werden, wobei „schnell“ nach dem heutigen Stand<br />

der Technik bedeutet, daß die Zeitspanne zwischen dem Auslösen des<br />

Alarms und der Benachrichtigung der Einsatzkräfte 60 Sekunden nicht<br />

überschreiten sollte. Es handelt sich hier um ein System, das flächen- bzw.<br />

raummäßig sehr weit ausgedehnt ist. Der Einsatzleitrechner, das TUDUS<br />

und das digitale Alarmierungssystem sind über mehrere Stockwerke eines<br />

Gebäudes verteilt. Dazu kommen die über das gesamte Stadtgebiet verteilten<br />

Sende- und Empfangsanlagen, die teilweise über Kabelverbindungen<br />

mit den Alarmumsetzern und Alarmgebern verbunden sind. Zusätzlich<br />

werden die Mitglieder der an der Peripherie der Großstadt existierenden<br />

Freiwilligen Feuerwehren, nicht in der Feuerwache befindliches Personal<br />

der Berufsfeuerwehr sowie Rettungswagen über sogenannte digitale Meldeempfänger<br />

alarmiert.<br />

190


Bild 2: Konfiguration eines digitalen Alarmierungssystems<br />

Zunächst muß die Netzstruktur des Gesamtsystems so ausgelegt werden,<br />

daß diese maximale Zeit zwischen dem Auslösen des Alarms und der<br />

Benachrichtigung der Einsatzkräfte nicht überschritten wird und diese Zeiten<br />

reproduzierbar eingehalten werden. In einem weiteren Schritt muß<br />

durch eine umfassende EMV-Analyse festgestellt werden, wo die Schwachstellen<br />

für eine elektromagnetische Störbeeinflussung und die möglichen<br />

Einkoppelpunkte bzw. -pfade für elektromagnetische Störsignale liegen. Im<br />

Rahmen dieser Analyse müssen berücksichtigt werden:<br />

– LEMP- und NEMP-Einkopplungen in Leitungen sowie in die Sende- und<br />

Empfangsanlagen dieses Systems,<br />

– die eingebundenen Energieversorgungssysteme (Netzversorgungssysteme<br />

einschließlich der unterbrechungsfreien Stromversorgungseinrichtungen,<br />

USV) für die Speisung der Komponenten des gesamten Systems,<br />

– interne und externe EMV-Störquellen.<br />

191


Ein weiteres Beispiel für komplexe für den <strong>Zivilschutz</strong> relevante Systeme,<br />

deren störungsfreie Funktion durch elektromagnetische Beeinflussung<br />

erheblich eingeschränkt bzw. irreversibel in Mitleidenschaft gezogen wird,<br />

stellen die aus vielen unterschiedlichen elektrischen sowie elektrisch-medizinischen<br />

Komponenten bestehenden Diagnostik- und Therapiesysteme in<br />

Krankenhäusern dar. Dieses Beispiel ist ganz anders gelagert und weist mit<br />

dem vorhergehenden nur wenige gemeinsame Berührungspunkte auf. Die<br />

Gerätemedizin hat heutzutage bereits einen sehr hohen Standard erreicht.<br />

Insbesondere in der Diagnostik gibt es Geräte, die in der Lage sein müssen,<br />

über entsprechende Sensoren sehr empfindliche Signale am Patienten<br />

zuverlässig und reproduzierbar detektieren zu können. In diesem Zusammenhang<br />

müssen z.B. bestimmte Grenzwerte für elektrische und magnetische<br />

Störfeldstärken eingehalten werden.<br />

Bild 3: Konfiguration eines Röntgendiagnostiksystems<br />

Das Bild 3 zeigt ein weit ausgedehntes System einer Röntgendiagnostikanlage<br />

in der Medizin, das ein Beispiel für ein System darstellt, das einerseits<br />

Komponenten enthält, die sehr empfindlich auf leitungsgebundene<br />

sowie gestrahlte elektromagnetische Störungen reagieren und andererseits<br />

192


Komponenten aufweist, die in erheblichem Umfang elektromagnetische<br />

Störenergie emittieren. Die Störenergie erzeugende und emittierende Komponente<br />

ist hier die Röntgenröhre in Verbindung mit der zugehörigen Versorgungs-<br />

und Steuereinheit, während die Bildverarbeitungskomponente<br />

demgegenüber als elektromagnetisch sehr empfindlich einzustufen ist. Der<br />

Grad der erreichten EMV bestimmt u.a. die Qualität der Röntgenbilder auf<br />

den Monitoren. Insbesondere bei der Detektion feinster Strukturen in dem<br />

menschlichen Körpergewebe, für die zwei Röntgenaufnahmen erforderlich<br />

sind, wird eine extrem hohe Bildqualität verlangt. Zu diesem Zweck wird<br />

zunächst die erste Aufnahme erstellt, digitalisiert und abgespeichert. Vor der<br />

zweiten Aufnahme wird ein Kontrastmittel gespritzt, diese Aufnahme wird<br />

ebenfalls digitalisiert und abgespeichert und dann von der ersten subtrahiert.<br />

Nach einer entsprechenden Aufbereitung erfolgt dann die Visualisierung auf<br />

dem Monitor. Die Praxis hat gezeigt, daß z.B. kleinste Störsignale im<br />

Bereich von einigen zehn Mikrovolt am Videoeingang die Bildqualität<br />

erheblich reduzieren, ganz abgesehen von den bei höheren Störpegeln auftretenden<br />

Funktionsstörungen. Diese Störsignale werden einerseits im<br />

System von der Versorgungs- und Steuereinheit für die Röntgenröhre und<br />

andererseits von externen Störern generiert und leitungsgebunden und/oder<br />

gestrahlt in die empfindlichen Bildverarbeitungskomponenten eingekoppelt.<br />

Erschwerend für die Sicherstellung der EMV kommt hinzu, daß die<br />

Strahlendosis von Röntgengeräten in den letzten 10–15 Jahren aus Sicherheitsgründen<br />

um den Faktor 1000 reduziert worden ist, das bedeutet, daß<br />

der Abstand zwischen Nutz- und Störsignal erheblich verkleinert worden<br />

ist. Die EMV eines solchen Systems auf der Systemebene ist für den „worst<br />

case“ nicht ausreichend. Es muß zusätzlich für den Katastrophenfall die<br />

Bedrohung durch:<br />

– den NEMP und<br />

– ein nicht zuverlässig funktionierendes bzw. elektromagnetisch empfindliches<br />

Energieversorgungsnetz<br />

sichergestellt werden. Im Rahmen des NEMP-Schutzes sollte dann auch der<br />

LEMP-Schutz sichergestellt werden.<br />

Dies ist nur ein Beispiel für Systeme in Krankenhäusern und ähnlichen<br />

Einrichtungen, die für den <strong>Zivilschutz</strong> relevant sind und in erheblichem<br />

Umfang Schwachstellen gegenüber elektromagnetischer Beeinflussung<br />

zeigen. Während ohne entsprechende Schutzmaßnahmen Störungen im<br />

Rahmen der üblichen EMV (interne und externe Störungen eingeschlossen)<br />

in der Regel zu reversiblen Systemveränderungen führen können, muß bei<br />

NEMP- und LEMP-Einwirkung darüber hinaus mit Zerstörungen von Bauelementen<br />

und Komponenten gerechnet werden. In Krankenhäusern sind<br />

die Systeme, die sich in der Regel über mehrere Stockwerke eines Gebäudes<br />

erstrecken (z.B. Patientenüberwachungsysteme) über ausgedehnte Leitungssysteme<br />

untereinander stark vernetzt. Diese Vernetzung stellt generell<br />

Schwachpunkte bezüglich der elektromagnetischen Einkopplung dar. Der<br />

193


Grund hierfür ist naheliegend, denn man kann in der Praxis niemals davon<br />

ausgehen, daß alle mehr oder weniger empfindlichen Leitungen über einen<br />

Kabelschirm verfügen und grundsätzlich immer alle Steuer- und Signalleitungen<br />

weit entfernt von Energieversorgungsleitungen verlegt werden, d.h.<br />

es existieren nicht grundsätzlich für die verschiedenen Leitungstypen<br />

getrennte Kabelkanäle bzw. Kabelbahnen, sondern bauseits sind bestimmte<br />

Kabeltrassen vorgegeben, die für alle zu verlegenden Leitungen vorgesehen<br />

sind. Kostengründe und bauseitige Vorgaben gestatten oftmals nur in sehr<br />

begrenztem Umfang die Berücksichtigung EMV-spezifischer Maßnahmen.<br />

Dieses trifft insbesondere bei der Nachrüstung bereits bestehender Anlagen<br />

zu. Das führt dann dazu, daß Telekommunikations- und Datenleitungen<br />

durchaus über längere Strecken parallel zu Energieversorgungs- und Hochspannungsleitungen,<br />

die hier als potentielle Störquellen betrachtet werden<br />

müssen, geführt werden. Dabei sind im Rahmen einer Analyse nicht nur die<br />

von den teilweise stark oberwellenhaltigen Versorgungsströmen erzeugten<br />

Störmagnetfelder zu betrachten, sondern z.B. auch die in die Versorgungsleitungen<br />

eingekoppelten NEMP- und LEMP-Störungen, die dann ebenfalls<br />

in der Nähe der Telekommunikations- und Datenleitungen zusätzliche Störmagnetfelder<br />

erzeugen.<br />

Zusammenfassung – Vorgehensweise bei Vorhaben zur<br />

Sicherstellung der EMV sowie der NEMP- und LEMP-Härte<br />

für den <strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />

Die Praxis zeigt, daß für Systeme der oben beschriebenen Art die EMV auf<br />

der Systemebene keinesfalls automatisch gegeben ist. Außerdem existieren<br />

ein NEMP- sowie ein LEMP-Schutz im allgemeinen nicht. Um einerseits<br />

bezüglich der Funktionalität wirkungsvolle und andererseits unter Berücksichtigung<br />

des materiellen und kostenmäßigen Aufwandes optimale Schutzmaßnahmen<br />

– sogenannte Intrasystemmaßnahmen – zur Sicherstellung der<br />

EMV sowie der NEMP- und LEMP-Härte entwickeln zu können, ist es<br />

erforderlich, eine umfassende elektromagnetische Analyse des jeweiligen<br />

Systems zu erstellen. Bei dieser Analyse ist zu unterscheiden, ob es sich um<br />

die Konzeption eines neuen, d.h. noch nicht realisierten Systems handelt,<br />

oder ob ein schon bestehendes System, bei dem bisher keine Schutzmaßnahmen<br />

gegen elektromagnetische Beeinflussungen realisiert worden sind,<br />

nachträglich „elektromagnetisch gehärtet“ werden soll. Streng genommen<br />

ist für jedes neue System eine separate Analyse erforderlich. Es sollte dennoch<br />

versucht werden, Analysedaten zu erfassen bzw. zu erstellen, die sich<br />

auf ähnliche Systeme ohne großen Aufwand übertragen lassen. Diese<br />

Vorgehensweise würde auf jeden Fall kostenmindernd wirken. Für die<br />

durchzuführende Analyse ist die folgende Zusammenstellung der Beeinflussungsmodelle<br />

wichtig und hilfreich:<br />

194


Bild 4: Zusammenstellung der Beeinflussungsmodelle 1<br />

Die Kabel und Leitungen in einem System bestimmen dominierend die<br />

elektromagnetische Verträglichkeit eines Systems, da sie in Wechselwirkung<br />

zu ihrer Umgebung treten, d.h. sie erzeugen aufgrund der übertragenen<br />

Nutz- und Störleistungen elektrische und magnetische Felder, und<br />

sie entnehmen Nutz- und Störfeldern Leistungen, die sich in dem System<br />

störend auswirken können. Aus diesem Grunde hat sich für die Praxis<br />

bewährt, die Kabel und Leitungen eines Systems aufgrund ihrer Nutz- und<br />

Störsignale sowie der Empfindlichkeit der angeschlossenen Geräte bestimmten<br />

Kabelkategorien zuzuordnen. Eine Kabelkategorie zeichnet sich<br />

dadurch aus, daß alle Kabel einer Kategorie ungefähr gleiches Störvermögen<br />

oder gleiche Empfindlichkeit besitzen und daher eine gemeinsame<br />

Verlegung in einem Kabelkanal oder in einem Kabelbündel erlaubt ist. Das<br />

Bild 5 zeigt übersichtlich die verschiedenen Kabelkategorien.<br />

1 Gonschorek, EMV, Teubner Verlag, 1992.<br />

195


Bild 5: Kabelkategorien<br />

Die EMV-Systemanalse besteht im allgemeinen bei komplexen Systemen<br />

aus umfangreichen:<br />

– Simulations- und Feldberechnungen<br />

– EMV-Messungen innerhalb des Systems (Messungen von gestrahlten und<br />

leitungsgebundenen Störungen)<br />

Die Bilder 6, 7 und 8 zeigen als Beispiele die Ergebnisse von drei verschiedenen<br />

Rechnersimulationen eines Systems im Rahmen einer EMV-Systemanalyse.<br />

Die verwendeten Algorithmen für diese Simulation basieren auf<br />

der Leitungstheorie. Berechnet und dargestellt sind hier für eine 5 m lange<br />

Leitung, die in einer Höhe von 10 cm parallel zu einer elektrisch leitenden<br />

Ebene verläuft und mit unterschiedlichen Leitungsabschlüssen versehen ist,<br />

die aufgrund eines einfallenden elektromagnetischen Feldes mit einer vorgegebenen<br />

Polarisation und einem definierten Einfallswinkel induzierten<br />

Ströme I 0 am Anfang der Leitung.<br />

196


Bild 6: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am fernen<br />

Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität<br />

C<br />

Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />

� = 0°, Feldstärke: E0 = 200 V/m.<br />

Die Kurven für C = 100 nF und C = 1 �F liegen in a) und b) übereinander.<br />

Das gleiche gilt in Bild a) für C = 0 pF und C = 20 pF.<br />

197


Bild 7: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am fernen<br />

Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität<br />

C<br />

Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />

� = 0°, Feldstärke: E 0 = 200 V/m.<br />

Die Kurven für C = 100 nF und C = 1 �F liegen übereinander.<br />

198


Bild 8: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am nahen<br />

Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität C<br />

Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />

� = 0°, Feldstärke: E 0 = 200 V/m.<br />

Die Kurven für C = 1 nF und C = 10 nF liegen übereinander.<br />

Nach erfolgter umfassender Analyse konkreter in diesem Fall für den <strong>Zivilschutz</strong><br />

relevanter Systeme können dann die einzelnen sogenannten Intrasystemmaßnahmen<br />

in Form von z. B.<br />

– Massung und Erdung,<br />

– Leitungsführung und Verkabelung,<br />

– Schirmung und Filterung<br />

systematisch und gezielt realisiert werden. Nach Abschluß aller Maßnahmen<br />

ist die Wirksamkeit, soweit möglich und erforderlich,<br />

– meßtechnisch<br />

– durch Rechnersimulationen<br />

nachzuweisen.<br />

199


200


Task-Force für große Chemieunfälle und Brände<br />

Gerhard Matz<br />

Technische Universität Hamburg-Harburg<br />

1. Einleitung, Ausgangssituation<br />

Die Gefahrenabwehr bei Chemieunfällen und großen Bränden hat in den<br />

letzten zehn Jahren einen Schwerpunkt in der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />

dargestellt. <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsarbeiten, initiiert aus der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und als BMI- oder BMBF-<strong>Forschung</strong>svorhaben ausgeführt,<br />

haben im Bereich von Analytik, Ausbreitungsrechnungen, Toxikologie und<br />

Medizin zu einem hohen Stand des Wissens und der Technik geführt. Toxikologische<br />

Studien haben zur Aktualisierung der Einsatz-Toleranz-Wert<br />

Liste geführt, großräumige sowie gebäudebezogene Ausbreitungsmodelle<br />

lassen bei bekannten Quellen die Vorhersage der zeitlichen und räumlichen<br />

Verteilung von gefährlichen Stoffen in der Luft zu.<br />

Zur Erfassung gefährlicher Stoffe bei Chemieunfällen und Bränden, sowohl<br />

für das Monitoring mit einfachen Techniken im Fall des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays<br />

als auch zur Identifizierung mit dem Gaschromatograph-<br />

Massenspektrometer GC/MS und Fernerkundung mittels Fourier-Transform-Infra-Rot-Spektrometrie<br />

FTIR sowie zur Schnellanalyse von Dioxinen<br />

laufen <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben. Sie haben zum Teil<br />

schon zu Ergebnissen geführt, die inzwischen bei den Gefahrenabwehrkräften<br />

eingesetzt werden. Dies betrifft besonders die Schnellanalyse mit<br />

dem mobilen GC/MS, von dem Systeme bereits für Chemieunfälle bei den<br />

Feuerwehren bzw. Umweltämtern eingesetzt werden:<br />

FW Hamburg, Frankfurt, Mannheim<br />

PTU Berlin<br />

LUA Essen, Potsdam<br />

Institut der Feuerwehr Heyrothsberge<br />

Drei Gefahrstoffbekämpfungsschiffe des BMV<br />

GC/MS Systeme im Europäischen Ausland:<br />

Paris, Marseille, Rom, Trieste, Graz, Wien, Brunn, Warschau<br />

Insbesondere in diesen Dienststellen hat die Behandlung von Chemieunfällen<br />

bereits einen hohen Stellenwert, und allgemein steigt das Bedürfnis, sich<br />

nach dem Stand der Technik gegen die Gefährdung durch Chemikalien zu<br />

schützen. Die gerätetechnische Ausstattung der Einsatzkräfte in Deutschland<br />

für den A- und C-Nachweis wird durch die geplante Beschaffung von<br />

zeitgemäßer Technik in Kürze extrem verbessert. Es bleiben jedoch Ge-<br />

201


202<br />

rätetechniken wie die GC/MS oder FTIR, die für den allgemeinen Einsatz<br />

aufgrund der hohen Kosten nicht in Frage kommen, sowie moderne<br />

rechnergestützte Methoden, die nur von Spezialisten bedient werden können.<br />

Und selbst bei optimalem Einsatz von Technik und Personal vor-Ort<br />

bleiben Fragen bei der Bekämpfung von Chemieunfällen, die nur von<br />

Experten gemeinsam beantwortet werden können.<br />

Diese aufwendigen Techniken und die besten Experten im Fall eines großen<br />

Chemieunfalls zu koordinieren und zum Schutz des Personals und der<br />

Bevölkerung zum Einsatz zu bringen, sollte Aufgabe einer neu einzurichtenden<br />

Task-Force Chemieunfall sein. Die möglichen Aufgaben, die Organisationsform,<br />

die Ausstattung und der Weg zur Realisierung sind als folgende<br />

Skizze dargestellt.<br />

2. Aufgabenstellung für Task-Force Chemieunfall<br />

Die Task-Force für Chemieunfälle und große Brände soll mit höchstmöglicher<br />

Expertise und bestmöglicher Ausstattung schnell und unbürokratisch<br />

auch länderüberschreitend Hilfe leisten und die notwendigen Informationen<br />

an die Einsatzkräfte liefern.<br />

<strong>Folge</strong>nde Aufgaben sind zu sehen:<br />

– So schnell wie möglich den Einsatzort erreichen.<br />

– Am Einsatzort schnell feststellen, was und wieviel an schädlichen Stoffen<br />

freigesetzt worden ist.<br />

– Schnell feststellen, wie sich die Stoffe ausbreiten, in welchen Gebieten die<br />

Bevölkerung den Stoffen ausgesetzt wird.<br />

– Mit Informationssystemen, Datenbanken, und Kommunikation ermitteln,<br />

welche Gefahr von den Stoffen ausgeht.<br />

– Eine Expertengruppe für die spezielle Beratung nach einem festgelegten<br />

Einsatzplan berufen. Sie wird über Telekommunikation zu Fragen in den<br />

Bereichen Analytik, Meteorologie, Medizin, Toxikologie antworten, die<br />

das Task-Force Team vor Ort nicht beantworten kann.<br />

Diese Task-Force Chemieunfall besteht aus einem „Vor-Ort-Team“ und<br />

einem „Expertenteam“. Sie wird zunächst in Deutschland mit weitgehend<br />

vorhandenen Mitteln eingerichtet. Sie hat damit eine Vorreiterrolle, die als<br />

erster Schritt zu sehen ist und die Bereitschaft zur Kooperation in Europa<br />

fördern soll, worauf der zweite Schritt die Ausweitung auf Europa zum Ziel<br />

haben kann.<br />

3. Organisationsform und Mitglieder<br />

Die zunächst nationale Task-Force wird vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />

organisiert, und arbeitet mit Unterstützung der FW Hamburg, Frankfurt,


Mannheim, TUHH und anderen. Es bietet sich mittelfristig an, zwei<br />

schnelle Vor-Ort-Teams und ein Expertenteam einzurichten. Die Vor-Ort-<br />

Teams müssen aus besonders qualifiziertem Personal der Berufsfeuerwehren<br />

zusammengesetzt werden, das Expertenteam sollte aus engagierten<br />

Wissenschaftlern und Praktikern bestehen. Die Einsatzzentrale sollte sich<br />

beim Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> befinden, während das Expertenteam<br />

dezentral arbeitet.<br />

Es ist zu prüfen, ob die Organisation ähnlich gestaltet werden kann wie im<br />

Fall der Inspektorenteams, die von der UN zur Zeit in Den Haag aufgestellt<br />

werden. Sie werden mit kompletter analytischer Ausstattung und extremer<br />

Expertise zu Ad-hoc Inspektionen ausgesendet, um weltweit die Überwachung<br />

des Chemiewaffenübereinkommens CWÜ zu gewährleisten.<br />

Im zweiten Schritt ist an die europaweite Zusammenarbeit zu denken. Zu<br />

einigen nationalen Behörden für <strong>Zivilschutz</strong> bestehen aufgrund ähnlicher<br />

analytischer Ausstattung (GC/MS siehe Kap.1) Kontakte wie zu Frankreich,<br />

Holland, Schweden, Italien, Österreich, Tschechien. Beim europäischen<br />

Umwelt-<strong>Forschung</strong>sinstitut Joint Research Centre in Ispra besteht<br />

ebenfalls Interesse an dieser Fragestellung.<br />

4. Ausstattung der Task-Force<br />

4.1. Vor-Ort-Team<br />

Für die am Einsatzort tätige Gruppe ist das folgende Material bereit zu<br />

stellen, das für den Transport per Hubschrauber und für den Einsatz unter<br />

extremer Belastung von Mensch und Gerät optimiert sein muß:<br />

– Monitoring und Analytik:<br />

Gefahrstoff-Detektoren-Arrays, GC/MS-Systeme, FTIR-Fernerkundung,<br />

Geräte zur anorganischen Analytik in Löschwasser<br />

– Schutzbekleidung und Atemschutzausstattung<br />

– Kommunikationsmittel, Datenfernübertragung<br />

– Hubschrauber als Transportmittel<br />

Das Personal in der mobilen Schnelleinsatztruppe, bestehend aus drei Personen,<br />

wird ebenfalls mit dem Hubschrauber zum Einsatzort transportiert.<br />

Es besteht aus einem Einsatzleiter aus dem Feuerwehrdienst, der neben der<br />

Organisation des Einsatzes zuständig ist für die Kommunikation mit der<br />

Expertengruppe, sowie für die Bedienung der Ausbreitungsrechenmodelle<br />

und Datenbanken.<br />

Außerdem gehört ein Chemiker, zuständig für die Analytik, und ein Notfallmediziner<br />

zu dem Team. Über Telekommunikation steht das Vor-Ort-<br />

Team im ständigen Kontakt zur Expertengruppe.<br />

203


204<br />

4.2. Expertengruppe zur Beratung<br />

Mindestens drei ausgewählte, speziell geschulte Experten je Fachgebiet<br />

sind notwendig, um einen „Rund um die Uhr“ Bereitschaftsdienst zu<br />

gewährleisten. Die Verbindung der Experten geschieht mittels Datenfernübertragung<br />

und eventuell über Telekonferenz. Jeder Experte ist im Dienst<br />

und zuhause über einen PC und Telefon erreichbar und nach Absprache<br />

kann ein Bereitschaftsdienst organisiert werden.<br />

Die Expertengruppe kann aufbauend auf der Diskussionsgruppe „Kritizität“<br />

im <strong>Forschung</strong>svorhaben „GC/MS für Chemieunfälle“ zusammengesetzt<br />

werden. Sie muß sich besonders für die folgenden Aufgaben besonders<br />

eignen:<br />

– Analytische und toxikologische Bewertung der Meßergebnisse<br />

– Medizinische Beratung, schnelle erste Ferndiagnose und Vorschläge zur<br />

Sofortbehandlung<br />

– Allgemeine Beratung mit taktischem, soziologischem und psychologischem<br />

Sachverstand<br />

5. Realisierungsvorschlag und Maßnahmen<br />

In einem 1. Schritt sollten zunächst in einer Studie die Möglichkeiten zur<br />

Einrichtung einer Task-Force Chemieunfälle und deren Aufbau, weitgehend<br />

aus vorhandenen Mitteln, untersucht werden. Das Ziel ist, ein funktionsfähiges<br />

System organisatorisch, materiell und personell aufzubauen<br />

und in Planspielen zu demonstrieren.<br />

Im 2. Schritt ist an die Erweiterung auf europäische Basis, d. h. den gemeinsamen<br />

Aufbau einer Euro-Task-Force, zu denken. Diese könnte den europabzw.<br />

in besonderen Fällen weltweiten Einsatz zum Ziel haben. Damit wird<br />

die internationale Hilfe für Staaten, die noch nicht über ein derartiges<br />

System verfügen, durch die Task-Force bei bestehender Organisation mit<br />

relativ geringen Mitteln möglich.<br />

Im 1. Schritt sind die folgenden Teilaufgaben zu lösen:<br />

– Organisationsform erarbeiten<br />

– Vorhandene Mittel und Entwicklungen in Deutschland zusammenfassen:<br />

Analytik, Ausbreitungsmodelle, Expertensysteme, Datenbanken, Informationssysteme<br />

– Ermitteln von geeigneten interessierten Personen, wobei ein Kern von<br />

Personen vorhanden ist<br />

– Möglichkeiten zur Motivation guter Leute und Frage der Bezahlung<br />

– Einweisung aller Mitgleider in<br />

Task-Force-Meßtechniken,<br />

Interpretation der Meßergebnisse, Leistungsfähigkeiten und Grenzen


– Kooperation mit lokalen Kräften, Fachabteilungen, Laboratorien vorbereiten<br />

– Ausbildungsseminare und Planspiele vorbereiten und ausführen<br />

Es ist zu erwarten, daß die Installation dieser Task-Force Chemieunfall<br />

gelingt und das anhand von Beispielen demonstriert werden kann. Sie ist<br />

international einmalig und kann als Vorbild sowohl in Europa als auch weltweit<br />

dienen.<br />

205


206


Läßt sich über Zivil- und Katastrophenschutz mit<br />

dem Bürger ein Dialog führen? Praxisrelevante<br />

Aspekte aus der Krisen- und Kommunikationsforschung<br />

Wolf R. Dombrowsky<br />

Problemstellung<br />

Die sogenannte „Neukonzeption“ des Zivil- und Katastrophenschutzes setzt<br />

nicht nur einen neuen gesetzlichen Rahmen für die Erstellung dieser beiden<br />

öffentlichen Güter, sondern sie macht auch ein Vollzugsprogramm erforderlich,<br />

durch das die daran Mitwirkenden den gesetzlichen Rahmen alltagstauglich<br />

ausfüllen können. Um dies zu erreichen, ist es nicht unüblich,<br />

einen iterativen Ausgestaltungsprozeß in Gang zu setzen, d. h. den gesetzlichen<br />

Rahmen schrittweise im Zuge praktischer Lösungsversuche ausfüllen<br />

zu lassen. Ein solches „Ruling by Doing“ findet sich insbesondere dort, wo<br />

die Erstellung eines Rahmens schneller gelingt als dessen inhaltliche, möglichst<br />

alle Eventualitäten abdeckende Ausfüllung. Die Umsetzung der<br />

„Seveso-Richtlinie“ der EG in nationales Recht und weiter in zugehörige<br />

Ausführungsrichtlinien (z.B. für § 11a BImSchG in der Bundesrepublik)<br />

läßt sich dafür als Beispiel nehmen (vgl. Dombrowsky/Ohlendieck 1992).<br />

Auch die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes dürfte sich in<br />

einem solchen Prozeß des „Ruling by Doing“ vollziehen, wobei jedoch<br />

schon jetzt absehbar ist, daß die Umsetzung in Länderrecht eher die föderale<br />

Binnendifferenzierung vergrößern wird statt ein einheitliches und kompatibles<br />

Gesamtsystem zu bewirken.<br />

Insofern läßt sich vom Vergleich mit der Umsetzung der Seveso-Richtlinie<br />

in nationales Recht lernen. Die dort verankerte Pflicht der Betreiber störfallrelevanter<br />

Anlagen zur Information der Bevölkerung führte anfangs<br />

ebenfalls zu einer extremen Binnendifferenzierung. Ohne inhaltliche<br />

Abstimmung und ohne gemeinsamen Zeitplan stellten Unternehmen bereits<br />

ihre Informationsbroschüren der Öffentlichkeit vor, wodurch andere Betreiber,<br />

die noch kein eigenes Konzept entwickelt hatten, unter Nachfragedruck<br />

gerieten. Erst im Zuge eines koordinierenden „Ruling by Doing“ verständigten<br />

sich der VCI mit den jeweils zuständigen Ministerien der Länder und<br />

des Bundes auf eine Art Musterlösung für alle Betreiber, so daß zumindest<br />

in den Grundzügen ein einheitliches und kompatibles Informationskonzept<br />

entstand (vgl. Becker et.al. 1993).<br />

Lehrreich ist, daß sich das moderne Gesetzgebungsverfahren tatsächlich<br />

immer mehr auf die Setzung von Rahmen konzentriert und die inhaltliche<br />

Ausgestaltung auf „weichere“ Ausführungsbestimmungen verlagert, die<br />

zwischen den „Vollzugsorganen“ und den betroffenen Rechtssubjekten aufgrund<br />

ihrer praktischen Anwendungserfahrungen ausgehandelt werden.<br />

207


Eine solche Verlagerung ist einerseits der zunehmenden Komplexität des<br />

Rechtssystems geschuldet, das durch vorschnelle Detailregelungen leichtfertig<br />

als dysfunktional erscheinen könnte. Sie ist andererseits aber auch<br />

vonnöten, weil die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels zunehmend<br />

schon Regelungen erfordert, bevor Regelmechanismen verfügbar sind. Im<br />

Falle der Seveso-Richtlinie erließ der Gesetzgeber eine generelle Pflicht zur<br />

Information, überließ die Erfüllung klugerweise jedoch denjenigen, die dies<br />

aufgrund ihrer praktischen Kenntnisse und der Erfordernisse vor Ort geeignet<br />

konnten. Grundsätzlich fließt dieser inzwischen unumkehrbaren Verlagerungstendenz<br />

das Problem aus, daß die heterogenen, teils auch divergenten,<br />

konkurrierenden Ansprüche an gesetzliche Regelungen, die im<br />

traditionellen Gesetzgebungsverfahren ihren strukturierenden Einfluß mittels<br />

Anhörungen, Lobbyismus, öffentlicher Artikulation etc. im Vorwege<br />

gewinnen, nunmehr nachgelagert werden und im pessimalen Fall bewirken,<br />

daß die Konflikte, die sonst vor der Fassung einer Gesetzesnorm formuliert<br />

und ausgehandelt werden mußten, dann erst danach wirksam werden können.<br />

Auch hier belegt die Umsetzung der Seveso-Richtlinie in deutsches<br />

Recht die angesprochene Problematik: Bis zum Erlaß von Ausführungsrichtlinien<br />

für den Paragraphen 11a der Störfallverordnung vergingen<br />

mehrere Jahre.<br />

Aus (rechts-)soziologischer Sicht muß die Veränderung des Verfahrens von<br />

einem „Davor“ in ein „Danach“ insofern problematisch erscheinen, weil<br />

dem Gesetzgeber dadurch ein wesentliches Sanktionsmittel entgangen ist:<br />

Nach wie vor besteht die Aufgabe des Gesetzgebers darin, veränderte Handlungsbedingungen<br />

durch neue Verrechtlichung sozial zu befrieden. Darin<br />

letztlich gründet die vorkontraktuelle Akzeptanz des Kontraktuellen, sie<br />

läßt sich über Gesetze als sinnvolles Regularium der allgemein akzeptierten<br />

gesellschaftlichen „Geschäftsgrundlage“ kontraktuell zum Ausdruck bringen.<br />

Auf genau dieser Grundlage wurde vor jeder Modifizierung darum<br />

gerungen, die je eigenen Interessenlagen bestmöglich zu plazieren, d.h. in<br />

die Gesetzgebung einzubringen. Die endgültige Gesetzesfassung erscheint<br />

so als Kompromißformel, als, wenn man so will, „Belohnung“ für ein<br />

erfolgreiches Einigungsverfahren. Findet dagegen das Aushandelungsverfahren<br />

zwischen den beteiligten Interessen nach der Formulierung des<br />

Gesetzes statt, fehlt die Prämie, um deretwillen sich Kompromisse lohnen.<br />

Aus einem Einigungsverfahren wird hinterrücks ein Konfliktprozeß, durch<br />

den das Korrespondenzverhältnis von Gesetz und Ausführungsbestimmung<br />

zerrissen wird und sich zu einem Konkurrenzverhältnis wandelt, in dem die<br />

Ausführungsbestimmungen immer wichtiger werden und dann gegenüber<br />

dem (Rahmen-)Gesetz jene modifizierende Kraft erlangen, die vorher in<br />

dessen Formulierung einflossen.<br />

Zivil- und Katastrophenschutz als Gesetzesausfüllungskonkurrenz<br />

Für die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes gelten diese Überlegungen<br />

in besonderem Maße. Bislang existiert die Neuordnung als gesetz-<br />

208


licher Rahmen. Wesentliche Bestandteile sind in ihrer Aufgabenstellung<br />

noch gar nicht oder noch nicht hinreichend klar konzeptualisiert. Dies gilt<br />

namentlich für die zukünftige Selbstschutzausbildung, die von privaten Trägern,<br />

also von den im Katastrophenschutz mitwirkenden Hilfsorganisationen<br />

übernommen werden soll, ohne daß dafür schon überzeugende Ausbildungsziele,<br />

didaktische Konzepte, oder geeignete Lehrinhalte und Lehrformen<br />

bereitstehen. Dies gilt mehr noch für ein zukünftiges Warnwesen, das<br />

als technische Voraussetzung für die basale Alarmierung vor modernen<br />

industriellen Gefahren aber auch vor veränderten Bedrohungen durch Waffenwirkungen<br />

grundlegend anders gestaltet werden müßte als das inzwischen<br />

überalterte und zu Recht aufgegebene „Luftschutzsirenensystem“.<br />

Dies gilt aber auch für bereits bestehende Rechts-, Organisations-,<br />

Führungs- und Kommunikationsstrukturen. Gerade weil der Bund, aus welchen<br />

Gründen auch immer, keine übergeordnete Zuständigkeit mehr reklamiert,<br />

ergibt sich ein sachliches Defizit bei länder- und staatenübergreifenden<br />

Notlagen, ergeben sich eher Konkurrenzen und Eifersüchteleien, wo es<br />

der Harmonisierung, der Koordination und Kooperation bedürfte. Dies zeigt<br />

sich auf europäischer Ebene, dies zeigt sich anhand der Novellierungen der<br />

Brand- und Katastrophenschutzgesetzgebungen der Länder, dies zeigt sich<br />

an den Positionen des AK V der Innenministerkonferenz, dies zeigt sich an<br />

der beschleunigten Binnendifferenzierung innerhalb der bestehenden Strukturen<br />

(z.B. neue Führungsmodelle; Konkurrenzen um Positionen vor Ort,<br />

z.B. Einsatzleitzentrale und Einsatzleitung), dies zeigt sich bei übergreifenden<br />

Einsätzen (z.B. Fluß-Hochwasser, Auslandshilfe) und mehr noch bei<br />

Hilfsmaßnahmen, die einer ressourcenschonenden Gesamtpolitik, von<br />

Katastrophenschutz über Katastrophensoforthilfe bis hin zur Entwicklungspolitik<br />

dringend bedürften (vgl. Toetzke 1996).<br />

Am eindrücklichsten aber zeigt sich die Problematik anhand der eigentümlichen<br />

Position, die die Bevölkerung im Gefüge des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

einnimmt, oder genauer: nicht einnimmt. Ideel wie nominell<br />

gilt die Bevölkerung als Ziel und Objekt aller Schutzvorkehr, faktisch aber<br />

kommt die Bevölkerung nicht vor. Ganz gleich, welchen Indikator man zur<br />

Abbildung dieser Tatsache heranzieht, die Zahl von Schutzräumen, die Zahl<br />

der in Selbstschutz Ausgebildeten, die Zahl privat verfügbarer Schutzmasken<br />

oder -anzüge, Art und Umfang genereller Notfallkenntnisse (vgl.<br />

Moniac 1979), immer zeigt sich, daß Katastrophen- und weit mehr noch<br />

<strong>Zivilschutz</strong> seit Gründung der Bundesrepublik zum Besitzstand von<br />

Fachressorts und Fachpersonal geworden ist und daß deren Planungen, Vorhaltungen<br />

und Dienstleistungen die Bevölkerung nach Maßgabe fachlicher<br />

Spezialisierung zum immer laienhafteren Adressaten gemacht hat, statt<br />

Agenten und Agenturen dieser Adressaten zu werden und mit sich in Korrespondenz<br />

mit deren Bedürfnissen fortzuentwickeln.<br />

Natürlich ist eine solche Sichtweise im Mannheim’schen Sinne (1980)<br />

„seinsgebunden“, Kind ihrer Zeit, „kundenorientiert“, wie man heute in<br />

Anlehnung an ein betriebswirtschaftlich orientiertes Marketing formulieren<br />

209


würde. Aus dieser Sicht sind hoheitliche Aufgaben in Deutschland noch nie<br />

konstituiert worden. Die Staatsdiener dienen dem Staat, nicht ihren Bürgern.<br />

Karl Otmar Freiherr von Aretin (1967:27) hat diese obrigkeitsstaatliche<br />

Sichtweise anhand der Notstandsrechte herausgearbeitet und im Vergleich<br />

mit der grundlegend anderen angelsächsischen Auffassung als historisch<br />

überkommen kritisiert: Die deutsche Auffassung, so von Aretin, „sieht<br />

im Staat das Primäre. Ihn gilt es zu schützen, wobei die Rechte des Bürgers<br />

in den Hintergrund treten müssen“. Für die zweite, die angelsächsische<br />

Lösung ist dagegen „der Bürger, das Volk, als Träger der Souveränität das<br />

Wichtigste“. Von daher fragt von Aretin (29 f.), was angesichts dieser unterschiedlichen<br />

Auffassungen einerseits die jeweiligen Staatsformen in Notlagen<br />

für ihre Bürger zu leisten vermögen, andererseits aber auch, was die<br />

Bürger für ihre Staaten leisten können und stellt fest: Der Obrigkeitsstaat<br />

traut seinen Bürgern weder zu, sich selbst noch anderen oder gar dem<br />

Gemeinwesen insgesamt helfen zu können. Vielmehr wird befürchtet, daß<br />

die Bürger politisch, moralisch und emotional „aus dem Ruder laufen“,<br />

also Panik, Aufruhr, Kopflosigkeit und Widersetzlichkeit vorherrschen.<br />

Deshalb auch müsse Katastrophenschutz vor allem ein Ordnungsorgan sein.<br />

Der „liberale Staat“ gehe dagegen davon aus, daß sich seine Bürger im Notfall<br />

selbst zu helfen wissen, sie aber auch bereit sind, anderen und dem<br />

Gemeinwesen beizustehen, sofern dafür ein geeigneter und allgemein verfügbarer<br />

Rahmen bereitstehe.<br />

Von Aretins Auffassung wird von den Fakten unterstützt. Sämtliche<br />

europäischen Staaten, allen voran die Schweiz und Skandinavien, stellten<br />

sowohl für den Zivil- wie für den Katastrophenschutz einen geeigneteren<br />

und leichter verfügbaren Rahmen für Hilfe und Selbsthilfe zur Verfügung<br />

als die Bundesrepublik Deutschland. Auch der Ton in Richtung Bürger ist in<br />

diesen Staaten grundlegend anders, während man in Deutschland selbst in<br />

sogenannten Informations- und Aufklärungsschriften, in Merkblättern und<br />

Bekanntmachung einen scheinbar unausrottbaren obrigkeitsstaatlichen Ton<br />

findet: Es wird angeordnet, die Bürger haben zu befolgen, ansonsten wird<br />

mit Sanktionen gedroht (vgl. Dombrowsky 1997). Ein Dialog mit den Bürgern<br />

findet nicht statt, schon gar keine sachbezogene Zusammenarbeit, wie<br />

sie z.B. in den USA verfassungsmäßig verankert ist (local planning committee;<br />

Right to Know Act). Was also Bürger tatsächlich für bedrohlich<br />

halten, wie sie sich davor schützen wollen, welchen Schutz sie vom Staat<br />

erwarten und welchen Teil sie selbst beitragen können und wollen ist gänzlich<br />

unbekannt. Die Befragungen zum Zivil- und Katastrophenschutz waren<br />

in diesem Sinne allesamt ihr Geld nicht wert, weil sie eher vordergründigen<br />

legitimatorischen Interessen dienten, denn dem Stillen eines tatsächlichen<br />

Wissensdurstes.<br />

Hier nun kommen beide Momente zum Schnitt, deswegen ist die „Neukonzeption“<br />

weder neu noch Konzeption: Weil die den Zivil- und Katastrophenschutz<br />

administrierenden Fachpersonale noch immer mehrheitlich von<br />

einer obrigkeitsstaatlichen Sicht auf Bevölkerung kujoniert werden, fehlt<br />

210


der Wissensdurst, um sich über geeignete Fragen einer grundlegend veränderten<br />

Wirklichkeit so annähern zu wollen und zu können, daß aus Staatsdienern<br />

Dienstleister werden, die einen Zivil- und Katastrophenschutz als<br />

nachfragewerte Serviceleistung entwickeln und anbieten. Weil also nach<br />

wie vor Bevölkerung nicht stattfindet, bleibt <strong>Zivilschutz</strong> nach wie vor eine<br />

phantastische Inszenierung. reduziert sich Katastrophenschutz nach wie vor<br />

auf Interventionismus, auch wenn längst empirisch sichtbar geworden ist,<br />

daß ein präventiver Katastrophenschutz auf gesellschaftlichem Niveau<br />

ebenso wirkungsvoll sein könnte wie es der vorbeugende Brandschutz in<br />

seinem Bereich schon ist (dazu Dombrowsky/Brauner 1996).<br />

Weil also Bevölkerung als nachfrageseitige Instanz für Anpassungsleistung<br />

nicht vorkommt, bleibt Zivil- und Katastrophenschutz unter sich. Deshalb<br />

auch findet die Neuordnung in erster Linie als Rebalancement eines aus der<br />

Nachkriegsbalance gerissenen Systems statt. Dabei ist noch unentschieden,<br />

wie Gewinne und Verluste verteilt werden. Empirische Erkenntnisse stehen,<br />

allein aus Zeitgründen, noch aus. Interessant ist aber, daß die erhöhte Binnendifferenzierung<br />

des Systems Katastrophenschutz aus strukturellen Gründen<br />

chaotischer verlaufen muß, als dies beispielsweise bei der Umsetzung<br />

der Seveso-Richtlinie in deutsches Recht verlief Dort hatte ein hoch einflußreicher<br />

Industrieverband die sehr heterogenen Interessenlagen seiner<br />

informationspflichtigen Mitglieder gebündelt und in Form „einstimmigen“<br />

politischen Gewichts gegenüber dem Gesetzgeber vertreten. Die Neuordnung<br />

des Katastrophenschutzes dagegen vollzieht sich bislang ohne eine<br />

solche bündelnde Stimme. Die sechzehn Bundesländer sehen sich sogar in<br />

einer spezifischen Konkurrenz gegenüber dem Rahmenrecht des Bundesgesetzgebers.<br />

Alte Verwundungen scheinen noch immer zu schmerzen; die<br />

alten Länder tragen dem Bund seine „zentralistischen“ Interventionsversuche<br />

nach, der Bund gibt sich enttäuscht über die Kompetenzhuberei der<br />

Länder. <strong>Neue</strong> Wunden kamen hinzu, wenn man die Rangeleien auf europäischem<br />

Niveau betrachtet. Von daher nimmt es nicht Wunder, wenn die Binnendifferenzierung<br />

von allen Beteiligten, auch von den mitwirkenden Organisationen<br />

und Institutionen, zuvörderst dafür genutzt wurde, sich besser zu<br />

plazieren, mögliche Nachteile abzuwehren oder abzuwälzen und absehbare<br />

Vorteile so umfassend wie möglich in den zu erarbeitenden Aufgabenfeldern,<br />

Ausführungsbestimmungen und Richtlinien zu verankern. Es ging<br />

vornehmlich um Budgets, STANs, Kompetenzen und Dominanzen; um ein<br />

neues, ein anderes und besseres Konzept ging es, bis auf wenige Ausnahmen,<br />

nicht.<br />

Zivil- und Katastrophenschutzverdrossenheit<br />

Der Sache nach wäre ein neues Konzept ebenso notwendig wie historisch<br />

geboten. Zu Recht ist die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />

mit der veränderten sicherheitspolitischen Lage in Europa begründet worden.<br />

Tatsächlich aber endete nicht nur eine spezifische militärische, sondern<br />

211


auch eine spezifische ideologische Konfrontation. Und wenn die neue<br />

militärische Lage Grund genug war, den Zivil- und Katastrophenschutz<br />

anzupassen, wäre auch die neue ideologische Lage Grund genug gewesen,<br />

um dessen ideologische Substanz zu überprüfen und einem inzwischen<br />

grundlegend veränderten Denken anzupassen. Es erscheint angemessen,<br />

sich an dieser Stelle der Einsicht zu erinnern, die Professor Hippius anläßlich<br />

der Erweiterung der <strong>Schutzkommission</strong> um den damaligen Ausschuß<br />

VIII vor genau 25 Jahren während der Tagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in Freiburg formulierte:<br />

Die Einsicht liegt auf der Hand, daß alle noch so perfekten Maßnahmen<br />

des Schutzes ... in ihrem Wert stark gemindert werden können, wenn es in<br />

den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu einem die Effizienz der äußeren<br />

Schutzmaßnahmen herabsetzenden Fehlverhalten kommt. Zu solchem<br />

Fehlverhalten kommt es immer dann, wenn die betroffenen Bevölkerungsgruppen<br />

unvorbereitet und uninformiert über die Möglichkeiten und<br />

Grenzen der äußeren Schutzmöglichkeiten in Katastrophensituationen<br />

sind.<br />

Aufgrund der Ergebnisse der Risiko-, Krisen- und Kommunikationsforschung,<br />

denen zufolge der enge Konnex von Wahrnehmen, Denken und<br />

Handeln anhand breiten empirischen Materials belegt ist, läßt sich Hippius’<br />

Einsicht durchaus auch auf die Wirksamkeit ideologischer Einflüsse erweitern:<br />

Dann liegt die Einsicht auf der Hand, daß alle noch so perfekten<br />

Schutzmaßnahmen in ihrem Wert stark gemindert werden können, wenn in<br />

der Bevölkerung ein Denken fortbesteht, das diesen Wert nicht erkennen<br />

läßt. Zu einer solchen Fehlwahrnehmung kommt es immer dann, wenn die<br />

Bevölkerung unvorbereitet und uniformiert ist und ein Dialog weder über<br />

Möglichkeiten und Grenzen, noch über Sinn und Nutzen äußerer Schutzmöglichkeiten<br />

geführt wird. Zudem ließe sich von den Erkenntnissen der<br />

Krisen- und Kommunikationsforschung lernen, daß Motivationskrisen vor<br />

allem Identifikationskrisen sind. Wer sich nicht einbezogen oder sogar ausgegrenzt<br />

fühlt, der wendet sich innerlich ab, „kündigt“ seine „Mitgliedschaft“<br />

auf. Dies gilt im betrieblichen Bereich, als „innere Kündigung“, dies<br />

gilt aber auch für den staatsbürgerlichen Bereich, als Desinteresse und Politikverdrossenheit.<br />

Die Enquete-Kommission des 9. Deutschen Bundestages über „Jugendprotest<br />

im demokratischen Staat“ liest sich wie ein Weißbuch zu solcher Verdrossenheit:<br />

„Das Gefühl der Ohnmacht, der Hoffnungslosigkeit, aber auch<br />

der Wut, die Verweigerung der Mitarbeit in Parteien oder der Ausstieg aus<br />

unserer Gesellschaft prägen weite Teile der Protestbewegung. Viele Jugendliche<br />

glauben, daß Politiker mit Höchstgeschwindigkeit eine Sackgasse<br />

befahren, deren Ende längst in Sicht ist“ (Jugendprotest… 1983:111). Demgegenüber<br />

wird „Politik auf Dauer nur dann Vertrauen gewinnen können,<br />

wenn sie auch für die nachfolgenden Generationen Gestaltungsspielräume<br />

läßt (126). Politik muß Perspektiven für die Gestaltung der Zukunft aufweisen“<br />

(111). Was für die „Seelenlage“ der Jugend formuliert wurde, gilt<br />

212


für staatsbürgerliches Engagement generell (vgl. Clausen/Dombrowsky<br />

1990; Ruhrmann/Kohring 1996). In keinem Punkte sind sich die verschiedenen,<br />

darüber forschenden Disziplinen so einig, wie in diesem: Akzeptanz<br />

findet der Staat bei seinen Bürgern nur noch dort, wo sie sich als Bürger<br />

akzeptiert fühlen. Das historische obrigkeitsstaatliche Ungleichgewicht ist<br />

längst einer Austauschwertigkeit gewichen, bei der sich der Staat um seine<br />

Bürger bemühen muß. Auch darin kommt Modernisierung zum Ausdruck,<br />

daß die in alle Lebensbereiche vordringende Rechenhaftigkeit Montarisierungskalküle<br />

in Anschlag bringt, die den Bürger fragen lassen, was sie für<br />

ihre Leistungen zurückbekommen. Auch zu diesen Problemen liegen inzwischen<br />

breite <strong>Forschung</strong>sergebnisse vor, die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich<br />

daran beteiligt (vgl. Dombrowsky 1992). Worum es zu gehen hätte, wäre,<br />

diese Einsichten in ein <strong>Forschung</strong>sprogramm umzusetzen, das den Dialog<br />

mit dem Bürger aufnimmt, seine Ansichten, Bedürfnisse aber auch Beiträge<br />

für das Gemeinwesen erfragt, systematisiert und für eine Neukonzeption<br />

von Zivil- und Katastrophenschutz fruchtbar macht, die diesen Namen verdient.<br />

Ansatz für einen Dialog über einen zukünftigen Zivil- und<br />

Katastrophenschutz<br />

In Deutschland leisten mehr als zwölf Millionen Menschen in mehr als<br />

400 000 Gemeinschaften und Organisationen jährlich über 2,8 Mrd. Stunden<br />

ehrenamtliche Arbeit. Die Wertschöpfung ihres Engagements beträgt<br />

(je nach Ansatz; hier: 15 DM/Std.) rund 42 Mrd. DM. Müßte die Gesellschaft<br />

diesen Betrag in Mark und Pfennig aufbringen, müßte jeder Bürger<br />

zusätzlich 525 DM pro Jahr (bei 80 Mio.) bezahlen. Aber es geht nicht nur<br />

um ein barwertes Engagement. Wie in jedem Unternehmen, das große Vorteile<br />

aus den <strong>Neue</strong>rungsvorschlägen seiner Mitarbeiter bezieht, bringen<br />

fachlich engagierte Bürger in all diesen Ehrenämtern Ideen und Verbesserungsvorschläge<br />

ein, die unser Gemeinwesen kostenlos stärken und es sozial,<br />

menschlich und sachlich voranbringen. Die Vorstellung, daß sich Zivilund<br />

Katastrophenschutz in dem erschöpfen könnte, was die damit Befaßten<br />

dazu entwickelt haben, ist schlicht borniert, zugleich aber auch eine Kränkung<br />

und Abweisung jener Bürger, die sich, in welcher Form auch immer,<br />

Mühe gegeben haben. Auch hier gilt: Wer dieses Mühen aus fachlicher<br />

Überheblichkeit oder menschlicher Unfähigkeit nicht erkennt, erkennt<br />

einem Menschen seine bürgerliche Beteiligung ab. Auch hier zeigt die Krisen-<br />

und Kommunikationsforschung, daß insbesondere derartige Kränkungen<br />

besonders dauerhaft und schmerzlich sind. Von daher stünde es einem<br />

bürgerbezogenen Zivil- und Katastrophenschutz gut zu Gesicht, wenn diejenigen,<br />

für die er wirksam sein soll, die ihn aber zugleich auch tragen sollen,<br />

endlich ihre ureigene Kompetenz für Notstände konzeptualisieren.<br />

In einem ersten Schritt sollte einmal erfaßt werden, wo, trotz allen Lamentierens<br />

über Werteverfall und „Ego-Gesellschaft“, bürgerliche Tugenden<br />

213


nach wie vor und immer wieder von neuem zum Ausdruck kommen (A). In<br />

einem zweiten Schritt sollten diese Potentiale daraufhin analysiert werden,<br />

welchen Bedürfnissen sie entsprechen, welchen Anschauungen und Wahrnehmungen<br />

(auch Risikowahrnehmungen) sie aufruhen, welche Bewertungen<br />

eingehen und welche Bereitschaften sie einschließen, dafür Leistungen<br />

zu erbringen (B). In einem dritten Schritt sollten die Handlungsdeterminanten<br />

untersucht werden, um erfahren zu können, unter welchen Bedingungen<br />

Menschen aktiv und prosozial agieren (C). Und in einem letzten Schritt<br />

schließlich sollten Maßnahmen und Strategien entwickelt werden, die für<br />

den Bürger eine Serviceleistung darstellen, also in einem angebotsorientierten<br />

Ansatz vom Nutzen für den Bürger ausgehen (D). Auch dafür gibt es<br />

bereits empirische Untersuchungen, die zeigen, wie die Akzeptanz öffentlicher<br />

Güter getestet und evaluiert werden kann (vgl. Becker et al. 1993).<br />

A) Erfassen von Selbsthilfepotentialen „moderner“ Art<br />

– Sozialdienstagentur<br />

– Kranken- u. Babysitting<br />

– Neighborhood Watch<br />

– U-Bahn-Patrouille (Berlin)<br />

– Nachbarschaftshilfe (Blumengießen, Briefkasten leeren, Mülltonnen rausstellen)<br />

– Tauschbörsen<br />

– Mitnutzungszentralen<br />

B) Analyse moderner Selbsthilfepotentiale<br />

– auf welche Bedrohung wird reagiert<br />

– wie werden die Bedrohungen wahrgenommen („Staat versagt“, Defizit,<br />

Isolation)<br />

– wie werden die Bedrohungen bewertet<br />

– welche emotionale Zuordnung findet statt<br />

– welche Lösungen werden erträumt (mehr Polizei, starker Staat)<br />

– wie sind die konkreten Lösungen entstanden<br />

– wieviel ist man bereit, selbst zu tun?<br />

– welche Risiken werden überhaupt wahrgenommen?<br />

– wie werden Risiken hierarchisiert?<br />

– welche bedrohlichen Ereignisse führen überhaupt zu Reaktionen/Maßnahmen?<br />

C) Handlungsdeterminanten (Hindernisse und Beförderungen)<br />

– wie wird die Kluft zwischen Mißstand und Nichtreagieren erklärt?<br />

– welche persönlichen Determinanten<br />

– welche strukturellen Determinanten lassen sich für Nicht-Handeln/<br />

Handeln identifizieren?<br />

214


D) Maßnahmen und Strategien<br />

– Therapeutisches Intervall und 1. Glied der Rettungskette aufwerten und<br />

planbar gestalten<br />

– Vulnerabilität und Schutzvermögen schulen (vgl. Norwegen)<br />

– Initiativplan (Selbstschutz-„Tupper-Party“: Nachbarn einladen)<br />

– „Offertüre“ (Ouvertüre durch positive Offerte): eine Anleitung zum sozialen<br />

Nachahmen:<br />

– Schutzfibel<br />

– Selbstschutzerziehung (analog: Brandschutzerziehung, einschl. Massenkomm<br />

à la „7. Sinn“)<br />

– Initiativplan „Umbrella“: Eine Initiative für eine integrative Rahmengesetzgebung,<br />

die vom Gesundheitsschutz, Unfallschutz, Arbeitsschutz,<br />

Umweltschutz, Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> alle Schutzleistungen des<br />

Staates für seine Bürger so zu einer Gemeinschaftsaufgabe staatlicher<br />

Daseinsvorsorge zusammenführt, daß daraus ein Sicherheitsgewinn, aber<br />

auch materieller Gewinn durch Vereinfachung und Rationalisierung entstehen<br />

kann.<br />

Literatur<br />

Becker, J./Dombrowsky, W. R./Goetzke, I./Herger, P./Kast, J./Ohlendieck, L.: Erarbeitung von Alarm- und<br />

Gefahrenabwehrplänen und Umfang der Information der Bevölkerung in der Nachbarschaft störfallrelevanter<br />

Anlagen. Texte 43/93, hrsg. v. Umweltbundesamt Berlin, Berlin: UBA 1993<br />

Clausen, Lars & Dombrowsky, W. R.: Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik bei Großunfällen und<br />

Katastrophen. <strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 1, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1990<br />

Dombrowsky, Wolf R.: Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophenschutz. Ein Planungszellenverfahren.<br />

<strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 10, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1992<br />

Dombrowsky, W. R.: Zum Teufel mit dem Bindestrich. Zur Begründung der Katastrophen(-)Soziologie in<br />

Deutschland durch Lars Clausen, in: Dombrowsky, W. R. & Pascro, U. (Hg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe.<br />

Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen. Wiesbaden: Westdt. Vlg. 1995: 108–122<br />

Dombrowsky, W. R. & Brauner, C.: Defizite der Katastrophenvorsorge in Industriegesellschaften am Beispiel<br />

Deutschlands. Untersuchungen und Empfehlungen zu methodischen und inhaltlichen Grundsatzfragen.<br />

Gutachten im Auftrag des Deutschen IDNDR-Komitees für Katastrophenvorbeugung e.V. (Langfassung).<br />

Deutsche IDNDR-Reihe Nr. 3b, Bonn: IDNDR 1996<br />

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Research Centre, Ispra, Italy. Kiel: KFS 1992<br />

Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik 1989 – Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>, IPOS-Studie im<br />

Auftrag des BMI<br />

Hippius, H.: Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> in Freiburg/Br. Am 12./13. Mai 1972<br />

Jugenprotest im demokratischen Staat II, Schlußbericht 1983 der Enquete-Kommission des 9. Deutschen<br />

Bundestages, Zur Sache 1/1983, Speyer: Deutscher Bundestag, Presse- und Informationszentrum Referat<br />

Öffentlichkeitsarbeit 1983<br />

215


Mannheim, K.: Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit, in: Ders.: Strukturen des<br />

Denkens, hrsg. v. D. Kettler u.a., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980: 255–322<br />

Moniac, R.: Der <strong>Zivilschutz</strong> in der öffentlichen Meinung. Zivilverteidigung 4/1979: 35–42<br />

Ruhrmann, G. & Kohring, M.: Staatliche Risikokommunikation bei Katastrophen. Informationspolitik und<br />

Akzeptanz. <strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 27, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1996<br />

Toetzke, C.: Entwicklungsorientierte Nothilfe des BMZ, Notfallvorsorge 3/1996: 9–11<br />

216


Die Erstellung von Datenbasen als Entscheidungshilfe<br />

für die Regierung, eine Aufgabe für die <strong>Schutzkommission</strong>?<br />

Georg Gerber<br />

Einleitung<br />

Die folgenden Ausführungen sind als Diskussionsgrundlage gedacht und<br />

keinesfalls ein ausgearbeiteter Vorschlag. Daher möchte ich im obigen Teil<br />

insbesondere das Fragezeichen betonen und Sie um Ihre Meinung darüber<br />

bitten, zum Ersten, ob eine solche Datenbasis der <strong>Schutzkommission</strong> helfen<br />

kann, sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen und so besser ihre<br />

Aufgabe zur Beratung der Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit<br />

wahrzunehmen und zum Zweiten, ob Sie glauben, dass die <strong>Schutzkommission</strong><br />

in der Lage ist, eine solche Datenbasis aufzubauen. Die Details der<br />

Datenbasis, die ich nur zu Illustration der Möglichkeiten erwähnen werden,<br />

sollten wir erst später diskutieren.<br />

Während der 30 Jahre, die ich der <strong>Schutzkommission</strong> angehört habe, haben<br />

sich ihr Wesen und ihre Ziele grundlegend verändert. Früher konnten wir<br />

unser Augenmerk auf wissenschaftliche <strong>Forschung</strong> lenken, die in irgendeiner<br />

Weise dem Schutz der Bevölkerung bei Katastrophen dienen sollte.<br />

Heute müssen wir zeigen, dass wir als Wissenschaftler in der Lage sind,<br />

wissenschaftliche Gesichtspunkte beim Katastrophenschutz im Widerstreit<br />

politischer Interessen zu Gehör zu bringen.<br />

Gefahren durch Katastrophensituationen sind heute genau so aktuell wie<br />

früher, aber ihre Einschätzung durch Politiker und die Öffentlichkeit haben<br />

sich gewandelt. Ich glaube, dass der Gefahrenbericht, den die <strong>Schutzkommission</strong><br />

erstellt hat, diesem neuen Bild ausgezeichnet entspricht. Dieser<br />

Bericht hat jedoch seine Grenzen. Er ist eine Momentaufnahme unserer<br />

gegenwärtigen Situation. Er enthält zu wenig detaillierte Informationen für<br />

die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit im Katastrophenfall, und, ich<br />

fürchte, er enthält vielleicht mehr Informationen als beschäftigte Politiker<br />

Zeit für eine sorgfältige Lektüre aufwenden wollen.<br />

Mein Vorschlag ist daher diesen Gefahrenbericht zu einer Datenbasis<br />

weiterzuentwickeln, der je nach Bedarf allgemeine Gesichtspunkte wie Einzelheiten<br />

entnommen werden können und die stets auf dem neuesten Stand<br />

gehalten werden sollte. Zwei Gründe haben mich auf diesen naheliegenden<br />

Gedanken gebracht. Einmal habe ich, zusammen mit amerikanischen und<br />

japanischen Kollegen eine Datenbasis über Informationen an strahlenbiologischen<br />

Tierversuchen entwickelt, über die ich an dieser Stelle bereits<br />

berichtet habe. Zum anderen hatte ich in den letzten Jahren, insbesondere<br />

bei einem Besuch in Japan im letzten Herbst, die Gelegenheit zur Diskus-<br />

217


sion mit den japanischen Kollegen, die eine Datenbasis über die Wirkung<br />

kleiner Strahlendosen entwickeln.<br />

Diese Datenbasis, die zum Teil noch in der Planung ist, hat ein doppeltes<br />

Ziel, einmal die Öffentlichkeit über die Wirkungen und Risiken von Strahlen<br />

zu informieren, zum anderen den Wissenschaftlern die Abschätzung der<br />

Risiken geringer Strahlendosis zu erleichtern. Diese Informationen sollen<br />

zum Teil auch über das Internet angeboten werden.<br />

Inhalt der Datenbasis<br />

Eine von der <strong>Schutzkommission</strong> zu entwickelnde Datenbasis sollte deren<br />

Aufgaben widerspiegeln. Hier sehe ich die folgenden Problemkreise, die im<br />

wesentlichen denen des Gefahrenberichts entsprechen:<br />

Gefahren bei katastrophalen Ereignissen (chemisch, radiologisch, mikrobiologisch…),<br />

ihre Kurz- und Langzeitrisiken für die Bevölkerung und<br />

die Einsatzkräfte;<br />

Situationen, bei denen solche Gefahren auftreten können (Naturkatastrophen,<br />

industrielle Katastrophen, Krieg, Terror);<br />

Vorbeugemassnahmen: gegenwärtiger Stand, Engpässe und Bedarf (medizinische<br />

Versorgung, Wasser, Lebensmittel, Energie, Transport, Einsatzkräfte);<br />

Gegenmassnahmen bei spezifischen Katastrophen;<br />

Personen (auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene), die in<br />

der Lage sind, die Verantwortlichen in spezifischen Situationen zu beraten<br />

und die Öffentlichkeit zu informieren;<br />

Literatur: eine Auswahl der wichtigsten Arbeiten zum Problem.<br />

Die Datenbasis sollte so konstruiert sein, dass sie auf die Fragen Antwort<br />

geben kann, die von Politikern und der Öffentlichkeit an die <strong>Schutzkommission</strong><br />

gestellt werden könnten. Beispiele für solche Fragen könnten sein:<br />

– Welches sind die Risiken einer bestimmten Situation (Beispiel Transportunfall<br />

mit Freisetzung von Radioaktivität aus aufgearbeiteten Brennelementen)?<br />

– Wie verhält sich das toxische Material in der Umwelt?<br />

– Wie groß ist die Toxizität des freigesetzten Materials und die Symptome<br />

bei Inhalation, Aufnahme mit der Nahrung… für die Bevölkerung und für<br />

die Einsatzkräfte?<br />

– Welche Vorbeugemassnahmen und Gegenmassnahmen stehen für eine<br />

bestimmte Situation zur Verfügung?<br />

– Welche Personen für eine Information von Politikern oder der Öffentlichkeit<br />

am Fernsehen oder auf lokaler Ebene herangezogen werden?<br />

– Wo findet man Literatur zu den entsprechenden Problemen?<br />

218


Sollten wir uns entscheiden, eine solche Datenbasis zu entwickeln, wird es<br />

eine erste Aufgabe sein, einen solchen möglichst vollständigen Fragenkatalog<br />

aufzustellen.<br />

Die Struktur der Datenbasis<br />

Die verschiedenen Informationen werden in Form von Tafeln gespeichert,<br />

die als relationelle Datenbasis miteinander verbunden sind. Die Datenbasis<br />

könnte mittels eines kommerziellen Programmes (ACCESS) realisiert<br />

werden.<br />

Jeder der erwähnten Problemkreise besteht aus einer Reihe von Tafeln, die<br />

über Indices und eventuelle Hilfstafeln miteinander verknüpft sind. Verschiedene<br />

Suchprogramme ermöglichen eine Antwort auf die verschiedenen<br />

Fragen. Zudem können Optimierungsprogramme an die Datenbasis angeschlossen,<br />

die als Entscheidungshilfe unter Auswertung realer Informationen<br />

Vorschläge für optimale Strategien entwickeln in ähnlicher Weise, wie<br />

dies auch für radiologische Unfälle bereits durchgeführt wird.<br />

Planung und Durchführung<br />

Sollte die <strong>Schutzkommission</strong> sich für die Entwicklung einer solchen Datenbasis<br />

entscheiden, könnte ich mir folgendes Vorgehen vorstellen:<br />

Zunächst sollte eine kleine Gruppe (6–10 Personen) aus den verschiedenen<br />

Komitees die Vorarbeiten in Gang bringen<br />

a) Diskussion, ob eine solche Datenbasis sinnvoll und möglich ist;<br />

b) Aufstellung einer Frageliste über mögliche Anwendungen;<br />

c) Entscheidung, ob eine solche Datenbasis entwickelt werden soll;<br />

d) Entscheidung über das zu verwendete Programm;<br />

e) Planung der Struktur der Datenbasis;<br />

f) Prüfung des Plans an einem Teilgebiet des Katastrophenschutzes;<br />

g) Befragung der Mitglieder der <strong>Schutzkommission</strong> über spezifische<br />

Informationen;<br />

h) Einbringen der Daten.<br />

Die Kosten einer solchen Datenbasis halten sich meiner Ansicht nach in<br />

Grenzen. Benötigt werden Gelder für Hardware und Software, das meiste<br />

davon im ersten Jahr, Treffen und Reisen, das Sekretariat und evtl. teilzeitliche<br />

Einstellung eines jungen Informatikers. Die vollständige Entwicklung<br />

einer solchen Datenbasis wird sicherlich etwa 5 Jahre in Anspruch nehmen.<br />

Ein zentraler Teil der Datenbasis könnte in etwa 3 Jahren operationell sein.<br />

219


Zum Abschluss meiner Bemerkungen möchte ich noch einmal betonen,<br />

dass diese Ideen allein zur Diskussion in den Raum gestellt sind. Sie sind<br />

sicherlich noch nicht genug ausgereift, um in den Details diskutiert zu<br />

werden.<br />

220


Der Einsatztoleranzwert als Instrument der raschen<br />

Gefahrenbewertung am Brandort und beim Gefahrstoffeinsatz*<br />

Klaus Buff und Helmut Greim<br />

Einleitung<br />

Feuer, Rauch und Hitze sind spektakuläre Erscheinungen von Großbränden<br />

und markieren deutliche, für jedermann wahrnehmbare Gefahren (Bild 1).<br />

Weniger auffällig, aber deswegen nicht minder gefährlich sind die eher<br />

unsichtbaren Begleiterscheinungen in Gestalt gasförmiger Brandprodukte.<br />

Toxische Brandgase gefährden die Gesundheit von Einsatzkräften und der<br />

Bevölkerung. Das Wissen der Einsatzleitung über Art und Umfang auftretender<br />

toxischer Brandprodukte reicht aber oft nicht aus, um daraus<br />

entstehende gesundheitliche Gefahren richtig einschätzen und dementsprechend<br />

angemessene Schutzmaßnahmen treffen zu können. Diese<br />

Problematik kennzeichnet gleichermaßen Großbrände und Einsätze mit<br />

gefährlichen Stoffen.<br />

Dieses Problem aufgreifend hat die „Vereinigung zur Förderung des Deutschen<br />

Brandschutzes“ (vfdb) einen Richtlinienentwurf zum Schutz der Einsatzkräfte<br />

und der Bevölkerung vor der Einwirkung toxischer Schadstoffe<br />

entworfen und zur Diskussion gestellt (1). In dem Entwurf „10/01“ wurden<br />

26 Einzelstoffe als gasförmige Schadstoffe benannt. Vorkommen, Häufigkeit<br />

und Toxizität, nicht zuletzt auch praktische Aspekte wie die Möglichkeit<br />

der schnellen Erfassung mit Prüfröhrchen bestimmen die Auswahl der<br />

Stoffe. Die akute inhalative Toxizität dieser Stoffe wurde in Faktendatenbanken<br />

recherchiert. Aus den Daten wurden unter der Annahme einer ungeschützten<br />

vierstündigen Exposition gesunder Feuerwehrleute „Einsatztoleranzwerte“<br />

abgeleitet (1). – Eine vergleichende Übersicht der damaligen<br />

Einsatztoleranzwerte mit anderen nationalen und internationalen Grenzund<br />

Richtwerten gibt Uelpenich (2).<br />

Die Einsatztoleranzwerte waren als vorläufige Richtwerte konzipiert und<br />

primär für Einsatzkräfte ohne Atemschutz gedacht worden. In späteren<br />

Überarbeitungen des Richtlinienentwurfs sollte auch der Schutz der gesunden<br />

Bevölkerung vor toxischen Gefahren durch den Einsatztoleranzwert mit<br />

abgedeckt sein. Der Entwicklung der letzten Jahre entsprechend vertritt das<br />

Referat 10 der vfdb derzeit den Standpunkt, den Schadensfall „Brand“ aus<br />

dem Entwurf der Richtlinie zu entfernen und die „10/01“ ausschließlich für<br />

den Gefahrguteinsatz neu zu konzipieren. In jedem Fall aber bedurften die<br />

vorgeschlagenen Einsatztoleranzwerte noch einer eingehenden toxikolo-<br />

* Das Projekt wurde vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> (BZS) gefördert.<br />

221


gischen Überprüfung und Begründung. Diese ist jetzt von den Verfassern<br />

vorgenommen und in einem Abschlußbericht an das BZS dokumentiert<br />

worden (3).<br />

Toxikologische Ableitung der Einsatztoleranzwerte<br />

In einer umfassenden Literaturrecherche wurden die wissenschaftlichen<br />

Publikationen über die akute Toxizität von insgesamt 34 Schadstoffen<br />

gesammelt und toxikologisch bewertet. Langzeitwirkungen wie Gentoxizität<br />

oder Kanzerogenität spielten nur eine untergeordnete Rolle. Schwerpunkte<br />

der Literaturauswertung waren Erfahrungen mit kontrolliert-exponierten<br />

Personen und Berichte aus klinischen Beobachtungen, in zweiter<br />

Linie ergänzt durch die Ergebnisse von Tierversuchen. Im einzelnen sind<br />

folgende Bewertungskriterien hervorzuheben:<br />

– Resorpitonsgrad nach Inhalation (evtl. auch nach Hautkontakt),<br />

– Entstehung und Verteilung der Stoffe im Körper (einschließlich evtl.<br />

Anreicherungen),<br />

– Stoffwechselprodukte und deren Verteilung,<br />

– Zielorgane (Konzentrationen am Wirkort, „innere Exposition“),<br />

– Verweilzeit im Körper und Ausscheidung,<br />

– Wirkmechanismen der Toxizität von Ausgangssubstanz und Stoffwechselprodukten,<br />

– Schwellenwerte toxischer Effekte,<br />

– akute systemische Toxizität und lokale Reizwirkungen,<br />

– toxikologische Begründung anderer Grenz- und Richtwerte (MAK, BAT<br />

u. a.).<br />

Auf der Basis dieser Unterlagen und unter Berücksichtigung weiterer<br />

jeweils stoffspezifischer Eigenschaften und Wirkungen nach akuter Inhalation<br />

wurden für 34 Stoffe die Einsatztoleranzwerte abgeleitet. Sie sind in<br />

Tabelle 1 aufgelistet.<br />

Tabelle 1: Einsatztoleranzwerte für eine Expositionsdauer von<br />

4 Stunden<br />

Stoff Einsatztoleranzwert (ppm)<br />

Aceton 500<br />

Acrolein 0,2<br />

Acrylnitril 20<br />

Ammoniak 50<br />

Benzol 20<br />

Carbonylchlorid (Phosgen) 0,1<br />

Chlor 1<br />

222


Chlorbenzol 100<br />

Chlorcyan 0,3<br />

Chlorwasserstoff 5<br />

Cyanwasserstoff (Blausäure) 5<br />

Essigsäure 20<br />

Ethanol 3 000<br />

Fluorwasserstoff (Flußsäure) 5<br />

Formaldehyd 1<br />

n-Hexan 200<br />

Hydrazin 1<br />

Kohlendioxid 10 000<br />

Kohlendisulfid (Schwefelkohlenstoff) 10<br />

Kohlenmonoxid 100<br />

Methanol 500<br />

Phosphin (Phosphorwasserstoff) 0,5<br />

Schwefeldioxid 1<br />

Schwefelwasserstoff 10<br />

Stickstoffdioxid 1<br />

Styrol 40<br />

Tetrachlorethan 100<br />

Toluol 100<br />

Toluylendiisocyanate (TDI) 0,02<br />

1,1,1-Trichlorethan 300<br />

1,1,2-Trichlorethan 25<br />

Trichlorethen 100<br />

Vinylchlorid 100<br />

Interpretation der Einsatztoleranzwerte<br />

Die Einsatztoleranzwerte entsprechen den Konzentrationen der einzelnen<br />

Schadstoffe, bei denen alle Personen ohne Atemschutz und einer Expositionszeit<br />

bis zu vier Stunden keine gesundheitliche Gefährdung erfahren.<br />

Folglich gelten die Werte gleichermaßen für Einsatzkräfte und Bevölkerung,<br />

Kinder und alte Menschen, gesunde und kranke Personen; sie können<br />

für jeden Zeitraum unter vier Stunden Anwendung finden. In bezug auf die<br />

Konzentrationshöhe sind sie ohne Reserve „nach oben“ konzipiert worden.<br />

Es gibt also keinen noch anzurechnenden „Sicherheitsfaktor“. Das gilt<br />

besonders für Reizstoffe, die auch bei einer Exposition im Bereich der Einsatztoleranzwerte<br />

milde, jedoch vorübergehende und toxisch irrelevante<br />

Beeinträchtigungen hervorrufen können (Beispiel: Chlor).<br />

Bei drei Stoffen, nämlich Cyanwasserstoff, Schwefeldioxid und Stickstoffdioxid,<br />

liegen die Einsatztolerenzwerte deutlich unterhalb der Maximalkonzentration<br />

am Arbeitsplatz (MAK). Die MAK Werte vieler Einzelstoffe<br />

sind durch ausführliche toxikologische Begründungen der Arbeitsplatztoxi-<br />

223


zität gestützt. Die Begründungen werden, dem Stand der Kenntnis folgend,<br />

von Zeit zu Zeit überarbeitet. <strong>Neue</strong> wissenschaftliche Ergebnisse können<br />

eine Überprüfung der MAK Einstufung und der Expositionswerte rechtfertigen.<br />

Häufig resultieren aus diesem Verfahren neue, meist tiefere MAK<br />

Werte. Eine Überprüfung der toxikologischen Einstufung der drei erwähnten<br />

Stoffe, mit dem voraussichtlichen Ergebnis einer Korrektur „nach<br />

unten“ ist von der Kommission bereits in Arbeit gegeben worden.<br />

Die Einsatztoleranzwerte geben einen ersten Anhaltspunkt für die akute<br />

Toxizität der Einzelstoffe. Mögliche Kombinationswirkungen wurden bei<br />

der Ableitung der Werte nicht berücksichtigt. Die Auswertung der wissenschaftlichen<br />

Literatur hat zudem gezeigt, daß eindeutige, auf die gleichzeitige<br />

Inhalation von Stoffen zurückzuführende verstärkt toxische Wirkung<br />

nur bei hohen, im Bereich der Wirkungsschwelle liegenden Konzentrationen<br />

zu erwarten sind. Bei Einhaltung der von uns abgeleiteten Einsatztoleranzwerte<br />

ist dies nicht der Fall. Überlegungen über toxische Wirkungen<br />

infolge gleichzeitiger Expositionen mit mehreren Brandgasen können also<br />

für die unmittelbare Einsatzpraxis außer Betracht bleiben. Der Einfluß physikalischer<br />

Wirkungen wie Brandhitze auf die inhalative Toxizität konnte<br />

mangels experimenteller Anhaltspunkte bei der Bewertung der Einsatztolerenzwerte<br />

nicht berücksichtigt werden. Gleiches gilt auch für die Bewertung<br />

der Einzelgase in Anwesenheit von Rauchgaspartikeln.<br />

Identifizierung toxisch relevanter Brandgase<br />

Für die Einsatzpraxis der Feuerwehr ist es wichtig, die zu treffenden<br />

Schutzmaßnahmen auf die wirklich toxisch relevanten Bestandteile von<br />

Brandgasgemischen abzustimmen. Daher wurden Literaturangaben über<br />

Vorkommen und Konzentrationen von Schadstoffen bei Gebäude- und<br />

Wohnungsbränden in unmittelbarer Brandnähe sowie Ergebnisse mit simulierten<br />

Bränden gesammelt, um durch Vergleich mit den Einsatztoleranzwerten<br />

ein Maß für die toxikologische Relevanz der einzelnen Stoffe zu<br />

definieren (3). Informationen über Zusammensetzung und Konzentration<br />

von Verbrennungsprodukten sind in den Tabellen 2 und 3 enthalten.<br />

Tabelle 2: Vergleich der bei Gebäude- und Wohnungsbränden gemessenen<br />

Brandgase mit den Einsatztoleranzwerten<br />

Brandgas Häufigkeit des Konzentration Einsatztoleranzwert<br />

Auftretens (%) (ppm) (ppm)<br />

Aceton 15–50 500<br />

Acrolein 50 0,3–15 0,2<br />

Benzol 85 bis 250 20<br />

Chlorbenzol 25 nachgewiesen 100<br />

Chlorwasserstoff 9–53 1–280 5<br />

Cyanwasserstoff 12–75 5–75 5<br />

Ethanol 25 nachgewiesen 3 000<br />

224


Fluorwasserstoff 34 bis 7,5 5<br />

Formaldehyd 30–100 bis 15 1<br />

n-Hexan 30 nachgewiesen 200<br />

Kohlendioxid 100 bis 50 000 10 000<br />

Kohlenmonoxid 100 bis 7 500 100<br />

Schwefeldioxid 15–50 0,2–41 1<br />

Stickstoffdioxid 9–17 10 1<br />

Styrol 5–80 bis 25 40<br />

Tetrachlorethan 5–60 bis 0,14 100<br />

Toluol 80 15–25 100<br />

1,1,1-Trichlorethan nachgewiesen 300<br />

1,1,2-Trichlorethan nachgewiesen 25<br />

Trichlorethen 40 0,2 100<br />

* Tabelle und Literatur aus (3), gekürzt.<br />

Die Tabelle 2 zeigt, daß bei Gebäude- und Wohnungsbränden die Konzentration<br />

vieler Stoffe den Einsatztoleranzwert schon in geringer Entfernung<br />

vom Brandherd nicht mehr erreichen, andere aber diesen Wert deutlich<br />

überschreiten können. Chlorwasserstoff, Cyanwasserstoff, Formaldehyd<br />

und Kohlenmonoxid werden häufig nachgewiesen, die hohen Konzentrationen<br />

am Brandort verleihen diesen Stoffen die größte toxikologische<br />

Bedeutung. In Sonderfällen wurden auch Acrolein, Schwefeldioxid und<br />

Stickstoffdioxid in höheren Konzentrationen am Brandort gemessen, wobei<br />

in diesen Literaturbeispielen die hohen Werte eher als „Ausreißer“ anzusehen<br />

sind. Für größere Distanzen vom Brandort, etwa in 50–100 m Entfernung,<br />

ist abzusehen, daß infolge des Ausbreitungsverhaltens der Stoffe in<br />

der Luft die Konzentrationen aller Brandgase unter den jeweiligen Einsatztolerenzwert<br />

verdünnt werden. Die bei realen Bränden erhaltenen Ergebnisse<br />

sind durch Beispiele simulierter Raumbrände mit sortiertem Mobiliar<br />

in Tabelle 3 ergänzt.<br />

Tabelle3 Vergleich der bei simulierten Raumbränden gemessenen<br />

Brandgase mit den Einsatztoleranzwerten<br />

Brandgas Konzentration (ppm) Einsatztoleranzwert (ppm)<br />

Acrolein 10–36 0,2<br />

Chlorwasserstoff 7–260 5<br />

Cyanwasserstoff bis 2 000 5<br />

Essigsäure nachgewiesen 20<br />

Fluorwasserstoff 0,2–3 1<br />

Kohlendioxid bis 250 000 10 000<br />

Kohlenmonoxid bis 200 000 100<br />

Schwefeldioxid 7–200 1<br />

Stickstoffdioxid 15–164 1<br />

* Tabelle und Literatur aus (3), gekürzt.<br />

225


Bei Bränden von Gebäuden, die nur wenige Materialgruppen eingelagert<br />

haben, wie Chemikalien- und Düngemittellager, Silos, Lager von Polstermöbeln,<br />

kunststoffverarbeitende Betriebe u.ä., können im Brandfall zu den<br />

bereits genannten 4 Brandgasen zusätzlich weitere Gase in sehr hoher Konzentration<br />

entstehen, denen dann toxische Relevanz zuerkannt werden muß.<br />

Beispiele dafür sind Acrolein aus Baumwolle, Ammoniak aus Düngemitteln,<br />

Fluorwasserstoff, Schwefel- und Stickstoffoxid aus den entsprechenden<br />

F-, S- und N-haltigen Kunststoffen sowie Toluylendiisocyanate (TDI)<br />

aus Schaumstoffmaterialien.<br />

Praktische Anwendung<br />

Die Einsatztoleranzwerte sollen es dem Einsatzleiter ermöglichen, akute<br />

gesundheitliche Bedrohungen durch toxische Brandgase rasch abzuschätzen.<br />

Der Anwendungsbereich erstreckt sich auf alle Menschen ohne Atemschutzausrüstung.<br />

Ihre Verwendung erübrigt den Zugriff auf andere Grenzoder<br />

Richtwerte, wie sie die MAK, die „Biologisch-medizinischen Arbeitsplatz-Toleranzwerte“<br />

(BAT), die „Emergency Response Planning Guidelines“<br />

(ERPG) u.ä. darstellen. Das bedeutet für den Einsatzleiter eine stark<br />

vereinfachte Entscheidungsfindung: der Vergleich der einlaufenden Daten<br />

aus analytischen Messungen der Schadgaskonzentrationen mit den Einsatztoleranzwerten<br />

erlaubt vor Ort eine Ja/Nein Antwort auf die Frage nach der<br />

potentiellen Gesundheitsgefährdung. Bleiben die gemessenen Konzentrationen<br />

der Schadgase unterhalb der Einsatztolerenzwerte, so braucht der<br />

Einsatzleiter keine besonderen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung<br />

zu treffen. Steigt die Konzentration einer toxischen Komponente in kurzer<br />

Zeit (beispielsweise bei mehreren Messungen innerhalb von einigen<br />

Minuten) klar über den Einsatztoleranzwert, dann muß der Einsatzleiter<br />

eingreifen und geeignete Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Menschen<br />

einleiten.<br />

Aus den verfügbaren Informationen ergibt sich als Konsequenz für den<br />

praktischen Einsatz bei Großbränden und Gefahrguteinsätzen:<br />

– im allgemeinen Fall von Gebäude- und Raumbränden sowie bei unbekanntem<br />

Brandgut genügt für eine erste Gefährdungsabschätzung die<br />

Messung von 4 Brandgasen, denen die größte toxikologische Bedeutung<br />

zukommt:<br />

Chlorwasserstoff<br />

Cyanwasserstoff<br />

Formaldehyd<br />

Kohlenmonoxid<br />

– bei Bränden von speziellem Brandgut sind zusätzliche Schadstoffe zu<br />

erwarten. Beispiele sind:<br />

226


Acrolein bei Baumwollvorräten,<br />

Ammoniak bei Kunststoff- und Düngemittellagern,<br />

Fluorwasserstoff bei Lagern mit PTFE Kunststoffen,<br />

Schwefeldioxid bei Lagern von Wolle,<br />

Stickstoffdioxid bei Zelluloid und vielen Kunststoffen,<br />

Toluylendiisocyanate (TDI) bei Polstermöbeln mit Polyurethan-<br />

Schaumstoffen.<br />

– bei Gefahrguteinsätzen finden die Einsatztoleranzwerte der jeweiligen<br />

Stoffe ihre Anwendung.<br />

Nachweis und Messung der angegebenen Brandgase ist derzeit in der Praxis<br />

ausnahmslos mit Prüfröhrchen möglich. Auf Meßgenauigkeit und Problematik<br />

beim Meßeinsatz soll an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen<br />

werden.<br />

Zusammenfassung und Ausblick<br />

Die Einsatztoleranzwerte sind ein Maß der akuten Inhalationstoxizität 34<br />

ausgewählter Schadstoffe unter den Rahmenbedingungen des vfdb Richtlinienentwurfs<br />

10/01. Sie können in Beziehung gesetzt werden zu den in der<br />

Realität gemessenen Stoffen und deren Konzentrationen. Dabei zeigt es<br />

sich, daß es im allgemeinen Brandfall genügt, als Grundlage einer schnellen<br />

Gefährdungsabschätzung nur die Entwicklung von vier Stoffen zu<br />

verfolgen. Dies sind Chlorwasserstoff, Cyanwasserstoff, Formaldehyd und<br />

Kohlenmonoxid. Bei Gefahrguteinsätzen oder Bränden großer Mengen von<br />

einheitlichem Material ist mit hohen Konzentrationen weiterer stoffspezifischer<br />

Verbrennungsprodukte zu rechnen, die mit ihren Einsatztolerenzwerten<br />

die Abschätzung toxischer Gefahren unterstützen können.<br />

Das vorgestellte Verfahren beruht auf der Toxikologie ausgewählter Einzelstoffe.<br />

Die chemische Analytik ist jedoch in der Lage, eine große Zahl vorwiegend<br />

organischer Rauchgasbestandteile zu erfassen (4). Die meisten<br />

davon sind noch nicht toxikologisch bewertet. Diese analytischen Informationen<br />

für eine rasche, aber fundierte Beurteilung toxischer Gefahren bei<br />

Bränden nutzbar zu machen ist dringend erforderlich. Bis dahin dürfte<br />

eine Abschätzung der gesundheitlichen Gefährdung der bei Bränden und<br />

Gefahrgutunfällen betroffenen Bevölkerung auf der Basis der Einsatztoleranzwerte<br />

eine solide Grundlage bieten.<br />

Die toxikologisch begründeten Einsatztoleranzwerte sollen Eingang in die<br />

nun anstehende Neubearbeitung der vfdb Richtlinie 10/01 finden. Das<br />

Referat 10 beabsichtigt, die neuen Werte darin zu verankern. Der inzwischen<br />

gegenüber der ursprünglichen Fassung erweiterte Anwendungsbereich<br />

(Einbeziehung aller Gruppen der Bevölkerung) und die Besonderheit<br />

des zeitlichen Rahmens einer vierstündigen Exposition legen eine neue<br />

Bezeichnung der Richtwerte nahe, so z.B. als „4-h-Toleranzwert“.<br />

227


Literatur<br />

(1) Entwurf „Richtlinie zur Bewertung von Schadstoffkonzentrationen im Feuerwehreinsatz“, vfdb-Richtlinie<br />

10/01, Fassung September 1993.<br />

(2) Uelpenich, G.: Grenzwerte und Richtwerte: Werte ohne Grenzen? Brandschutz/Deutsche Feuerwehr-<br />

Zeitung/47, 570–574, 1993.<br />

(3) Buff, K. und Greim, H.: Entwicklung von Verfahren zur Abschätzung von gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von<br />

Großbränden. <strong>Forschung</strong>svorhaben 4b/92 des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong>, Bonn, Juni 1995.<br />

(4) Matz, G., Harder, A., Rechenbach, P.: Spürtrupp unter Vollschutzanzug zur Probenahme vor! Meßtrupp<br />

zum Einsatz fertig. Brandschutz/Deutsche Feuerwehr-Zeitung 47, 207–214, 1993.<br />

228


Sensorik für sicherheitsrelevante Anwendungen<br />

D. Kohl und A. Schwarz, H. Petig, J. Kelleter, O. Kiesewetter<br />

Zunächst waren es die Bedürfnisse des Kohlebergbaus, die zuerst zu Prüfvorschriften<br />

des Landesoberbergamtes NRW führten, um die Schutzfunktion<br />

von Gassensoren sicherzustellen. Dabei ging es zum einen um den<br />

Schutz vor Explosionen brennbarer Gase, insbesondere von Methan. Zum<br />

anderen ging es um den Schutz vor toxischen Gasen wie zum Beispiel CO,<br />

um den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Der Einsatz<br />

von Gassensoren in anderen Industriebereichen folgt dieser Zweiteilung.<br />

Die sogenannten Ex-Schutzsensoren fanden Anwendung in der Überwachung<br />

von Trocknungsanlagen, Tanklagern und Deponiegasen, bei der<br />

Lecksuche an Pipelines und in vielen anderen Bereichen. Häufig wird hier<br />

der Bereich bis zur unteren Explosionsgrenze, einige Prozent des betreffenden<br />

Gases in Luft überwacht, in selteneren Fällen ist auch der Bereich oberhalb<br />

der oberen Explosionsgrenze von Interesse. Sensoren für toxische Gase<br />

werden in der Halbleiterproduktion, in Chemieanlagen und in vielen weiteren<br />

gewerblichen Betrieben eingesetzt.<br />

Die deutschen Aufsichtsbehörden berücksichtigen bei der Beurteilung der<br />

Ex-Schutzmaßnahmen eines Anlagenbetreibers die Explosionsschutz-<br />

Richtlinien und die Unfallverhütungsvorschrift „Gase“ des Hauptverbandes<br />

der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Die Gaswarneinrichtungen müssen<br />

dabei Anforderungen an ihre Bauweise erfüllen, deren Einhaltung durch<br />

eine von den Berufsgenossenschaften anerkannte Prüfstelle bescheinigt<br />

wird. Für die Geräte zur Messung toxischer Gase existiert das Merkblatt<br />

T 017 der Berufsgenossenschaft Chemie, das die Prüfung von Schwefelwasserstoff-Warngeräten<br />

festlegt. CO-Warnanlagen können gemäß der<br />

Garagenverordnung (Richtlinie VDI 2053) und CO 2 -Meßgeräte gemäß<br />

einem Merkblatt (noch nicht in endgültiger Form fertiggestellt) des deutschen<br />

Ausschusses für Getränkeschankanlagen geprüft werden. Für andere<br />

toxische Gase ist das Merkblatt T 017 anwendbar, wenn die Anforderungen<br />

sinngemäß, z.B. entsprechend den MAK-Werten, angepasst werden. Zur<br />

Gewährleistung des freien Warenaustausches innerhalb der Europäischen<br />

Gemeinschaft ist im Frühjahr 1996 die Richtlinie 94/9/EG in Kraft getreten,<br />

die unter anderem die Anforderungen an Geräte mit einer Meßfunktion<br />

für den Explosionsschutz enthält. Nach dem 30. 6. 2003 dürfen nur noch<br />

Geräte verkauft werden, die der EG-Richtlinie entsprechen. Eine entsprechende<br />

EG-Richtlinie für toxische Gase ist in Vorbereitung. Die genannten<br />

Regeln unterscheiden entweder gar nicht nach Einsatzbereichen oder nur<br />

zwischen zwei Einsatzbereichen: Gruppe I „Steinkohlebergbau“ und Gruppe<br />

II „Sonstige Industrie“. Auch geprüfte Geräte dürfen von den Anlagenbetreibern<br />

nur eingesetzt werden, nachdem der Betreiber zusätzlich die<br />

Eignung für den vorgesehenen Zweck geprüft hat. Ein Einsatzbereich von<br />

CO-Sensoren, die Brandfrüherkennung im Steinkohlebergbau ist durch eine<br />

229


spezielle Richtlinie des Landesbergamtes NRW abgedeckt. Hier wird neben<br />

einer einsatzspezifischen Baumusterprüfung auch eine begleitende Untertageerprobung<br />

gefordert. Für Gasmeßgeräte zum Einsatz auf Deponien hat<br />

die Berufsgenossenschaft Chemie im Merkblatt T 022 Zusatzanforderungen<br />

definiert, die eingehalten werden müssen. Anforderungen an komplexe Gaswarnsysteme<br />

können nicht wie bei Einzelgeräten durch die Formulierung<br />

von Mindestanforderungen sinnvoll festgelegt werden. Daher werden diese<br />

Systeme zur Bewertung in Module zerlegt, die dann nach einheitlichen Verfahren<br />

behandelt werden. Dazu sind europäische Richtlinien in Vorbereitung.<br />

Im Explosionsschutz hat sich ein Konzept durchgesetzt, das auf einem<br />

Patent beruht, das von der Health and Safety Executive, einem Bergbausicherheits-Institut<br />

in Sheffield, angemeldet wurde. Mehrere, auch deutsche<br />

Firmen, nahmen eine Lizenz und fertigten den sogenannten Pellistor<br />

(andere Bezeichnung: Wärmetönungssensor, mikrokalorimetrischer Sensor).<br />

Der Name rührt von der englischen Bezeichnung „pellet“ für Kügelchen<br />

her. Katalytisch aktives Material in Form eines Kügelchens von 2 mm<br />

Durchmesser wird durch eine innen liegende Heizspirale aus sehr dünnem<br />

Plastikdraht auf etwa 600°C aufgeheizt. Durch Überwachung des Platindraht-Wiederstandes<br />

wird die Temperatur konstant gehalten. Die anwesenden<br />

brennbaren Gase werden auf den inneren Oberflächen des porösen<br />

Katalysatormaterials mit dem Luftsauerstoff verbrannt. Die dabei abgegebene<br />

Wärmemenge, sie wird durch Verringerung der elektrischen Heizleistung<br />

kompensiert, ist ein Maß für die Konzentration der brennbaren<br />

Gase. Der Gaszutritt wird durch Diffusion begrenzt, so daß die Katalysatoraktivität<br />

stark abfallen kann, ohne die Nachweisempfindlichkeit wesentlich<br />

zu verringern.<br />

Toxische Gase, Konzentrationen im Bereich einiger ppm, werden derzeit<br />

überwiegend mit amperometrisch arbeitenden elektrochemischen Zellen<br />

nachgewiesen. So reagiert CO an einer Edelmetallelektrode mit Wasser zu<br />

CO2 , der verbleibende Wasserstoff wird als Ion durch einen wässrigen Elektrolyten<br />

transportiert. Der Ionenstrom wird als Meßsignal genutzt. Auch<br />

hier wird der Gaszutritt durch Diffusion begrenzt, und wie beim Pellistor<br />

der Einfluß der katalytischen Aktivität auf das Meßsignal stark abgeschwächt.<br />

Für stationäre Geräte und hochwertige Handgeräte werden<br />

zunehmend auch Infrarotabsorptionszellen eingesetzt.<br />

Aus der <strong>Forschung</strong> und Entwicklung der letzten Jahre stehen Gassensoren<br />

und Auswertemöglichkeiten bereit, die in Deutschland noch keinen Eingang<br />

in kommerzielle Geräte gefunden haben. In wissenschaftlichen Veröffentlichungen<br />

über neue Gassensoren werden deren gassensitive Eigenschaften<br />

in der Regel im Labor gemessen. Dabei ist es noch immer die Ausnahme,<br />

wenn man Angaben über die Reproduzierbarkeit des Herstellungsverfahrens<br />

und Langzeittests zur Stabilität der Kennlinien findet. Auch Querempfindlichkeiten<br />

werden nur selten im Bezug auf eine konkrete Anwendungsumgebung<br />

bestimmt. Im folgenden sollen die Gassensorarten, die im wissen-<br />

230


schaftlichen Bereich bereits häufig untersucht wurden, jedoch in Deutschland<br />

zur Sicherstellung von Schutzfunktionen noch nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen<br />

eingesetzt werden, als neue Sensoren bezeichnet werden:<br />

Halbleiter-Schichtsensoren<br />

Die Funktion beruht auf einer Adsorption und in vielen Fällen auf einer<br />

nachfolgenden Reaktion der nachzuweisende Gase auf der Oberfläche.<br />

Dabei werden an der Oberfläche Elektronen freigesetzt oder gebunden, die<br />

den Leitwert ändern. Solche Sensoren auf SnO 2 -Basis werden zu Preisen<br />

von unter 10 DM in Japan seit 1968 von Figaro und New Cosmos und ab<br />

1970 auch von weiteren Firmen (Matushita, Toshiba, Hitachi, . . .) in Stückzahlen<br />

von einigen Millionen pro Jahr hergestellt und dort für zwei Aufgaben<br />

eingesetzt.<br />

Methansensoren dienen zur Ex-Schutz-Überwachung, weil Lecks in Gasversorgungsleitungen<br />

dort wegen der leichteren Bauweise der Häuser und<br />

der größeren Häufigkeit von Erdbeben ein erhebliches Gefahrenpotential<br />

darstellen. 1975 führte das „Consumer Center“ des japanischen Ministeriums<br />

für internationalen Handel und Industrie aufgrund von Klagen aus der<br />

Bevölkerung einen Test mit allen im Handel erhältlichen Halbleiter-Schichtsensor-Methanwarngeräten<br />

durch. Ein großer Anteil der angebotenen Geräte<br />

löste bei Angebot einer Methankonzentration der unteren Explosionsgrenze<br />

nicht aus. Darüber wurde ausführlich in der Presse berichtet und die<br />

Regierung veranlasste die Hersteller zu umfassenden Qualitätskontrollen.<br />

Dazu gehörten eine mehrmonatige überwachte Voralterung der Sensoren,<br />

Messungen bei variierender Luftfeuchtigkeit, verschiedene Ein/Aus-Zyklen<br />

und Angebote sehr hoher Gaskonzentrationen. Die Entwicklungsbemühungen<br />

des Herstellers Figaro (90 % Markanteil) konzentrierten sich darauf,<br />

einen unbeaufsichtigten Betrieb der Geräte von 5 Jahren ohne Austausch<br />

des Sensorelements sicherzustellen. Selektivität und eine präzise eingehaltene<br />

Nachweisempfindlichkeit waren ausdrücklich nicht die primären<br />

Entwicklungsziele. 1986 wurde in Japan ein Gesetz erlassen, das Gasverteilerfirmen<br />

den Einbau von Gaswarngeräten beim Endkunden vorschreibt.<br />

Gasexplosionen wurden von Regierungsseite statistisch ausgewertet, der<br />

Einsatz der Gaswarngeräte (mit Halbleiter-Schichtsensoren) wurde positiv<br />

bewertet [1].<br />

Kohlenmonoxidsensoren finden in den japanischen Küchen Verwendung.<br />

Dort wird in der Regel über Gasflammen gekocht. Da die Küchen sehr<br />

klein sind und oft weniger als 2 qm Grundfläche aufweisen, sinkt beim<br />

Zubereiten einer größeren Mahlzeit der Sauerstoffgehalt auf 18 % oder<br />

weniger ab. An den Kochstellen entsteht bei einem Sauerstoffmangel soviel<br />

CO, daß Konzentrationen erreicht werden, die zum Tode führen können. Bei<br />

den größeren Küchen in Deutschland ist die Gefahr nicht so hoch, jedoch<br />

kommt es in Badezimmern mit Gasthermen in Deutschland jedes Jahr zu<br />

einigen Todesfällen.<br />

231


In Deutschland sind preisgünstige Gaswarngeräte für den Freizeitmarkt<br />

(Sensoren in Motorbooten und beim Camping für die Methan/Butan-Gasbehälter<br />

und für CO) mit Halbleiter-Schichtsensoren aus japanischer oder<br />

europäischer Produktion erhältlich, die jedoch bisher nicht für die Anforderungen<br />

der EG-Richtlinie qualifiziert wurden.<br />

Gassensitive Feldeffekt-Transistoren<br />

Dieser Gassensor basiert auf einem üblichen Feldeffekttransistor, bei dem<br />

der Strom von einer Feldelektrode gesteuert wird, die Ladungsträger influenziert.<br />

Dieses Bauelement wird gassensitiv, wenn man als Feldelektrode<br />

eine dünne Schicht von Palladium oder Platin verwendet, die in Kontakt mit<br />

der Umgebung steht, das Bauelement also nicht in der üblichen Weise verkapselt.<br />

Bei Arbeitstemperaturen von 100 bis 200 °C können Wasserstoff<br />

und wasserstoffhaltige Moleküle (z.B. Ethylen) auf der Oberfläche dissoziieren,<br />

Wasserstoffatome bzw. -ionen diffundieren durch die Feldelektrode<br />

und ändern durch Influenz den Leitwert des Transistors. Diese Sensoren<br />

werden seit etwa 2 Jahren in geringen Stückzahlen zur Überwachung von<br />

stillen Entladungen in Transformatoren eingesetzt.<br />

Massensensitive Sensoren<br />

Quarzschwinger oder Oberflächenwellenbauelemente werden mit einem<br />

Polymer oder Oxid beschichtet, das die anwesende Gase bei Temperaturen<br />

bis zu etwa 100 °C reversibel adorbiert. Die dadurch verursachte Massenzunahmen<br />

setzt die Eigenschwingungsfrequenz herab, die als Meßsignal<br />

dient. Dämpfe mit niedrigem Siedepunkt werden von diesem Sensortyp<br />

bevorzugt adsorbiert. Sie sind deswegen ein Kandidat für den Nachweis von<br />

Lösungsmitteln mit höherem Molekulargewicht im Personenschutzbereich<br />

[2].<br />

Seit 1996 ist ein erster deutscher Hersteller für Halbleiter-Schichtsensorenn,<br />

die Firma UST in Geraberg, mit einem Qualitätsmanagementsystem nach<br />

ISO 9001 zertifiziert. Bereits seit September 1995 ist das Fraunhofer Institut<br />

IMS in Duisburg, das die erwähnten gassensitiven Feldeffekt-Transistoren<br />

und Halbleiter-Schichtsensoren auf mikrostrukturierten Silizium-<br />

Membransubstraten in kleineren Stückzahlen herstellt, nach ISO 9001 zertifiziert.<br />

Es gibt Bedarfsfälle, in denen der gemeinsame Einsatz von konventionellen<br />

und neuen Gassensoren sinnvoll ist. Dazu gehört die Überwachung von<br />

Kryobehältern für Wasserstofftanks. In der Umgebung werden klassische<br />

Ex-Schutz-Sensoren eingesetzt, um Konzentrationen in Prozent der unteren<br />

Explosionsgrenze zu ermitteln. Zur Lecksuche ist dieser Typ zu unempfindlich,<br />

hier bieten sich spezielle Halbleiter-Schichtsensoren an, die für die<br />

Schwelbranderkennung entwickelt wurden. Damit kann 1 ppm H 2 rasch<br />

232


und selektiv erkannt werden. Innerhalb der üblichen Superisolierung des<br />

Tanks, muß im Vakuum gemessen werden. Die beiden erstgenannten Sensorarten<br />

benötigen zu ihrer Funktion die Anwesenheit von Sauerstoff und<br />

können deswegen im Vakuum nicht betrieben werden. Hier ist ein gassensitiver<br />

Feldeffektsensor geeignet, der 10-7 Pascal (10-9 Torr) H2 in einem<br />

Vakuumbehälter nachweisen kann. Von den genannten drei Sensorarten ist<br />

bisher nur der erste in Geräten mit der Bescheinigung einer anerkannten<br />

Prüfstelle erhältlich. Für die beiden anderen ist bisher erst das Stadium<br />

einer Herstellung nach ISO 9001 erreicht. Massensensitive Sensoren werden<br />

bislang noch nicht nach ISO 9001 hergestellt.<br />

In den vergangenen zehn Jahren sind eine Vielzahl von Ideen und Konzepten<br />

für „künstliche Nasen“ vorgestellt worden. In einer künstlichen Nase<br />

werden die Signale mehrerer Sensoren miteinander verrechnet. Jeder Einzelsensor<br />

ist auf mehrere der anwesenden Gase in unterschiedlichem Maße<br />

empfindlich. Bei geeigneter Auswahl der Sensoren lassen sich die Konzentrationen<br />

einzelner Gaskomponenten berechnen. Überwiegend werden<br />

dabei Sensoren gleichen Typs miteinander kombiniert. Häufig wurden hier<br />

die neuen Sensoren in „künstlichen Nasen“ eingesetzt, um „fingerprints“<br />

von Gerüchen wieder zu erkennen. Einige dieser kommerziell angebotenen<br />

künstlichen Nasen für den Laborbereich verwenden zur „Aroma“-Erkennung<br />

als sensitive Schichten Polymere, deren Leitfähigkeitsänderung [3]<br />

oder deren Massenzunahme ausgenutzt werden [4].<br />

Außerhalb des Laborbereiches wird in industrieller Umgebung bisher erst<br />

ein Multisensorsystem eingesetzt, das seit mehr als drei Jahren zur Erkennung<br />

von Schwelbränden in verschiedenen Kohlekraftwerken dient. Das<br />

System wurde von den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken in<br />

Essen, dem Institut für Angewandte Physik der Universität Gießen und der<br />

Firma UST in Geraberg gemeinsam entwickelt. Es wird von der Firma<br />

Siemens vertrieben und ist mit Halbleiter-Schichtsensoren der Firma UST<br />

ausgerüstet. Untersuchungen im Brandlabor des VdS (Verband der Sachversicherer<br />

in Köln, umbenannt seit 1997 in Gesamtverband der Deutschen<br />

Versicherungswirtschaft), der Prüfungsinstitution für Brandmelder, haben<br />

ergeben, daß das Gerät alle Testbrände, zu deren Detektion optische Melder<br />

und Ionisationsmelder eingesetzt werden, erkennt. Eine vollständige Geräteprüfung<br />

ist dort jedoch noch nicht erfolgt, weil diese im Kraftwerksbereich<br />

nicht erforderlich ist.<br />

Schwelbranderkennung mit Gassensoren<br />

Automatische Branderkennung über den Nachweis von Aerosolen oder<br />

Infrarot-Strahlung ist mit kommerziellen Meldern möglich. Diese sind<br />

jedoch gegenüber Schwelbränden relativ unempfindlich. Gasförmige Produkte<br />

einer unvollständigen Verbrennung sind neben CO 2 und H 2 O, die<br />

auch bei vollständiger Verbrennung anfallen, teiloxidierte Produkte wie<br />

CO, gesättigte und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, Alkohole, organische<br />

233


Säuren und Aldehyde. Daneben entstehen H2 und bei offenen Feuern auch<br />

NOx . Gassensoren für diese Gase und Dämpfe beruhen auf unterschiedlichen<br />

Prinzipien, eine Zusammenstellung finden sich in Referenz [5].<br />

Eletrochemische Zellen für CO mit Nachweisempfindlichkeiten bis herab<br />

zu 1 ppm werden häufig im Arbeitsschutz eingesetzt und sind auch für<br />

die Branderkennung geeignet, wenn die Gefahr von Fehlalarmen nicht im<br />

Vordergrund steht (seit vielen Jahren im Kohlebergbau).<br />

Halbleiter-Gassensoren erreichen vergleichbare Empfindlichkeiten, sind<br />

weniger empfindlich gegen rauhe Umgebungsbedingungen, weisen jedoch<br />

eine Drift des Nullpunktes auf.<br />

Beide Sensorarten ändern ihre Nachweisempfindlichkeit im Laufe ihrer<br />

Betriebsdauer. Deswegen können neuronale Netze nicht ohne Kenntnis des<br />

Alterungsverhaltens für Sensorsysteme eingesetzt werden, die längere Zeit<br />

ohne Nachkalibrierung auskommen müssen.<br />

Beim Entwurf eines Gassensorsystems für Schwelbrände in einer Bekohlungsanlage<br />

lagen diese Kenntnisse noch nicht vor. Eine weitere Erschwernis<br />

für den Einsatz neuronaler Netze wurde bei den ersten experimentellen<br />

Untersuchungen mit elektrochemischen Zellen in der Anlage offenbar. Fig. 2<br />

zeigt die Signale eines CO- und eines H2-Sensors während eines Schwelbrandexperiments.<br />

Durch Fluktuationen der Gasströmung im Raum entstehen<br />

erhebliche Signalschwankungen. In den Strömungsfahnen werden die<br />

Schwelgase gemeinsam transportiert und erreichen die Sensoren in Zeiten,<br />

innerhalb derer sich Diffusionseffekte noch nicht stark bemerkbar machen.<br />

Signalauswertung<br />

Die Signalauswertung erfolgt für elektrochemische Zellen und Halbleitergassensoren<br />

im wesentlichen in gleicher Weise. Wegen der hohen Staubbelastung<br />

wurden für den praktischen Einsatz Halbleiter-Gassensoren auf der<br />

Basis von Zinndioxid verwendet, die den Staub ohne Schädigung auf ihrer<br />

Oberfläche bei Betriebstemperaturen von etwa 300 °C verbrennen können.<br />

Figur 1 zeigt das Blockschaltbild der Gassensormeldeeinheit GSME. Die<br />

Leitwerte Gj der verwendeten drei Sensorelemente für H2 (j=1), CO (j=2)<br />

und für Lösungsmittel und NOX (j = 3) werden alle 30 sec bestimmt. Ein<br />

Maß für die Gaskonzentration ist die relative Änderung des Leitwertes<br />

bezogen auf den Wert G0 in Abwesenheit des Zielgases.<br />

Der Wert von G O ändert sich durch Alterung und auch durch die Anwesenheit<br />

von Hintergrundgasen (z.B. Feuchte). Deswegen wird der Mittelwert<br />

der letzten 6 Stunden als „gleitender Nullpunkt“ verwendet. Im Programm<br />

wird dies durch eine rekursive Formel mit einer Zeitkonstanten � von 6<br />

Stunden realisiert.<br />

234


G�(ti) = (1-a)*G�(ti-1) + a*G(ti)<br />

mit a = exp {-(ti-ti-1/�}.<br />

Die Signale, G/GO , für den H2-Sensor S1 und für den Lösungsmittelsensor<br />

S3 werden in dieser Weise bestimmt.<br />

Der CO-Halbleitersensor, in dessen Poren sich wegen der niedrigeren<br />

Betriebstemperatur (100 bis 150 °C) Wasser anreichert, muß alle 8 Stunden<br />

zur Regeneration für eine Minute auf 280 °C geheizt werden. Nach der<br />

Regeneration ist das Signal s2 des CO-Sensors zu niedrig und wird durch<br />

einen additiven Term, der exponentiell mit der Zeit abnimmt, korrigiert:<br />

S2 = s2 + exp {-ta/�CO}*(Sm1-Sm2),<br />

ta, Zeit seit der letzten Regeneration<br />

�CO�15 min bei 120 °C (�CO hängt von der Temperatur ab)<br />

Sm1, Sm2,<br />

Signale vor und nach der Regeneration<br />

Die Signale S1 und S2 werden benutzt, um ein Verhältnis S1 /S2 zu berechnen,<br />

das eine monotone Funktion des Konzentrationsverhältnisses [H2 /[CO]<br />

ist. Das untere Teilbild in Fig. 8 zeigt diesen Quotienten.<br />

S1 /S2 wächst im wesentlichen mit der Kerntemperatur des Schwelbrandes.<br />

Das Überschreiten eines Mindestwertes ist ein Hinweis auf die Existenz<br />

eines Schwelbrandes.<br />

S2 > S2 min·<br />

Das Verhältnis der [H 2 ]/[CO]-Emission eines Schwelbrandes fällt in ein<br />

bestimmtes Intervall (0,1 bis 0,5), deswegen muß auch das Verhältnis der<br />

Sensorsignale S 1 /S 2 in ein entsprechendes Intervall fallen.<br />

(S1/S2 )min < S1/S2


kungen beider Gase am Ort des Melders zueinander proportional sein. Dies<br />

kann man in die nachfolgenden Bedingungen (3) und (4) fassen.<br />

236<br />

fmin < (_S1�fm/S2�fm) < fmax<br />

mit fmin = (_S1�fm/_S2�fm)min, fmax = (_S1�fm/_S2�fm)max<br />

mit_S1�fm = {n-1 ��(S1(ti) - S1�fm)�2} 1 �2<br />

S1�fm, Mittelwert von S1 über ein Zeitinterval �fm<br />

von der Größenordnung zwischen zwei Fluktuationsmaxima<br />

(�fm = 5 min wurde hier gewählt)<br />

und<br />

� summiert über das Zeitinterval �fm<br />

_S2�fm > (_S2�fm)min (4)<br />

Bedingung (4) stellt das Äquivalent zu Bedingung (1) dar.<br />

Ein Alarm wird abgegeben, wenn die Bedingungen (1) und (2) oder wenn<br />

die Bedingungen (3) und (4) erfüllt sind. Die Bedingungen (1) und (2)<br />

kommen in Räumen ohne Luftbewegung zum Tragen. Die Bedingungen (3)<br />

und (4) sind in Räumen mit erheblichen Luftbewegungen, z.B. in der<br />

Bekohlungsanlage, maßgeblich.<br />

Da in einem Schwelbrand das Verhältnis S1 /S2 mit wachsender Kerntemperatur<br />

zunimmt und die Kerntemperatur in der Regel mit fortschreitender<br />

Zeit wächst, ist es sinnvoll, den Wert (S1 /S2 ) min in Bedingung (2) und den<br />

Wert fmin in Bedingung (3) abzusenken, wenn die nachfolgenden Bedingungen<br />

(5) und (6) über eine Stunde hinweg erfüllt sind.<br />

d(S1/S2)dt > {d(S1/S2)dt}min<br />

d(_S1�fm/_S2�fm)dt > {d(_S1�fm/_S2�fm)/dt}min<br />

Damit können auch sehr weit entfernte oder sehr kleine Schwelbrände<br />

durch die indirekte Beobachtung der Zunahme der Kerntemperatur zur<br />

Anzeige gebracht werden.<br />

Unterdrückung von Fehlalarmen<br />

Bei Reparaturarbeiten können die Konzentrationen von Lösungsmitteldämpfen<br />

weit höher (einige 100 ppm) sein als die Konzentrationen der<br />

Gase vom Schwelbrand, CO und H 2 (2 bis 100 ppm). Hohe Konzentrationen<br />

der Lösungsmittel rufen über die Querempfindlichkeiten sowohl auf<br />

dem CO als auch auf dem H 2 Sensor Signale hervor. Bei Reparaturarbeiten<br />

an den Transportbändern werden z.B. chlorierte Lösungsmittel verwendet,<br />

C 2 HC1 3 bei der kalten Vulkanisation und C 2 H 3 C1 3 bei der heißen Vulkani-<br />

(3)<br />

(5)<br />

(6)


sation. Zwei zusätzliche Bedingungen deaktivieren die Alarmgabe während<br />

der Reparaturzeit. Hierzu wird das Signal des Sensors S 3 herangezogen, der<br />

besonders empfindlich auf Lösungsmittel reagiert.<br />

(S3/S1)min > (S3/S1)min<br />

S3/S2 > (S3/S2)min<br />

mit (S3/S1)min � 1 und (S3/S2)min � 1<br />

Für die Fluktuationen gelten entsprechende Bedingungen.<br />

Aus den relativen Empfindlichkeiten der Sensoren S1 , S2 , S3 ist zu erkennen,<br />

daß auch Benzin und Ethanol keinen Fehlalarm auslösen:<br />

Lösungsmittel S1 [H2 ] S2 [CO] S3 [Lösungsmittel]<br />

Schwelbrand hoch hoch mittel<br />

CKW mittel niedrig hoch<br />

Ethanol mittel mittel hoch<br />

Benzin mittel mittel hoch<br />

Es soll noch bemerkt werden, daß offene Feuer durch einen Sensor für NOx erkennbar gemacht werden können. Dies war in der Bekohlung nicht erforderlich.<br />

Um alle Testbrände des VdS-Labors (Verband der Sachversicherer,<br />

Köln) erkennen zu können, wurde der Lösungsmittelsensor S3 so modifiziert,<br />

daß er eine Querempfindlichkeit für NOx aufweist. Lösungsmitteldämpfe<br />

und in geringerem Maße CO erzeugen eine Leitwerterhöhung,<br />

NOx verringert den Leitwert. Fig. 3 zeigt das Signal des Sensors S3 , aufgetragen<br />

über dem Signal des Wasserstoffsensors. Es ist gut zu erkennen, daß<br />

nur das mit offener Flamme brennende Petrolbenzin erhebliche Mengen<br />

von NOx erzeugt.<br />

Erprobung der Bekohlungsanlage<br />

Zur Erprobung wurde eine flache Pfanne mit 60 cm x 80 cm Kantenlänge<br />

verwendet, die 2 cm hoch mit Braunkohle bedeckt war. Zur Entzündung des<br />

Schwelbrandes wurde ein kleines Stück glühendes Eisen vorübergehend in<br />

der Mitte der Pfanne auf die Kohleschicht gedrückt. Fig. 4 zeigt die verschwelte<br />

Fläche in Abhängigkeit von der Zeit zusammen mit dem Quotienten<br />

der H 2 /CO Konzentration. Die H 2 -Konzentration steigt erst an, wenn die<br />

Mindesttemperatur für die katalytische Zersetzung des Wasserdampfes von<br />

der Kohle erreicht ist. Deswegen beginnt der Anstieg des H 2 -Signals und<br />

damit des Quotienten erst eine halbe Stunde nach dem Anstieg des CO-Signals.<br />

Wenn die verschwelte Fläche 0,5 m 2 erreicht hat, werden etwa 400 °C<br />

(7)<br />

(8)<br />

237


Kerntemperatur in der Kohle gemessen. Beide Melder erreichen S 1 /S 2 -Verhältnisse<br />

von eins. Schaltete man einen Alarm bei S 1 /S 2 = 0,5, so wird der<br />

Alarmzustand eines Melders in 5 m Abstand nach einer Stunde, der eines<br />

Melders in 30 m Abstand nach eineinhalb Stunden erreicht.<br />

Literatur<br />

[1] A. Chiba, Development of the TGS gas sensor, S.1–18 in Chemical Sensor Technologyn, Vol. 4, Kodansha,<br />

Tokio, Editor S. Yamachuchi, 1992.<br />

[2] G. Fischerauer, A. Mauder, R. Müller, Acoustic Wave Devices (SAW and BAW) S. 134–180 in Sensors,<br />

Vol. 8, Edts H. Meixner and R. Jones, VCH Weinheim, 1995.<br />

[3] Z. B. AromaScan pic, Elektra way, Crewe, UK CW1 1WZ.<br />

[4] Z. B. SAM von Daimler-Benz Aerospace RST Rostock Raumfahrt und Umweltschutz GmbH, Richard-<br />

Wagner-Str. 31, 18119 Warnemünde, sam@rst-rostock.de.<br />

[5] C. D. Kohl und M. Vornehm, Sensorik für toxische Gase und Dämpfe, GIT Laborpraxis 4/94.<br />

238


Bild 1: Die Temperatur der Sensoren wird geregelt. Der CO-Sensor wird<br />

durch die Ausheizsteuerung im Abstand von mehreren Stunden kurz hochgeheizt.<br />

Der Sensorkopf mit einem EPROM, das die Kalibrationswerte des<br />

Herstellers (UST GmbH) enthält, ist steckbar ausgeführt. Die Ausgabe-<br />

Baugruppe (entweder für Siemens-Pulsmeldesystem oder für M-Bus) befindet<br />

sich ebenfalls auf einem Stecksockel.<br />

239


Bild 2: Zeitlicher Verlauf der CO- und der H2-Konzentration während<br />

eines Schwelbrandexperiments. Die Signalquotienten sind ebenfalls angegeben.<br />

240


Bild 3: Signal des Sensors S3 für Lösungsmittel und NOx, aufgetragen<br />

über dem Signal des Wasserstoffsensors. Es ist gut zu erkennen, daß nur das<br />

mit offener Flamme brennende Petrolbenzin erhebliche Mengen von Produktx<br />

erzeugt, die den Leitwert von S3 verringern.<br />

241


Bild 4: Der Quotient der H 2 - und der CO-Konzentration zeigt einen ähnlichen<br />

zeitlichen Verlauf wie die glimmende Fläche einer Braunkohlestaubschicht<br />

in einem Schwelbrandexperiment.<br />

242


Gefahrstoff-Detektoren-Array GDA für Gefahrstoffe<br />

nach ETW-Liste und Kampfstoffe<br />

Gerhard Matz<br />

1. Einleitung<br />

In den letzten zehn Jahren haben wir uns in der <strong>Schutzkommission</strong> mit den<br />

Gefahren, die von Chemikalien bei Unfällen und Bränden ausgehen können,<br />

beschäftigt und besonders die Möglichkeiten zu der meßtechnischen<br />

Erfassung von Gefahrstoffen untersucht. Ergebnis war, daß grundsätzlich<br />

zwei unterschiedliche Klassen von Meßtechniken erforderlich und auch<br />

realisierbar sind, und zwar<br />

1. ein tragbares und einfach bedienbares Gefahrstoff-Detektoren-Array,<br />

kurz GDA, und<br />

2. ein komplexeres GC/MS-Analysesystem, das Gefahrstoffe identifizieren<br />

und quantitativ bestimmen kann.<br />

Beide Techniken sind in <strong>Forschung</strong>svorhaben an der TU Hamburg-Harburg<br />

zusammen mit Feuerwehren und der Industrie in den letzten fünf Jahren so<br />

weit gediehen, daß sie jetzt einsetzbar sind. Das GC/MS-System wird<br />

bereits von mehreren Feuerwehren betrieben, während die ersten vier Prototypen<br />

des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays, über das hier berichtet werden<br />

soll, zur Zeit in der Erprobung sind. Das Thema Gefahrstoff-Detektion ist<br />

zur Zeit besonders relevant, da Beschaffungsmaßnahmen zur Ausstattung<br />

der Schutzkräfte anstehen, die sich am neuesten Stand der Technik und<br />

Kenntnis orientieren müssen.<br />

In einem <strong>Forschung</strong>svorhaben über die Entwicklung eines Gefahrstoff-<br />

Sensorenarrays an der TUHH haben wir uns zunächst auf Halbleitersensoren,<br />

Elektrochemische Zellen, einen Photoionisationsdetektor und einen<br />

Nichtdispersiven-Infrarot-Detektor beschränkt. Das besonders interessante<br />

Ionen-Moblitäts-Spektrometer ist zunächst nicht weiter berücksichtigt<br />

worden, hat sich seit mehreren Jahren jedoch im militärischen Bereich bei<br />

der Kampfstoffdetektion bewährt. Aufgrund des Detektionsprinzips werden<br />

besonders gut elektronegative oder -positive Substanzen detektiert,<br />

die aufgrund ihrer Polarität für den Menschen besonders gefährlich sind.<br />

Zur Ionisation der zu detektierenden Gase wird eine radioaktive Quelle<br />

eingesetzt.<br />

Besonders im Hinblick auf die Notwendigkeit, auch chemische Kampfstoffe<br />

detektieren zu können, haben wir Ende der 80er Jahre das Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />

untersucht und im BZS getestet. Wegen der radioaktiven<br />

Quelle erschien ein Einsatz im zivilen Bereich aufgrund der bislang<br />

erforderlichen Strahlenschutzauflagen als nicht realistisch.<br />

243


Erst als 1994 von der Leipziger Firma Bruker-Saxonia Analytik ein Ionen-<br />

Mobilitäts-Spektrometer mit Membraneinlaß und einem geschlossenen<br />

internen Kreislauf fertiggestellt wurde, das nach PTB-Prüfung von Feuerwehrleuten<br />

ohne Strahlenschutzausbildung betrieben werden kann, ist das<br />

IMS als wichtige Komponente in die Überlegungen zum GDA aufgenommen<br />

und im letzten Jahr integriert worden.<br />

2. Meßaufgabe<br />

Das Gefahrstoff-Detektoren-Array soll kontinuierlich arbeiten, beim Einsatz<br />

am Körper getragen oder während der Fahrt im Spürfahrzeug, und so<br />

nachweisstark sein, daß möglichst alle Gefahrstoffe bei der Konzentration<br />

detektiert werden können, die als gefährlich festgelegt worden ist.<br />

– Stoffpalette, ETW und prinzipiell geeignete Detektortechnik<br />

Für den Feuerwehreinsatz bei Chemieunfällen sind dies die 33 relevanten<br />

Substanzen mit Einsatztoleranzwerten (ETWA (s. Tabelle 1), die aufgrund<br />

der Unfallhäufigkeit und Toxizität in Deutschland festgelegt wurden. In<br />

den USA existiert mit den Emergency-Response-Planning-Guidelines 2<br />

(ERPG 2) eine andere Stoffliste mit 32 Stoffen, von denen nur ein Drittel in<br />

der ETW-Liste aufgezählt ist.<br />

Außerdem sollen chemische Kampfstoffe, die bei Terroranschlägen oder<br />

militärischen Auseinandersetzungen freigesetzt werden können, detektiert<br />

werden. Sie sollen hier jedoch nicht weiter betrachtet werde. Das Ionen-<br />

Mobilitäts-Spektrometer als Hauptkomponente des GDA ist nach militärischen<br />

Gesichtspunkten spezifiziert, geprüft und für den Kampfstoffnachweis<br />

geeignet.<br />

Tabelle 1: Bei Unfällen relevante Gefahrstoffe mit Einsatztoleranzwerten<br />

und die zur Detektion geeigneten Sensoren: IMS = Ionen-Mobilitäts-Spektrometer,<br />

PID = Photo-Ionisations-Detektor, HL = Halbleitergassensor,<br />

EZ = Elektrochemische Zelle, IR = Infrarot-Absorptions-<br />

Photometer).<br />

Substanz Einsatztoleranzwert [ppm] geeignete Sensoren<br />

Aceton 500 IMS, PID, HL<br />

Acrolein 0,2 HL, 0,5 ppm<br />

Acrylnitril 20 IMS, HL<br />

Ammoniak 50 IMS, HL, EZ<br />

Benzol 20 PID, HL<br />

Blausäure 5 IMS, EZ<br />

Chlor 1 IMS, EZ<br />

244


Chlorbenzol 100 PID, HL<br />

Chlorcyan 0,3 IMS<br />

Dimethylhydrazin 1 IMS<br />

Essigsäure 20 IMS, HL<br />

Ethanol 3 000 IMS, PID, HL<br />

Fluorwasserstoff 5 (IMS), EZ<br />

Formaldehyd 1 nur höhere Konzentr.<br />

Kohlendioxid 10 000 IR<br />

Kohlenmonoxid 100 HL, EZ<br />

Methanol 500 IMS, HL<br />

n-Hexan 200 PID, HL<br />

Phosgen 0,1 EZ<br />

Phosphin 0,5 EZ<br />

Salzsäure 5 IMS, EZ<br />

Schwefeldioxid 1 IMS, EZ<br />

Schwefelkohlenstoff 10 IMS<br />

Schwefelwasserstoff 10 IMS, EZ<br />

Stickstoffdioxid 1 IMS<br />

Styrol 40 IMS, PID, HL<br />

Tetrachlorethen 100 IMS, HL<br />

Toluol 100 PID, HL<br />

Toluoldiisocyanat 0,02 IMS<br />

Trichlorethan, 1,1,1- 300 IMS<br />

Trichlorethan, 1,1,2- 25 IMS<br />

Trichlorethen 100 IMS, PID<br />

Vinylchlorid 100 PID, HL, EZ<br />

Die Liste der ETW zeigt, daß die Stoffe aus sehr unterschiedlichen Stoffklassen<br />

kommen und ETWA-Werte über einen sehr großen Konzentrationsbereich<br />

von 0,02 bis zu einigen 1 000 pm besitzen. Der Nachweis über<br />

einen derartig weiten dynamischen Bereich kann nur mit mehreren unterschiedlichen<br />

Detektionstechniken erfolgen, und die zunächst prinzipiell<br />

geeigneten Techniken sind in Tab. 1 aufgeführt. Auf den direkten Nachweis<br />

von Kohlendioxid, der nur mit einem relativ aufwendigen IR-Gerät möglich<br />

ist, wird im GDA verzichtet, alle anderen Gefahrstoffe mit ETW sollten<br />

meßbar sein.<br />

– Detektion und Falschalarm<br />

Oberstes Ziel bei der Auswahl der Einzelkomponenten des GDA ist gewesen,<br />

daß bei Auftreten eines jeden Stoffes der ETW-Liste bei dessen ETW-<br />

Konzentration ein Signal erzeugt wird, d.h. möglichst kein Stoff sog. negativ<br />

falsch gemessen wird. Sehr sicher läßt sich auf diese Weise der Zustand<br />

reine Luft nachweisen.<br />

Auf der anderen Seite ist aber zu erwarten, daß eine ganze Reihe von Substanzen,<br />

die keinen ETW-Wert haben und nicht toxisch sind, aufgrund ihrer<br />

245


Querempfindlichkeit zu den Sensoren ein Signal erzeugen, das zur sog.<br />

positiv falschen Aussage führt. Dies gilt besonders, wenn nicht bekannt ist,<br />

um welchen Stoff es sich handelt und keine korrigierende Aussage über<br />

mögliche Querempfindlichkeit getroffen werden kann. Diese Falschaussage<br />

bewirkt jedoch lediglich, daß eine Maßnahme mit zu hoher Sicherheit<br />

wie z.B. Warnung der Bevölkerung oder Anlegen von Schutzkleidung eingeleitet<br />

wird. Die Interpretation der Meßergebnisse, als Muster aller Sensoren<br />

des GDA, soll in der nächsten Zeit aufgrund der Erfahrungen optimiert<br />

werden mit dem Ziel, positiv falsche Aussagen, d.h. Fehlwarnungen, zu<br />

minimieren.<br />

– Meßstrategien<br />

Mit dem GDA lassen sich zwei Aufgaben lösen, und zwar<br />

1. das Monitoring, d.h. das kontinuierliche Messen der Umgebungsluft<br />

und<br />

2. das Spüren, d.h. das manuelle Aufspüren von Quellen und Leckagen.<br />

Beim Monitoring wird das Gerät kontinuierlich und meistens unbeaufsichtigt<br />

betrieben, entweder im Spürfahrzeug im Stand oder abgesetzt vom<br />

Fahrzeug, um z.B. die Einsatzkräfte oder den Bereitstellungsraum zu<br />

sichern, oder während der Fahrt, um nicht kontaminiertes Gebiet zu kontrollieren<br />

und auftretende Kontamination zu detektieren. Die Meßdaten<br />

können auf den Fahrzeugrechner übertragen und weiterverarbeitet werden.<br />

Zum Spüren wird das Gerät am Mann getragen und im Freien oder in<br />

Gebäuden in den Bereich der erwarteten Quelle herangebracht. Dabei wird<br />

über das einfache Display die vorhandene Konzentration angezeigt und die<br />

Quelle aufgespürt.<br />

3. Gerätetest zur Ermittlung der notwendigen Komponenten<br />

In Zusammenarbeit mit der Firma Bruker Saxonia wurden für die ETW-<br />

Substanzen Messungen mit einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer, einem<br />

Photo-Ionisatios-Detektor (Lampenenergie = 10,6 eV) und einem Sensorenarray<br />

mit HL, EZ und IR-Detektoren durchgeführt. Der Vergleich zwischen<br />

dem IMS und dem PID, als den beiden wichtigsten Komponenten, ist<br />

in der Abbildung 1 dargestellt.<br />

Der Abbildung 1 ist zu entnehmen, daß mit einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />

mit 22 dieser Substanzen die meisten Stoffe beim Einsatztoleranzwert<br />

nachweisbar sind. Von den mit dem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer nicht<br />

nachweisbaren Substanzen können Benzol, Chlorbenzol, n-Hexan, Toluol<br />

und Vinylchlorid mit dem Photo-Ionisations-Detektor detektiert werden.<br />

246


Abbildung 1: Detektierbarkeit der Substanzen mit Einsatztoleranzwert,<br />

Vergleich zwischen Ionen-Mobilitäts-Spektrometer und<br />

Photo-Ionisations-Detektor<br />

Abbildung 2: Signale des Sensorenarryas für Phosgen und Phosphin, die<br />

Signale der Halbleitergassensoren sind als relativer Leitwert<br />

G/G 0 und die Signale der elektrochemischen Zellen als Strom<br />

in nA angegeben.<br />

Die in Abbildung 2 dargestellten Messungen von Phosgen und Phosphin mit<br />

dem Sensorenarray zeigen, daß diese mit dem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />

und dem Photo-Ionisations-Detektor nicht ausreichend empfindlich<br />

nachweisbaren Stoffe durch die elektrochemische Phosgen-Zelle der Firma<br />

Sensoric detektiert werden.<br />

247


Kohlenmonoxid kann mit Halbleitergassensoren detektiert werden. Der<br />

Halbleitergassensor GGS 2000 der Firma Umweltsensortechnik erzeugt<br />

z.B. bei einer Kohlenmonoxidkonzentration von 100 ppm ein Signal<br />

G/G 0 =5. Mit einer Kombination dieser vier unterschiedlichen Detektionsmechanismen<br />

sind daher über 90 % der in Tabelle 1 aufgeführten Substanzen<br />

beim Einsatztoleranzwert nachweisbar.<br />

4. Aufbau des Gefahrstoff-Dektektoren-Arrays<br />

Nach diesen Voruntersuchungen wurde in Zusammenarbeit mit der Firma<br />

Bruker-Saxonia Analytik GmbH das in Abb. 3 schematisch dargestellte<br />

Gefahrstoff-Detektoren-Array entwickelt. Es besteht aus einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer,<br />

einem Photo-Ionisations-Detektor, einer elektrochemischen<br />

Zelle (Phosgen-Zelle, Sensoric COCL23E1) und zwei Halbleitergassensoren.<br />

Dem sehr nachweisstarken Ionen-Mobilitäts-Spektrometer wurde<br />

die im Kapitel 4.1 beschriebene Verdünnungseinrichtung vorgeschaltet. Sie<br />

dient als Meßbereichserweiterung um den Faktor 100 und dazu, die Kontamination<br />

des IMS durch zu hohe Schadstoffkonzentrationen zu verhindern.<br />

In einem zweiten Gasweg sind die beiden Halbleitergassensoren, die elektrochemische<br />

Zelle und der Photo-Ionisations-Detektor angeordnet. Bei den<br />

Halbleitergassensoren wird die Betriebstemperatur elektronisch stabilisiert.<br />

Abbildung 3: Schematischer Aufbau des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays.<br />

248


4.1 Verdünnung des Probengases bei hohen<br />

Schadstoffkonzentrationen<br />

Der dynamische Bereich des Ionen-Mobilitäts-Spektrometers beträgt ca.<br />

zwei Dekaden, die Nachweisgrenze ist von der Substanz abhängig und liegt<br />

zwischen ca. 10 ppb und 10 ppm. Bei höheren Schadstoffkonzentrationen<br />

befindet sich das Gerät in der Sättigung, so daß die tatsächliche Konzentration<br />

nicht mehr ermittelt werden kann. Außerdem ist bei einer Beladung mit<br />

zu hohen Schadstoffkonzentrationen das Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />

vorübergehend nicht meßbereit, bis die zu hohen Konzentrationen aus der<br />

Meßkammer gespült sind.<br />

Deshalb ist die in Abb. 3 im linken Bereich dargestellte manuell schaltbare<br />

Verdünnungseinrichtung integriert worden, bei der nur ein Teil des Probengases<br />

direkt eingelassen wird. Der Rest wird durch Aktivkohle gefiltert. Das<br />

Verdünnungsverhältnis kann dabei durch Umschaltventile und Restriktionskapillaren<br />

zwischen unverdünnt und 1:10 und 1:100 eingestellt werden.<br />

Aufgrund der extremen Nachweisstärke, die für Kampfstoffe erforderlich<br />

ist, ist das IMS im Labortest besonders bei der Messung von Ammoniak<br />

regelmäßig in die Sättigung getrieben worden. Das hat zum zeitweiligen<br />

Ausfall des Gerätes geführt und die Einsatzbarkeit im Feuerwehreinsatz in<br />

Zweifel gestellt. Allein durch diese Verdünnungseinheit bzw. Meßbereichserweiterung<br />

ist es möglich, das IMS auch für die Detektion von Industriechemikalien<br />

bei höheren Konzentrationen einzusetzen.<br />

– <strong>Neue</strong> Meßstrategie<br />

Die Verdünnungseinheit erlaubt den Einsatz des GDA und besonders des<br />

IMS bei allen Meßaufgaben, die in Kap. 2 beschrieben sind. Zum Monitoring<br />

in unbekannter Umgebung ist die Verdünnung zunächst auf 1:100 einzustellen<br />

und einige Sekunden zu warten, bis ein Meßsignal erscheint. Die<br />

Ansprechzeit des GDA ist abhängig von der Substanz und der gewählten<br />

Verdünnung und beträgt 1 bis ca. 10 Sekunden. Wenn kein Signal erscheint,<br />

kann nach dieser Zeit die Verdünnung schrittweise reduziert und bei Stellung<br />

1:1 die maximale Nachweisstärke des IMS genutzt werden.<br />

Mit dieser schrittweisen Erhöhung der Nachweisstärke kann auch die Leckagensuche<br />

z.B. an undichten Chemiakalienfässern oder Tankwagen durchgeführt<br />

werden. Damit ist sichergestellt, daß das IMS nicht für längere Zeit<br />

gespült werden muß und damit für weitere Messungen ausfällt, weil eventuell<br />

Gas mit zu hoher Konzentration eingesogen wurde.<br />

4.2 Realisierung des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays<br />

Im Dezember 1996 wurden dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> die ersten vier<br />

Prototypen des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays übergeben. Die Signale der<br />

249


vier nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien arbeitenden Sensoren<br />

werden bei diesem Gerät noch unverknüpft in einem Balkendiagramm dargestellt.<br />

Vom Ionen-Mobilitäts-Spektrometer werden die Ionensignale vor<br />

(Kanal A,B) und hinter (Kanal C,D) dem Reaktantionenpeak jeweils für<br />

positive (A,C) und negative (B,D) Ionen aufsummiert. Man erhält dadurch<br />

vier Signale, die als Balken links auf einem LCD-Display erscheinen. Die<br />

Leitwertänderung der beiden Halbleitergassensoren (E,F) sowie der Strom<br />

der elektrochemischen Zelle (G) und der Ionenstrom des Photo-Ionisations-<br />

Detektors (H) werden als weitere vier Balken dargestellt (s. Abb. 4).<br />

Abbildung 4: Balkendarstellung auf dem LCD-Display des GDA, z.B. für<br />

Phosgen.<br />

Diese Signale sowie die Ionen-Mobilitäts-Spektren können an einen Personal-Computer<br />

übergeben und dort weiter verarbeitet werden. Meß- und<br />

Anzeigestrategien in Zusammenwirken mit anderen Komponenten des<br />

Spürfahrzeugs werden zur Zeit entwickelt.<br />

5. Gerätetest<br />

In den Labors des BZS, der TUHH und bei Bruker-Saxonia finden Gerätetests<br />

statt, in denen die Detektierbarkeit der ETW-Stoffe, Zuverlässigkeit<br />

der Geräte und mögliche Meßstrategien untersucht werden. Diese Untersuchungen<br />

laufen sehr erfolgreich. Die Geräte erweisen sich als zuverlässig<br />

und sind in der Lage, alle Stoffe der ETW-Liste nachzuweisen. Im Test festgestellte<br />

kleine Mängel in der Konstruktion der Prototypen, z.B. falscher<br />

Gasfluß durch die Elektrochemische Zelle und die Anordnung der Halbleitergassensoren,<br />

werden kontinuierlich beseitigt.<br />

6. Weiteres Vorgehen<br />

Es ist davon auszugehen, daß im Herbst 97 ein einführungsreifes und analytisch<br />

geprüftes Gefahrstoff-Detektoren-Array zur Verfügung steht. Dieses<br />

sollte in einer größeren Stückzahl beschafft werden und mit den ersten<br />

250


Spürfahrzeugen im Feld, d.h. bei den Feuerwehren erprobt werden. Es gibt<br />

international kein vergleichbares Gerät, so daß die Chancen für die Vermarktung<br />

dieses Systems auch international gut sein sollten.<br />

Hinsichtlich der weiteren Optimierung des Gerätes sollte besonders die<br />

Interpretation der Meßergebnisse mit Hilfe der Mustererkennung weiterentwickelt<br />

werden. Dies wird allgemein zur erhöhten Sicherheit der Anzeige<br />

führen und, in bekannter Umgebung mit erwarteten Substanzen, zur<br />

Identifizierung und besseren Quantifizierung der Substanzen.<br />

251


252


Vorträge ’99<br />

253


254


Eröffnung der 48. Jahrestagung<br />

Arthur Scharmann<br />

Liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />

ich begrüße Sie recht herzlich zur Mitgliederversammlung im 48. Jahr des<br />

Bestehens der <strong>Schutzkommission</strong> und danke Ihnen, dass Sie unserer Einladung<br />

in das schöne Freiburg erneut gefolgt sind. Der Tatsache, dass wir eine<br />

Mitgliederversammlung und keine Jahrestagung veranstalten, mögen Sie<br />

entnehmen, dass wir noch immer nicht über dem Berge sind in der Frage der<br />

Zukunft der Kommission. Ich bin aber nach den gestrigen Gesprächen im<br />

Inneren Ausschuß sicher, dass wir am heutigen Nachmittag einen großen<br />

Schritt nach vorne machen werden.<br />

Lassen Sie uns zunächst ganz herzlich Herrn Ministerialdirektor Rosen und<br />

Herrn Ministerialrat Dr. Ammermüller vom Bundesinnenministerium in<br />

unserem Kreise begrüßen. Herr Ministerialdirektor Rosen ist der für Fragen<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es zuständige Abteilungsleiter. Wir hatten ja bereits vor der<br />

Mitgliederversammlung und der Sitzung des Inneren Ausschusses am<br />

gestrigen Tag Gelegenheit Sie, lieber Herr Rosen, und Ihre Vorstellungen<br />

über den <strong>Zivilschutz</strong> und die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> kennen zu lernen.<br />

Wir freuen uns, dass Sie es trotz des zur Zeit sicherlich nicht einfachen<br />

dienstlichen Umzugs von Bonn nach Berlin auf sich genommen haben, persönlich<br />

den Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong> Ihre Vorstellungen über die<br />

Inhalte und die Perspektiven der zukünftigen Arbeit vorzustellen. Wir hoffen<br />

auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.<br />

An Sie, Herr Dr. Ammermüller, möchte ich die herzliche Bitte richten, dass<br />

Sie fortführen, was Ihr Vorgänger im Amt, Herr Wittschen, praktiziert hat:<br />

ein auf gegenseitigem Vertrauen aufbauendes, der Sache dienendes Zusammenwirken<br />

im Interesse der Klärung von Sachfragen zur Verbesserung des<br />

Schutzes und der Rettung von Menschen in Not. Herr Wittschen hat zum<br />

Ende des vergangenen Jahres andere Aufgaben im Ministerium übernommen.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> wünscht ihm für diese neuen Aufgaben von<br />

Herzen alles Gute.<br />

Vom Bundesministerium für Gesundheit begrüße ich den Leiter des Dienstsitzes<br />

Berlin Herrn Dr. Welz. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, engagiert<br />

und konstruktiv in medizinisch orientierten Beratungsgremien der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> mitzuarbeiten.<br />

Aus dem BMBau begrüße ich den langjährigen Betreuer des Ausschusses I<br />

der <strong>Schutzkommission</strong>, Herrn Bong, und vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />

Herrn Präsidenten Schuch und seine Mitarbeiter.<br />

Gerne hätte ich an dieser Stelle Herrn Ministerialdirigent Dr. Klingshirn in<br />

unserem Kreis begrüßt. Herr Dr. Klingshirn hatte in den letzten Jahren die<br />

255


Funktion eines ständigen Vertreters des Arbeitskreises V der Arbeitsgemeinschaft<br />

der Innenminister der Länder fungiert und in dieser Funktion<br />

eine wichtige Mittlerrolle zwischen dem Bund und den Ländern ausgefüllt.<br />

Herr Dr. Klingshirn wurde in der vergangenen Woche in den Ruhestand entlassen.<br />

Ich hoffe sehr, dass der AK V einen geeignete Nachfolger findet, der<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> als Ansprechpartner zur Verfügung steht.<br />

Bevor ich in meiner Begrüßung fortfahre, möchte ich einige Anmerkungen<br />

zur gegenwärtigen Lage in Europa machen.<br />

Von meinem Freund Lars Clausen habe ich gelernt, dass es in unserer<br />

gegenwärtigen Welt weder Krieg noch Frieden gibt, dafür aber alle dazwischen<br />

liegenden Konfliktformen. Es herrscht Krieg in Europa, wenige Stunden<br />

von hier, ein nicht erklärter Krieg, aber dennoch ohne Zweifel ein<br />

Krieg. Für viele ist dies unfassbar.<br />

Der Krieg hat zwei Gesichter: zum einen ist er gekennzeichnet von chirurgisch<br />

präzise geführten Schlägen gegen militärische und zivile Schaltzentren,<br />

die offenbar nur vergleichsweise geringe physische Schäden bei der<br />

Zivilbevölkerung zur <strong>Folge</strong> haben. Dieser Teil des Kriegs ist sicherlich<br />

auch zu einem hohen Maße ein Medienkrieg. Man sieht, täglich aktualisiert,<br />

brennende Ölraffinerien und Chemieanlagen und zerstörte Infrastruktur.<br />

Das andere Gesicht des Kriegs ist gekennzeichnet durch die systematische<br />

Vertreibung einer ganzen Bevölkerung mit all dem unbeschreibbaren<br />

Flüchtlingselend. Auch dies wird zu besten Fernsehsendezeiten in täglich<br />

aktualisierter Brutalität einem millionenfachen Publikum gezeigt.<br />

Wenn es je einer Begründung für die Notwendigkeit des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />

bedurft hätte, die traurige Realität der letzten Wochen hätten diese in nicht<br />

wegzudiskutierender Weise geliefert. Der Krieg dauert an. Ich hoffe nicht<br />

mehr lange. Denn jeder Tag bringt für die Zivilbevölkerung weitere Entbehrungen<br />

und Qualen.<br />

Es ist sicherlich noch zu früh, um abschließend beurteilen zu können, welche<br />

<strong>Folge</strong>rungen die Nato und die Bundesregierung aus diesem Krieg auch<br />

in Fragen des <strong>Zivilschutz</strong>es ziehen werden. Ich bin aber sicher, dass die<br />

gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen gründlich aufgearbeitet werden<br />

müssen, um dem staatlichen Auftrag zum Schutze der Bevölkerung gerecht<br />

zu werden. Eine solche Aufarbeitung könnte auch Gegenstand der Beratungen<br />

in der <strong>Schutzkommission</strong> in den kommenden Jahren sein.<br />

Lassen Sie mich zurück kommen zur heutigen Mitgliederversammlung. Im<br />

Februar 1997 habe ich den Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong> an den<br />

damaligen Staatssekretär Prof. Schelter übergeben. Der Bericht erntete, wie<br />

Sie alle wissen, viel Lob und Anerkennung. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat zur<br />

gleichen Zeit dem BMI auf eigenem Wunsch aus den vielfältigen Empfehlungen<br />

des Berichts eine große Zahl von Themen benannt, die eine besonders<br />

hohe Priorität besitzen. Unsere Erwartungshaltung an das Ministerium<br />

hinsichtlich der praktischen Umsetzung des Berichts war groß. Die zunächst<br />

256


etwas zögerlich angelaufene Bearbeitung der vorgeschlagenen Themen ist<br />

inzwischen in Gange gekommen.<br />

Ich bin der Meinung, dass sich eine Orientierung der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in die Zukunft auch an dem Willen und der Fähigkeit der Politik<br />

orientieren muss, die prioritären Fragestellungen anzugehen und abzuarbeiten.<br />

Aus diesem Grund wollen wir uns vor der Mitgliederversammlung<br />

am heutigen Nachmittag über den Stand der Arbeiten an einigen wichtigen<br />

Sachthemen orientieren lassen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese<br />

Themen nur Einzelaspekte im großen Spektrum der Themen des Gefahrenberichts<br />

sind. Dennoch zeigen sie, dass von Seiten des Bundesinnenministeriums<br />

mit großem Ernst und zielgerichtet an diesen zentralen Problemen<br />

gearbeitet wird.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> ist nicht untätig geblieben im zurückliegenden Jahr.<br />

Der Schwerpunkt der Beratungsaktivitäten lag im Bereich Medizin. Wir<br />

werden hierüber einen Bericht erhalten. Daneben war die <strong>Schutzkommission</strong><br />

bei der Definition neuer <strong>Forschung</strong>svorhaben, der Begleitung laufender<br />

<strong>Forschung</strong>svorhaben sowie bei der Beurteilung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />

aktiv. Sie werden hierüber heute morgen beispielhaft über zwei laufende<br />

Vorhaben informiert werden. Ich danke allen, die sich für diese Tätigkeit im<br />

Verborgenen zur Verfügung gestellt haben, denn ohne eine fachliche Begleitung<br />

in allen Phasen solcher Vorhaben lässt sich der <strong>Forschung</strong>sbetrieb<br />

nicht bewerkstelligen.<br />

Eine Aktivität, die heute nicht weiter zur Sprache kommen wird, möchte ich<br />

doch noch kurz erwähnen. Sie alle kennen die Bundesanstalt Technisches<br />

Hilfswerk als Organisation, die – in einem hohen Maße auf ehrenamtlicher<br />

Basis – humanitäre Hilfe in praktisch allen Krisengebieten der Welt leistet.<br />

Die Veränderungen in unserem Lande und die Privatisierung von großen<br />

Staatsbetrieben wie der Deutschen Bahn, der Bundespost und der Telekom<br />

haben dazu geführt, dass die Bereitschaft dieser Firmen zur Freistellung von<br />

Mitarbeitern zur Ausbildung als THW-Helfer zunehmend zurückgeht. Diese<br />

Entwicklung birgt mittelfristig große Gefahren für den Ausbildungsstand<br />

und damit die Schlagkraft der Organisation. Der Einsatz neuer Medien kann<br />

hier zumindest in den Bereichen, in denen reines Wissen vermittelt wird,<br />

Abhilfe schaffen. Diesen Weg möchte die Bundesanstalt THW gehen. In<br />

einer kleinen Arbeitsgruppe der <strong>Schutzkommission</strong> wurde in Zusammenarbeit<br />

mit dem THW ein entsprechendes Konzept erarbeitet, das die stufenweise<br />

Einführung neuer Medien in den Schulungsalltag vorsieht. Das Konzept<br />

soll in den kommenden Jahren eingeführt werden.<br />

Die Tätigkeit kleiner Arbeitsgruppen mit Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und unter Hinzuziehung externer Fachleute zur Beratung spezieller,<br />

wohldefinierter Fragestellung hat sich in den letzten Jahren sehr bewährt.<br />

Diese Arbeitsweise besitzt bei der Neukonzeption der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />

über die wir heute Nachmittag sprechen werden, eine wichtige<br />

Rolle.<br />

257


Ich danke allen Mitgliedern und Gästen, die sich bereit erklärt haben, durch<br />

entsprechende Beiträge die Tagung zu bereichern. Ich erhoffe mir und der<br />

<strong>Schutzkommission</strong>, dass Sie uns auch in Zukunft zur Verfügung stehen<br />

werden. Mein besondere Dank gilt Herrn Dr. Weidringer von der Bayerischen<br />

Landesärztekammer, der aufgrund beruflicher Verpflichtungen leider<br />

heute nicht unter uns sein kann. Dr. Weidringer hat mit hohem persönlichen<br />

Engagement und ganz in der Tradition der <strong>Schutzkommission</strong> unentgeltlich<br />

die Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen der Effizienzsteigerung der<br />

medizinischen Versorgung der Bevölkerung geleitet und zusammen mit seinem<br />

Mentor, Prof. Ernst Rebentisch, wesentlich dazu beigetragen, dass die<br />

Arbeitsgruppe bereits nach etwa einem Jahr ihre Arbeit mit der Erstellung<br />

eines umfassenden Abschlussberichts abschließen konnte. Die wesentlichen<br />

Aussagen des Abschlußssberichts werden gleich anschließend von<br />

Ernst Rebentisch vorgestellt werden. Eingeflossen in die Arbeit der Gruppe<br />

sind die Erkenntnisse, die Herr Dr. Hüls als Leitender Notarzt bei der<br />

Bewältigung des ICE Unglücks in Eschede gemacht hat. Ich freue mich,<br />

Herr Dr. Hüls, dass Sie uns heute über Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse<br />

informieren werden. Mit dem Abschlußbericht, den die <strong>Schutzkommission</strong><br />

noch vor der Sommerpause an die Hausleitung des Bundesinnenministeriums<br />

übergeben wird, wird die Arbeit der Gruppe zwar abgeschlossen. Dies<br />

bedeutet aber nicht, das alle Sachfragen geklärt sind. Die Arbeitsgruppe<br />

bereitet vielmehr gegenwärtig einen Katalog vor, der den dringendsten<br />

Beratungs- und <strong>Forschung</strong>sbedarf aufzeigt.<br />

Unabhängig von der weiteren Verfolgung dieser Fragen ist bereits jetzt klar,<br />

dass der im vergangenen Jahr erfolgte 5. Nachdruck des „Leitfadens für<br />

Katastrophenmedizin“, der wie seine Vorgänger innerhalb kurzer Zeit vergriffen<br />

war, neu aufgelegt werden muss. Hierzu wird sich noch vor der<br />

Sommerpause eine neue Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong><br />

und externen Fachleuten etablieren. Ich hoffe, dass die Arbeiten bis<br />

zur Jahrestagung im kommenden Jahr abgeschlossen werden können.<br />

Neben den medizinischen Fragestellungen werden wir heute über zwei zentrale<br />

Themen informiert werden, die in der Vergangenheit immer wieder<br />

Gegenstand der Beratungen in der <strong>Schutzkommission</strong> waren, nämlich der<br />

Frage<br />

– der Warnung der Bevölkerung nach Aufgabe des bundesweiten Sirenennetzes<br />

und<br />

– der Ermittlung des Gefahrenpotentials in unserem Lande in Form eines<br />

Schutzdatenatlasses.<br />

Obwohl es sich in beiden Fällen um laufende Vorhaben handelt, erschien es<br />

mir doch wichtig, dass die <strong>Schutzkommission</strong> von Ihnen, Herr Dr. Held und<br />

Dr. Herr Dombrowski über den gegenwärtige Stand der Arbeiten in den beiden<br />

<strong>Forschung</strong>svorhaben unterrichtet wird.<br />

258


Meine Damen und Herren, Organisation und Koordination ist zwar nicht<br />

alles, sie kann aber gerade in Notfallsituationen über Gelingen und Scheitern<br />

staatlichen Handelns mit entscheiden. Im Gefahrenbericht haben wir<br />

dazu ausgeführt:<br />

„Die Rahmenbedingung für die Planung und Durchführung von Maßnahmen<br />

zum Schutze der Bevölkerung gegen die Gefahren bei Großkatastrophen<br />

und im Verteidigungsfall haben sich mit dem Wandel der allgemeinen<br />

sicherheitspolitischen Lage, der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten<br />

Europa, der technologisch bedingten Veränderungen der Gesellschaft<br />

und der Zunahme des Terrorismus in den letzten Jahren grundlegend verändert.<br />

Auch aufgrund der von Seiten des BMI angestrebten und z.T. bereits<br />

umgesetzten Regelungen zur Neuorientierung im <strong>Zivilschutz</strong> sind in vielen<br />

Bereichen grundlegend neue Schutzkonzepte erforderlich geworden. Dies<br />

gilt insbesondere für die angestrebten Veränderungen der Aufgabenerledigung<br />

durch den Bund und die Länder, die nach Meinung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in Zukunft eine „verstärkte Koordinationsaufgabe für den Bund zur<br />

<strong>Folge</strong> hat.“<br />

Ich freue mich, dass sich das Bundesinnenministerium der Aufgabe der<br />

Koordination auf der Ebene des Bundes verstärkt widmen will und möchte<br />

auch in diesem Kreis Ihnen, Herr Rosen versichern, dass die <strong>Schutzkommission</strong><br />

Ihnen und dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> bei diesem Unterfangen<br />

gerne mit fachlichem Rat zur Seite stehen wird. Ich bin Herrn Dr. Miska<br />

vom Innenministerium in Mainz sehr dankbar, dass er uns aus seiner Erfahrung<br />

aus internationalen Übungen der OECD/NEA die praktischen Notwendigkeiten<br />

für eine solche Koordinierende Stelle auf der Ebene des Bundes<br />

und den internationale Stand unserer nationalen Vorkehrungen darstellen<br />

wird.<br />

Am Ende meiner Begrüßung möchte ich unserer (Mini)Geschäftstelle mit<br />

Frau Seifert und Herrn Prof. Weiss herzlich für die Ausrichtung der Mitgliederversammlung<br />

hier in Freiburg danken. Wir fühlen uns nicht nur hier<br />

in Freiburg stets hervorragend von Ihnen betreut.<br />

259


260


Zum Gedenken an Otto Haxel<br />

Arthur Scharmann<br />

Am 26. Februar 1998 starb unser Altmitglied Otto Haxel, emeritierter Professor<br />

für Physik an der Universität Heidelberg. Mit ihm hat die <strong>Schutzkommission</strong><br />

den letzten ihrer Gründer verloren, der über knapp fünf Dekaden<br />

lang bis zu seinem Tode die Kommission entscheidend mitgeformt<br />

und ihren Stil mitbestimmt hat.<br />

Otto Haxel wurde am 2. April 1909 in Neu Ulm geboren. Er verlor früh seinen<br />

Vater, der als Offizier im ersten Weltkrieg an den <strong>Folge</strong>n schwerer Verwundungen<br />

starb. Als Schüler gehörte seine ganze Leidenschaft der Radiotechnik.<br />

So war es nicht verwunderlich, dass er, nach einem halbjährigen<br />

Industriepraktikum, wie es damals an den Technischen Hochschulen üblich<br />

war, ein Ingenieur-Studium in München begann. Insbesondere die Physik-<br />

Vorlesungen des Physikers Jonathan Zenneck waren für den jungen Haxel<br />

eine Offenbarung. So beschloss er, zum Fach „Technische Physik“ zu wechseln.<br />

Als Haxel sein sehr gutes Vordiplom-Zeugnis seiner Mutter zeigte, war<br />

diese entsetzt: Was ist Physik, und gibt es in diesem Fach berufliche Chancen?<br />

Damals führte der einzige gesicherte Berufsweg für einen Physiker zur<br />

Position eines Gymnasiallehrers. Haxel ging also zum Münchner Kultusministerium,<br />

das ihn aber ablehnte, da er sein Abitur nicht in Bayern, sondern<br />

im württembergischen Ulm gemacht hatte. In Neu-Ulm gab es damals<br />

keine Schule mit Abiturabschluss. Also ging Otto Haxel nach Stuttgart,<br />

wurde in der ihm vertrauten Mundart im württembergischen Ministerium<br />

empfangen und erhielt die Antwort, dass einer Etablierung in Württemberg<br />

nichts im Wege stände. Auf Rat von Zenneck ging Otto Haxel zu Geiger<br />

nach Tübingen. Ich habe das hier nur deshalb geschildert, weil es zeigt, wie<br />

die Entscheidung eines formalistischen Ministerialbeamten (ohne es zu wissen),<br />

den Lebensweg eines jungen Mannes entscheidend – und hier zum<br />

Guten – bestimmen kann. In Tübingen kam Haxel zur Kernphysik. Geiger<br />

war einige Jahre bei dem berühmten Rutherford in Manchester, dem<br />

Weltzentrum der damaligen Kernphysik, gewesen und hatte selbst Entscheidendes<br />

geleistet. Damit kam er an eine der ersten Adressen des sich<br />

schnell entwickelnden neuen Gebiets in Europa. Hier in Tübingen bei Geiger<br />

und Gerthsen hatte er die beste Einführung, die man sich denken konnte.<br />

1936 ging er mit Geiger als Oberassistent an die TH Berlin und habilitierte<br />

sich dort 1937.<br />

Nach dem Krieg fand Otto Haxel eine neue Wirkungsstätte am MPI für<br />

Physik in Göttingen, war Dozent und seit 1949 apl. Professor an der dortigen<br />

Universität. Hier in Göttingen setzte er seine kernphysikalischen Untersuchungen<br />

fort und begann mit Experimenten zur Höhenstrahlung. Gleichzeitig<br />

versuchte er, die sogenannten „Magischen Zahlen“, Zahlen, die<br />

besonders stabile Atomkerne im Periodensystem der Elemente und ihre<br />

261


vielfältigen Isotopen markieren, durch kritische Durchleuchtung physikalischer<br />

Eigenschaften zu erklären. Das führte dann, als sich der Theoretiker<br />

Jensen dieses Problems annahm, zu einer der großen „Standardarbeiten“ der<br />

Physik unseres Jahrhunderts: H.D.J. Jensen, O. Haxel und H. Suess: „Das<br />

Schalenmodell des Atomkerns“ (1951).<br />

1951 erhielt Haxel einen Ruf an die Universität Heidelberg, baute hier das<br />

II. Physikalische Institut auf mit einem breiten Spektrum aus allen Bereichen<br />

der energiereichen Strahlung einschließlich der atmosphärischen<br />

Radioaktivität und der radioaktiven Altersbestimmung. Das breit gefächerte<br />

Spektrum seiner Interessen führte zur Gründung eines Instituts für<br />

Umweltphysik, an dessen Arbeiten Haxel bis zu seinem Tode teilnahm.<br />

Haxel war ein begeisterter, begeisternder Lehrer, er hat vielen durch seine<br />

menschlich herzliche Art und Hilfsbereitschaft geholfen. Er war Mitglied<br />

der Deutschen Atomkommission und Hauptinitiator bei der Gründung des<br />

<strong>Forschung</strong>szentrums Karlsruhe, das er von 1970 bis 1975 als wissenschaftlicher<br />

Geschäftsführer leitete. Er war 1957 einer der 18 Unterzeichner des<br />

„Göttinger Manifests“ gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit kerntechnischen<br />

Waffen, allerdings aus ökologischen Gründen auch ein Verfechter<br />

der Kernenergie.<br />

Otto Haxel wurde vielfältig geehrt: Er war Mitglied der Deutschen Akademie<br />

der Naturforscher Leopoldina zu Halle, Mitglied der Heidelberger Akademie<br />

und deren Präsident (1978–1982), Ehrendoktor der TU Karlsruhe<br />

sowie Träger des Otto-Hahn-Preises der Stadt Frankfurt und der Großen<br />

Universitätsmedaille der Universität Heidelberg. Für seine Verdienste für<br />

unsere <strong>Schutzkommission</strong> wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens<br />

der Bundesrepublik Deutschland verliehen.<br />

Die <strong>Schutzkommission</strong> hat eines ihrer verdienstvollsten Mitglieder, ich<br />

selbst einen väterlichen Freund verloren. Die <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern trauert um Otto Haxel in dankbarer Erinnerung.<br />

262


Zum Gedenken an Reinhold Reiter<br />

Arthur Scharmann<br />

Am 24. September 1998 starb Dr. Reinhold Reiter, Garmisch-Partenkirchen.<br />

Seit Ende der 70er Jahre war er als ständiger Gast Mitglied der<br />

<strong>Schutzkommission</strong>. Als international anerkannter Experte hat er bei uns<br />

das Gebiet der „Ausbreitung von radioaktivem Material im nicht ebenen<br />

Gelände“ bearbeitet und betreut.<br />

Dr. Reiter wurde am 17. November 1920 in München geboren. Er war von<br />

Herkunft und Lebenshaltung ein typischer Vertreter seiner bayerischen<br />

Heimat, die er so sehr liebte. Schon während der Schulzeit beschäftigte er<br />

sich mit Röntgenstrahlenexperimenten und legte die Ergebnisse in drei Protokollbänden<br />

nieder. Im März 1939 bestand er das Abitur, wurde zum<br />

Arbeitsdienst eingezogen und ist bei Kriegsausbruch Soldat der Luftwaffe.<br />

Aufgrund eines Gutachtens des weltberühmten theoretischen Physikers der<br />

Universität München, Geheimrat Sommerfeld, wird er Technischer Leiter<br />

der Röntgenstation des Sanitätsreviers des Fliegerhorsts Neubiberg und<br />

kurze Zeit später Technischer Assistent am neugegründeten „Institut für<br />

Luftfahrtmedizin“ in München.<br />

Nach Kriegsende entwickelte er eine Elektrokunsthand, baut Messgeräte für<br />

die Radioaktivität und beginnt sich mit der Wetterabhängigkeit des Menschen<br />

zu befassen. Nach der Währungsreform erfolgt das Studium der Physik<br />

an der Universität und der TH München, das er 1953 mit einer Doktorarbeit<br />

über „Messung der Halbwertszeit des spontanen Urankernzerfalls“ bei<br />

Professor Gerlach abschließt. Schon während der Studienzeit wendet er sich<br />

über das Problem „Wetter und Mensch“ der Luft-Elektrizität zu. Dazu richtet<br />

er im väterlichen Haus ein Observatorium für atmosphärische Elektrizität<br />

ein. Externe Registrierstationen entstehen in Oberstdorf und am Nebelhorn,<br />

in Fürstenfeldbruck, in Bad Reichenhall und auf dem Predigtstuhl.<br />

Nach der Promotion interessiert sich der US Air Force für die Untersuchungen.<br />

Im Rahmen eines Vertrages mit diesem neuen Partner wird in den<br />

Räumen eines ehemaligen Schafstalles eine Wohnung und ein 5 m–Labor in<br />

Farchant bei München eingerichtet mit einer ganzen Reihe von Messstationen<br />

zwischen Zugspitze und Farchant. 1964 erscheint sein erstes Buch über<br />

Elektrizität, Radioaktivität und Aerosole, heute noch ein wichtiger „Klassiker“<br />

auf diesem Gebiet.<br />

1962 erfolgt die Übernahme der „Physikalisch-Bioklimatischen <strong>Forschung</strong>sstelle“<br />

durch die Fraunhofer-Gesellschaft als Institut für „Atmosphärische<br />

Umweltforschung“ mit Reinhold Reiter als Leiter. Noch vor dem<br />

Umzug in den Neubau 1973 wurde von ihm ein völlig neuer Schritt unternommen:<br />

der Einbau von Messgeräten in die Gondeln der Zugspitz-Seilbahn.<br />

Mit dem Institutneubau entstand ein Startplatz für große Radioson-<br />

263


den, und es entstanden atmosphärische Fernerkundungsmethoden zur Erfassung<br />

von Aerosol-Konzentrationsprofilen mit Hilfe von Lasern bis zu einer<br />

Höhe von 35 km. Als Reinhold Reiter 1985 in den Ruhestand tritt, kann sein<br />

Institut auf mehr als 30 Jahre erfolgreicher, international anerkannter <strong>Forschung</strong><br />

zurückblicken.<br />

Auch im Ruhestand bleibt Reiter aktiv: Er gründet ein kleines Privatinstitut<br />

„Consulting Bureau Reiter“ (COR) mit einer kleinen Messstation auf dem<br />

Wank zur Registrierung der luftelektrischen Parameter und – nach und nach<br />

– zur Messung der kosmischen Strahlung. Es schließt sich der Kreis. 1992<br />

beendet er sein letztes Buch: „Phenomena in Atmospheric and Environmental<br />

Electricity“. 350 Veröffentlichungen und drei Bücher zeugen von<br />

einem erfolgreichen wissenschaftlichen Leben.<br />

Im Januar 1993 erleidet er einen schweren Sturz, von dem er sich nie mehr<br />

ganz erholt hat. In den frühen Stunden des 24.09.1998, im Schlaf, hört sein<br />

Herz auf zu schlagen. Die <strong>Schutzkommission</strong> verliert mit Dr. Reinhold Reiter<br />

einen anerkannten Wissenschaftler und einen liebenswerten Menschen.<br />

264


Grußworte des Bundesministers des Innern<br />

Klaus-Henning Rosen<br />

Sehr geehrter Herr Vorsitzender,<br />

sehr geehrte Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong><br />

Erlauben Sie mir, mich Ihnen als der im Dezember vergangenen Jahres mit<br />

der Leitung der Abteilung 0 betraute Mitarbeiter des BMI vorzustellen, die<br />

sich u.a. im Referat 0 4, das durch Herrn Dr. Ammermüller vertreten ist, mit<br />

dem Zivil- und Katastrophenschutz zu befassen hat.<br />

Lassen Sie mich aber, bevor ich Ihnen Gedanken zu Ihrer künftigen Arbeit<br />

vorstelle, Ihnen die Grüße von Herrn Minister Otto Schily und die besten<br />

Wünsche für Ihre Arbeit übermitteln. Er vertraut darauf, Ihr weit gefächertes<br />

Fachwissen auch zukünftig intensiv nutzen zu können und wünscht der<br />

Tagung in diesem Sinne einen erfolgreichen Verlauf. Sein Interesse an Ihrer<br />

Arbeit steht in nichts dem seiner Vorgänger nach. Auch ich möchte Ihnen<br />

herzlich dafür danken, dass Sie uns Ihren Sachverstand schon so lange<br />

Jahre hindurch engagiert und konstruktiv zur Verfügung stellen. Nicht nur<br />

die Vertretung der weit gespannten Wissenschaftsbereiche, die die Kommission<br />

abdeckt, ist außergewöhnlich, sondern auch ihre Tradition der<br />

Ehrenamtlichkeit. Sie dokumentiert das große Interesse der Mitglieder an<br />

der Weiterentwicklung des Zivil- und Katastrophenschutzes und den Reiz<br />

der Arbeit in der <strong>Schutzkommission</strong> selbst.<br />

Einige Hinweise zu meinem Werdegang:<br />

Lassen Sie mich sodann ein Wort zu meinem persönlichen Zugang zu den<br />

Themen anfügen, mit denen Sie sich befassen. Bei der Übernahme meines<br />

Amtes fand ich das Neukonzept für den <strong>Zivilschutz</strong> vor. In den Gesprächen<br />

mit den Mitarbeitern und den beteiligten Akteuren – ich nenne: THW, BZS,<br />

Länder, DST, aber auch IDNDR und die Hilfsorganisationen – wurde mir<br />

deutlich: das neue <strong>Zivilschutz</strong>konzept vom Anfang der 90er Jahre als soches<br />

ist richtig. Dennoch meine ich, es bedarf, nachdem das darauf fußende neue<br />

<strong>Zivilschutz</strong>gesetz seit gut zwei Jahren in Kraft ist, des kritischen Nachdenkens,<br />

und zwar gemeinsam mit den Beteiligten, an welchen Stellen die<br />

Zusammenarbeit intensiviert bzw. verändert werden sollte.<br />

Mein Eindruck hinsichtlich des <strong>Zivilschutz</strong>konzepts ist: man sollte nicht der<br />

Fehleinschätzung verfallen, mit der Neuordnung der Institutionen sei es<br />

getan. Im Gegenteil, dann beginnt die eigentliche Arbeit. Es mag sich im<br />

übrigen die militärisch definierte Gefahrenlage verändert haben; die Gefahrenlage<br />

im Zivilbereich hat sich keineswegs entspannt, im Gegenteil, es gilt,<br />

sich auf neuartige Bedrohungen einzustellen.<br />

Das führt mich zu meiner ersten Begegnung mit Ihrer Arbeit, was ich Ihnen<br />

nicht vorenthalten will. Zu den Informationen, die man mir gegeben hatte,<br />

265


um mich auf meine neuen Tätigkeitsfelder einzustimmen, gehörte das Gutachten<br />

der <strong>Schutzkommission</strong>. Ich verhehle nicht, der Name dieser Kommission<br />

sagte mir nichts. Gleichwohl faszinierte mich an dem Bericht die<br />

Dichte der Darstellung, die systematische Aufarbeitung von Risikolagen,<br />

die wissenschaftliche Präzision; mich überzeugte aber auch die Deutlichkeit<br />

der kritischen Hinweise auf Defizite bei der Vorbereitung der Gesellschaft<br />

auf diese neuartigen Gefahrenlagen.<br />

Der Bericht war, wie mir gesagt wurde, als Darstellung des <strong>Forschung</strong>sbedarfs<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> gedacht. Ich verstand ihn aber eher oder auch<br />

als deutliche Mahnung an die Politik, dem Adressaten des Berichts, sich<br />

intensiver mit diesen Gefahren zu beschäftigen. Um so mehr war ich über<br />

die Information verblüfft, mit diesem Bericht sei bisher nicht viel, genaugenommen:<br />

nichts, geschehen.<br />

Ich kann Ihre und die Enttäuschung Ihres geschätzten Vorsitzenden verstehen,<br />

zumal Sie zum einen Ihrem Auftrag gemäß gehandelt, zum anderen auf<br />

diesen Bericht sehr viel Arbeit verwandt hatten. Das Gespräch gestern und<br />

heute sollte deshalb auch dazu dienen, beim Nachdenken über die künftige<br />

Zusammenarbeit des BMI mit der <strong>Schutzkommission</strong> die Frage nicht zu<br />

vergessen, wie die Bundesregierung mit dem Bericht umgehen sollte.<br />

Die Erwähnung des Berichts der <strong>Schutzkommission</strong> ist der richtige Zeitpunkt,<br />

Ihnen, Herr Prof. Dr. Scharmann für die umsichtige und zielstrebige<br />

Leitung der Geschicke der <strong>Schutzkommission</strong> zu danken; ich füge hinzu, dass<br />

Sie es immer noch tun und bereit sind, dies auch fortzusetzen, bis eine endgültige<br />

Form für die Arbeit der Institution gefunden worden ist. Es wäre mir<br />

eine Beruhigung und eine große Freude, wenn ein deutlicher Schritt in Richtung<br />

einer Konsolidierung der Arbeitsgrundlagen heute getan werden könnte.<br />

Ich bitte Sie, Herr Prof. Scharmann, aber auch Sie alle, meine Herren, auch<br />

weiterhin der Sache die Treue zu halten. Dass Ihr Sachverstand weiterhin<br />

vonnöten ist, steht ganz außer Frage. In einer Welt, deren Länder immer<br />

mehr zusammenrücken und deren Anforderungen und Probleme deshalb<br />

immer globaler werden, kann auf eine weit gespannte interdisziplinäre wissenschaftliche<br />

Begleitung des Zivil- und Katastrophenschutzes nicht verzichtet<br />

werden. Auch der Krieg um den Kosovo, dem die Bundesrepublik<br />

Deutschland als NATO-Mitglied nicht ausweichen konnte und bei dem<br />

gleichzeitig viele deutsche Hilfsorganisationen versuchen, vor Ort Hilfe zu<br />

spenden, macht deutlich, wie sehr und in wie weit gefächerten Bereichen<br />

zum Schutz der Bevölkerung detaillierte wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

benötigt werden und entwickelt werden müssen. Vorsorge und Schutz der<br />

Bevölkerung ist eine Aufgabe, deren Wichtigkeit im Rahmen der möglichen<br />

denkbaren Gefährdungslagen in unserer technisierten Welt noch zunehmen<br />

wird. Die <strong>Schutzkommission</strong> muss weiterhin bestehen bleiben. Ihre Funktion<br />

kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.<br />

Überlegungen, für die <strong>Schutzkommission</strong> einen neuen Rahmen zu finden,<br />

bedeuten keine Abqualifizierung deren Arbeit. Meine Erwartungen an diese<br />

266


eiden Tage sollen deshalb auch nicht als Ausdruck mangelnder Zufriedenheit<br />

mit Ihrer Arbeit missverstanden werden. Aber überall, wo Menschen<br />

zusammenarbeiten, gibt es gelegentlich Anlässe, kritisch zurückzublicken,<br />

um von daher um so unbefangener sich auf Künftiges einzustellen. Bezogen<br />

auf die <strong>Schutzkommission</strong> ist es eine Bestätigung dafür, dass es sich um<br />

eine lebendige, bewegliche Institution handelt, die in der Lage sein wird,<br />

ihren Kurs auch auf neue Gegebenheiten auszurichten.<br />

Wenn die Kommission am 8. Januar 2001 50 Jahre alt wird, soll sie dem reichen<br />

Erfahrungsschatz, den eine langjährige Begegnung mit den Aufgaben<br />

der Politik im Zivil- und Katastrophenschutz mit sich bringt, auch eine Frische<br />

ausstrahlen, die dem Beginn eines neuen Jahrtausends angemessen ist.<br />

Die Bundesregierung mißt Ihrer Arbeit auch deshalb einen hohen Stellenwert<br />

bei, weil sie sich in das Nachdenken darüber einfügt, wie im Zuge der<br />

Neuordnung der künftigen Staatsaufgaben das Verhältnis zwischen Staat<br />

und Gesellschaft neu bestimmt werden soll. Das Leitbild vom aktivierenden<br />

Staat, das sich diese Regierung gegeben hat, geht von einer deutlicheren<br />

Einbeziehung gesellschaftlicher Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft<br />

bei der Erledigung von Aufgaben für die Allgemeinheit aus. Die Mitglieder<br />

der <strong>Schutzkommission</strong> entsprechen mit ihrer freiwilligen Selbstverpflichtung,<br />

die sie mit Ihrem Beitritt zu dieser Kommission eingegangen<br />

sind, in idealer Weise diesem Leitbild. Sie dürfen also überzeugt sein, das<br />

BMI, der Bundesminister des Innern wird um so mehr auch künftig auf Sie<br />

bauen.<br />

Als Voraussetzung für eine Neubestimmung unserer Zusammenarbeit<br />

sehe ich einmal die Neuorientierung Ihrer Arbeit und eventuelle interne<br />

Restrukturierungen an. Zum zweiten aber sollte versucht werden, neue<br />

Kontakte zu finden, den Sachverstand zu verbreitern, vor allem aber junge<br />

Wissenschaftler als Nachwuchs in die Arbeit der Kommission einzubinden<br />

und dauerhaft für eine Mitarbeit zu gewinnen. Ohne sie hätte die Kommission<br />

keine Zukunft und wäre deshalb auch heute schon für die Politik nur<br />

noch begrenzt von Interesse. Da die <strong>Schutzkommission</strong> fast so alt ist wie die<br />

Bundesrepublik und über alle Wahlperioden hinweg erfolgreich gearbeitet<br />

hat, scheint mir dieses Szenario abwegig zu sein. Ich verkenne jedoch nicht<br />

die Schwierigkeit, heutzutage aufstrebende, karrierebewußte junge Wissenschaftler<br />

für die Arbeit in einem ehrenamtlich arbeitenden Gremium zu<br />

begeistern. Es ist mir ein Anliegen, alles zu tun, was Ihre Aufgabe erleichtern<br />

könnte und eine für alle annehmbare Lösung zu finden. <strong>Forschung</strong>smittel<br />

kann der Bund schon seit einigen Jahren nicht mehr einsetzen. Die<br />

Hintergründe kennen Sie alle. Die in der EU und im GATT geltenden Vergabeprinzipien<br />

verbieten diesen Weg.<br />

Von zentraler Bedeutung bei der Gewinnung von Nachwuchs ist aber –<br />

unabhängig von einer finanziellen Regelung – sicherlich das Vorbild und<br />

Engagement anerkannter Autoritäten, die, wie Sie, sich dieser Kommission<br />

zur Verfügung stellen. Ich bitte Sie, Ihren Einfluss zu nutzen, um den Nach-<br />

267


wuchswissenschaftlern die Arbeit an einem nicht unbedingt populären<br />

Thema aus Ihrer Sicht mit Ihren Erfahrungen und dem, was Sie davon<br />

reflektieren, nahezubringen. Ich bin zuversichtlich, die Arbeit bleibt deshalb<br />

interessant, da ein großer Anreiz in ihr selbst liegt. Und auf diese Weise<br />

habe ich das gestrige Gespräch mit besonderer Spannung geführt, denn<br />

Überlegungen zu Neuordnungen, wie sie diesmal im Zentrum dieser Veranstaltung<br />

stehen, sind immer spannend. Im Idealfall setzen sie – trotz oder<br />

gerade wegen des Zündstoffs, den die Überlegungen zu neuen Konzeptionen<br />

häufig bergen – kreative Kräfte frei, die zu zukunftsweisenden und<br />

erfolgversprechenden neuen Ansätzen führen. Nach dem positiven Verlauf<br />

unserer gestrigen Gespräche gehe ich davon aus, dies gilt auch für die heutige<br />

Tagung.<br />

Gestatten Sie mir einige Gedanken zu den langfristigen Perspektiven der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> und ihren künftigen Aufgabenschwerpunkten auf der<br />

Grundlage des neuen <strong>Zivilschutz</strong>rechts. Ich nenne hierzu fünf Punkte:<br />

1) Die <strong>Schutzkommission</strong> sollte nach Auffassung der Bundesregierung<br />

auch weiterhin <strong>Zivilschutz</strong>forschung betreiben, dies aber grundsätzlich<br />

mit einem verstärkten Blick auf <strong>Folge</strong>rungen für Schutz und Vorsorge bei<br />

Gefährdungslagen im Frieden.<br />

2) Ein weiterer Schwerpunkt wird in der Beratung der Bundesregierung<br />

liegen, neben der eher anwendungsorientierten langfristigen Konsultation<br />

sollten auch die Möglichkeiten für eine mehr kurzfristige Politikberatung<br />

geprüft und genutzt werden.<br />

3) Die Zusammenarbeit mit den Bundesländern wird enger werden müssen.<br />

4) Die Vernetzung der Informationssysteme sollte intensiviert werden.<br />

5) Eine verstärkte internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit ist<br />

geboten.<br />

Lassen Sie mich im folgenden darlegen, was ich im einzelnen mit diesen<br />

Hinweisen meine:<br />

Zu 1) Die Aufgabe der <strong>Schutzkommission</strong> ist seit ihrer Gründung im Jahre<br />

1951 die Beratung der Bundesregierung in wissenschaftlichen Fragen des<br />

<strong>Zivilschutz</strong>es.<br />

Da die veränderte außenpolitische Sicherheitslage auch zu geänderten<br />

Gefährdungslagen geführt hat, hat sich auch die Zielrichtung dieser Aufgabenstellung<br />

verlagert. Dies hat sich niedergeschlagen in der Neukonzeption<br />

des <strong>Zivilschutz</strong>es. Die prinzipiell strenge Trennung zwischen Zivil- und<br />

Katastrophenschutz hat sich gelockert. Es gewinnt der Schutz der Bevölkerung<br />

im Friedensfall an Gewicht, der sich auf Gefährdungen richtet, die eine<br />

Bedrohung für die Allgemeinheit bedeuten und die regional nicht mehr zu<br />

bewältigen sind. Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob ein Atomkraftwerk<br />

im Krieg zerstört wird oder ob eine Verstrahlung wegen eines Reaktorunfalls<br />

zu befürchten ist. Unter wissenschaftlichem Aspekt ist eine angeblich<br />

aus der Verfassung abgeleitete Unterscheidung zwischen Zivil- und Kata-<br />

268


strophenschutz nicht mehr haltbar. Thema ist der Schutz der Zivilbevölkerung<br />

bei Großkatastrophen jeglicher Art. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse<br />

kommen sowohl dem Zivil- als auch dem Katastrophenschutz zugute.<br />

Die <strong>Forschung</strong> kann deshalb, von ganz spezifischen Ausnahmen abgesehen,<br />

von den weitgehend identischen Schadenslagen ausgehen und darf sich<br />

nicht den Blick durch die Schadensursachen künstlich verengen lassen.<br />

Um seine grundgesetzlich verankerten Pflichten zum Schutz der Bevölkerung<br />

wahrzunehmen, muss der Gesamtstaat eine möglichst einheitliche und<br />

zukunftsorientierte Vorsorgepolitik betreiben. Diesem Ziel dient auch die<br />

<strong>Zivilschutz</strong>forschung, die sich an einem gesamtheitlichen Ansatz orientieren<br />

muss. Es ist dann Sache der Politik, wie sie deren Ergebnisse in dem<br />

vom Grundgesetz gezogenen Zuständigkeitsrahmen zwischen Bund und<br />

Ländern umsetzt.<br />

Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen verbleibt somit für<br />

die <strong>Forschung</strong> ein breites Betätigungsfeld. So bedeutet Effektivierung auch<br />

die Nutzung moderner Technik, neuester Erkenntnisse und das Erkennen<br />

und Verfolgen erfolgversprechender Entwicklungen für Zwecke des Bevölkerungsschutzes.<br />

Der <strong>Forschung</strong> zur Entwicklung von planerischen Konzepten,<br />

Strategien, Verfahren, Schutzsystemen sowie zur Gefahrenerfassung<br />

und Schadensbekämpfung bei Großkatastrophen kommt deshalb<br />

besondere Bedeutung zu. Wissenschaftliche Beratung und anwendungsorientierte<br />

<strong>Forschung</strong> sind als innovative Komponente planerischer und<br />

tatsächlicher Maßnahmen erforderlich, damit die verschiedenen verantwortlichen<br />

Stellen den vielfältigen Gefahren- und Gefährdungssituationen<br />

effizient begegnen und in Maßnahmen aufeinander abstimmen können.<br />

Es besteht deshalb auch in Zukunft Bedarf für ein interdisziplinäres wissenschaftliches<br />

Beratungsgremium, das – fachübergreifend – fundamentale<br />

Risiken für die Gesellschaft untersucht und Strategien zu ihrer Bewältigung<br />

vorschlägt. Dementsprechend soll die <strong>Schutzkommission</strong> laufend bei<br />

der <strong>Forschung</strong>splanung eingebunden und bei der Bewertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />

gutachterlich beteiligt werden.<br />

Zu 2) Im Zentrum der Tätigkeit der <strong>Schutzkommission</strong> soll in Zukunft<br />

auch die wissenschaftliche Beratung der Bundesregierung stehen. Das<br />

gilt einmal langfristig und vorsorgend bei der <strong>Forschung</strong>splanung, bei der<br />

Formulierung und Steuerung von <strong>Forschung</strong>svorhaben und der Begutachtung<br />

und Bewertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen. Dabei kann bei Ereignissen<br />

von hoher politischer Brisanz verstärkt die Stellungnahme zur kurzfristigen<br />

Politikberatung gefragt sein. In letzter Zeit wurde diese Aufgabe<br />

zunehmend wahrgenommen, etwa durch den Gefahrenbericht, auf den ich<br />

eingangs eingegangen bin, aber auch durch die Stellungnahme zum weiteren<br />

Verfahren in bezug auf den – inzwischen aufgegebenen – Ausweichsitz<br />

der Verfassungsorgane des Bundes in Marienthal. Die von der <strong>Schutzkommission</strong><br />

in den letzten Jahren eingerichteten Arbeitsgruppen haben<br />

hervorragende Ergebnisse erzielt. Beispielhaft ist die Arbeitsgruppe „Effi-<br />

269


zienzsteigerung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung“ anzuführen.<br />

Der Handlungsbedarf im Hinblick auf <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaktivitäten<br />

ist erheblich. Dementsprechend groß ist die Anzahl der uns unterbreiteten<br />

Themenvorschläge für <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben,<br />

etwa 40, mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad. Eine kurzfristige<br />

Realisierung all dieser Vorschläge ist mit den zur Verfügung stehenden<br />

Finanzmitteln, wie Sie verstehen werden, nicht möglich.<br />

Ich begrüße die Überlegungen, die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> unter<br />

pragmatischen Gesichtspunkten neu zu ordnen und auf die drei Schwerpunktbereiche<br />

– medizinische Versorgung,<br />

– Entscheidungshilfen für Maßnahmen des Zivil- und Katastrophen<br />

schutzes,<br />

– Technik im Zivil- und Katastrophenschutz,<br />

zu konzentrieren. Damit dürften zum einen wohl alle Bereiche mit vordringlichem<br />

Handlungsbedarf abgedeckt sein. Zum anderen erscheint mir<br />

eine derartige Schwerpunktbildung durchaus geeignet, um die Partner in<br />

einem integrierten föderal konzipierten Hilfeleistungssystem zur Vorsorge<br />

und Abwehr von Gefahren und Katastrophen jedweder Ursache in fachwissenschaftlicher,<br />

anwendungsorientierter Hinsicht angemessen unterstützen<br />

zu können.<br />

Es könnte sich empfehlen, für diese Beratung eine flexiblere, auf aktuelle<br />

Notwendigkeiten bezogene Struktur zu finden, etwa mit Hilfe kleiner<br />

Arbeitsgruppen unter Beteiligung der zuständigen Ressorts der Bundesregierung.<br />

Über die Beteiligung von Ländervertretern oder weiterem Sachverstand<br />

bzw. Kooperationspartnern sollte jeweils aktuell entschieden werden.<br />

Zu 3) Dass die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der allgemeinen<br />

Gefahrenabwehr künftig noch enger gestaltet werden muss, hat seinen<br />

Niederschlag bereits im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz gefunden: Es führte<br />

zur Abschaffung von Sonderstrukturen des Bundes im Katastrophenschutz<br />

und zur Integration von Maßnahmen des Bundes in den friedensmäßigen<br />

Katastrophenschutz der Länder. Dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> obliegt<br />

nunmehr die Aufgabenstellung für technisch-wissenschaftliche <strong>Forschung</strong><br />

„im Benehmen mit den Ländern“. Das bedeutet, über das bisherige Verfahren<br />

hinaus, das die Mitarbeit von Ländervertretern in den projektbegleitenden<br />

Arbeitsgruppen und die Information über die Ergebnisse der abgeschlossenen<br />

<strong>Forschung</strong>svorhaben vorsah, künftig eine Information und Beteiligung der<br />

Länder bereits in der Planungsphase. Den Ländern werden neu angemeldete<br />

<strong>Forschung</strong>sthemen zur Stellungnahme zugeleitet; sie erhalten die Zwischenberichte<br />

und den Abschlussbericht der <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />

Seit Oktober 1997 gibt es im Arbeitskreis V der IMK einen ständigen<br />

Ansprechpartner der Länder für die <strong>Schutzkommission</strong>, der in dieser Funk-<br />

270


tion zu den Jahrestagungen der <strong>Schutzkommission</strong> und zu wichtigen Beratungen<br />

eingeladen wird. Das war Herr Ministerialdirigent Dr. Klingshirn aus<br />

dem Bayrischen Staatsministerium des Innern. Er konnte Ihrer Einladung<br />

diesmal nicht mehr <strong>Folge</strong> leisten, weil er in der vergangenen Woche in den<br />

Ruhestand verabschiedet wurde. Ich kann Ihnen aber aus den Gesprächen<br />

mit den Mitgliedern des Arbeitskreises V in der vergangenen Woche sagen:<br />

Sie dürfen weiter von einem hohen Interesse der Länder an der <strong>Schutzkommission</strong><br />

ausgehen. Ich bin gebeten worden, auf der nächsten Sitzung des AK<br />

V im Herbst über die Neuorganisation der <strong>Schutzkommission</strong> zu berichten.<br />

Ich begrüße die Schaffung einer solchen Schnittstelle sehr. Sie vereinfacht<br />

die Abstimmung zwischen Bund und Ländern erheblich und optimiert<br />

dadurch die Koordinierung der <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />

Der Sachverstand der <strong>Schutzkommission</strong> muss als integrativer Bestandteil<br />

der Bemühungen von Bund und Ländern für verbesserte Vorsorge und wirksameren<br />

Schutz der Bevölkerung vor Gefahren und Katastrophen jedweder<br />

Ursache verstärkt auch den Ländern angeboten (und von ihnen in Anspruch<br />

genommen) werden. Der Zielsetzung eines möglichst breit gefächerten praktischen<br />

Nutzens sollten auch einschlägige <strong>Forschung</strong>svorhaben dienen. In<br />

dem Maße, in dem die <strong>Schutzkommission</strong> ihren wissenschaftlichen Sachverstand<br />

im Wege der Beratung auch für Themen im Zuständigkeitsbereich der<br />

Länder einsetzt, hätte sie eine weitere Perspektive. Im Bereich der Gefahrenprävention<br />

und -abwehr könnte ihr ein noch höherer Stellenwert zuwachsen.<br />

Ich rege in diesem Zusammenhang an, zu überdenken, ob nicht auch die<br />

Kommunen in die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> eingebunden werden sollten,<br />

um auch deren spezielle Wünsche an den Bevölkerungsschutz aufnehmen<br />

zu können. Ich weiß, der Deutsche Städtetag als Repräsentant der<br />

großen Kommunen würde eine solche Anregung mit großem Interesse aufnehmen.<br />

Man sollte auch daran denken, als Verantwortliche für die Region<br />

die im Deutschen Landkreistag organisierten Kreise anzusprechen. Aus<br />

meiner Sicht wäre eine Zusammenarbeit für alle Seiten von großem Nutzen.<br />

Zu 4) Ganz praktisch ergäbe sich für die <strong>Schutzkommission</strong> eine zusätzliche<br />

neue Aufgabe bei der Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle<br />

für großflächige Gefahrenlagen, für die ich hier werben möchte. Diese<br />

Koordinierungsstelle ist seit einem Jahr als ständige Einrichtung Bestandteil<br />

des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong>. Sie befasst sich mit der Erfassung und der<br />

Erschließung von Ressourcen und Hilfsmitten zur Krisenbewältigung, der<br />

Beobachtung und Abschätzung von Risikoentwicklungen, der Erarbeitung<br />

von Verfahren im Krisenmanagement, der Vorbereitung von Maßnahmen<br />

zur sachgerechten Information der Öffentlichkeit in Krisenlagen sowie der<br />

Initiierung von ressortübergreifenden <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben.<br />

Schwachstellen und Defizite sollen aufgedeckt und ausgemerzt werden,<br />

damit Fällen wie der gestrandeten „Pallas“ in der Nordsee, dem ICE-<br />

Unfall in Eschede oder der Katastrophe im Mont-Blanc-Tunnel effektiver<br />

begegnet werden kann.<br />

271


Der Beratungsbedarf durch die Wissenschaft ist hier groß, damit Prophylaxe<br />

und Bekämpfung zweckmäßig und umfassend ausfallen können. Der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> als Beratungsgremium des Bundesministeriums des<br />

Innern kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Ich<br />

würde es begrüßen, wenn die thematische Gewichtung der Arbeit der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> auch hier einen Schwerpunkt finden könnte. Eine Realisierungsmöglichkeit<br />

wäre die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe<br />

mit BZS und THW, auch mit Vertretern der Länder.<br />

Es sollte des weiteren geprüft werden, welche Informationen die <strong>Schutzkommission</strong><br />

zu einem einzurichtenden Informationssystem beim THW/BZS<br />

beisteuern kann. Diese Stelle sollte der Vernetzung vorhandener Datenbanken<br />

und Informationssysteme, also etwa der Leitstellen bzw. den Lagezentren<br />

der Innenministerien der Länder oder der Koordinierungsstelle für<br />

großflächige Gefahrenlagen, dienen. Ziel ist es, im Katastrophenfall besser<br />

und schneller als bisher Rettungsgerät und Sachverstand an den Ort der<br />

Katastrophe zu steuern. Zu diesen Systemen würde auch eine für Ihre Arbeit<br />

bedeutungsvolle Initiative beim Geoforschungszentrum Potsdam gehören,<br />

die sich gezielt der Erforschung von Naturkatastrophen widmen will.<br />

Zu 5) Eine solche Initiative würde auch den Zugang zur internationalen<br />

Kooperation erleichtern, bei der die <strong>Schutzkommission</strong> nach meinem Eindruck<br />

künftig intensiver tätig werden könnte. Eine verstärkte Präsenz auf<br />

der internationalen Bühne würde ich unterstützen. Ich denke dabei an einen<br />

Erfahrungsaustausch mit den Experten wissenschaftlicher Gremien internationaler<br />

Organisationen. Von einer solchen Zusammenarbeit würde nicht<br />

nur die <strong>Schutzkommission</strong>, sondern auch das internationale Gremium profitieren.<br />

Ich bin der Überzeugung, dass die <strong>Schutzkommission</strong> dort einiges<br />

anzubieten hat. So befasst sich der Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong><br />

u.a. mit der potentiellen Gefährdung der Bevölkerung im Falle einer Freisetzung<br />

von chemischen und biologischen Kampfstoffen sowie einer radioaktiven<br />

Verseuchung aufgrund des Einsatzes von Kernwaffen. Die Abhandlungen<br />

schließen die <strong>Folge</strong>n aufgrund terroristischer oder katastrophenartiger<br />

Vorfälle ein.<br />

Ein aktuelles Projekt der NATO, die sogenannte WMD (Weapons of Mass<br />

Destruction)-Initiative, befasst sich mit den <strong>Folge</strong>n des potentiellen Einsatzes<br />

von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen und entsprechenden<br />

Vorsorgemaßnahmen. Der Ausschuss, der sich zu diesem Zweck im NATO-<br />

Hauptquartier gebildet hat (Senior Defense Group on Proliferation – DGP),<br />

arbeitet wegen des kausalen zivilen Zusammenhanges mit dem Oberausschuß<br />

für zivile Notfallplanung (SCEPC) zusammen. Im Rahmen dieser<br />

WMD-Initiative wird z. Zt. geprüft, wie und in welchem Umfang die Allianz<br />

im Falle eines chemischen, biologischen aber auch nuklearen Einsatzes<br />

mit ihren Möglichkeiten zur Abschwächung der <strong>Folge</strong>n in dem betroffenen<br />

Land beitragen kann. Dies erfordert seitens der Nationen eine sorgfältige<br />

Vorbereitung insofern, als diese ihre vorhandenen Strukturen im ABC-<br />

Bereich überprüfen müssen.<br />

272


Dies ist mit Sicherheit nicht der einzige Bereich, in dem die <strong>Schutzkommission</strong><br />

bereits bahnbrechende Arbeiten anbieten kann. Auch in der<br />

Europäischen Union ist das Bedürfnis nach mehr Zusammenarbeit bei<br />

großflächiger Gefahrenbekämpfung gewachsen. Derzeit wird an einem<br />

zweiten Aktionsprogramm gearbeitet.<br />

Diese Hinweise sollen als Ermutigung an die <strong>Schutzkommission</strong> dienen, ihr<br />

Fachwissen noch mehr nach außen zu tragen, um das Profil der <strong>Schutzkommission</strong><br />

deutlicher zutage treten zu lassen und ihre Attraktivität und<br />

ihren Bekanntheitsgrad noch zu erhöhen. Ich bin sicher, dass eine solche<br />

Initiative zusätzlich junge Wissenschaftler anziehen könnte. Das Bundesministerium<br />

des Innern will gern dazu beitragen, wo nötig, Verbindungen zu<br />

knüpfen.<br />

Lassen Sie mich einige Gedanken zur internen Neuordnung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

anfügen:<br />

Ich freue mich, dass zwischen der <strong>Schutzkommission</strong> und dem BMI<br />

grundsätzliche Einigkeit besteht, die interne Aufbauorganisation der<br />

<strong>Schutzkommission</strong> zu straffen, um dem interdisziplinären Beratungsauftrag<br />

noch besser gerecht werden zu können. Sie soll sich auf die wichtigsten<br />

Sachthemen im Zivil- und Katastrophenschutz konzentrieren und damit die<br />

Arbeit möglichst noch effektiver machen, als sie bisher ist. Zunehmend<br />

wichtig wird auch eine erhöhte Flexibilität. Andererseits sind die begrenzten<br />

finanziellen Ressourcen zu berücksichtigen.<br />

Ich könnte mir eine Kerngruppe von vielleicht 20 Mitgliedern vorstellen,<br />

um die herum sich ein weiterer Kreis von Wissenschaftlern gruppiert, die<br />

ihr Fachwissen bei Bedarf weiterhin der <strong>Schutzkommission</strong> zukommen lassen<br />

und sie in ihrer Tätigkeit unterstützen. Wichtig ist für mich eine Regelung,<br />

die die Mitglieder, die nicht zur Kerngruppe zählen, nicht ausschließt.<br />

Sie sollten sich – trotz ihrer weniger zentralen Stellung – trotzdem den<br />

Anliegen der <strong>Schutzkommission</strong> weiter aufgeschlossen und in ihrem Fachwissen<br />

gefragt wissen.<br />

Der interdisziplinäre Charakter der Institution muss trotz der Verkleinerung<br />

erhalten bleiben, so dass jedenfalls die drei zentralen Beratungsthemen, die<br />

als wichtig für die Arbeit der Kommission definiert wurden, in der erforderlichen<br />

fachlichen Breite abgedeckt werden.<br />

Ob zur Erfüllung aktueller Beratungsaufträge ad hoc-Arbeitsgruppen gebildet<br />

werden oder ob regelmäßig tagende Fachgruppen der fachlichen<br />

Schwerpunktbereiche den Anforderungen, die an die <strong>Schutzkommission</strong><br />

gestellt werden, besser genügen, können Sie sicher am besten intern entscheiden.<br />

Der Innere Ausschuss als kommissionsinternes Koordinierungsgremium<br />

hat sich nach meiner Auffassung bewährt. Ich würde für seine Beibehaltung<br />

plädieren.<br />

Ein letztes Wort zu den Finanzen: Der gesetzliche Auftrag der <strong>Schutzkommission</strong><br />

ist 1989 auf eine beratende Funktion festgeschrieben worden. Das<br />

273


edeutet, dass die <strong>Schutzkommission</strong> oder ihre Mitglieder vom Bund keine<br />

eigenen <strong>Forschung</strong>smittel erhalten können – es sei denn, sie stellen sich<br />

dem Wettbewerb bei Ausschreibungen von <strong>Forschung</strong>svorhaben nach den<br />

allgemeinen Vergabevorschriften. Die <strong>Schutzkommission</strong> definiert sich als<br />

ehrenamtliches Gremium. Das bedeutet, dass ihre Mitglieder über die üblichen<br />

Spesen hinaus kein Honorar für ihre Beratungsleistung erhalten.<br />

Anbieten kann ich Ihnen eine Lösung, die der nachgebildet ist, die sich<br />

bereits seit 1993 für die jetzt beim BMU bestehende – ebenfalls ehrenamtlich<br />

arbeitende – „Strahlenschutzkommission“ bewährt hat. Dort wird bei<br />

besonders umfangreichen Beratungsleistungen – also in Einzelfällen – eine<br />

Aufwandsentschädigung gezahlt, wenn dies vom Ministerium anerkannt<br />

wurde. Ich bitte Sie, dieses Angebot zu prüfen. Ich versichere Ihnen, dass<br />

dem Bund haushaltsrechtich keine Ausnahmen vom Wettbewerbsprinzip<br />

und den vergaberechtlichen Vorschriften möglich sind. Die Zeit, in der über<br />

<strong>Forschung</strong>smittel in anderer als diese Weise verfügt werden konnte, ist leider<br />

vorbei. Die vorgeschlagene Lösung ist kein „Königsweg“, aber ein vernünftiger<br />

Kompromiss, der insbesondere auch – wie bereits erwähnt – den<br />

Interessen junger Wissenschaftler gerecht zu werden versucht.<br />

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die <strong>Schutzkommission</strong> hat eine<br />

erfolgreiche Vergangenheit aufzuweisen. Sie wird, davon bin ich überzeugt,<br />

auch eine erfolgreiche Zukunft haben, wenn es uns gemeinsam gelingt, ihre<br />

Organisation und ihre fachlichen Schwerpunkte an den praktischen Erfordernissen<br />

der Politik effektiv und rational auszurichten. Ich freue mich auf<br />

eine intensive Zusammenarbeit mit Ihnen.<br />

274


Die ICE-Katastrophe von Eschede<br />

Fakten – Erfahrungen – Konsequenzen<br />

Ewald Hüls<br />

1. Einleitung<br />

Das ICE-Unglück in Eschede am 3. 6. 98 war das bisher größte Unfallereignis<br />

im Landkreis Celle und gleichzeitig das schwerste Zugunglück in der<br />

Geschichte der Deutschen Bundesbahn. Es offenbarte nicht nur dem Rettungsdienst,<br />

sondern auch allen übrigen an dem Rettungseinsatz beteiligten<br />

Organisationen eine Schadenslage von bis dahin unbekannter Dimension.<br />

2. Fakten<br />

2.1 Unfallereignis<br />

Am Mittwoch, den 3. 6. 1998 befindet sich der ICE 884 „Wilhelm Conrad<br />

Röntgen“ auf der Fahrt von München nach Hamburg. Er verlässt um<br />

10:33 Uhr den Hauptbahnhof Hannover, um seine Fahrt über Celle, Uelzen,<br />

Lüneburg nach Hamburg Altona fortzusetzen. Der Intercity-Express 884,<br />

ein ICE der ersten Generation, ist insgesamt 358 m lang bei einem Gewicht<br />

von 850 t und hat maximal 759 Sitzplätze.<br />

Um 10:59 Uhr entgleist der ICE an einer Weiche in Höhe des südlichen<br />

Ortsbeginns von Eschede. Nach bisher vorläufigen veröffentlichten<br />

Erkenntnissen der eingesetzten Untersuchungskommission – die staatsanwaltschaftlichen<br />

Ermittlungen zur Erforschung der Unfallursache dauern<br />

noch immer an – werden durch den dritten sich quer stellenden Reisewagen<br />

die Pfeiler der ca. 300 m hinter der Weiche befindlichen 40 m langen die<br />

Bahngleise überspannenden Straßenbrücke weggerissen und diese dadurch<br />

zum Einsturz gebracht. Der vordere Triebkopf wird dabei vom restlichen<br />

Zug abgetrennt und kommt ohne zu entgleisen ca. 2 km hinter dem Bahnhof<br />

Eschede unbeschädigt zum Stillstand. Die Reisewagen 1–3 entgleisen und<br />

kommen etwa 350 m hinter der Brücke im Gleisbett zum Stehen, nachdem<br />

der hintere Teil des dritten Wagen gegen einen Oberleitungsmasten prallt.<br />

Durch den Aufprall von Brückenteilen auf den 5. Reisewagen wird der vierte<br />

Wagen hoch gedrückt, rutscht quer zum Gleisbett in einen angrenzenden<br />

kleinen Wald, wobei er sich überschlägt. Die hintere Hälfte des 5. Wagens<br />

wird durch herabstürzende Brückenteile vollständig begraben, der vordere<br />

Teil reißt ab und kommt ca. 100 m hinter der Brücke zum Stehen. Der sechste<br />

Reisewagen stellt sich quer vor die zusammenstürzende Brücke, die folgenden<br />

sechs Reisewagen werden durch den hinteren Triebkopf zollstockartig<br />

zusammengedrückt und zum Teil über die Brückentrümmer hinauskatapultiert.<br />

275


2.2 Alarmierung<br />

Die Rettungsleitstelle wird am 3. 6. 98 um 11:02 Uhr durch die Polizei über<br />

ein Zugunglück in Eschede informiert: „Zug entgleist, mehrere Verletzte“.<br />

Die seinerzeit als Einmann-Leitstelle betriebene Rettungsleitstelle des<br />

Landkreis Celle – angesiedelt beim Deutschen Roten Kreuz – erteilt auf<br />

Grund dieser Meldung den Einsatzauftrag an fünf Rettungstransportwagen<br />

(RTW), ein Notarzteinsatzwagen (NEF) und drei Krankentransportwagen<br />

(KTW) sowie an die Rettungshubschrauber Christoph 4 und Christoph 19,<br />

wobei sich ersterer noch im Einsatz befindet. Für den originären Rettungsdienst<br />

im Landkreis selbst – zuständig für eine Fläche von 1 544,84 km2 und<br />

einer Einwohnerzahl von 180 605 bleiben ein RTW und ein KTW verfügbar<br />

– diese werden im weiteren Verlauf auch für diese Aufgabe benötigt.<br />

Nach wenigen Minuten befindet sich der RTW der Rettungswache Eschede<br />

bereits am Unfallort und setzt die erste Lagemeldung an die Rettungsleitstelle<br />

ab:<br />

„Kompletter ICE verunglückt, völlig zerstört, Wagen ineinander verkeilt.“<br />

Die Leitstelle löst daraufhin Großalarm aus, insbesondere werden die Nachbarleitstellen<br />

um Hilfe ersucht, die ihrerseits sowohl Primärrettungsmittel<br />

als auch Schnelle-Einsatz-Gruppen (SEG) an die Unfallstelle entsenden.<br />

Die Rettungsleitstelle Celle informiert darüber hinaus den Landkreis und<br />

verstärkt sich selbst personell.<br />

2.3 Lage<br />

Um 11:14 Uhr ist das Notarzteinsatzfahrzeug am Einsatzort, um 11:19 Uhr<br />

der Ärztliche Leiter Rettungsdienst – letzterer nimmt in dieser Funktion für<br />

den Landkreis Celle die Aufgabe des Leitenden Notarztes (LNA) wahr. Zu<br />

diesem Zeitpunkt befindet sich ebenfalls der technische Einsatzleiter der<br />

Feuerwehr (Kreisbrandmeister/KBM), die ersten freiwilligen Ortsfeuerwehren,<br />

drei Rettungshubschrauber und diverse Rettungsdiensteinheiten<br />

vor Ort. Der Zustrom weiterer Einsatzkräfte hält unvermindert an. Bei<br />

trockenem und warmen Wetter erreichen die Einsatzkräfte die Unfallstelle<br />

direkt von allen Seiten, sowohl über befestigte als auch unbefestigte<br />

Zufahrtswege. Die Luftrettungsmittel können auf einem großen freien Feld<br />

direkt neben der Unfallstelle landen und haben somit auch direkten Zugang<br />

zum Einsatzgeschehen.<br />

Der Leitende Notarzt erfährt nach Kontaktaufnahme mit dem ersten vor Ort<br />

befindlichem Notarzt, dass ein Gesamtüberblick über die Schadenslage<br />

noch nicht vorliegt und dass bei unbekannter Auslastung des Zuges schätzungsweise<br />

mit 40 Schwerverletzten und einer unbekannten Anzahl von<br />

Toten zu rechnen sei. Der LNA nimmt daraufhin Kontakt mit dem technischen<br />

Einsatzleiter der Feuerwehr auf. Notwendiges Bergungsgerät ist hier<br />

bereits schon angefordert und befindet sich auf dem Weg zur Schadenstelle.<br />

Nach Mitteilung der DB-AG sind die Zugoberleitungen seit 11:09 Uhr<br />

276


abgeschaltet. Die Unfallstelle mit einer Ausdehnung von 40 m x 600 m<br />

zeigt mehrere Einsatzschwerpunkte im Bereich der Brücke und der entgleisten<br />

Zugreisewagen, die Schadenslage selbst ist statisch.<br />

2.4 Einsatztaktik und Verlauf<br />

Zum Aufbau von Führungsstrukturen an der Unfallstelle werden in gemeinsamer<br />

Absprache zwischen technischem Einsatzleiter und LNA die ersten<br />

taktischen Entscheidungen getroffen, als Führungsmittel dient zunächst der<br />

direkt an der Einsatzstelle positionierte Einsatzleitwagen der Feuerwehr.<br />

Durch die eingestürzte Brücke wird die Unfallstelle topographisch in zwei<br />

Abschnitte geteilt, wobei ein ungehinderter Zugang von einem in den anderen<br />

Teil direkt nicht besteht.<br />

Aufgrund dieser Gegebenheit erfolgt die Aufteilung der Schadensstelle<br />

auch aus taktischen Gesichtspunkten in einen Ost- und Westabschnitt. Die<br />

Einrichtung von Verletztensammelstellen und Verbandsplätzen wird für<br />

jeden Abschnitt gesondert bestimmt. Im Ostteil liegt der Unfallbrücke direkt<br />

benachbart eine Industriehalle. Diese wird als Schwerverletztensammelstelle<br />

aquiriert und sukzessive personell und materiell ausgestattet.<br />

Die Kommunikation ist bereits in der Anfangsphase nachhaltig durch Überlastung<br />

der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS)-<br />

Frequenzen und der Mobilfunknetze gestört. Um diesen Mangel auszugleichen,<br />

werden aus den heranrückenden Rettungsdiensteinheiten ein Meldetrupp<br />

organisiert, deren Aufgabe in der Verbreitung der getroffenen Entscheidungen<br />

vor Ort und Lageerkundung mit Rückmeldung an den LNA<br />

besteht. Über diesen Weg wird der vorläufig verhängte Transportstopp und<br />

die Entscheidung, Schwerstverletzte über den Luftweg nur von einem Landeplatz<br />

hinter der Industriehalle Ost auszufliegen, verbreitet.<br />

Für den Ost- und Westabschnitt bestimmt der LNA je einen erfahrenen und<br />

als Leitenden Notarzt ausgebildeten ärztlichen Abschnittsleiter. Diese sollen<br />

selbstständig unter den festgelegten Vorgaben (ggf. auch unter Bildung weiterer<br />

Unterabschnitte) mit den bereits vor Ort befindlichen und weiterhin<br />

zugeführten Bergungs- und Rettungsdienstkräften den Unfallbereich abarbeiten.<br />

Das persönliche „sich Kennen“, erhöht die Akzeptanz des LNA und<br />

erleichtert die Führungsaufgaben nachhaltig. Die Zusammenarbeit ist kollegial<br />

und kooperativ. An der Unfallstelle eintreffende Rettungsdienste und<br />

Sanitätskräfte werden den gebildeten Abschnitten direkt zugewiesen, soweit<br />

sie sich anmelden, wobei Einheiten nicht getrennt werden.<br />

Darüber hinaus strömt auch weiterhin eine nicht unerhebliche Anzahl von<br />

„selbstalarmierten“ Einsatzkräften unangemeldet ins Einsatzgeschehen,<br />

wodurch es zum Teil unmöglich wird, einen aktuellen Einsatzstatus zu<br />

gewinnen. Die Mehrfachkennzeichnung von „Leitenden Notärzten“<br />

(Rückenschilder an Einsatzkleidung bei fehlender Funktion nicht entfernt)<br />

ist irritierend für Einsatzkräfte insbesondere der fremden Hilfsorganisationen<br />

vor Ort.<br />

277


Innerhalb von zwei Stunden sind etwa 40 Notärzte vor Ort, die Behandlung<br />

der Verletzten erfolgt dementsprechend annähernd individualmedizinisch –<br />

eine Triage im üblichen Sinne ist dadurch nicht erforderlich. Bereits nach<br />

60 Minuten beginnt ein koordinierter Abtransport von Patienten, nach<br />

100 Minuten ein genereller Abtransport bei zwischenzeitlich ausreichenden<br />

Transportkapazitäten.<br />

Die Kommunikation zwischen den zivilen und militärischen Luftrettungsmitteln<br />

ist primär nicht möglich. Der LNA bittet die Bundeswehr, diesen<br />

Mangel- und Gefährdungszustand zu beseitigen. Mit Hilfe eines „On scene<br />

coordinator“ (Hubschrauber über der Schadensstelle) und dem Einsatz der<br />

SAR-(Bundeswehr) Leitstelle in Münster wird die Kommunikation hergestellt<br />

und außerdem eine Luftraumsperrung 5NM rund um das Einsatzgebiet<br />

mit Inaktivierung eines benachbart liegenden Truppenübungsschießplatzes<br />

sichergestellt, wodurch ein geordneter An- und Abflug der eingesetzten<br />

Hubschrauber erst möglich wird.<br />

Gegen 13:20 Uhr sind alle Schwerverletzten auf dem Weg in die versorgenden<br />

Kliniken, bereits um 13:45 Uhr ist kein behandlungsbedürftiger<br />

Patient mehr an den Verletztensammelstellen, wobei einschränkend die<br />

sechs Zugreisewagen im Bereich der eingestürzten Brücke noch nicht<br />

zugänglich sind und durchsucht werden können. Aufgrund dieser Entwicklung<br />

werden sukzessive die Primärrettungsmittel aus dem Einsatzgeschehen<br />

abgezogen und ihren originären Aufgaben wieder zugeführt – dies gilt auch<br />

für die primären Luftrettungsmittel.<br />

Die als Sichtungsstelle nicht mehr benötigte Halle Ost wird im weiteren<br />

Verlauf zur zentralen Leichensammelstelle bestimmt – an der Verbringung<br />

der zwischenzeitlich in Zelten aufgebahrten Leichen beteiligen sich Kräfte<br />

der Bundeswehr und des technischen Hilfswerkes. Umfang der Identifikation<br />

vor Ort und Transport der Leichen zum gerichts-pathologischen Institut<br />

der medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) wird in Absprache<br />

mit der MHH, der Kriminalpolizei Celle und dem Bundeskriminalamt im<br />

Hintergrund geregelt.<br />

Um 14:30 Uhr ist die Technische Einsatzleitung (TEL) installiert und<br />

betriebsbereit. Der Aufbau erfolgte aus Platzgründen (Unterbringung aller<br />

beteiligter Organisationen) und zur Entlastung der An- und Abfahrtwege zur<br />

eigentlichen Unfallstelle etwa 1,2 km vom zentralen Unfallgeschehen entfernt<br />

mitten im Ortskern Eschede. Um 14:41 Uhr erreicht der Tunnelrettungszug<br />

der DB-AG mit Ärzten und Sanitätspersonal den Einsatzort – der Zug selbst<br />

kommt im weiteren Verlauf jedoch nicht zum Einsatz. Um 14:45 Uhr wird<br />

nach zeitraubender Bergung die letzte verletzte Person mit einem Rettungshubschrauber<br />

abtransportiert. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Zustrom von<br />

Rettungs- und Sanitätsdiensten auf eine Stärke von ca. 450 Personen mit fast<br />

80 Fahrzeugen angestiegen, etwa 80 Ärzte vor Ort und über 38 Fluggeräte im<br />

Einsatz – zum Teil als freiwillige Helfer, insbesondere aber auch ohne Anforderung<br />

und Anmeldung über die Leitstelle oder örtliche Einsatzleitung.<br />

278


2.5 Erste Ergebnisse<br />

In dieser ersten Phase werden 87 Patienten geborgen und medizinisch erstversorgt.<br />

Davon sind 69 Patienten schwerverletzt und zum Teil vital gefährdet,<br />

38 weitere Patienten bedürfen der stationären Behandlung. Mittels Rettungshubschrauber<br />

werden 27, über den bodengebundenen Rettungsdienst<br />

60 Patienten transportiert (38 % unter ärztlicher Begleitung) und an insgesamt<br />

23 Kliniken – die jeweiligen Verletzungsmuster berücksichtigend –<br />

über einen Radius von ca. 250 km verteilt und damit eine Überlastung insbesondere<br />

der naheliegenden Kliniken vermieden. Die Zahl der Toten ist bis<br />

auf 65 angestiegen.<br />

Der zwischenzeitlich abgearbeitete Abschnitt West wird in Absprache mit<br />

dem technischen Leiter aufgelöst, der Abschnitt Brücke damit zum zentralen<br />

Einsatzschwerpunkt.<br />

Um 15:00 Uhr erfolgt die Führungsübernahme durch die eingerichtete technische<br />

Einsatzleitung (TEL) – hier erfolgt die erste Einsatzbesprechung<br />

gegen 15:30 Uhr. Alle an der Rettungs- und Bergungsaktion beteiligten<br />

Organisationen unterstellen sich dieser Einsatzleitung, die Zusammenarbeit<br />

ist sachlich und konstruktiv. Mit Arbeitsaufnahme der TEL sind die Funkprobleme<br />

vor Ort durch Rückgriff auf ein eigenes Funk- bzw. Kabelnetz für<br />

die Einsatzkräfte beseitigt, Zuständigkeiten und Ansprechpartner für Aufträge<br />

und Probleme jeder Art geregelt.<br />

Wesentlich für den weiteren Verlauf wird eine gemeinsam gefasste Grundsatzentscheidung:<br />

Fortsetzung der Rettungs- und Bergungsarbeiten bis zur vollständigen<br />

Aufarbeitung der gesamten Schadensstelle unter dem Gesichtspunkt<br />

möglicher Bergung von noch Überlebenden und vollständigem Auffinden<br />

sämtlicher Unfallopfer.<br />

2.6 Kräfteansatz: Lageabhängige Anpassung<br />

Das stückweise Abtragen der Brückenteile gestaltet sich äußerst schwierig,<br />

trotz der inzwischen vor Ort befindlichen und eingesetzten Schwerlastkräne.<br />

Der Einsatzauftrag des Rettungsdienstes bleibt weiterhin bestehen, da<br />

zum einen mit dem Auffinden weiterer Unfallopfer in den bis dahin nicht<br />

zugänglichen Zugreisewagen gerechnet werden muss und zum anderen ein<br />

Gefährdungspotential für die Einsatzkräfte durch die Unfallstelle selbst, die<br />

Arbeit mit schwerem Gerät und bei Nacht fortgeführt wird. Die Stärke der<br />

Einsatzkräfte wird den neuen Verhältnissen angepasst und auf fünf RTW<br />

mit Besatzung und je einem Notarzt sowie einem Ambulanzhubschrauber<br />

und einer nachtflugtauglichen SAR-Maschine der Bundeswehr und zwei<br />

KTWs reduziert. Für den Brückenbereich wird ein ärztlicher Abschnittsleiter<br />

bestimmt, weiterhin die ärztliche Betreuung der eintreffenden Angehörigen<br />

von Unfallopfern sichergestellt. Die Ablösung der Rettungsdienstkräfte<br />

im Schichtwechsel von 12 h wird an den Sanitätsdienst delegiert – Pro-<br />

279


leme ergeben sich hier nicht. Zum Auffinden sämtlicher Leichenteile werden<br />

sowohl die Zugabteile als auch die Umgebung mehrfach mit einer Rettungshundestaffel<br />

abgesucht.<br />

Letztendlich dauern die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen bis zum Samstag,<br />

den 6. 6. 98 um 06:42 Uhr.<br />

2.7 Ergebnis der Rettungs- und Bergungsmaßnahmen<br />

Bis zu diesem Zeitpunkt verändert sich die Zahl der Überlebenden nicht.<br />

Vor Ort werden 96 Tote sowie 176 Leichenteile geborgen. Über diesen Zeitraum<br />

finden regelmäßige Einsatzbesprechungen der technische Einsatzleitung<br />

statt, auftauchende Fragen und Probleme (Medien, Pressekonferenzen<br />

und psychologische Betreuung der Helfer vor Ort, etc.) werden in gemeinsamen<br />

Absprachen geregelt, wobei wesentliche Maßnahmen für den Rettungsdienst<br />

nicht mehr anfallen. Von den Einsatzkräften wurden letztlich<br />

drei Personen beim Einsatz verletzt und mussten sich einer stationären<br />

Behandlung unterziehen.<br />

In den Kliniken versterben im weiteren Verlauf 5 Patienten an den <strong>Folge</strong>n<br />

ihrer Verletzungen – damit fordert die ICE-Katastrophe von Eschede<br />

101 Menschenleben.<br />

Unter Berücksichtigung der ambulant behandelten Personen und noch nach<br />

Tagen eingehender Verletztenmeldungen (hier auch ausschließlich psychischer<br />

Natur) erhöhte sich die Zahl der Verletzten auf insgesamt 108 Personen.<br />

Die tatsächliche Zahl der Zugpassagiere zum Zeitpunkt des Unfalles<br />

bleibt offen.<br />

3. Erfahrungen und Konsequenzen<br />

3.1 Kräfteansatz<br />

Der reibungslose Ablauf der Bergungs- und Rettungsaktion war insbesondere<br />

auf die außerordentlich gute Zusammenarbeit aller beteiligten Organisationen<br />

zurückzuführen und darauf, dass diese binnen kurzer Zeit und in<br />

unerwarteter Stärke vor Ort waren und dort ihre Arbeit professionell durchgeführt<br />

haben. Besondere Beachtung verdient dabei die Gegenüberstellung:<br />

hauptamtlicher Rettungsdienst – ehrenamtlicher Sanitätsdienst.<br />

In der ersten Phase war der Rettungsdienst mit insgesamt 91 Kräften<br />

(43 Not-ärzte, 47 Rettungsassistenten) vor Ort. Eingesetzt waren 22 Kfz<br />

(3 NEF, 11 RTW, 8 KTW) sowie 8 (Primär-)Rettungshubschrauber und<br />

5 Ambulanzhubschrauber. Dagegen war der Sanitätsdienst mit 423 Kräften<br />

(darunter 16 Ärzte) und 102 Kfz vertreten (16 RTW, 26 KTW, 8 KTW 4 Tragen,<br />

28 MTW, 24 Sonstige Kfz ) einschließlich der taktischen Einheiten von<br />

10 SEGn, 2 Rettungshundestaffeln und 2 Einsatzzügen.<br />

280


3.2 Schnell-Einsatz-Gruppen (SEGn)<br />

Die SEG’n sind zum Teil personell und materiell so gut ausgerüstet und<br />

besetzt, dass sie die Rettungsdiensteinheiten RTW/NAW ohne Qualitätsverluste<br />

auslösen können. Die frei werdenden Einheiten stehen damit ihren<br />

originären Aufgaben wieder zur Verfügung. Bei zeitlich protrahierten Schadenslagen<br />

ist dies ein wesentlicher taktischer Faktor insbesondere dort, wo<br />

aus Kostengründen die Rettungsmitteldichte ohnehin auf eine marginale<br />

Besetzung reduziert ist.<br />

In Eschede konnte der Kräfteansatz des hauptamtlichen Rettungsdienstes<br />

bereits nach 3 Stunden deutlich reduziert werden und verblieb letztlich ab<br />

Phase II (3. 6. 98/15:00 Uhr) bis zur Einstellung der Rettungsdienstmaßnahmen<br />

mit lediglich 3 Kräften und 2 Fahrzeugen vor Ort. Die ausgesprochen<br />

schnelle Präsenz des Rettungs- und Sanitätsdienstes in hoher Dimension<br />

ermöglichte eine annähernd individualmedizinische Versorgung der<br />

Unfallopfer – eine bessere präklinische Versorgung gibt es nicht – und<br />

gewährleistete darüber hinaus deren schnellen und zielgerichteten Transport<br />

in die Kliniken.<br />

3.3 Katastrophenfall<br />

Die Einstufung des Unglücks als Katastrophe durch den Hauptverwaltungsbeamten<br />

(HVB) des Landkreises Celle hat diese Entwicklung vor Ort<br />

entscheidend mit beeinflusst und für die notwendigen Rahmenbedingungen<br />

zur adäquaten Abwicklung der Schadenslage gesorgt. Hierzu zählt u.a. die<br />

Einbindung der Bundeswehr mit ihren Möglichkeiten (Bereitstellung und<br />

Einsatz von Luftrettungsmitteln 1. und 2. Grades, Großraumtransportmaschinen,<br />

Sanitätseinheiten, Bergungspanzer, etc.), der Einsatz des Technischen<br />

Hilfswerkes und der Einsatz privater Anbieter von speziellem technischen<br />

Bergungsgerät (Schwerlastkräne, Hammerkran, etc.) welches in den<br />

benötigten Größenordnungen weder bei den Berufsfeuerwehren noch bei<br />

anderen Institutionen zur Gefahrenabwehr vorgehalten wird.<br />

3.4 Luftrettung<br />

Die Einsatzbedingungen für die Luftrettung waren optimal. Nur bei derart<br />

guten Sichtbedingungen war die Zusammenführung der Maschinen bei der<br />

außergewöhnlich hohen Anzahl an der Unfallstelle – abgesehen von den<br />

vorhandenen Landeflächen – überhaupt möglich. Koordiniert am Ort durch<br />

eine Relaismaschine der Bundeswehr und geführt durch die SAR-Leitstelle<br />

Münster konnte das Gefährdungspotential durch die LFZ selbst auf ein<br />

Minimum reduziert werden. Die Umsetzung der Luftraumsperrung am<br />

Unfallort, die Inaktivierung der in der Nähe befindlichen Luftraumsperrgebiete<br />

über den militärischen Schießplätzen – Vorbedingung für einen<br />

gefahrlosen und koordinierten An- und Abflug der eingesetzten Luftfahrzeuge<br />

– und letztlich Gewährleistung der Funk-Kommunikation zwischen<br />

281


Militär- und Zivilmaschinen (unterschiedliche Funkfrequenzen) kann letztlich<br />

nur durch eine solche Leitstelle sicher erfolgen.<br />

Die Einsetzbarkeit der zur Verfügung gestellten LFZ ist abhängig von der<br />

jeweiligen Ausstattung (Nachtflugtauglichkeit, Größe, Gewicht, medizinisches<br />

Equipement) – dies erklärt, warum nicht alle zur Verfügung gestellten<br />

LFZ zum Einsatz kamen bzw. andere mehrfach eingesetzt wurden.<br />

Die Verfügbarkeit von Luftrettungsmitteln überhaupt ist in jedem Fall ein<br />

unschätzbarer Vorteil. Durch das vorhandene Aufgebot in Eschede war ein<br />

schneller Transport besonders der schwerverletzten Patienten in auch entfernt<br />

liegende Spezialkliniken möglich. Dieser Umstand verhinderte zum<br />

einen eine mögliche Überlastung der nahegelegenen Krankenhäuser und<br />

garantierte den Patienten ohne Zeitverlust die Zuführung zu speziellen<br />

Behandlungszentren. Bei den gegeben Verletzungsmustern (schwere Schädel-,<br />

Brust- und Bauchverletzungen) war dies für einige Patienten lebensrettend.<br />

Taktisch eingesetzt wurden die Hubschrauber neben der Luftrettung u.a. zur<br />

schnellen Heranführung von Personal und Material.<br />

3.5 Einsatzleitung vor Ort (TEL)<br />

Die Einrichtung einer Technischen Einsatzleitung mit entsprechender funkfernmeldetechnischer<br />

Ausrüstung und eines entsprechend dimensionierten<br />

Einsatzfahrzeuges (Bus), in dem alle beteiligten Organisationen mit ihrem<br />

Leiter vertreten sind, ist für eine logistische Führung bei Großschadenslagen<br />

unabdingbar. Sie fördert die koordinierte Zusammenarbeit, das Kennenlernen<br />

aller am Schadensort maßgeblichen Personen und vermittelt nach<br />

außen durch einheitlichen Sachstand und gemeinsames konstruktives Handeln<br />

Professionalität.<br />

Nachteile: Kosten/Zeitbedarf (2–3 h), bis einsatzfähig installiert!<br />

Im Hinblick auf denkbare zukünftige Unfälle und Großschadenslagen mit<br />

durchaus schlechteren äußeren Bedingungen muss insbesondere über ein<br />

überregionales Konzept unter Berücksichtigung der verfügbaren materiellen<br />

und personellen Ressourcen unter dem Diktat des finanziell Machbaren<br />

nachgedacht werden. Übungen der Führungskräfte sollten regelmäßig<br />

durchgeführt werden, so dass allen Beteiligten verinnerlicht ist, wer die einzelnen<br />

Partner sein können, was sie leisten und insbesondere unter welchen<br />

Strukturen sie arbeiten. Ein Lösungsansatz zur Kostenminimierung könnte<br />

beispielsweise darin bestehen, dass mehrere benachbarte Landkreise sich<br />

die Finanzierung einer derart ausgelegten TEL teilen und dabei zusätzlich<br />

auf vorhandene professionelle logistische Strukturen (wie sie bereits bei<br />

Berufsfeuerwehren zu finden sind) zurückgreifen.<br />

3.6 Rückwärtige Bedingungen<br />

Die eingerichteten und vorhandenen Strukturen haben sich unter den Bedingungen<br />

des Unfalles von Eschede bewährt – dies gilt ausdrücklich auch für<br />

die logistische Führung im Hintergrund (Katastrophenplan im Kranken-<br />

282


haus, schnelle Verfügbarkeit von weiteren Notärzten aus den Kliniken in der<br />

ersten Phase und der Bereitstellung von BTM-pflichtigen Analgetika, Notfallmedikamenten,<br />

Infusionslösungen sowie Verbandsmaterial in ausreichender<br />

Größenordnung aus der Klinikapotheke des Allgemeinen Krankenhauses<br />

in Celle).<br />

Dazu gehören auch die Arbeit des rückwärtigen Katastrophenstabes im<br />

Kreishaus und die Arbeit der Samtgemeindedirektion in Eschede, die u.a.<br />

den schnellen Zugriff auf innerörtliche Gebäude ermöglicht haben und für<br />

Versorgungsstrukturen Sorge trugen.<br />

3.7 Probleme<br />

Die Erfahrungen aus der Bewältigung einer solchen Schadenslage verdeutlichen<br />

jedem Beteiligten auch die Schwachstellen in den vorhandenen<br />

Strukturen und Abläufen der eigenen Organisation sowie in der Zusammenarbeit<br />

mit den übrigen Kräften. Bei näherem Hinsehen und dem Studium<br />

anderer Schadenslagen wird deutlich, dass diese Probleme nicht neu<br />

sind und bereits bei anderen (Groß-) Schadenslagen in gleicher oder ähnlicher<br />

Form bestanden haben.<br />

Im Einzelnen:<br />

3.7.1 Kommunikation<br />

BOS-Funk für Rettungsdienst und Feuerwehr waren ebenso wie die privaten<br />

Netze (D1, D2 und C-Netz) in der ersten Phase völlig überlastet und standen<br />

nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung. Dieses Problem betraf alle<br />

vor Ort befindlichen Gruppen in gleicher Weise – die Kommunikation war<br />

nachhaltig sowohl zu den eigenen Verbänden als auch zu anderen Organisationen<br />

vor Ort und nach „außen“ gestört. Im Rettungsdienst wurde dies<br />

durch eingesetzte „Melder“ zum Teil ausgeglichen. Das Problem wurde<br />

jedoch grundsätzlich erst durch die Installierung der TEL beseitigt, die vor<br />

Ort auf ihr eigenes ausgelegtes Feld-Kabelnetz zurückgreifen konnte.<br />

Möglicherweise könnten hier zukünftig zusätzlich eingerichtete Funkkanäle<br />

und lizensiert/autorisiert frei geschaltete Netzkapazitäten Abhilfe schaffen.<br />

Eine weitere mögliche Alternative könnten Satelliten-Funktelefone oder<br />

auch Mehrfrequenzhandys bestückt mit einer ausländischen Telefonkarte<br />

(z.B.: Schweiz, Dänemark mit automatischem Zugriff auf alle deutschen<br />

Netze) sein.<br />

Grundsätzlich sollten jedoch zwei getrennte Funkkanäle – einer für die Heranführung<br />

von Rettungs- und Bergungsmannschaften und ein zweiter für<br />

die Einweisung am Unfallort neben den sonst benutzen Rettungsdienstkanälen<br />

verfügbar sein. Dies wird im Luftverkehr an Flughäfen seit Jahren<br />

mit Erfolg durch Tower (Verkehr in der Luft) und Bodenkontrolle (Verkehr<br />

am Boden) demonstriert.<br />

283


Eine Besonderheit im Funkverkehr offenbarte sich zudem bei der Luftrettung<br />

– die Militärmaschinen sind nicht mit BOS-Funk ausgerüstet und können<br />

dementsprechend mit zivilen Maschinen nicht direkt kommunizieren.<br />

Wie bereits ausgeführt wurde dies Problem durch die SAR-Leitstelle Münster<br />

in Kooperation mit dem eingesetzten Relais-Hubschrauber vor Ort im<br />

Fall Eschede geregelt. Derzeit besitzen ausschließlich die Hubschrauber<br />

des BGS beide Funksysteme – dies war vor Ort nicht bekannt.<br />

3.7.2 Führung im Rettungsdienst<br />

Erkundung der Einsatzstelle, primär selbstständiges Handeln bei der Erstversorgung<br />

von Unfallopfern, routinierte Zusammenarbeit mit Notärzten<br />

und Feuerwehr sowie der Transport der Verletzten in die ausgewählten Kliniken<br />

kennzeichnen alltägliche Handlungsalgorithmen im Rettungsdienst.<br />

Selbständige Kontaktaufnahme zu fremden Führungsstrukturen, Verzahnung<br />

mit dem Sanitätsdienst des Katastrophenschutzes bei Großschadenslagen<br />

erfordert hingegen ein Umdenken und Abweichen von verinnerlichten<br />

Verhaltensmustern.<br />

Der Rettungsdienst – im Gegensatz zu anderen Organisationen nicht hierarchisch<br />

strukturiert – lässt sich mangels klarer bundeseinheitlicher Vorgaben<br />

logistisch ungleich schwerer in einer Katastrophensituation führen, als<br />

dies bei anderen Einheiten (Bundeswehr, Polizei und Bundesgrenzschutz)<br />

der Fall ist. Einsatz auf Anforderung, tätig werden nur bei Auftrag vor Ort,<br />

Anmeldung, Abmeldung und Disziplin hinsichtlich erteilter Anweisungen<br />

an der Schadenstelle (Abrücken) gleichbedeutend mit der<br />

Unterstellung unter eine fremde Führung sind Grundvoraussetzungen, dass<br />

eine Einheit logistisch überhaupt geführt werden kann. Ausbildungskonzepte<br />

im Rettungsdienst sehen diese Anforderungen nicht vor, an entsprechenden<br />

Übungen (z.B.: gemeinsam mit den Katastrophenschutzverbänden)<br />

mangelt es entsprechend – Abhilfe sollte möglich sein.<br />

3.7.3 System „Leitender Notarzt“/Kennzeichnung<br />

Logistik und Führung vor Ort sind unabdingbare Voraussetzungen zur<br />

Bewältigung einer Großschadenslage, insbesondere bei Zeitverläufen<br />

größer 6–8 Stunden. Dies gilt insbesondere auch für den Rettungsdienst.<br />

Die Notwendigkeit der Vorhaltung eines LNA hat sich auch am Beispiel<br />

Eschede dahingehend bestätigt. Eine adäquate Ausrüstung mit notwendigen<br />

Führungsmitteln ist selbstredend – ebenso wie der diesbezügliche Verweis<br />

auf das Niedersächsische Rettungsdienstgesetz.<br />

Die logistisch zu bewältigenden Aufgaben des LNA vor Ort sind vielfältig:<br />

Einrichtung von Verletztensammelstellen, Verbandsplätzen für schwer und<br />

leicht verletzte Personen, Organisation des koordinierten Abtransportes mittels<br />

luft- und bodengebundener Rettungsmittel, koordinierter Einsatz des<br />

medizinischen Personals und Organisation des Kräfteansatzes entsprechend<br />

der jeweiligen Schadenslage, sowie die Nachführung von medizinischen<br />

284


Versorgungsgütern und Ansprechpartner vor Ort zu sein, zählen mit zu den<br />

wichtigsten Aufgaben eines leitenden Notarztes.<br />

Voraussetzung für ein effektives Funktionieren dieses Systems ist in jedem<br />

Fall eine geeignete personelle und materielle Ausstattung, die den Verhältnissen<br />

im Zuständigkeitsgebiet angepasst sein muss. Dazu gehören ein eigenes<br />

Leitfahrzeug für den Rettungsdienst (im Fall Eschede von einer SEG-<br />

Einheit aquiriert) ebenso wie die Unterstützung durch einen „Organisationsleiter<br />

Rettungsdienst“ (ORGL), der den LNA bei seinen organisatorischen<br />

Aufgaben unterstützt bzw. diese umsetzt. Permanente Verfügbarkeit,<br />

Ablösung bei zeitlich protrahierten Schadensverläufen und Ausfall aus<br />

diversen Gründen bedingen die Einrichtung einer LNA-Gruppe. Die eigenen<br />

Defizite wurden am Beispiel Eschede erkannt und entsprechende Konsequenzen<br />

bereits gezogen.<br />

Im Gegensatz zur Polizei, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr aber auch<br />

den in Kliniken arbeitenden Ärzten, denen allen gemein eine hierarchische<br />

(Führungs-)Struktur ist, arbeitet der Rettungsdienst wie bereits oben angesprochen<br />

ohne derart vorgegebene Führungsstrukturen – er kennt sie nicht<br />

(Ausbildungsdefizit). Darüber hinaus finden sich an einer Großschadensstelle<br />

viele fremde Arzte und Rettungsdienste, wobei die jeweilige Qualifikation<br />

des einzelnen unklar bleibt.<br />

Um hier eine Akzeptanz des zuständigen Leitenden Notarztes zu sichern,<br />

bedarf es grundsätzlich:<br />

– der Kenntnis von Führungsstrukturen bei Großschadenslagen (Ausbildung/<br />

Übungen)<br />

– einer bundeseinheitlichen Regelung der Funktion und Zuständigkeit des<br />

LNA<br />

– einer bundeseinheitlichen Kennzeichnung des LNA.<br />

Bundeseinheitlich auch deshalb, weil zukünftig überregionale Konzepte<br />

eine Kostenreduktion im Rettungsdienst bewirken sollen – also gegenseitige<br />

Hilfe auch über Landesgrenzen hinaus zur Regel wird. Ein Polizeibeamter<br />

wird als solcher in jedem Bundesland erkannt! Fehlende oder auch<br />

Mehrfachkennzeichnungen von gleichen Funktionen – wie in Eschede insbesondere<br />

am Beispiel der LNA-Kennzeichnung – sollten zukünftig der<br />

Vergangenheit angehören.<br />

3.7.4 Kennzeichnung am Einsatzort<br />

Kennzeichnung der übrigen Arzte ist ein weiteres Problem und soll an dieser<br />

Stelle nicht unerwähnt bleiben. Unterschiedliche und zum Teil unbekannte<br />

Qualifikation der „fremden Notärzte“ vor Ort schränken den gezielten<br />

Einsatz mitunter ein – dies kann nicht nur theoretisch, sondern durchaus<br />

auch praktisch zu einem Qualitätsverlust in der präklinischen Versorgung<br />

führen. Möglicherweise hilft auch hier eine Kennzeichnung weiter, wie wir<br />

sie aus anderen Bereichen (z.B. Bundeswehr) kennen.<br />

285


Kennzeichnung im Allgemeinen bezieht sich auch auf regelhaft anzutreffende<br />

Funktionsorte (Verletztensammelstellen, Einsatzleitung, Betreuung,<br />

etc.) – insbesondere bei unübersichtlichen Schadensstellen könnten hier<br />

beispielsweise farbig codierte Ballons nützlich sein. Sie signalisieren in<br />

jedem Fall und jedem vorhandene Strukturen am Einsatzort, die sonst möglicherweise<br />

nicht erkannt werden!<br />

3.7.5 Dokumentation<br />

Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, wurde die Dokumentation beim<br />

Einsatz in Eschede – bedingt durch die individualmedizinischen Abläufe –<br />

eher sekundär behandelt und durchgeführt. Verletztenkarten (Muster DRK)<br />

wurden lediglich vom Rettungsdienst des Landkreises Celle vorgehalten<br />

und nur sporadisch benutzt. Andere Organisationen hatten zur Dokumentation<br />

keinerlei Unterlagen mitgebracht. Im Nachhinein recherchiert, wurden<br />

die sonst üblichen Rettungsdienstprotokolle – offensichtlich bedingt<br />

durch die besondere Situation – zum Teil nicht oder nur unvollständig ausgefüllt.<br />

Dieser Mangel wurde durch die Ermittlungsarbeit der Polizei und des BGS<br />

behoben. Dazu wurden alle Krankenhäuser in Norddeutschland von Beamten<br />

der in der Nähe befindlichen Polizeistationen aufgesucht und nach Patienten<br />

befragt, die sich im Zusammenhang mit dem Zugunfall vorgestellt<br />

hatten bzw. eingewiesen worden waren. Zusätzlich wurde allen Vermisstenmeldungen<br />

nachgegangen und mit den Aufzeichnungen – soweit sie vor<br />

Ort erstellt werden konnten – abgeglichen.<br />

Nach unseren Erfahrungen muss die Dokumentation am Unfallort neu überdacht<br />

werden und sollte konzeptionell bundeseinheitlich geregelt sein. Das<br />

Ausfüllen der Verletztenkarten ist zeitraubend, oft unvollständig und uneinheitlich,<br />

hinsichtlich des Informationsgewinn vor Ort eine aktuelle Übersicht<br />

zu behalten im Ergebnis ungeeignet. Schadenslagen, die einen schnellen<br />

Abtransport von Verletzten ermöglichen – heute die Regel in unseren<br />

Breiten – brauchen ein angemessenes System auch der Dokumentation – im<br />

Zeitalter der EDV und Kommunikationstechnik sind hier sicher effizientere<br />

Lösungen denkbar.<br />

Vorstellbar wären Armbändchen mit einer landeseinheitliche (?) Telefon-<br />

Nummer bedruckt, die jedem Unfallbeteiligten umgebunden werden, der –<br />

falls unverletzt – diese Nummer selbst anruft (Dokumentationspflicht)<br />

oder bei Transport in eine Praxis oder Klinik diese Pflicht dem behandelnden<br />

Arzt obliegt. Diese Bändchen könnten landesweit an den Rettungsdienst<br />

und Feuerwehren ausgegeben werden, ständen damit immer zur<br />

Verfügung und sind von jedem leicht anzubringen. Die zu wählende Nummer<br />

könnte an einen Anrufbeantworter weiter geschaltet sein – damit 24 h<br />

besetzt ohne Personalkosten – und stets aktiv. Im Falle einer Großschadenslage<br />

sollte dieser Anrufbeantworter dann personell besetzt werden,<br />

die Vorlaufzeit ist variabel. Damit würde zeitnah eine vollständige und zen-<br />

286


trale Dokumentation erreicht, die Identifizierungsarbeit der Polizei vereinfacht<br />

und eine zeitaufwendige Arbeit von der Unfallstelle in einen Bereich<br />

verlagert, wo Kommunikationssysteme und EDV sinnvoll und effektiv<br />

eingesetzt werden können.<br />

Behandlungsdaten von leichtverletzten Patienten (Maßnahmen, Medikamente<br />

am Unfallort, etc.) können dem transportierenden Rettungsdienstpersonal<br />

mitgeteilt werden (soweit überhaupt von Bedeutung) – bei<br />

Schwerverletzten wird in der Regel Arztbegleitung erforderlich sein, dieser<br />

wird seinen Patienten ohnehin an die behandelnden Kollegen in der Klinik<br />

„übergeben“.<br />

Dies sind lediglich Ansätze zur Veränderung der Dokumentationsstrategie –<br />

Einzelheiten und Umsetzung müssten selbstverständlich auf Vor- und Nachteile<br />

hin überprüft und diskutiert werden. Die jetzige Lösung ist jedenfalls<br />

unbefriedigend und wird den rettungsdienstlichen Bedingungen in unserem<br />

Land nicht gerecht.<br />

3.7.6 Versorgungsstrategie<br />

Angesichts des massiven Aufgebotes von Rettungs- und Sanitätskräften hat<br />

es Engpässe hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten, Verbandsmaterial<br />

und Transportkapazitäten zu keinem Zeitpunkt gegeben. Allein das<br />

nach DIN-Norm vorgehaltene Material auf den RTW, KTW und RHS hätte<br />

zur Versorgung aller Patienten vollständig ausgereicht. Hinzu kam das<br />

nachgeforderte Material aus den Kliniken und die zusätzlichen „Material-<br />

Einheiten“, die zu einer Großschadenslage von routinierten Rettungsteams<br />

gleich im ersten Ansatz zusätzlich mitgeführt wurden.<br />

Punktuell entstand der Eindruck eines Mangels vorübergehend jedoch dort,<br />

wo Verbandsplätze einzurichten waren. Hier muss dem Umstand Rechnung<br />

getragen werden, dass die Einrichtung Zeit benötigt und nicht wie in der<br />

Klinik ein Behandlungsraum eröffnet wird, in dem bereits alles vorhanden<br />

und installiert ist.<br />

Ein besonderes Problem stellt damit immer die Deklaration einer Schwerverletztensammelstelle<br />

dar – hier muss primär ein möglicher Versorgungsengpass<br />

kalkuliert werden, besonders im Hinblick auf mögliche Beatmungsoptionen.<br />

Letztlich ist eine länger dauernde Beatmung am Unfallort<br />

nur in den Rettungswagen mit den entsprechenden Sauerstoffvorräten möglich<br />

– BTM-pflichtige Narkosemittel sollten nicht das Problem sein!<br />

Vorausplanend muss in jedem Fall – ungünstige Verhältnisse unterstellt –<br />

bekannt sein, von wo welches Material in welcher Größenordnung jederzeit<br />

verfügbar und abgeholt werden kann. Eine Vorhaltung von medizinischen<br />

Materialien ist in den Katastrophenplänen nicht mehr vorgesehen und wird<br />

von den (Krankenhaus-)Apotheken aus Kostengründen in der Regel auch<br />

nicht vorgehalten – damit besteht hier genereller Organisationsbedarf.<br />

287


3.7.7 Öffentlichkeitsarbeit<br />

Als unverzichtbar hat sich die Einrichtung eines Pressestabes (integriert in der<br />

Technischen Einsatzleitung als Stabsfunktion) erwiesen. Dadurch konnte in<br />

adäquater Form zum einen dem erheblichen öffentlichen Interesse Rechnung<br />

getragen werden und zum anderen einer Behinderung der Rettungs- und Bergungsarbeiten<br />

vor Ort durch „Kanalisation“ vorgebeugt werden.<br />

Die Medien haben verstanden, durch eine zurückhaltende, taktvolle, jedoch<br />

inhaltlich kompetente Berichterstattung der Öffentlichkeit die vor Ort geleisteten<br />

Anstrengungen zur Bewältigung dieser Katastrophe zu übermitteln –<br />

die weltweite Resonanz darauf hat dieser Katastrophe eine besondere Qualität<br />

im positiven Sinn nachhaltig verliehen.<br />

3.7.8 Psychologische Betreuung/Notfallseelsorge<br />

Die Arbeit der Rettungs- und Sanitätsdienste wurde durch Notfallseelsorger<br />

und Psychologen am Unfallort von Beginn an unterstützt. In dieser außergewöhnlich<br />

belastenden Situation Unfallverletzte und auch Angehörige von<br />

Unfallopfern in den Händen professioneller Helfer zu wissen bzw. an diese<br />

direkt verweisen zu können, entlastete die Lage vor Ort außerordentlich –<br />

eine Hilfe in dieser Qualität hätten die Betreuungsdienste auch nicht zu leisten<br />

vermocht.<br />

Erstmalig zeigte sich für die eingesetzten Kräfte, dass sie selbst diese Hilfe<br />

benötigten, und zwar sowohl bereits vor Ort als auch insbesondere nach<br />

dem Einsatz. Die eingerichtete Koordinierungsstelle für die Einsatznachsorge<br />

wurde dementsprechend angenommen und frequentiert. Die häufig<br />

gestellte Frage, ob die Einsatzkräfte möglicherweise zu jung und unerfahren<br />

für diesen belastenden Einsatz gewesen seien, ist – ohne der Auswertung<br />

der Psychologen vorweg zugreifen – durch die jetzt vorliegenden Erfahrungen<br />

mit einem klaren Nein zu beantworten. Vielmehr hat sich herausgestellt,<br />

dass durchaus auch die Einsätze im täglichen Rettungsdienst zu gleichen<br />

Belastungen der Einsatzkräfte führen, wobei sich hier weder altersabhängige<br />

noch tätigkeitsspezifische Unterschiede (hauptberuflich/ehrenamtlich)<br />

zeigen und eine Aufarbeitung der belastenden Einsätze generell erfolgen<br />

sollte. Damit ist ein sog. Debriefing oder zumindest ein sog. Defusing<br />

(gemeinsames Gespräch unter am Einsatz beteiligter und im „Defusin“<br />

geschulter Kollegen) als integraler Bestandteil des Rettungseinsatzes aufzufassen<br />

und sollte entsprechend implementiert werden.<br />

4. Fazit<br />

Die Akzeptanz fremder professioneller Hilfe und diese ohne Verzögerung<br />

einzusetzen, die kooperative Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung<br />

aller beteiligter Kräfte vor Ort, gepaart mit Eigeninitiative und Improvisation<br />

waren ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg der Rettungsaktion<br />

in Eschede.<br />

288


Die hier niedergelegten Erfahrungen sind und können kein Rezept zur<br />

Bewältigung zukünftiger Schadenslagen sein. Sie können jedoch als Anregung<br />

verstanden werden, bestehende Einrichtungen und Systeme zu optimieren.<br />

Damit dienen sie dem gemeinsamen Ziel, vorbereitet zu sein – eine<br />

Verpflichtung gegenüber den uns auch zukünftig anvertrauten Patienten.<br />

289


290


Ergebnisse der Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen<br />

der Effizienzsteigerung der medizinischen Versorgung<br />

der Bevölkerung in Not- und Gefahrenlagen<br />

Ernst Rebentisch<br />

1. Einleitung<br />

In Vertretung des Leiters unserer Arbeitsgruppe, meines ehemaligen Mitarbeiters<br />

Dr. Weidringer, stelle ich Ihnen die Ergebnisse der Untersuchung<br />

von Möglichkeiten zur Verbesserung der medizinischen Hilfeleistung bei<br />

größeren Schadensereignissen und Katastrophen vor. Diese Untersuchung<br />

war im „Gefahrenbericht“ der <strong>Schutzkommission</strong> vom Oktober 1996 als<br />

dringlich bezeichnet worden, zumal sie in einem Verteidigungsfall auch<br />

deutliche Auswirkungen auf die notfallmedizinische Versorgung der Zivilbevölkerung<br />

haben wird.<br />

Unter beratender Mitwirkung von Vertretern der Bundesministerien des<br />

Innern und für Gesundheit, des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong> und des<br />

Arbeitskreises V der Innenminister der Länder untersuchten notfall- und<br />

katastrophenmedizinisch erfahrene Ärzte die mit der Hilfeleistung für Opfer<br />

von Großschäden und Katastrophen zusammenhängenden Gegebenheiten.<br />

Dazu werteten sie alle Gesetze und die diesen zugehörigen Verwaltungsvorschriften,<br />

Richtlinien und Hinweise des Bundes und der Länder aus, die<br />

sich mit dem <strong>Zivilschutz</strong>, dem Katastrophenschutz und dem Rettungsdienst<br />

befassen. Ergänzend wurden die Krankenhausgesetze, die Gesetze über den<br />

öffentlichen Gesundheitsdienst, die Heilberufe und die Gesundheitsfachberufe<br />

sowie die Ausbildungs- und sonstigen Grundsätze der freiwilligen<br />

Hilfsorganisationen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die notfall- und die<br />

katastrophenmedizinische Hilfeleitstung überprüft. Im einzelnen untersuchte<br />

die Arbeitsgruppe die derzeit in den Bundesländern üblichen rettungsdienstlichen<br />

Verfahren sowie die Vorstellungen über die Mitwirkung<br />

des Gesundheitswesens bei der Vorbereitung und Durchführung des Katastrophenschutzes.<br />

Darüber hinaus bezog sie die bei dem Großschadensereignis<br />

von Eschede gewonnenen Erfahrungen in ihre Ermittlungen und <strong>Folge</strong>rungen<br />

ein.<br />

2. Ausgangslage<br />

Die dem seit 1951 wiederbelebten Zivil- und Katastrophenschutz dienenden<br />

Verfahren für die sanitätsdienstliche Erstehilfeleistung werden durchaus<br />

anerkannt. Die Intensiv- und die Notfallmedizin haben jedoch in den letzten<br />

Jahrzehnten weitaus bessere Fähigkeiten zur Rettung und Erhaltung akut<br />

bedrohten Lebens einzelner oder auch mehrerer Menschen entwickelt.<br />

291


Diese gaben nicht nur in Deutschland den Anstoß zur Entwicklung kurzfristig<br />

verfügbarer, sehr effektiver Rettungssysteme. In unserem Land steht der<br />

durch Notärzte verstärkte gesetzliche Rettungsdienst bei jeglichem Schadensereignis<br />

binnen Minutenfrist zur Verfügung. Durch den Einsatz Leitender<br />

Notärzte ist es darüber hinaus seit Jahren vielerorts gewährleistet, dass<br />

notfallmedizinisch wirkungsvolle Hilfe auch bei der Bewältigung eines<br />

größeren Schadensereignisses mit einem Massenfall an Verletzten geleistet<br />

werden kann. Solche Fälle bilden den Übergang zur Katastrophenmedizin,<br />

die – immer abgestützt auf notfallmedizinische Verfahren – zu erfolgreicher<br />

Abwehr von Großschäden und Katastrophen auf einer im voraus geplanten,<br />

vorbereiteten und einheitlich geleiteten Organisation basiert.<br />

Die Arbeitsgruppe sah ihre Aufgabe darin, aus ärztlicher Sicht zu untersuchen,<br />

ob die derzeit geltenden Pläne und Vorbereitungen zur Hilfeleistung<br />

für verletzte oder anderweitig geschädigte Menschen bei einer Katastrophe<br />

noch den in der Bundesrepublik gegebenen medizinisch-personellen, medizinisch-organisatorischen<br />

und medizinisch-technischen Möglichkeiten zu<br />

kurzfristiger und qualifizierter Hilfe für Schadensopfer genügt. Sie berücksichtigte<br />

auch den Anspruch der Bevölkerung auf bestmögliche notfallmedizinische<br />

Hilfe in Gefahrensituationen, wie dies bereits im Alltag durch<br />

den Rettungsdienst, die Krankenhäuser und die niedergelassenen Ärzte<br />

gewährleistet ist.<br />

3. Bestandsaufnahme und Bewertung<br />

Die Bestandsaufnahme ergab, dass es von der Gesetzgebung bis hin zu den<br />

Verfahrensgrundsätzen der notfall- und katastrophenmedizinischen Hilfeleistung<br />

vor Ort einen großen Nachholbedarf gibt. Dabei zeigte sich auch,<br />

dass eine Reihe nicht mehr zeitgemäßer Vorstellungen ihrer Überwindung<br />

harrt.<br />

Die Katastrophenschutz- und die Rettungsdienstgesetze der Bundesländer<br />

sind zwar weitgehend einheitlich gegliedert, doch weichen die jeweiligen<br />

Inhalte von Land zu Land vielfach von einander ab. Dies trifft auch bei den<br />

in manche Katastrophenschutzgesetze später eingefügten Paragraphen über<br />

die Aufgabe des Gesundheitswesen zu. Infolgedessen sind keine allgemeingültigen<br />

Feststellungen zu den Gesetzen möglich. In einigen Bundesländern<br />

sind die bisherigen Katastrophenschutzgesetze durch „Gesetze über<br />

den Brandschutz, die Allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz“ ersetzt<br />

worden. Bestimmungen über die notfall- und katastrophenmedizinische<br />

Hilfe sind in letzteren, selbst in denen jüngsten Datums weniger berücksichtigt<br />

als in manchen reinen Katastrophenschutzgesetzen. Einzelne Katastrophenschutzgesetze<br />

enthalten zwar einige Bestimmungen, die manchem<br />

aktuellen Anspruch qualifizierter notfallmedizinischer Hilfeleistung bei<br />

Großschadensfällen und Katastrophen gerecht werden könnten, die Mehrzahl<br />

allerdings nicht. Günstiger sieht es in ergänzenden Richtlinien und<br />

292


Hinweisen einiger Länder aus. Sie leiden aber unter ihrer geringeren Verbindlichkeit<br />

im Vergleich zu Gesetzen und Verwaltungsvorschriften.<br />

Insgesamt kommt das Interesse an qualifizierter medizinischer Katastrophenhilfe<br />

in den Regelungen der neuen Bundesländer häufiger zum Ausdruck,<br />

am eindeutigsten jedoch in Berlin, Hamburg und Brandenburg. Im<br />

Gegensatz dazu fällt in Katastrophenschutzgesetzen mehrerer alter Bundesländer<br />

die anhaltende Nichtbeachtung qualifizierter medizinischer Hilfemöglichkeiten<br />

auf. Ähnlich unzulänglich ist die Berücksichtigung katastrophenmedizinischer<br />

Belange in den Krankenhausgesetzen und den<br />

Gesetzen über den öffentlichen Gesundheitsdienst. Schließlich ist zum<br />

Nachteil für den <strong>Zivilschutz</strong> und für die Abwehr von Katastrophen, die<br />

mehrere Bundesländer unmittelbar und zu gleicher Zeit heimsuchten, festzustellen,<br />

dass die zum Teil bis in Einzelbegriffe hineinreichenden unterschiedlichen<br />

Auffassungen und Formulierungen der Länder die notwendige<br />

Kooperation in Gefahrenlagen erheblich erschweren können.<br />

Die Arbeitsgruppe der <strong>Schutzkommission</strong> hält es – ihren noch vorzutragenden<br />

Empfehlungen vorausgreifend – im Interesse der Katastrophenschutzbehörden,<br />

der oft aus entfernten Regionen hinzugezogenen Hilfskräfte<br />

sowie der potentiellen Schadensopfer für sinnvoll, eine bundesweite<br />

Annäherung oder gar Standardisierung der gesetzlichen und Verfahrensregeln<br />

herbeizuführen. Sie sieht sich hier in Übereinstimmung mit der von<br />

den privaten Hilfsorganisationen getragenen „Ständigen Konferenz für<br />

Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutz“.<br />

Einige Punkte, die bei der Auswertung der Gesetze aus ärztlicher Sicht<br />

besonders auffielen, waren:<br />

1. Überwiegend sind in den Katastrophenschutzgesetzen trotz des in ihren<br />

einleitenden Paragraphen betonten Vorranges von Leben und Gesundheit<br />

bei der Schadensabwehr in den nachfolgenden Paragraphen die gesundheitsdienstlichen<br />

Belange nur unzureichend, einseitig oder gar nicht<br />

berücksichtigt.<br />

2. Der gesetzliche Rettungsdienst findet nur in der Hälfte der den Katastrophenschutz<br />

und die Allgemeine Hilfe betreffenden Gesetze eine<br />

Erwähnung. Umgekehrt enthalten die wenigsten Rettungsdienstgesetze<br />

einen eindeutigen Hinweis auf die Mitwirkung des Rettungsdienstes bei<br />

der Katastrophenabwehr und -bekämpfung, geschweige denn bei der<br />

Vorbereitung des Katastrophenschutzes. In mehreren Rettungsdienstgesetzen<br />

ist die Mitwirkung des Rettungsdienstes bei Schadensereignissen<br />

sogar ausdrücklich auf solche unterhalb der Katastrophenschwelle<br />

beschränkt.<br />

3. Viele Katastrophenschutzgesetze enthalten keinen Hinweis auf die<br />

Pflicht der im Krankenhausfinanzierungsplan geförderten Krankenhäuser,<br />

im Katastrophenschutz mitzuwirken und sich demgemäß vorzubereiten.<br />

Gleiche Lücken finden sich auch in der Mehrzahl der Krankenhaus-Gesetze<br />

der Länder.<br />

293


4. Dem Anliegen des Schutzes von Leben und Gesundheit wenig dienlich<br />

ist die Nichterwähnung der besonderen Aufgaben des öffentlichen<br />

Gesundheitsdienstes in neun der sechzehn Landes-Katastrophenschutzgesetze.<br />

Ebensowenig aussagekräftig sind in dieser Hinsicht viele Gesetze<br />

über den öffentlichen Gesundheitsdienst.<br />

5. Die Analyse der Gesetze über die Heilberufe und die Gesundheitsfachberufe<br />

sowie des Umfanges des für den Katastrophenschutz heranziehbaren<br />

und beruflich qualifizierten Personals ergab, dass zur Hilfe für<br />

Opfer von Schadensereignissen ein größeres Potential zur Verfügung<br />

steht, als dies nach dem Wortlaut vieler Gesetze vorgesehen ist.<br />

Die Arbeitsgruppe hat sich ausnahmslos mit dem Komplex der bestmöglichen<br />

medizinischen Hilfe bei Schadensereignissen aller Art sowie dem letztlich<br />

daraus resultierenden Nutzen für den <strong>Zivilschutz</strong> befasst. Ihr Interesse richtete<br />

sich auf die Einbindung des ärztlichen Sachverstandes in die Planung, Vorbereitung<br />

und Durchführung von Schutz- und Abwehrmaßnahmen, als Voraussetzung<br />

dafür, dass die Ärzte in beruflich vertretbarer Weise ihrer gesetzlichen<br />

Pflicht genügen können, Leben und Gesundheit zu bewahren und zu<br />

retten. Dies ist zu hochrangig, als dass man es dem Zufall überlassen darf.<br />

Mit den Aufgaben der Behörden und der der Leitung der Katastrophenabwehr<br />

dienenden Stäbe auf den verschiedenen Ebenen hat sich die Arbeitsgruppe<br />

nur insoweit befasst, als sie sich auf die Durchführung, Leitung und<br />

Koordinierung der medizinischen Hilfe und den Einsatz weiterer Hilfskräfte<br />

auswirken können. Die inzwischen weitgehend einheitlich geregelte<br />

Betrauung Leitender Feuerwehrbeamter mit der Leitung der Technischen<br />

bzw. Örtlichen Einsatzleitungen (TEL/ÖEL) wird begrüßt, da dies die Kontinuität<br />

der im Alltagsgeschehen bewährten Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst<br />

sichert.<br />

Die Arbeitsgruppe geht allerdings auf der Grundlage der ärztlichen Berufsgesetze<br />

und des grundsätzlichen Anspruchs der Bevölkerung auf bestmögliche<br />

Hilfeleistung davon aus, dass die Leitung der am Schadensort und<br />

innerhalb des medizinischen Rettungs-, Behandlungs- und Transportnetzes<br />

zu erfüllenden Aufgaben ausschließlich in der Hand qualifizierter Ärzte liegen<br />

muss. Um dies sicherzustellen, muß ärztlicher Sachverstand auf allen<br />

Ebenen nicht nur im Einsatz zur Geltung kommen, sondern auch bei der<br />

Planung und Vorbereitung der Katastrophenabwehr sowie bei Übungen.<br />

4. Empfehlungen<br />

In diesem Sinne formulierte die Arbeitsgruppe ihre Empfehlungen, von<br />

denen aus Zeitgründen nur die wesentlichsten dargelegt und begründet werden<br />

sollen:<br />

1. Dem Beispiel des Hamburger Katastrophenschutzgesetzes folgend sollte<br />

dem tatsächlichen Ablauf katastrophenmedizinischer Hilfeleistung<br />

294


entsprechend in allen diesbezüglichen Gesetzen klargestellt werden,<br />

dass die qualifizierte Hilfeleistung dem Rettungsdienst obliegt und die<br />

zur Bekämpfung einer Katastrophe verfügbaren freiwilligen Hilfskräfte<br />

ihn bei Bedarf lediglich verstärken sollen.<br />

Begründung:<br />

Schwerverletzte und lebensbedrohte Menschen müssen zur Sicherung<br />

ihres Überlebens in den ersten Minuten gerettet, notfallmedizinisch versorgt<br />

und möglichst bald klinischer Behandlung zugeführt werden. Dieser<br />

Forderung kann nur der in Minutenfrist vor Ort eintreffende Rettungsdienst<br />

genügen, der zugleich auch die organisatorische Grundlage<br />

für den weiteren Hilfeansatz zu schaffen hat. Es ist daher nicht mehr<br />

nachzuvollziehen, dass Katastrophenschutzgesetze den Hilfsorganisationen<br />

allein und uneingeschränkt die Aufgabe der Hilfeleistung<br />

am Schadensort zuweisen. Verständlicherweise können ihre Einheiten<br />

erst nach geraumer Zeit am Schadensort eintreffen, wo jedoch<br />

bereits qualifizierte und organisierte Hilfe unter notärztlicher Leitung<br />

geleistet wird. Ihrer Struktur und Leistungsfähigkeit gemäß können sie<br />

diese nicht ersetzen, sondern lediglich verstärken. Diese auf organisatorischen<br />

und medizinischen Erfahrungen im akuten Geschehen gegründete<br />

Feststellung soll keinesfalls den Wert der Hilfsorganisationen<br />

schmälern. Sie behalten ihren Wert als unterstützendes und bei längerfristig<br />

notwendiger Schadensbekämpfung, möglicherweise auch tragendes<br />

Element.<br />

2. Im Interesse der medizinischen Hilfeleistung wird es als sinnvoll empfunden,<br />

dem in Nordrhein-Westfalen durch das „Gesetz über den Feuerschutz<br />

und die Hilfeleistung“ vom 10. Februar 1998 zum Ausdruck<br />

kommenden Verzicht auf die Abgrenzung zwischen Schadensereignis<br />

jeden Umfangs und Katastrophe zu folgen.<br />

Begründung:<br />

Katastrophen und Großschadensereignisse treten vor allem in Mitteleuropa<br />

nur sehr selten sogleich in ihrem vollen Umfang und Ausmaß in<br />

Erscheinung. Sie entwickeln sich dynamisch und lassen erst nach und<br />

nach erkennen, welche Bekämpfungsmaßnahmen und behördlichen<br />

Leitungsmaßnahmen ergriffen werden müssen.<br />

Die erste Schadensmeldung ruft Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst<br />

zum Ort des Geschehens. Neben der Einleitung erster Hilfemaßnahmen<br />

obliegt ihnen vor allem die Einschätzung der Art, Ausdehnung und Wirkung<br />

des Ereignisses sowie möglicher <strong>Folge</strong>gefahren. Ihren Feststellungen<br />

folgend haben sie die nächst erforderlichen Maßnahmen bis hin<br />

zur Alarmierung der Behörde zu ergreifen. Diese zieht je nach Gefahrenlage<br />

und Abwehrbedarf weitere Kräfte und Mittel heran. Inzwischen<br />

muss jedoch am Schadensort die Organisation für die weitere Hilfeleistung<br />

geschaffen werden, in die je nach Bedarf Verstärkungskräfte verzugslos<br />

eingegliedert werden können. Ein solches, der jeweiligen Situa-<br />

295


tion angepasstes, gleitendes Verfahren verhindert Reibungsverluste,<br />

wahrt die Übersicht und erleichtert Leitungsentscheidungen.<br />

3. In die Katastrophenschutz- und diesbezüglichen weiteren Gesetze sollte<br />

die nur in einigen Bereichen gesicherte Mitwirkung von Ärzten des<br />

öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Planung und Vorbereitung von<br />

Abwehrmaßnahmen, bei ihrer Durchführung zumindest im Fall infrastrukturgefährdender<br />

Schadensereignisse verpflichtend aufgenommen<br />

werden. Das Gleiche sollte auch in den Gesetzen über den öffentlichen<br />

Gesundheitsdienst zum Ausdruck kommen.<br />

Begründung:<br />

Die allgemeine gesetzliche Bestimmung, dass unter anderem alle<br />

Behörden und Dienststellen des Staates, der Landkreise, Bezirke und<br />

Gemeinden – also auch der öffentliche Gesundheitsdienst – zur Mitwirkung<br />

im Katastrophenschutz verpflichtet sind, wird den der Sicherung<br />

des Überlebens und der Gesunderhaltung der Bevölkerung dienenden<br />

Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht gerecht.<br />

Diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf die fachlich eigenständige<br />

Aufgabe der Erfassung, Vorbeugung und Abwehr übertragbarer Krankheiten<br />

und Seuchen, obwohl letztere längerfristigen Katastrophen<br />

gleichkommen. Vielmehr ist jedes, zu Zerstörungen der Infrastruktur<br />

des betroffenen Raumes führende Schadensereignis mit der Gefahr<br />

erheblicher Auswirkungen auf die Bevölkerung, insbesondere auf vielfältigen<br />

Grundbedingungen der Hygiene, der Ver- und Entsorgung verbunden.<br />

Da deren Erkennung und Verhinderung zu den Kernaufgaben<br />

des öffentlichen Gesundheitsdienstes gehört, bedarf es seiner gesicherten<br />

Mitwirkung bei der Planung und Vorbereitung der Katastrophenabwehr.<br />

Seiner unmittelbaren Beteiligung bedarf es zumindest bei Schadensereignissen,<br />

in deren <strong>Folge</strong> übertragbare Krankheiten drohen, die<br />

sowohl die räumlich unmittelbar betroffene, als auch die weiter entfernt<br />

lebende Bevölkerung gefährden.<br />

4. In allen Katastrophenschutzgesetzen sollte der Bedeutung der medizinischen<br />

Hilfe für Schadensopfer deutlicher Rechnung als bisher getragen<br />

werden. Es genügt nicht, lediglich die katastrophenmedizinische Fortbildungspflicht<br />

der Ärzte und der Angehörigen der Gesundheitsfachberufe<br />

sowie Melde- und Erfassungspflichten anzuordnen. Darüber hinaus sollte<br />

dem längst angewandten Verfahren folgend der primäre Einsatz des<br />

gesetzlichen Rettungsdienstes sowie die Verantwortung der Leitenden<br />

Notärzte für den medizinischen Bereich und die Beratung der Technischen<br />

Einsatzleiter eindeutig festgelegt werden. Verwaltungsvorschriften,<br />

Richtlinien usw. sollten in den der Praxis der medizinischen Schadensbekämpfung<br />

üblichen Stand gebracht oder alsbald erlassen werden.<br />

Begründung:<br />

Dem in den Paragraphen 1 postulierten Vorrang der Rettung von Leben<br />

und Gesundheit vor anderen Maßnahmen folgend gilt es, zu Schaden<br />

gekommenen, vor allem schwerstbetroffenen und vom Tode bedrohten<br />

296


Menschen, innerhalb kürzester Zeit bestmögliche Hilfe zu leisten. Die<br />

Ärzteschaft ist in erster Linie dazu verpflichtet und bereit. Gleiches gilt<br />

für das berufliche Personal im Rettungsdienst, in den Krankenhäusern<br />

und Arztpraxen.<br />

Voraussetzung für ihr Tätigwerden ist jedoch, dass ihnen auch gesetzlich<br />

die entsprechenden Aufgaben zugewiesen werden. Klare Bestimmungen<br />

verhindern Unklarheiten, laienhafte Vorstellungen und Versagen<br />

der Hilfe.<br />

5. In der Mehrzahl der Bundesländer sind Leitende Notärzte für rettungsdienstliche<br />

Leitungs- und Koordinationsaufgaben bei größeren Schäden<br />

ausgebildet. Sie sollten auch in den Katastrophenschutz gesetzlich eingebunden<br />

werden, da ihre Fähigkeiten gerade hier unentbehrlich sind.<br />

Ihre konsequente Beteiligung an den Planungs- und Vorbereitungsarbeiten<br />

der unteren Katastrophenschutzbehörden und ihre Beauftragung<br />

mit der Leitung der notfallmedizinischen Hilfe sowie der ärztlichen<br />

Beratung des Technischen Einsatzleiters schafft die besten Voraussetzungen<br />

für die Rettung von Leben und Gesundheit bei Katastrophen und<br />

Großschadensereignissen.<br />

Begründung:<br />

Im Vergleich zum Alltagsgeschehen und auch zu einem Unfall mit zahlreichen<br />

Verletzten bedarf es bei Katastrophen und Großschadensereignissen<br />

in weit höherem Maße der Koordination und der ärztlichen Leitung<br />

der gesamten medizinischen Hilfe.<br />

Dieser Aufgabe ist nur ein örtlich und fachlich erfahrener Arzt gewachsen,<br />

der zugleich auch den notwendigen Überblick über die Gesamtplanung,<br />

die Leistungsfähigkeit der verfügbaren Rettungsdienstkräfte und<br />

der Krankenhäuser sowie über den Stand der Vorbereitungen hat. Er hat<br />

die medizinischen Belange in die Planungen und Vorbereitungen der<br />

Katastrophenabwehr einzubringen, mit dem Behördenleiter sowie den<br />

Vertretern der Polizei, Feuerwehr und Technischen Dienste seine Einsatz-<br />

und Organisationsvorstellungen abzustimmen sowie Wünsche auf<br />

technische und Versorgungs-Unterstützung vorzutragen.<br />

6. In den Dienstanweisungen der Rettungsleitstellen muss trotz ihres, in<br />

mehreren Gesetzen bestimmten Auftrages, im Katastrophenfall als<br />

Führungsmittel des Katastrophenschutzleiters zu wirken, festgeschrieben<br />

werden, dass sie<br />

1. ihre reguläre Aufgabe der Steuerung des Rettungs- und Krankentransportes<br />

auch für die von der Katastrophe nicht betroffene Bevölkerung<br />

fortzuführen haben,<br />

2. die kontinuierliche Erfassung der freien Betten- und Behandlungskapazitäten<br />

unverändert bzw. beim Anfall vieler Verletzter in verstärktem<br />

Maße beizubehalten haben und<br />

3. die Ergebnisse dieser Erfassung mit Vorrang und laufend dem Leitenden<br />

Notarzt am Schadensort übermitteln müssen, sie aber auch – in<br />

297


Abstimmung mit dem Leitenden Notarzt – für dringliche Fälle außerhalb<br />

der Katastrophenabwehr nutzen sollen.<br />

Begründung:<br />

Die vielfach mit den Leitstellen der Feuerwehr zu Zentralen bzw. Integrierten<br />

Leitstellen zusammengefassten Rettungsleitstellen sollen laut<br />

der Mehrzahl der Katastrophenschutzgesetze von der „Feststellung des<br />

Katastrophenfalles“ an dem Leiter des Katastrophenschutzes als<br />

Führungsmittel unterstehen. Der Gefahr, dass eine Rettungsleitstelle<br />

damit zur Einschränkung ihrer regulären Aufgaben gezwungen wird, ist<br />

groß. Dem muss jedoch im Interesse der gesamten medizinischen Hilfe<br />

innerhalb und außerhalb des Schadensereignisses unter allen Umständen<br />

verhindert werden. Ihre eigentliche Aufgabe darf nicht mit der Feststellung<br />

des Katastrophenfalles enden.<br />

Der Gefahr, dass dies mancherorts nicht so gesehen werden könnte, ist<br />

nur durch eindeutige Dienstanweisungen vorzubeugen.<br />

7. Aufgabe des Leitenden Notarztes als Verantwortlicher für die medizinische<br />

Hilfeleistung ist auch die Beratung der Technischen Einsatzleitung<br />

in allen Fragen, die seinen Aufgabenbereich berühren. Im Gegenzug<br />

bedarf er der Information durch den Leiter der TEL über alle Maßnahmen,<br />

die seine Entscheidungen in medizinischen Bereichen beeinflussen<br />

können.<br />

Bei Schadenslagen besonderer Art, die im betroffenen Raum zu einem<br />

Ansatz der Hilfe von verschiedenen Seiten zwingen, sollte vorsorglich<br />

die Heranziehung eines Leitenden Notarztes zur Katastrophenschutzleitung<br />

vorgesehen werden. Dieser muss die Tätigkeit der an die verschiedenen<br />

Einsatzpläne gebundenen Leitenden Notärzte koordinieren und<br />

vor allem die Verletztentransporte so steuern, dass Überschneidungen<br />

und Fehltransporte vermieden werden.<br />

Begründung:<br />

Es bedarf ständiger gegenseitiger Abstimmung zwischen dem Technischen<br />

Einsatzleiter und dem Leitenden Notarzt, aber auch mit den Verantwortlichen<br />

anderer Fachdienste. Der Leitende Notarzt als Mitglied<br />

der Technischen Einsatzleitung muss seinen Platz allerdings in erster<br />

Linie im Zentrum der medizinischen Hilfe, d. h. an dem Sichtungs- und<br />

Verbandsplatz, haben. Ist damit seine räumliche Trennung von der TEL<br />

unvermeidlich, muss ein von ihm beauftragter Notarzt in der TEL die<br />

ärztlichen Belange wahren.<br />

298<br />

Großräumige Katastrophen oder nur von mehreren Seiten zugängige<br />

Schadensorte, z. B. Tunnels, zwingen zur Einrichtung mehrerer Technischer<br />

Einsatzleitungen und noch häufiger von mehreren medizinischen<br />

Behandlungs- und Sammelplätzen unter jeweils einem Leitenden Notarzt.<br />

In solchen Fällen bedarf es einer übergeordneten Koordination zur<br />

Verhinderung ernsthafter Störung des Abtransportes der Schadensopfer


in die Krankenhäuser und Spezialkliniken sowie zur Regelung der<br />

medizinischen Bedarfsdeckung an den verschiedenen Behandlungsplätzen.<br />

Sie wird am zweckmäßigsten von einem katastrophenmedizinisch<br />

erfahrenen Arzt wahrgenommen, der in den oberhalb der Technischen<br />

Einsatzleitungen verantwortlichen Leitungsstab einbezogen werden<br />

sollte.<br />

8. Der für den Einsatz des Rettungsdienstes bei größeren Schadensereignissen<br />

verantwortliche Leitende Notarzt hat entsprechenden Regelungen<br />

zufolge gegenüber allen Mitwirkenden Weisungsbefugnis. Einer<br />

gleichartigen, generell verbindlichen Regelung bedarf es noch dringlicher<br />

für die medizinische Katastrophenhilfe.<br />

Dieser Weisungsbefugnis müssen alle im Verantwortungsbereich des<br />

Leitenden Notarztes tätigen Ärzte, Rettungsassistenten und -sanitäter<br />

sowie auch die freiwilligen Helfer unterliegen, unabhängig davon, ob es<br />

sich um Einzelpersonen oder um Angehörige einer Organisation handelt.<br />

Begründung:<br />

Jeder notfall- und katastrophenmedizinischen Erfordernissen folgende<br />

Einsatz zwingt zu einer klaren und stets überschaubaren Ordnung und<br />

zu abgestimmtem Zusammenwirken alle verfügbaren Kräfte. Nur so<br />

besteht die Gewähr, dass die Hilfebedürftigen gerettet, zügig gesammelt,<br />

erfasst, gesichtet, notfallmedizinisch versorgt und in geeigneter<br />

Weise der endgültigen Behandlung zugeführt werden. Planung und Vorbereitung<br />

der Katastrophenabwehr müssen diese Voraussetzungen<br />

schaffen und dürfen abweichende und dem Ziel abträgliche Interessen<br />

nicht zur Geltung kommen lassen.<br />

Im Einsatz wird die Aufgabenzuweisung an alle im Bereich der medizinischen<br />

Hilfeleistung Mitwirkenden allein von dem Bedarf an bestimmten<br />

Leistungen und den Fähigkeiten des einzelnen bestimmt. So muss<br />

der einer Sanitätseinheit angehörende Arzt bei gegebener Eignung zur<br />

Verstärkung zum Sichtungsplatz herangezogen, ein freiwillig mitwirkender<br />

niedergelassener Arzt mit der Behandlung Verletzter betraut, ein<br />

Mitglied einer Hilfsorganisation als Melder oder zur Unterstützung<br />

eines Rettungsassistenten eingeteilt oder ein Rettungsassistent mit der<br />

Beobachtung und Betreuung nicht transportfähiger Schadensopfer<br />

beauftragt werden können. Die Einfügung einer geschlossenen Einheit<br />

in den Rahmen der Hilfeleistung ist nur gerechtfertigt, wenn der Leitende<br />

Arzt ihr eine umschriebene Aufgabe übertragen kann, z. B. das<br />

Sammeln Leichtverletzter zur Sichtung und Erstbehandlung, das Hinaustragen<br />

oder -führen bereits versammelter, erstversorgter Verletzter<br />

aus dem Schadensgebiet oder das Beladen von Krankentransportfahrzeugen.<br />

9. Einige Rettungsdienstgesetze und Richtlinien zur Bewältigung eines<br />

Massenanfalls von Verletzten sehen den Einsatz eines erfahrenen Ret-<br />

299


300<br />

tungsassistenten als „Organisatorischer Leiter“ vor. Dieses Verfahren ist<br />

für die medizinische Hilfe bei Katastrophen von erheblicher Bedeutung<br />

und sollte deshalb verbindlich eingeführt werden.<br />

Allerdings bedürfen die bisherigen Regelungen einer entscheidenden<br />

Änderung, denn nur eine von ihnen sieht den „Organisatorischen Leiter“<br />

dem Leitenden Notarzt nachgeordnet, andere sehen ihn gleichberechtigt<br />

neben diesem, wieder andere sehen ihn gar vor dem Leitenden Notarzt.<br />

Das ärztliche Berufsrecht und die Verantwortung des Leitenden Notarztes<br />

für die medizinisch zuverlässige Hilfeleistung lassen es keinesfalls<br />

zu, dass ein Nichtarzt innerhalb des geordneten, von ärztlichen Erfordernissen<br />

bestimmten Handelns Aufgaben ohne Übereinstimmung mit<br />

dem Leitenden Notarzt übernimmt oder diesem gar Aufträge erteilt.<br />

Es ist daher im Interesse geordneter Hilfeleistung erforderlich, den bei<br />

einem Massenanfall von Verletzten und noch mehr bei der medizinischen<br />

Katastrophenhilfe zweifellos benötigten organisatorischen Leiter<br />

dem Leitenden Notarzt als ersten nicht ärztlichen Assistenten zu unterstellen<br />

und ihm darüber hinaus einen oder mehrere Helfer für allgemeine<br />

Aufträge zuzuweisen.<br />

Begründung:<br />

Es besteht kein Grund, die Einplanung erfahrener Rettungsassistenten<br />

als organisatorische Leiter abzulehnen, da es tatsächlich im Ablauf der<br />

Hilfe bei größeren Schadensereignisssen und Katastrophen zur Entlastung<br />

des Leitenden Arztes eine große Anzahl unterstützender Aufgaben<br />

gibt. Solche erwarten den organisatorischen Leiter z.B. bei der Einrichtung<br />

einer Sammelstelle und des Verbandplatzes oder der Vorbereitung<br />

des Hubschrauberlandeplatzes oder der Verbindungsaufnahme mit der<br />

Polizei zur Freihaltung der Zu- und Abtransportwege. Weiter hat er die<br />

Fernmeldeverbindungen zur Technischen Einsatzleitung und vor allem<br />

zur Rettungsleitstelle aufrechtzuerhalten, für die Zuführung von Verpflegung<br />

für die Helfer und Verletzten zu sorgen und Ruheplätze für<br />

ermüdete Helfer einzurichten. Er hat die Bereithaltung ausreichender<br />

Transportmittel zu überwachen, Verstärkungskräfte und -mittel in Empfang<br />

zu nehmen und Neugierige zurückzuhalten.<br />

Aber ohne das Einverständnis des Leitenden Notarztes ist er nicht<br />

berechtigt, Beurteilungen über die medizinische Lage abzugeben, eintreffende<br />

Verstärkungen einzusetzen, Transportentscheidungen zu treffen,<br />

Meldungen und Informationen abzugeben oder andere, dem Leitenden<br />

Notarzt obliegende Maßnahme zu ergreifen oder in die Wege zu<br />

leiten. Andernfalls kommt es sehr schnell zu nachhaltiger Störung des<br />

geordneten Ablaufes der Hilfeleistung, die sich nur zum Schaden der<br />

hilfebedürftigen Menschen auswirkt.<br />

10. Die Arbeitsgruppe schlägt vor, Verfassungsjuristen mit der Klärung von<br />

Unstimmigkeiten bei der Bewertung und Berechtigung der im Zivil-


schutzgesetz, in den Katastrophenschutz- und einigen Feuerwehrgesetzen<br />

enthaltenen Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und körperliche<br />

Unversehrtheit zu befassen.<br />

Begründung:<br />

Die der Arbeitsgruppe angehörenden Ärzte zweifeln am Sinn und an der<br />

Berechtigung, das im Grundgesetz Art. 2 (2) gewährte Grundrecht auf<br />

Leben und körperliche Unversehrtheit gesetzlich einzuschränken. Im<br />

Gegensatz dazu halten sie es für berechtigt und häufig notwendig, im<br />

Interesse der umfassenden Schadensbekämpfung die gesetzlichen Einschränkungen<br />

der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Freiheit des<br />

Berufes und der Unverletzlichkeit der Wohnung in Kauf nehmen zu<br />

müssen.<br />

Die Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit<br />

widerspricht nicht nur dem ethischen Verständnis des Arztes,<br />

gesundheitlich Geschädigten oder Bedrohten in jeder Situation, selbst<br />

unter Gefährdung der eigenen Sicherheit, nach bestem Vermögen zu<br />

helfen. Sie steht auch nicht in Einklang mit der Aufgabe des Staates<br />

bestmögliche Vorkehrungen zu Abwendung gesundheitlicher Gefahren<br />

für alle Bürgen zu treffen sowie dem in den Paragraphen 1 der Katastrophenschutzgesetze<br />

zum Ausdruck gebrachten Willen, dem Leben<br />

und der Gesundheit der Menschen den Vorrang einzuräumen.<br />

Die von juristischer Seite vorgetragene Erläuterung, dass sich die Einschränkung<br />

dieses Grundrechtes nur auf die Helfer und nicht auf Betroffene<br />

beziehe, ist nirgends dokumentiert. Sie ist auch nicht verständlich,<br />

da der Gesetzgeber sich bei der Schadenshilfe nicht nur auf dienstliche<br />

und freiwillige Helfer abstützt, sondern von jedermann, selbst von Schadensopfern,<br />

erwartet, dass er sein Bestes zur Abwendung von Gefahren<br />

und Verhinderung von Schäden leistet.<br />

Schon im Alltag und nach menschlichem Selbstverständnis hat die beste<br />

medizinische Hilfe irgendwo ihre Grenze, aber sie wird stets nach<br />

bestem Wissen und Vermögen geleistet. Es wäre fatal, wollte der<br />

Gesetzgeber mit der Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und<br />

körperliche Unversehrtheit den Staat von jeglicher Haftung freistellen<br />

oder die Hilfe für Schadensopfer tatsächlich auf niedrigster Stufe halten.<br />

Eine verfassungsrechtliche Klarstellung liegt im Interesse der Allgemeinheit.<br />

5. Materialfragen<br />

Der Abschluss des Vortrages sei dem bedeutsamen Gebiet der Materialfragen<br />

für die medizinische Hilfe im Zivil- und Katastrophenschutz gewidmet,<br />

ohne jedoch konkrete Vorschläge vortragen zu können. Zunächst sei festgestellt,<br />

dass medizinisches Handeln über Wissen, Können und Erfahrung<br />

301


hinaus der Verfügbarkeit von Arznei- und Verbandmitteln sowie medizinischen<br />

Klein- und Großgerätes bedarf. Hinzu kommt ein Bedarf an Transportmitteln<br />

und einer Vielfalt anderen Materials, z. B. für die Unterbringung<br />

der medizinischen Einrichtung im weitesten Sinne und für die wirtschaftliche<br />

Versorgung.<br />

Die Zahl der Hersteller und Vertreiber dieser Materialien ist in der Bundesrepublik<br />

höher als in vielen anderen Ländern, ihre Produkte werden weltweit<br />

exportiert. Der Markt bestimmt jedoch Art und Umfang der Produktion<br />

bis in Einzelheiten. Deshalb bedarf es der Prüfung, ob die Industrie und<br />

der Handel überhaupt in der Lage sein können, innerhalb kürzester Zeit den<br />

Bedarf an lebensrettenden Arzneimitteln, Infusionslösungen und notfallmedizinischen<br />

Materialien an jedem beliebigen Schadensort zu decken.<br />

Bisher ist nur ein einziger Hersteller bekannt, der dies für seine Produkte als<br />

sichergestellt bezeichnet.<br />

Die Apothekenbetriebsordnung schreibt den Apotheken die ständige Bevorratung<br />

eines Wochenbedarfs an Arzneimitteln bestimmter Gruppen sowie<br />

auch Verband- und medizinischen Kleinmaterials vor. Hinzu kommen<br />

geringe Mengen an Seren. Bei der Bevorratung der Arznei- und Verbandmittel<br />

orientieren sich die Apotheken allerdings am Bedarf ihrer Kunden<br />

und den Verschreibungsgewohnheiten der Ärzte. Dabei überwiegen Arzneimittel<br />

zur Behandlung chronischer Krankheiten. Ein akut eintretender,<br />

größerer Bedarf an notfallmedizinisch dringendst gebrauchten Mitteln läßt<br />

sich damit nach Aussage von Apothekern keinesfalls decken. Dies widerlegt<br />

auch die, wohl merkantilen Vorstellungen entsprungene gegenteilige Mitteilung<br />

einer Apothekerkammer an eine Landesregierung.<br />

Erfahrungsgemäß sind medizinische Hilfsmittel wie Schienen, Berge- und<br />

Transportgeräte sowie Unterkunfts- und Wirtschaftsmaterial in größerem<br />

Umfang vorhanden, aber eine Erfassung ist infolge weiter Streuung derselben<br />

bisher nicht gelungen. Sich jedoch auf die Erfahrung zu verlassen und<br />

zu glauben, dass dieses Material im Bedarfsfall schnell verfügbar sei, ist<br />

gefährlich!<br />

Die Arbeitsgruppe sah sich in der ihr vorgegebenen Zeit noch nicht zu einer<br />

konkreten Stellungnahme berechtigt. Sie ist sich bewusst, dass perfektionistische<br />

Vorstellungen, wie sie von einigen Seiten vertreten werden, nicht nur<br />

wegen der hohen Beschaffungs- und Lagerungskosten sowie begrenzter<br />

Haltbarkeit, sondern auch wegen fehlender Nutzung abzulehnen sind.<br />

Zugleich aber ist sie der einhelligen Meinung, dass eine gut durchdachte,<br />

auf das dringendst Erforderliche begrenzte Bevorratung von Arznei- und<br />

Verbandmitteln sowie langjährig lagerfähigen medizinischen Hilfsmitteln<br />

unvermeidlich ist.<br />

302


Schutzdatenatlas<br />

Wolf R. Dombrowsky<br />

Anno Domini 1585 erschien die geographische Kartensammlung Gerhard<br />

Mercators in gebundener Form. Das Titelblatt zierte der Sohn des Titanen<br />

Japetos, Atlas, der im Westen der Erde steht und die Säule trägt, die den<br />

Himmel stützt. Seitdem werden Kartenwerke Atlanten genannt. Um vieles<br />

zutreffender darf sich eine Sammlung geographischer Karten Schutzdatenatlas<br />

nennen, dessen Daten über die räumlichen Verteilungen von Gefahren<br />

und Schutz Auskunft geben, bewahrte doch Atlas davor, dass den Menschen<br />

der Himmel auf den Kopf fällt . . .<br />

In allgemeinster Form sind damit bereits Ziel und Mittel benannt: Ein<br />

Schutzdatenatlas zeigt die Verteilung von Schadendem und Schützendem<br />

im Raum mittels Karten. Ganz wie der Diercke Weltatlas des Georg Westermann<br />

Verlages, der über Generationen hinweg Schüler beeindruckte und<br />

stöhnen ließ, indem er ihnen anhand von Entwicklungskarten das Werden<br />

der heutigen Kulturlandschaft, Temperatur- und Niederschlagsverteilungen,<br />

Bodennutzung und Bodenschätze, geologische Formationen, Industriestandorte,<br />

Infrastruktur und demographische Daten vor Augen führt, so kann<br />

auch ein Schutzdatenatlas auf entsprechende Weise spezifische Merkmalsausprägungen<br />

in Kartenform aufbereiten. Solche sogenannten „thematischen<br />

Karten“ lassen sich dann stapeln und „verschneiden“, wenn man so<br />

will: „hindurchloten“, so dass sich aus einer Fülle thematisch organisierter<br />

Einzelinformationen zuerst nur Überdeckungen, dann Überschneidungen<br />

im Sinne von Schnittmengen und daraus dann möglicherweise Zusammenhängen<br />

ergeben.<br />

Karte 1: Geographische Karte<br />

des Kreises Nordfriesland,<br />

Schleswig Holstein<br />

303


Mit den beiden folgenden thematischen Karten „Gemeinden“ und „Verkehrswege<br />

Straßen“ lässt sich bereits die Bedeutung der Inseln und ihres<br />

Tourismus erkennen:<br />

Karte 2: Gemeindegrenzen<br />

304


Karte 3: Verkehrswege Straßen<br />

In einer sogenannten Attributdatenbank, deren Daten in der folgenden Karte<br />

die Einwohnerzahlen von Tourismuszentren in Relation zu den Übernachtungen<br />

pro Zeiteinheit ausweisen, lassen sich dann Auslastungsgrade ebenso<br />

ermessen wie Verkehrsströme und Kapazitätsauslastungen.<br />

Für den Katastrophenschutz sind solche Daten natürlich von größter Bedeutung.<br />

Wenn z.B. die Insel Sylt rund drei Millionen Übernachtungen verzeichnet,<br />

dann lässt sich ansatzweise ermessen, welche Probleme sich in der<br />

Hochsaison ergäben, sollte in einer der Besucherhochburgen eine Evakuierung<br />

erforderlich werden. Zugleich erschließt sich der Sinn thematischer<br />

Karten: Wenn man die Kapazitäten von Schiene, Straßen, Brücken und<br />

Tunneln ebenso kennt wie in anderen Fällen die der Fähren, deren Standorte,<br />

Fahrzeugkapazitäten und Verfügbarkeit.<br />

305


Karte4: Krankenhäuser, Kurkliniken und Bettenkapazitäten<br />

Die große Anzahl von Kurkliniken mit einem hohen Auslastungsgrad stellt<br />

den Brand- und Katastrophenschutz vor technische, logistische und psychologische<br />

Herausforderung. Wieviel Aufklärung und Ernstfallübungen<br />

akzeptieren der Kurbetrieb und seine sensiblen Gäste? Haben die Kurkliniken<br />

für Brand- und Evakuierungsfälle geeignet geplant und eine Logistik in<br />

Vorhaltung, die einen schnellen Transport und Verlegungen ermöglicht?<br />

Andere Herausforderungen ergeben sich im Bereich der klinischen Regelversorgung.<br />

Dort wäre nach der regelmäßigen Bettenbelegung zu fragen<br />

und ob eine ernstfallbezogene Kapazitätsplanung innerhalb des Landkreises<br />

306


und kreisübergreifend erfolgt? Auch hier stellen kartographische Visualisierung<br />

und aktuelle Attributdatenbanken ein hoch effizientes Hilfsmittel<br />

für die Entscheidungsunterstützung zur Verfügung.<br />

Die letztgenannten Stichworte verweisen auf Reichweite und Nutzen eines<br />

Schutzdatenatlas. Er ist tatsächlich nur ein visualisierendes Hilfsmittel. So<br />

wie eine Fahrt mit dem Finger über die Landkarte nicht die Reise ersetzt, so<br />

ersetzen thematische Karten zu Risiken – z.B. Verdichtungen des Verkehrsoder<br />

Touristenaufkommens – und zu Schutz- bzw. Hilfepotentialen z.B. von<br />

Krankenhäusern – kein praktisches Risiko-Management vor Ort und keine<br />

reale Schutzvorkehrung. Auch zeigt keine Karte, was nicht vorher mühsam<br />

erhoben und in Form attributierender Daten sichtbar gemacht wurde. Dies<br />

gilt für alle quantitativen Merkmalsausprägungen, beispielsweise für Bettenzahlen,<br />

Durchflusskapazitäten oder STANs, mehr aber noch für Qualitätsmerkmale,<br />

wie z.B. die Güte eines Krakenhauses, die Belastbarkeit des<br />

Personals oder die Improvisationsfähigkeit der Einsatzkräfte im Ernstfall.<br />

Vor allem aber ergeben sich aus den Karten keine inhaltlichen Zusammenhänge<br />

– schon gar nicht „von selbst“. Sie müssen aus den Karten „herausgelesen“,<br />

oder genauer, in sie hineininterpretiert werden, und dazu bedarf es<br />

der Expertise und der Erfahrung. Doch wozu braucht man dann einen<br />

Schutzdatenatlas?<br />

Die Frage ist nicht rhetorisch. Zwei grundlegende Ansätze, die „Gefahrenanalyse<br />

Schleswig-Holstein“ und die flächendeckende Implementation von<br />

DISMA in Sachsen haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen, in eine<br />

gewisse Stagnation geführt. Beide Ansätze repräsentieren „bürokratische<br />

Lösungen“, was nicht schmähend, sondern charakterisierend gemeint ist:<br />

Sie beginnen mit dem Anspruch, eine möglichst vollständige und umfassende<br />

Ausgangslage so zu definieren und abzubilden, dass sie zukünftig formularmäßig,<br />

besser noch: aktenmäßig, fortgeschrieben werden kann (vgl.<br />

Brüggemann et al.; Kaiser/Schindler). Beide Lösungen erfordern einen<br />

enormen Erhebungs- und Datenpflegebedarf, wie er von den meisten unteren<br />

Katastrophenschutzbedhörden weder personell noch materiell geleistet<br />

werden kann und wohl auch psychologisch nicht geleistet werden will.<br />

Noch immer sind die dortigen Mitarbeiter unterdotiert, fachlich überfordert,<br />

schnellem Stellenwechsel unterworfen oder dauerhaft in der Karrieresackgasse<br />

gefangen. Zudem ermangeln sie sowohl der politischen Unterstützung<br />

als auch der gesellschaftlichen wie ökonomischen Wertschätzung. Katastrophenschutz<br />

erscheint niemandem als wirklich wichtig, die Glanzseiten<br />

des Brandschutzes verwesen die Feuerwehren. Minimierende Haltungen<br />

verstärken sich derart. Die Mitarbeiter scheuen eine dauerhafte, wiederkehrende<br />

Belastung, die Datengeber aus Wirtschaft, Verbänden, Organisationen<br />

und Nachbarresorts ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Über die<br />

Meldungsgründe der Datengeber ist zu sprechen, die Konsequenzen waren<br />

für Schleswig-Holstein wie für Sachsen ähnlich: es entstanden keine<br />

Schutzdatenatlanten, sondern aufwendige Verfahren mit relativ hohen<br />

Gestehungskosten und abschreckender Zukunftswirkung.<br />

307


Ursprünglich hatte man anderes gewollt. Der schleswig-holsteinische<br />

Ansatz verfolgte ein moderates Kosten-Nutzen-Kalkül, nach dem sich Art,<br />

Umfang und Dislozierung von Schutzvorkehr am Ausmaß und der räumlichen<br />

Verteilung von Bedrohungen ausrichten sollte. Ziel war die Ermittlung<br />

eines Mindestbedarfs staatlicher Schutzvorkehr bei deren gleichzeitiger<br />

optimaler Auslastung. Praktisch erwies sich sowohl die Ermittlung des<br />

Bedrohungs- als auch des Schutzpotentials als äußerst schwierig. Wo klar<br />

definierte und gesetzlich geregelte Informations- und Meldepflichten fehlten,<br />

waren privatwirtschaftliche Daten nur über „Goodwill“ zu erhalten.<br />

Dabei erwies sich insbesondere der Datenschutz als wirksames Instrument<br />

zur Abschottung und Datenverweigerung. Doch auch die Schutzpotentiale<br />

ließen sich kaum ermitteln. Die Furcht, im Zuge einer Bedarfsermittlung<br />

Kürzungen und/oder Potentialzusammenlegungen gewärtigen zu müssen,<br />

bewirkte vielerlei Behinderungen und Lageverfärbungen. Zudem bewirken<br />

verschiedene Refinanzierungs-, Abrechnungs- und Zuteilungsverfahren,<br />

Quotierungen und Verteilungsschlüssel der verschiedenen Leistungsträger<br />

kontroproduktive Effekte in der Kapazitätsermittlung der Hilfsorganisationen,<br />

so dass letztlich nur Soll-Werte für ausgewählte Bereiche, z.B. die<br />

Ergänzungs- und Erweiterungsanteile, als Planungsgrundlage im Katastrophenschutz<br />

vorliegen, aber nirgendwo die tatsächlichen Ist-Zahlen aller<br />

Fachdienste, SEGn und anderer im Ernstfall mobilisierbarer Ressourcen.<br />

(Man wagt an dieser Stelle kaum nach der Aktualität der Mob-Listen der<br />

Schwesternhelferinnen zu fragen, die bei einem Einsatz von Bodentruppen<br />

im Kosovo dringend benötigt würden).<br />

Betrachtet man die vorhandenen thematischen Karten der schleswig-holsteinischen<br />

Gefahrenanalyse unter dem Gesichtspunkt potentieller und<br />

tatsächlicher Aussagekraft, so fallen genau diese beiden Schwierigkeiten<br />

auf. Den meisten Karten fehlt der Raumbezug, und den zugehörigen Attributdatenbanken<br />

fehlen aussagekräftige, aktuelle Daten. Welchen Sinn aber<br />

macht ein Schutzdatenatlas, wenn selbst für öffentliche Gebäude wie Schulen,<br />

Krankenhäuser oder Sozialstationen die räumliche Verortung fehlt?<br />

Wohin solle ein Einsatzleiter die zu Evakuierenden lenken, wenn ihm die<br />

Adressen aufnahmefähiger Orte (Turnhallen, Kirchen, Gemeindehäuser<br />

etc.), deren jeweilige Aufnahmekapazität, ihre Sanitäreinrichtungen und<br />

Versorgungsmöglichkeiten fehlen? Welchen Sinn macht es, wenn er z.B.<br />

der obigen Übersichtskarte „Krankenhäuser, Kurkliniken und Bettenkapazitäten“<br />

(Karte 4) nur eine ungefähre Lage und absolute Bettenzahlen entnehmen<br />

kann, nicht aber den genauen Standort, Art und Größe der Klinik,<br />

um welche Betten es sich handelt, ob und wieviele Intensivplätze verfügbar<br />

sind, wieviel Personal zur Verfügung steht und welche Arzneimittel bevorratet<br />

werden?<br />

Die Antwort aber, dass dies alles keinen Sinn mache, wäre gleichwohl verkehrt.<br />

Tatsächlich nützt auch ein Schutzdatenatlas, der im strengen Sinne<br />

kein geographisches Kartenwerk ist, sondern nur ein kartierter Sandkasten,<br />

eine auf stapelbare Karten übertragene „Übungslandschaft“. Ein solcher<br />

308


Übungs-Schutzdatenatlas stellt ein wirksames Instrument dar, um für komplexe<br />

Zusammenhänge „vernetztes Denken“ (Vester) zu erlernen und szenarische<br />

Abläufe in ihrer inneren Dynamik nachvollziehen zu können. Wer<br />

diesen imaginativen wie kreativen Denkspaß für sich entdecken konnte, der<br />

wird den heuristischen Wert eines solchen Modell- oder Übungs-Schutzdatenatlas<br />

nicht mehr missen wollen. Einige beispielhafte Denkzüge seien<br />

hier dargelegt; sie beziehen sich auf die bereits angesprochenen, sehr einfachen<br />

Problemstellungen des Tourismus auf den nordfriesischen Inseln. Man<br />

stelle sich dazu die folgende Aufgabe:<br />

Wieviele schwer brandverletzte Besucher von Wyk auf Föhr lassen sich<br />

nach einem Chanty-Chor-Konzert an einem Sonntag im August um 23.15 in<br />

welcher Zeit in welche Krankenhäuser verbringen? Welche Daten/Kenntnisse<br />

sind zur Beantwortung dieser Frage unverzichtbar, welche hilfreich,<br />

welche optimal? Welche organisatorischen, logistischen, kommunikativen,<br />

koordinierenden und kooperativen Anforderungen stellen sich für eine bestmögliche<br />

Lösung?<br />

Jeder Teilaspekt des Managementprozesses lässt sich dabei in einem Raum-<br />

Zeit- und einem Datenbezug abbilden, wobei im gegebenen Fall zeitkritische<br />

und kapazitätskritische Engstellen in Beziehung zu setzen und durch<br />

funktionale Äquivalente zu substituieren sind. Die Menge der verbringbaren<br />

Brandverletzten hängt von der verfügbaren Menge von Spezialbetten ab,<br />

ebenso von der Zeit, die man benötigt, um sie zu erreichen. Die absoluten<br />

Transportzeiten hängen von den Transportmitteln ab und relativieren sich<br />

entlang der Wirksamkeit der Erstversorgung vor Ort, den Versorgungsmöglichkeiten<br />

während des Transports und der Transportlogistik (Warteschlange).<br />

Die Transportlogistik wiederum hängt von der Qualität der Sichtung<br />

und den Versorgungskapazitäten vor Ort ab sowie dem Zusammenspiel<br />

mit den aufnahmefähigen Kliniken. Ein entlang den Sichtungskategorien<br />

koordinierter Verteilungsplan auf die entsprechenden Behandlungsbetten<br />

wiederum erfordert Kommunikation und Koordination, mithin eine<br />

Führungs- und Kommandostruktur und eine einheitliche Meldestruktur, zu<br />

der auch Identifizierung, Spurensicherung und Angehörigenerfassung<br />

gehören und im Gefolge dessen eine geeignete Betreuung, Information und<br />

Medienarbeit, des weiteren Absperrung und Verkehrslenkung bis hin zum<br />

Überflugverbot, wenn nötig.<br />

Mühelos lässt sich aus einer Nussschale eines wenig komplizierten Beispielfalles<br />

die Komplexität eines Prozesses herleiten, in den sich alsbald<br />

sämtliche staatlichen Instanzen einbeziehen lassen, sofern nur wenige Rahmenbedingungen<br />

verändert werden. Man denke an Schadstofffreisetzungen<br />

und -einleitung in das Küstengewässer durch die Explosion eines Schiffes<br />

in der Nähe der Bühne, an den Massenanfall von Toten, an einen explosionsbedingten<br />

Stromausfall oder an die Zerstörung des Fähranlegers durch<br />

die auslösende Explosion. Alle genannten Weiterungen dehnen Zuständigkeiten<br />

aus, beziehen weitere Akteure ein, vergrößern und komplizieren<br />

Kommunikation, Kooperation und Führung – der Berg zu stapelnder the-<br />

309


matischer Karten wächst und formt ein Senario, an dem sich Problembewusstsein<br />

bilden lässt. Dies ist der Lerneffekt, wie er der Entwicklung eines<br />

Schutzdatenatlas zwangsläufig einhergeht, zugleich ist es ein ablösbarer<br />

Lehreffekt, wie er mittels eines modellhaften Übungs-Schutzdatenatlas für<br />

Ausbildungs- und Trainingszwecke immer wieder herbeigeführt werden<br />

kann. Ich nenne dies die Stufe 1 des Schutzdatenatlas.<br />

Diese erste Stufe ist unverzichtbar, wenn Stufe 2 des Schutzdatenatlas<br />

erreicht werden soll. Stufe 2 ist der Schutzdatenatlas als Entscheidungsunterstützungs-<br />

und Führungsintegrationssystem, als solches ist ein exakter<br />

Raum-Zeit-Bezug ebenso Voraussetzung wie kontinuierlich aktualisierte<br />

Attributdatenbanken. Der dafür notwendige Erhebungs- und Pflegeaufwand<br />

wird jedoch nicht erbracht, wenn Sinn und Nutzen der Anstrengung nicht<br />

absehbar sind oder gar in Zweifel stehen. Deshalb ist Stufe 1 als Voraussetzung<br />

unverzichtbar; sie schafft Einsicht und Akzeptanz über den beschriebenen<br />

Lehr- und Lerneffekt. Wird auf diese Stufe verzichtet, erscheint die<br />

Entwicklung eines Schutzdatenatlas als eine neuerliche bürokratische<br />

Bürde, von fernen Instanzen erdacht, ohne praktischen Nutzen vor Ort. Die<br />

folgenden drei Grafiken widmen sich daher der Bedeutung einer integrierenden,<br />

Konsens und Akzeptanz herstellenden Begleitpolitik, ohne die ein<br />

Schutzdatenatlas nicht zu einem praktischen Management-Instrument werden<br />

kann. Schon die bloße Inventur eingetretener Ereignisse und identifizierbarer<br />

Gefahrenquellen, also die empirische Gefahrenanalyse, ist weit<br />

mehr als Statistik. Jeder Schritt dort hin, von<br />

1. Erfassen über<br />

2. Auswerten und<br />

3. Bewerten bis hin zu<br />

4. Integrieren<br />

zeigt, dass es nie um gleiche Interessen geht und somit nicht um Gefahren,<br />

sondern um Einschätzungen von Gefahren und deren Auswirkungen:<br />

310


311


Gerade weil alle Durchführungsschritte zur Erstellung einer Gefahrenanalyse<br />

immer auch Schritte der Bewertung und der Meinungsbildung sind,<br />

sollte vor dem ersten Schritt der kategorische Imperativ stehen:<br />

Überzeuge alle Beteiligten und organisiere den Prozess der Durchführung<br />

als Kooperation aller!<br />

Dies bedeutet letztlich, dass Gefahrenanalysen Bestandteil einer längerfristig<br />

angelegten Risiko- und Krisenkommunikation sein müssen. Ziel jeder<br />

312


Gefahrenanalyse ist letztlich eine rationale Kalkulation der Schutzvorkehr,<br />

im Extremfall aber auch die Entscheidung über Wagnisse und Risiken<br />

selbst, dann nämlich, wenn keinerlei angemessene und leistbare Schutzvorkehr<br />

möglich ist und so die Risikofolgen inakzeptabel groß wären.<br />

Die Grafik zum Zusammenhang von Vulnerabilitätsanalyse und Machbarkeitsanalyse<br />

zeigt sowohl die Probleme als auch die Zielsetzung von Gefahrenanalysen:<br />

Es kommt darauf an, die Bedarfsseite für Schutz rational zu<br />

ermitteln und darauf bezogen die Angebotsseite für die Erstellung von<br />

Schutzleistungen kalkulieren zu können. Von politischer Bedeutung ist<br />

dabei die Rückkoppelungsschleife zwischen den ausgehandelten Schutzzielen<br />

und den dafür bereitgestellten Mitteln und der dadurch veränderten<br />

Angebotsseite: Desto wirkmächtiger die Angebotsseite wird, desto größere<br />

Ressourcen (personell, materiell, infrastrukturell) werden gebunden, desto<br />

„sicherer“ aber erscheint auch Gesellschaft:<br />

313


314


Technologische Möglichkeiten einer möglichst<br />

frühzeitigen Warnung der Bevölkerung – Ausgangssituation<br />

der Bevölkerungswarnung und Konzepte<br />

für zukünftige Warnsysteme –<br />

Volkmar Held<br />

1. Einführung<br />

Im vergangenen Jahr wurde durch den Bundesminister des Innern eine Studie<br />

mit dem Thema „Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen<br />

Warnung der Bevölkerung“ ausgeschrieben und im September<br />

1998 an Firma Hörmann GmbH vergeben. Die fachliche Begleitung erfolgt<br />

durch das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> und eine projektbegleitende Arbeitsgruppe<br />

des Bundes und der Länder. Die Laufzeit der Studie ist 18 Monate<br />

bis März 2000, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich über Zwischenergebnisse<br />

berichtet werden kann.<br />

2. Politische Ausgangssituation<br />

Als <strong>Folge</strong> der politischen Entspannung in Europa zu Beginn der 90er Jahre<br />

wurde das vom <strong>Zivilschutz</strong> des Bundes in Westdeutschland betriebene<br />

System zur Bevölkerungsalarmierung 1992 außer Betrieb genommen. Gleiches<br />

gilt für das Alarmierungssystem der DDR nach der Wiedervereinigung.<br />

Seither ist eine flächendeckende Alarmierung der Bevölkerung auf<br />

Bundes- oder Landesebene bei internen oder externen Gefahren nicht mehr<br />

möglich.<br />

Nur Warnmeldungen und Informationen zur Gefahrenlage über den Rundfunk<br />

sind noch flächendeckend vorgesehen.<br />

Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber in der gesetzlichen Neuordnung des<br />

<strong>Zivilschutz</strong>es vom 25.03.97 die Warnung der Bevölkerung zwar wieder als<br />

Staatsaufgabe definiert, sie jedoch technisch und organisatorisch den Ländern<br />

und dem dortigen Katastrophenschutz zugeordnet. Da hier die Durchführung<br />

dieser Aufgabe aber nur bedingt möglich ist, sind Überlegungen für<br />

die Gestaltung eines zukünftigen, mit den Strukturen des Katastrophenschutzes<br />

integrierten Bevölkerungs-Warnsystems notwendig.<br />

3. Technische Ausgangssituation<br />

Nachdem in Westdeutschland die Warnämter des Bundes geschlossen und<br />

die Kommunikationsverbindungen zu den Sirenen aufgegeben waren, wurden<br />

die Sirenen den Gemeinden zur Übernahme angeboten und von diesen<br />

315


zu ca. 50 % übernommen. Der Rest wurde stillgelegt oder abgebaut. Ähnliches<br />

gilt für das Sirenen-Warnsystem der DDR in den neuen Bundesländern.<br />

Die von den Gemeinden übernommenen Sirenen werden heute überwiegend<br />

nur noch für die Alarmierung der Freiwilligen Feuerwehren eingesetzt.<br />

Sie sind meist auf Funkalarmierung umgestellt und auf die Abgabe des<br />

Feuersignals beschränkt. Nur bei ca. 1/3 dieser Sirenen ist noch das zusätzliche,<br />

einminütige Heulton-Signal für die Bevölkerungswarnung möglich.<br />

Letzteres trifft vor allem für die Umgebung von Kernkraftwerken, für die<br />

Umgebung von gefährlichen Betrieben und für Hochwassergebiete zu. Die<br />

Auslösung der Sirenen erfolgt auf Kreisebene.<br />

Zusammenfassend ist festzustellen, dass gegenwärtig in Deutschland eine<br />

Alarmierung der Bevölkerung mit stationären Sirenen nur noch in besonders<br />

gefährdeten Gebieten möglich ist. Die fast überall vorhandenen mobilen<br />

Sirenen und Lautsprecherfahrzeuge können aufgrund ihrer großen<br />

Reaktionszeit zu einer großflächigen Alarmierung kaum beitragen.<br />

Günstiger ist die Situation bei der Warnung der Bevölkerung durch den<br />

Rundfunk. Amtliche Gefahrendurchsagen und Gefahrenmitteilungen sind<br />

durch Vereinbarungen mit den ARD, dem ZDF und teilweise mit Privatsendern<br />

geregelt. Der hierdurch erreichte Bevölkerungsanteil ist jedoch ohne<br />

vorhergehende Alarmierung nicht ausreichend. Außerdem sind Mängel vorhanden<br />

bei der Einbeziehung der zahlreichen regionalen und lokalen Privatsender,<br />

bei der Übermittlung der Meldungen, bei der Reaktionszeit und<br />

bei den verwendeten Kommunikationsmitteln.<br />

4. Ziele der Studie<br />

Die Studie hat letztlich die Aufgabe, dem Auftraggeber Entscheidungshilfen<br />

für den Aufbau eines neuen Warnsystems in den nächsten 5 bis 10 Jahren zu<br />

liefern.<br />

Gesucht wird ein integriertes System für die rasche, umfassende, wirksame<br />

und gezielte, zentrale und dezentrale Warnung bei regionalen und überregionalen<br />

Gefahren. Schwerpunkt soll dabei die Verwendung neuer Technologien<br />

aus dem Bereich der Telekommunikation, Informations- und<br />

Medientechnik sein unter Nutzung vorhandener Strukturen der BOS.<br />

Die Identifikation und Untersuchung solch neuer Technologien und die<br />

Ermittlung ihres Potentials für die Bevölkerungswarnung, bestehend aus<br />

Alarmierung, Warnmeldung und Information, ist das Hauptziel des <strong>Forschung</strong>svorhabens.<br />

Daneben ist jedoch die Untersuchung von vorhandenen Warn- und<br />

Kommunikationsmitteln des Katastrophenschutzes und weiterer BOS sowie<br />

die Einbeziehung von Warnsystemen öffentlicher (nicht-BOS) und privater<br />

Organisationen ebenfalls ein Ziel der Studie.<br />

316


5. Durchführung der Studie<br />

Für die Durchführung der Studie wurde ein Arbeitsplan ausgearbeitet, der<br />

vier Hauptarbeitspakete beinhaltet, siehe Bild 1.<br />

Es sind dies:<br />

• Bestandsaufnahme Bevölkerungswarnung<br />

• Anforderungen an Warnsysteme<br />

• Technologien für Warnsysteme<br />

• Konzepte für Integrierte Warnsysteme<br />

Was ist vorhanden?<br />

Bestandaufnahme<br />

Bevölkerungswarnung<br />

Was ist verlangt?<br />

Anforderungen an<br />

Warnsysteme<br />

Konzepte für<br />

integrierte<br />

Warnsysteme<br />

Wie sehen reale Lösungen aus?<br />

Was ist zusätzlich nutzbar?<br />

Technologien für<br />

Warnsysteme<br />

Bild 1: Vorgehensweise und Hauptarbeitspakete der Studie<br />

Das Endergebnis der Studie, Hauptarbeitspaket 4, soll kein fertiger<br />

Lösungsvorschlag für ein zukünftiges Warnsystem sein, vielmehr sollen<br />

verschiedene Alternativen aufgezeigt und bewertet werden, die dem Auftraggeber<br />

als Hilfe für die anstehenden Entscheidungen dienen sollen.<br />

317


Aufgrund des vorgesehenen Bearbeitungszeitraums liegen zum jetzigen<br />

Zeitpunkt Zwischenergebnisse der beiden ersten Hauptarbeitspakete:<br />

Bestandsaufnahme und Anforderungen vor, die im folgenden in einer Übersicht<br />

dargestellt werden.<br />

6. Bestandsaufnahme Bevölkerungswarnung<br />

Sie umfaßt 3 Bereiche:<br />

1. Öffentliche Warnsysteme der BOS in Deutschland, insbesondere<br />

• Iststand der Bevölkerungsalarmierung durch Sirenen<br />

• Potential der Bevölkerungsalarmierung durch Sirenen (hier wird die<br />

zukünftige Nutzung der aktiven Feuersirenen zur Bevölkerungswarnung<br />

vorausgesetzt)<br />

• Ausrüstung der Leitstellen der BOS, die für die Bearbeitung, Weiterleitung<br />

und Auslösung von Warnungen in Frage kommen<br />

• Kommunikationsnetze der BOS, die für die Übertragung von Warnungen<br />

in Frage kommen<br />

• Kommunikationsverbindungen von Leitstellen der BOS zum Rundfunk<br />

(öffentlich und privat)<br />

2. Private und öffentliche (nicht BOS) Warnsysteme<br />

3. Warnsysteme im europäischen Ausland<br />

6.1. Bestandsaufnahme Öffentliche Warnsysteme der BOS in Deutschland<br />

Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme beruhen auf Umfragen in allen Bundesländern<br />

auf der Ebene der Landkreise/kreisfreien Städte sowie auf der<br />

Untersuchung von BOS-Strukturen, deren Mitbenutzung zur Bevölkerungswarnung<br />

in Frage kommt.<br />

Iststand und Potential der theoretischen Versorgung der Bevölkerung<br />

in Deutschland mit Sirenenalarmierung.<br />

Die theoretische Versorgung ist durch den Prozentsatz der Bevölkerung<br />

definiert, der sich normalerweise im Beschallungsbereich der Sirenen aufhält.<br />

Die tatsächliche Versorgung wird im allgemeinen geringer sein, da sich<br />

nicht alle Personen im Beschallungsbereich aufhalten (siehe Aufenthaltsmuster)<br />

und die Sirenen nicht von allen wahrgenommen werden (siehe<br />

Wahrnehmung von Warnsignalen). Aus der Bestandsaufnahme ergeben sich<br />

gegenwärtig für die theoretische Versorgung die folgenden Werte:<br />

Iststand 18 %<br />

Potential 40%<br />

Der Iststand beschreibt die gegenwärtige Sirenenalarmierung, die sich<br />

hauptsächlich auf die Umgebung der Kernkraftwerke, die Umgebung von<br />

gefährlichen Betrieben und auf Hochwassergebiete beschränkt. Die Anga-<br />

318


e für das Potential der Sirenenalarmierung geht davon aus, dass zusätzlich<br />

die vorhandenen Feuersirenen für die Bevölkerungsalarmierung nachgerüstet<br />

werden (Heulton 1 Minute).<br />

Ausrüstung der Lagezentren und Leitstellen der BOS<br />

Die Umfrage sowie weitere Recherchen zeigen, dass Leitstellen der oberen,<br />

mittleren und unteren Ebene, die für die Initiierung, Bearbeitung, Weiterleitung<br />

oder Auslösung von Warnungen in Frage kommen, fast ausnahmslos<br />

ausreichend mit Rechnern, Alarmierungs- und Kommunikationssystemen<br />

ausgestattet sind. Die Ausstattung ist zwar uneinheitlich und mancherorts<br />

auch technisch überholt, sie ist jedoch für die Bearbeitung von Warnungen<br />

ausreichend, insbesondere, wenn man die geplanten Investitionen<br />

der nächsten Jahre einbezieht.<br />

Kommunikationsnetze der BOS<br />

Von entscheidender Bedeutung für eine rasche, gleichzeitige sowie<br />

großflächige Bevölkerungswarnung sind funktionierende und sichere Telekommunikationsverbindungen.<br />

Da öffentliche Netze in Gefahrenlagen möglicherweise<br />

durch Überlastung blockiert werden könnten, sollte die Bevölkerungswarnung<br />

möglichst über geschlossene Netze der BOS abgewickelt<br />

werden. Die Untersuchung beschränkte sich daher bislang auf diese Netze.<br />

Hier sind vor allem die bundesweiten und landesweiten Netze der Polizei zu<br />

nennen:<br />

• CNP-ON (Corporate Network Police, Obere Netzebene) Festnetz der<br />

Innenministerien der Länder für Sprache und Daten, betreut vom BKA.<br />

Das Netz ist weitestgehend digitalisiert.<br />

• Landesweite Polizei-/Behördennetze, für Sprache und Daten (z. B. DIS-<br />

POL-Netz in Bayern), in Zukunft: CNP-UN (Corporate Network Police,<br />

Untere Netzebene) Die Netzstrukturen sind uneinheitlich und die Integration<br />

mit der oberen Netzebene ist noch nicht abgeschlossen.<br />

• Lokale BOS-Funknetze: 4 m und 2 m Analognetze für Polizei, Feuerwehr,<br />

Katastrophenschutz, Rettungsdienst: Diese werden für Sprechfunk,<br />

Paging und Sirenensteuerung auf Kreis- oder Bezirksebene eingesetzt. Sie<br />

sind gut ausgebaut, haben jedoch eine geringe Kapazität (verfügbare<br />

Kanäle).<br />

• 2 m Digitalnetze der Feuerwehr, nur für Paging und Sirenenauslösung,<br />

bislang nur geringe Verbreitung<br />

Der vorhandene Kommunikationsengpaß zwischen Land und Kreisen<br />

sowie innerhalb der Kreise könnte durch die Einführung des digitalen Bündelfunks<br />

TETRA erheblich verbessert werden. Die bei TETRA vorhandenen<br />

Funktionen Sammelruf und Gruppenruf sind sowohl für die zentrale als<br />

auch dezentrale Warnung besonders geeignet.<br />

319


Kommunikationsverbindungen zum Rundfunk<br />

Die Warnung über den Rundfunk besteht gegenwärtig aus „amtlichen<br />

Gefahrendurchsagen“, die im Hörfunk wörtlich vorgelesen werden müssen,<br />

und „Gefahrenmeldungen“, die sinngemäß gesendet werden. Außerdem<br />

können Hinweise im Fernsehen eingeblendet werden. Die Verbreitung dieser<br />

Warnungen ist durch Vereinbarungen der Ministerien mit dem Rundfunk<br />

abgesichert. Dies trifft jedoch gegenwärtig nur für die ARD, das ZDF und<br />

einen Teil der Privatsender zu.<br />

Die Kommunikationsmittel zwischen den Lagezentren bzw. Leitstellen und<br />

dem Rundfunk sind recht unterschiedlich. Sie reichen von der DFÜ über<br />

Rechner und Sondernetze bis zum Fax mit mündlicher Rücksprache über<br />

öffentliche und private Netze. Die rasche und gleichzeitige Information<br />

aller Sender ist damit nicht möglich. Es ergeben sich unterschiedliche Reaktionszeiten<br />

bei den Sendern und die gewünschte enge zeitliche Koppelung<br />

der Warnmeldung im Hörfunk an die Alarmierung ist bei großflächigen<br />

Gefahren damit nicht erreichbar.<br />

6.2. Private und öffentliche (nicht BOS) Organisationen mit internen<br />

Warn- und Informationssystemen<br />

Insbesondere an Werktagen halten sich tagsüber ca. 50 % der Bevölkerung<br />

im Bereich von privaten und öffentlichen Organisationen auf. Beispiele<br />

hierfür sind:<br />

• Mittel- und Großbetriebe<br />

• Öffentliche Organisationen (Verwaltung)<br />

• Veranstaltungs- und Versammlungsstätten<br />

• Verkaufsstätten<br />

• Gaststätten und Beherbergungsstätten<br />

• Schulen und Hochschulen<br />

• Krankenhäuser, Heime<br />

• Öffentliche Verkehrsmittel und Bahnhöfe<br />

• Sport- und Freizeitstätten<br />

Aufgrund von Vorschriften gibt es in vielen dieser Organisationen interne<br />

Warn- oder Informationssysteme, über die bei internen Gefahren (z. B.<br />

Brand) gewarnt wird oder über die allgemeine interne Informationen verbreitet<br />

werden.<br />

Diese internen Warn- oder Informationssysteme könnten bei externen<br />

Gefahren auch dazu benutzt werden, öffentliche Alarme, Warnmeldungen<br />

und Informationen intern zu verbreiten. Damit wäre eine „gemeinschaftliche“<br />

Warnung der Mitarbeiter, Besucher oder Gäste dieser Organisationen<br />

möglich.<br />

Voraussetzungen für diese gemeinschaftliche Warnung sind eine besetzte<br />

Warn-, Sicherheits- oder Telefonzentrale, über die das interne Warn- oder<br />

320


Informationssystem bedient werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist auch<br />

ein direkter Anschluß des internen Systems an die Empfänger des externen<br />

Warnsystems (z. B. Pager oder Radio ) denkbar. Sofern die Alarmierung<br />

oder Warnmeldung über BOS-Leitstellen (z. B. PD oder FEZ) verbreitet<br />

wird, ist eine ausreichend sichere Kommunikationsverbindung zu diesen<br />

Leitstellen erforderlich. Das interne Informationssystem sollte möglichst<br />

Netz-unabhängig sein.<br />

6. 3. Bevölkerungswarnsysteme im benachbarten Ausland<br />

Dieser Teil der Untersuchung soll den gegenwärtigen Entwicklungsstand<br />

der Bevölkerungswarnsysteme im benachbarten Ausland aufzeigen, um ggf.<br />

Erfahrungen oder Technologien übernehmen zu können. Die Ergebnisse<br />

basieren insbesondere auf der Befragung des jeweiligen Zivil- oder Katastrophenschutzes<br />

nach Struktur, Funktionen, Kennwerten und verwendeten<br />

Technologien. Die Beschreibung dieser Systeme würde hier zu weit führen;<br />

es wird daher nachfolgend nur eine grobe, qualitative Bewertung im Vergleich<br />

zu Deutschland gegeben (+ bedeutet besser, ++ wesentlich besser als<br />

in Deutschland, = bedeutet ungefähr gleich):<br />

Untersuchte Länder Vergleich mit Deutschland<br />

• Dänemark ++<br />

• Niederlande +<br />

• Belgien +<br />

• Frankreich =<br />

• Schweiz +<br />

• Italien (Südtirol, Provinz Bozen) ++<br />

• Österreich +<br />

Als Beispiel für Warnsysteme im Ausland ist in Bild 2 die Struktur des<br />

Warnsystems in Dänemark dargestellt. Durch ein einheitliches System mit<br />

3 administrativen Ebenen und gesicherter Datenkommunikation zwischen<br />

diesen Ebenen und zum Rundfunk ist sowohl eine zentrale als auch dezentrale<br />

Alarmierung und Information möglich. Die Alarmabgabe über elektronische<br />

Sirenen ist landesweit reaktionsschnell und nahezu zeitgleich<br />

möglich. Auch die Information über den Rundfunk ist zeitlich an den Alarm<br />

gekoppelt. Abhängigkeit von Fremdsystemen besteht nahezu nicht.<br />

321


Bild 2: Zentrale Bevölkerungswarnung in Dänemark durch lokale Alamierung<br />

mit elektronischen Sirenen und Information über Rundfunk<br />

und Fernsehen<br />

7. Anforderungen an Warnsysteme<br />

Um Konzepte für zukünftige integrierte Warnsysteme in Deutschland ausarbeiten<br />

und bewerten zu können, sind zunächst die Anforderungen an das<br />

System und seine Komponenten festzulegen. Dabei werden unverzichtbare<br />

Anforderungen als notwendig eingestuft, andere als wünschenswert.<br />

322<br />

3 Nationale<br />

Warnzentren<br />

7 Regionale<br />

Warnzentren<br />

47 Distrikt-<br />

Warnzentren<br />

Gemeinden<br />

Behördennetz<br />

Datenfunk<br />

W 1 B 1<br />

W 1<br />

A 1<br />

S 1<br />

Alamierung<br />

durch Sirenen<br />

Initiierung<br />

Bearbeitung<br />

Weiterleitung<br />

Behördennetz<br />

Weiterleitung<br />

A 47<br />

Auslösung<br />

Alamierung<br />

S 1100<br />

Sirenen<br />

Bevölkerung<br />

Rundfunk,<br />

TV<br />

Rundfunk, TV<br />

Information durch<br />

Rundfunk, TV


Die Anforderungen werden in die folgenden Bereiche gegliedert:<br />

• Systemfunktionen<br />

Beispiele sind:<br />

– Alarmierung – Zentral – „Indoor“ – Individuell<br />

– Warnmeldung – Dezentral<br />

– Information<br />

• Bedienung<br />

• Betrieb<br />

• Mißbrauchsicherheit<br />

• Integration Katastrophenschutz<br />

• Kenndaten<br />

Beispiele sind:<br />

– „Outdoor“ – Gemeinschaftlich<br />

– Wirksamkeit oder Versorgung (% erreichte Bevölkerung)<br />

– Reaktionszeit der Alarmierung, Warnmeldung<br />

• Kosten, gegliedert nach Kostenarten<br />

Bei der späteren Bewertung von Warnsystemen müssen die notwendigen<br />

Anforderungen erfüllt sein; die Erfüllung wünschenswerter Anforderungen<br />

werden als Vorteile bewertet.<br />

8. Systemstrukturen für Warnsysteme<br />

Die Systemstruktur (auch Systemarchitektur) soll Systemkomponenten<br />

eines Warnsystems hierarchisch, funktionell, operationell und technisch<br />

übersichtlich gliedern und Signalpfade darstellen. <strong>Neue</strong> oder vorhandene<br />

Systeme oder Komponenten lassen sich damit übersichtlich in das Warnsystem<br />

eingliedern.<br />

Bild 3 zeigt beispielhaft die Systemstruktur für die individuelle und gemeinschaftliche<br />

Alarmierung, Warnmeldung und Information auf Landesebene.<br />

Die Struktur besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Strukturelementen,<br />

die in folgende Gruppen zusammengefasst werden:<br />

Administrative Ebenen: Wirkungsbereiche:<br />

– Bund – National (Zentrale Warnung)<br />

– Länder – Regional (Zentrale Warnung)<br />

– Bezirke – Lokal (Dezentrale Warnung)<br />

– Kreise/Kreisfreie Städte<br />

– Gemeinden<br />

Nutzer:<br />

– Einzelpersonen (Individuelle Warnung)<br />

– Personengruppen (Gemeinschaftl. Warnung)<br />

323


Operationelle Strukturelemente: Technische Strukturelemente:<br />

– Initiierung der Warnung – Systeme zur EDV<br />

– Bearbeitung der Warnbefehle – Telekommunikationssysteme<br />

– Weiterleitung der Warnbefehle – Alarmierungssysteme<br />

– Auslösung der Warnung – Systeme für Warnmeldungen und<br />

– Kontrolle der Warnung Information<br />

Bild 3: Warnstruktur für individuelle und gemeinschaftliche Alamierung,<br />

Warnmeldung und Information auf Landesebene<br />

324


9. Aufenthaltsmuster der Bevölkerung<br />

Die Aufenthaltsmuster definieren, wie viele Menschen sich wann und wo<br />

aufhalten und damit von Warnsystemen erreichbar sind.<br />

Die Basisdaten hierfür wurden im wesentlichen aus Unterlagen der Statistischen<br />

Ämter abgeleitet. Sie stammen aus Mikrozensuserhebungen, Sozialversicherungserhebungen,<br />

Einwohnermeldeamtszahlen und Flächenerhebungen<br />

sowie aus Katastrophenschutz-Evakuierungsplänen von Landkreisen.<br />

Davon abgeleitete Daten sind:<br />

Anteil der Bevölkerung an Werktagen: Tag, Nacht, Hauptverkehrszeiten:<br />

• Erwerbstätige, Tag, Nacht, Freizeit<br />

• Erwerbstätige, Kleinbertiebe (


10. Berechnung der Wirksamkeit eines Warnsystems<br />

Im folgenden wird dargestellt, wie die Wirksamkeit oder Versorgung [V]<br />

eines Warnsystems mit Hilfe der Theoretischen Versorgung [VT ] (siehe<br />

oben) und dem Aufenthaltsmuster [A] berechnet werden kann. Allerdings<br />

ist hierfür noch ein weiterer Wert, die Wahrnehmung [W] der Warnung<br />

erforderlich. Die Wahrnehmung ist der Anteil der Personen im Empfangsbereich<br />

des Warnmittels, die durch die Warnung tatsächlich erreicht werden.<br />

Die (aktuelle) Versorgung (Prozentsatz der gewarnten Bevölkerung) ergibt<br />

sich dann als folgendes Produkt :<br />

[V] = [VT ] • [ A] • [W]<br />

Die Wahrnehmung [W] einer Warnung hängt dabei von verschiedenen Parametern<br />

ab. Als Beispiele seien genannt:<br />

Warnmittel Tageszeit Aufenthaltsort<br />

– Sirenen – Tag – Outdoor<br />

– Rundfunk – Nacht – Indoor<br />

– Rundfunk mit Wecksignal – Hauptverkehr – Organisationen<br />

– Individualverkehr<br />

Außerdem ist die Wahrnehmung auch davon abhängig, ob vorher eine Sensibilisierung<br />

der Bevölkerung (z. B. durch Vorwarnung oder Alarmierung)<br />

stattgefunden hat.<br />

Für die Wahrnehmung liegen bislang zumindest in Deutschland keine statistisch<br />

ermittelten Werte vor. Es werden daher in dieser Studie zunächst<br />

möglichst plausible Annahmen gemacht.<br />

Der hiermit ermittelte Iststand der Bevölkerungswarnung in Deutschland ist<br />

in den Tabellen 2 und 3 dargestellt. Es ist zu beachten, dass die berechnete<br />

Versorgung von 53 % (Tag) und 32 % (Nacht) bereits davon ausgeht, dass<br />

auch in Organisationen über interne Warn- und Informationssysteme<br />

gewarnt wird.<br />

Aufenthaltsort in %<br />

Warnsystem, Tag Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />

tion verk.<br />

Warnmeldung Rundfunk 14,7 % 0,0 % 25,1 % 2,5 % 42,2 %<br />

Alarmierung Sirene<br />

Information Rundfunk<br />

3,7 % 1,5 % 9,0 % 0,3 % 14,6 %<br />

nach Alarmierung 17,8 % 0,9 % 31,8 % 2,8 % 53,4 %<br />

Theoretische Versorgung<br />

durch Sirenen 20 %<br />

20 %<br />

Tabelle 2: Iststand Warnung der Bevölkerung, Tag<br />

326


Aufenthaltsort in %<br />

Warnsystem, Nacht Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />

tion verk.<br />

Warnmeldung Rundfunk 17,1 % 0,0 % 7,4 % 0,9 % 25,5 %<br />

Alarmierung Sirene<br />

Information Rundfunk<br />

5,1 % 0,1 % 2,0 % 0,1 % 7,4 %<br />

nach Alarmierung 21,4 % 0,1 % 9,3 % 1,0 % 31,8 %<br />

Theoretische Versorgung<br />

durch Sirenen 20 %<br />

20 %<br />

Tabelle 3: Iststand Warnung der Bevölkerung, Nacht<br />

11. Beispiel eines zukünftigen Warnsystems<br />

In Bild 4 ist abschließend die Struktur einer möglichen Version für ein<br />

zukünftiges Warnsystem dargestellt. Durch die Verwendung neuer Technologien<br />

ist sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Warnung mit<br />

hoher Versorgung möglich.<br />

Neben der individuellen „outdoor“-Alarmierung durch Sirenen und der<br />

Information durch den Rundfunk werden noch der private Funkruf (Paging)<br />

für Alarmierung und Warnmeldungen und der Langwellenfunk mit einer<br />

„Funk-/Alarmuhr“ verwendet. Letztere könnte im Minutenzyklus Alarme<br />

empfangen und würde sich insbesondere als Weckmittel für den nachfolgenden<br />

Empfang von Rundfunkmeldungen eignen.<br />

Die mit diesen Systemen erreichbaren Versorgungen von 90 % (Tag) und<br />

50 % (Nacht) sind in den Tabellen 4 und 5 zusammengestellt. Hierbei ist<br />

bereits berücksichtigt, dass nur ein Teil der Privathaushalte über eine Weckeinrichtung,<br />

z.B. Funk-/Alarmuhr verfügen wird.<br />

Ähnliche Werte könnten auch mit anderen neuen Technologien, z. B. DAB<br />

erreicht werden. Wichtig ist, dass die großen Nutzergruppen: „Indoor“ und<br />

Organisationen in die Warnung einbezogen werden.<br />

327


Bild 4: Beispiel Warnsystem mit zukünftiger Technologie für individuelle<br />

und gemeinschaftliche Warnung<br />

328


Aufenthaltsort in %<br />

Warnsystem, Tag Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />

tion verk.<br />

Warnmeldung Rundfunk 14,7 % 0,0 % 25,1 % 2,5 % 42,2 %<br />

Alarmierung Sirene<br />

Information Rundfunk<br />

8,3 % 3,5 % 20,3 % 0,7 % 32,8 %<br />

nach Alarmierung<br />

Warnmeldung Rundfunk<br />

21,7 % 2,1 % 40,3 % 3,2 % 67,3 %<br />

mit Wecksignal<br />

Information Rundfunk<br />

25,7 % 0,0 % 40,1 % 3,7 % 69,5 %<br />

nach Alarm mit Ws<br />

Theoretische Versorgung<br />

31,8 % 2,1 % 52,3 % 4,5 % 90,6 %<br />

durch Sirenen 45 % 45 %<br />

Tabelle 4: Potential Bevölkerungswarnung, Tag, mit System nach Bild 4<br />

Aufenthaltsort in %<br />

Warnsystem, Nacht Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />

tion verk.<br />

Warnmeldung Rundfunk 17,1 % 0,0 % 7,4 % 0,9 % 25,5 %<br />

Alarmierung Sirene<br />

Information Rundfunk<br />

11,6 % 0,3 % 4,5 % 0,3 % 16,6 %<br />

nach Alarmierung<br />

Warnmeldung Rundfunk<br />

26,7 % 0,2 % 11,6 % 1,2 % 39,7 %<br />

mit Wecksignal<br />

Information Rundfunk<br />

25,7 % 0,0 % 9,9 % 1,2 % 36,9 %<br />

nach Alarm mit Ws<br />

Theoretische Versorgung<br />

34,3 % 0,2 % 13,9 % 1,5 % 49,9 %<br />

durch Sirenen 45 %<br />

45 %<br />

Tabelle 5: Potential Bevölkerungswarnung, Nacht, mit System nach Bild 4<br />

329


330


Notwendigkeit eines Melde- und Einsatzzentrums<br />

Horst Miska<br />

Zusammenfassung<br />

Der Bedarf für eine ständig besetzte, fachkundige Stelle der Bundesregierung<br />

wird aufgezeigt und ein Vergleich mit den Lösungen in anderen Staaten<br />

gegeben. Anhand des Beispiels der Schweiz wird ein gemeinsames<br />

Melde- und Einsatzzentrum vorgeschlagen, und Möglichkeiten für die Aufgabenerledigung<br />

zum Schutz der Bevölkerung werden dargelegt.<br />

1. Einleitung<br />

Beobachtungen bei der Durchführung internationaler Übungen im Rahmen<br />

des Katastrophenschutzes in der Umgebung kerntechnischer Anlagen – hier<br />

organisiert durch die NEA *) der OECD *) – lassen erkennen, dass die angemessene<br />

Reaktion auf großflächigen Gefahrenlagen durch die Einrichtung<br />

eines Melde- und Einsatzzentrums (MEZ) wesentlich verbessert werden<br />

könnte. Auch Erfahrungen beim Brand der MS Pallas vor der norddeutschen<br />

Küste sowie aus den Hochwassern an der Oder und am Oberrhein<br />

machen die Notwendigkeit einer zentralen Stelle zur Koordinierung von<br />

Abwehr- oder Schutzmaßnahmen deutlich.<br />

Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland – die Zuständigkeit<br />

der Länder für den Katastrophenschutz ist in der Verfassung verankert –<br />

erschwert bundeseinheitliche Regelungen oder Maßnahmen. Nur für den<br />

<strong>Zivilschutz</strong> im Rahmen der Gesamtverteidigung liegt die Verantwortung<br />

beim Bund. Daher gibt es keine Führungsstruktur im Katastrophenschutz<br />

oberhalb der Länderebene, wodurch die Koordinierung rascher Schutzmaßnahmen<br />

bei länderübergreifenden Ereignissen erschwert wird.<br />

Im <strong>Folge</strong>nden werden die bestehenden Probleme erläutert und eine<br />

Lösungsmöglichkeit dargestellt.<br />

2. Derzeitiger Stand<br />

Von der Bundesregierung wird beim BMI das Lagezentrum 24 Stunden am<br />

Tag betrieben; das Personal kommt aus dem Bereich der Polizei. Dabei verfügt<br />

es über keine fachliche Absicherung, es ist z.B. nicht mit Maßnahmen<br />

zum Schutz vor ionisierenden Strahlen oder Gefahrstoffen vertraut oder<br />

mit internationalen Verpflichtungen im Rahmen von bi- oder internationalen<br />

Vereinbarungen.<br />

*) NEA = Nuclear Energy Agency; OECD = Organisation for Economic Co-operation and Development.<br />

331


Außerhalb polizeilicher Aufgaben stellt es einen reinen Meldekopf dar und<br />

steht dabei auch anderen Ressorts zur Verfügung. So übernimmt das Lagezentrum<br />

des BMI z.B. für das BMU die Funktion des „national contact<br />

point“ für die IAEA zur Erfüllung der Aufgaben auf Grund des Übereinkommens<br />

über die frühzeitige Meldung radiologischer Ereignisse. Von dort<br />

erfolgt im Ereignisfall die Alarmierung der zuständigen Ministerien. Weitere<br />

„Wachstationen“ werden zudem von anderen Ressorts, z.B. dem Verkehrsministerium<br />

und im Auswärtigen Amt, bereit gehalten.<br />

Eine ähnliche Situation besteht bei den Ländern: meist wird ein Lagezentrum<br />

im Innenministeriums ebenfalls 24 Stunden am Tag betrieben, auch hier sind<br />

Polizeibeamte für die Sammlung und Weiterleitung von Meldungen über<br />

größere Unfälle, Kontaminationen, Explosionen, Straftaten usw. zuständig.<br />

Weitere Dienstbereitschaften auf Regierungsebene bestehen im Allgemeinen<br />

nicht, aber teilweise bei Fachinstitutionen wie z.B. der Gewerbeaufsicht.<br />

3. Vergleich mit anderen Staaten<br />

Je nach Verfügbarkeit von Ressourcen und nach Gefährdungseinschätzung<br />

unterhalten andere Staaten unterschiedliche Einrichtungen. In den USA<br />

bestehen z.B. sechs offizielle „Kontaktpunkte“ für die IAEA (was bei der<br />

IAEA zu Problemen führt); auf Grund der großen Ausdehnung und wegen<br />

der stark unterschiedlichen Gefahrenquellen können die Aufgaben kaum<br />

von einer Stelle übernommen werden. Für bestimmte Lagen, so die Ausbreitung<br />

von Schadstoffen in der Luft oder im Wasser, gibt es jedoch zentrale<br />

Einrichtungen; für diese Fälle das „National Atmospheric Release<br />

Advisory Center“ (NARAC) in Livermore, CA.<br />

Auch in Frankreich gibt es mehrere Stellen, welche für radiologische Ereignisse<br />

stets einsatzbereit sind. Diese haben jedoch – ungeachtet der zentralistischen<br />

Verwaltungsstruktur des Landes – nur alarmierende oder beratende<br />

Funktionen, während die Entscheidung über die Durchführung von Schutzmaßnahmen<br />

bei dem regionalen Verwaltungsleiter, dem Präfekten, liegt.<br />

Eine vorbildliche Lösung gibt es in der Schweiz: die Nationale Alarmzentrale1)<br />

(NAZ) in Zürich stellt die „Fachstelle des Bundes für außerordentliche<br />

Ereignisse“ dar. Ihr Aufgabengebiet ist klar festgelegt; sie wird tätig bei<br />

– erhöhter Radioaktivität<br />

– großen Chemieunfällen<br />

– Staudammbrüchen oder Überschwappungen sowie bei<br />

– Satellitenabsturz.<br />

Im Rahmen ihrer Aufgaben hat die NAZ jährlich etwa 120 Einsätze, deren<br />

Ursache zumeist im Ausland liegt. Das Stammpersonal2) besteht aus 18 Per-<br />

1) Ausführliche Informationen im Internet: http://www.naz.ch<br />

2) D. Frei: Übersicht über die Nozfallorganisation in der Schweiz, in: Grenzüberschreitender Notfallschutz,<br />

gemeinsames FS/AKN-SFRP-Seminar, TÜV-Verlag Köln, 1999, S.45<br />

332


Abb. 1: Internationale Meldewege für radiologische Ereignisse<br />

sonen, welche teilweise zur Schweizerischen Meteorologischen Anstalt<br />

(SMA) gehören. Dieses Stammpersonal sichert die stetige Einsatzbereitschaft,<br />

wobei innerhalb von ein bis zwei Stunden eine Kernmannschaft in<br />

der NAZ verfügbar ist. Im Ereignisfall kann diese Mannschaft durch bis zu<br />

190 Personen aus Wissenschaft, <strong>Forschung</strong>, Industrie, Verwaltung und<br />

Medien verstärkt werden: Reservisten der Armee, welche häufig in der<br />

NAZ üben und ihre dortigen Aufgaben kennen, werden eingezogen.<br />

Die NAZ verfügt über eine Infrastruktur zur Erfassung und Beurteilung der<br />

Lage sowie ausgezeichnete Einrichtungen zur Darstellung der Lage und zur<br />

Kommunikation. Sie kann Schutzmaßnahmen nach festgelegten Kriterien<br />

anordnen, die Durchführung und Kontrolle der Maßnahmen erfolgt aber auf<br />

der Ebene der Kantone. Damit verfügt die Schweiz über eine Einrichtung,<br />

welche rasch die Lage beurteilen und die zum Schutz der Bevölkerung notwendigen<br />

Maßnahmen veranlassen kann.<br />

Zudem stellt die NAZ den Nationalen Kontaktpunkt für Meldungen der EU<br />

nach ECURIE und Meldungen der IAEA dar. Sie richtet Übungen aus oder<br />

nimmt an solchen Teil und tauscht Erfahrungen auf internationaler Ebene<br />

aus. Ende 1994 ließ sie sich von einem „Operational Safety Review Team“<br />

(OSART) der IAEA beurteilen. Das Ergebnis lautete:<br />

„Good Performance. The NAZ can be considered to be amongst the world<br />

leaders in off-site emergency plan management with its state of the art<br />

information gathering, data assessment, and communication systems.“<br />

4. Notwendigkeit und Aufgaben eines Zentrums<br />

Zur angemessen raschen Reaktion auf ein größeres Ereignis sowie zum<br />

Informationsaustausch auf internationaler Ebene ist ein (Gemeinsames)<br />

333


Melde- und Einsatzzentrum ({G}MEZ) notwendig, in dem eine ausreichende<br />

Basis von Fachkenntnis stets vorzuhalten ist. Dies sollte kein „Debattierkränzchen“<br />

sein, sondern es sollte eine rasche Beurteilung der Lage<br />

durchführen können und Entscheidungen auf Grund möglichst klar festgelegter<br />

Kriterien treffen.<br />

In der Mittel- und Spätphase eines solchen Ereignisses kann ein Teil der<br />

(nicht zeitkritischen) Aufgaben oder die Abstimmung von einer „Interministeriellen<br />

Koordinierungsstelle“, den einzelnen Fachressorts oder den zuständigen<br />

Stellen in den Ländern übernommen werden. Der Kontakt nach außen<br />

(„national contact point“) sollte aber stets über die selbe Stelle, das MEZ,<br />

laufen.<br />

Mögliche Aufgaben des MEZ in der Akutphase eines Ereignisses sind:<br />

– Entgegennahme und Weiterleitung von Alarmierungen,<br />

dabei sollte der Inhalt der Meldung verstanden und die <strong>Folge</strong>n<br />

abgeschätzt werden können;<br />

– Koordinierung im Inland<br />

zwischen betroffenen Ländern sowie den Ressorts des Bundes,<br />

nachgeordneten Behörden und fachkundigen Institutionen, . . .;<br />

– Austausch von Meldungen mit dem Ausland,<br />

bilaterale Vereinbarungen, internationale Meldeverpflichtungen<br />

(Nachbarstaaten, EC, IAEA usw.)<br />

weiterhin:<br />

– Sammlung von Fachverstand und Erfahrung<br />

ist auf Ressort- oder Länderebene nicht ökonomisch;<br />

Abb. 2: Einbindung eines Melde- und Einsatzzentrums<br />

3) I. Kölbl: Viel Rauch um nichts? BrandSchutz Deutsche Feuerwehr-Zeitung, Heft 2/99, S. 137<br />

334


– Sicherstellung zentraler Unterstützung,<br />

z.B. durch das Programmsystem RODOS;<br />

– Einsatz bei großflächigen Gefahrenlagen wie<br />

• Hochwasser (Inland/Küste) oder Gefährdung von Gewässern<br />

bei diesjährigem Hochwasser am Oberrhein wurde sogar ein<br />

„internationales Lagezentrum“ gefordert,<br />

• bei Gewässerverunreinigung (vergl. Brand bei Sandoz, Basel) sind oft<br />

mehrere Länder betroffen<br />

die Probleme beim Stranden der „Pallas“ waren teilweise auch auf<br />

fehlende Koordination 3) zurückzuführen (SH, NS, HH), s. dazu<br />

Kommentar im Hamburger Abendblatt von M. Kluth:<br />

Man kann sich eben nicht immer darauf verlassen, dass Männer<br />

wie Helmut Schmidt bei der Hamburger Sturmflut {1962} oder<br />

Mathias Platzek beim Oderhochwasser {1997} das Management<br />

entschlossen an sich reißen und handeln. In der Krise werden<br />

manchmal Helden geboren<br />

– manchmal aber auch nicht,<br />

– zur Bewältigung solcher Ereignisse müssen Führungsstrukturen<br />

aufgebaut werden …;<br />

• Schnee<br />

wie vor vielen Jahren in SH,<br />

• Erdbeben<br />

im In- und Ausland, rasche Vermittlung von Hilfe notwendig,<br />

• Waldbrand<br />

wie vor vielen Jahren in NS,<br />

• kerntechnischer Unfall (In- oder Ausland)<br />

bilaterale und internationale Meldeverpflichtungen, z.B. gegenüber<br />

der IAEA; diese fordert in „Preparedness and Response for<br />

Nuclear and Radiological Emergencies“ (Entwurf 4/99): § 2.1.<br />

This shall include a national co-ordinating authority and a national<br />

co-ordinating structure…,<br />

• Satellitenabsturz (konventionell/radioaktiv),<br />

• weiträumige Lebensmittelvergiftung,<br />

• schnell ausbreitende Seuchen usw.<br />

5. Vorschlag für ein gemeinsames Melde- und Einsatzzentrum<br />

Das MEZ sollte – frei vom politischen Tagesgeschäft (daher besser nicht in<br />

der Hauptstadt ansiedeln) – an zentraler Stelle eingerichtet werden. Da die<br />

entsprechenden technischen Einsatzmittel (im Wesentlichen sind Geräte zur<br />

Kommunikation und Dokumentation erforderlich) relativ preiswert sind, blieben<br />

die Investitionskosten in vertretbarem Rahmen. Die Geräte und Einrichtungen<br />

zur Erfassung der Lage wie z.B. das Messnetz des Bundes zur Messung<br />

der Ortsdosisleistung oder die Einrichtung des DWD sind vorhanden.<br />

Vorteilhaft wäre ein militärischer oder feuerwehrtechnischer Hintergrund<br />

des einzusetzenden Personals, da Erfahrungen in schneller Entscheidung<br />

und mit logistischen Anforderungen notwendig sind.<br />

335


Das Stammpersonal könnte, wie in der Schweiz, aus etwa 18 Personen<br />

bestehen. Davon sollten etwa sechs Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen<br />

(Chemie, Physik, Medizin, Geologie, Mathematik/Informatik, Hoch-/<br />

Tiefbau, Maschinenbau, . . .) dem höheren Dienst angehören. Damit könnten<br />

zwei Personen stets im Dienst, eine Dritte in Bereitschaft sein, so dass<br />

innerhalb kürzester Zeit eine fachkundige Bewertung eines jeden Ereignisses<br />

erfolgen könnte.<br />

Das Stammpersonal sollte auch außerhalb von Einsätzen Aufgaben übernehmen,<br />

um sich fortzubilden. Dazu beitragen kann auch ein internationaler<br />

Erfahrungsaustausch und Mitwirkung bei oder Ausrichtung von Übungen.<br />

Zudem sollte es die Einrichtung pflegen und die Technik – die Messtechnik,<br />

EDV und Kommunikation müssen stets auf dem neuesten Stand<br />

gehalten werden – fortentwickeln.<br />

Im Einzelfall wäre eine Ergänzung durch Personal von<br />

– nicht unmittelbar betroffenen Ländern (fördert den Erfahrungsaustausch!),<br />

– nachgeordneten Fachbehörden oder<br />

– fachkundigen Institutionen<br />

notwendig. Leider erscheint die Lösung der Schweiz, fachkundige Reservisten<br />

einzuziehen, in Deutschland nicht möglich. Durch häufige Übungen<br />

oder regelmäßige Abordnung von Mitarbeitern z.B. über drei Wochen von<br />

einer Landesdienststelle – bei 16 Ländern wird dadurch eine Stelle zur Verfügung<br />

gestellt – ist dieses Ergänzungspersonal in seine Aufgabe einzuweisen<br />

und mit der Technik im MEZ vertraut zu machen.<br />

Durch die geringe Anzahl von Stammpersonal entstehen zudem vertretbare<br />

Personalkosten, wobei zusätzlich andere, laufende Aufgaben mit abgedeckt<br />

werden können. Bei guter Koordination mit allen Ressorts sind eventuell<br />

sogar Einsparungen möglich, wenn laufende Überwachungsaufgaben vom<br />

MEZ übernommen werden könnten.<br />

Wichtig erscheint mir, dem MEZ eine anerkannte Rolle zukommen zu lassen,<br />

um die Motivation des Personals zu festigen und effektive Arbeit<br />

sicherzustellen. Dies würde dem Schutz der Bevölkerung dienen und es der<br />

Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, ihren internationalen Meldeverpflichtungen<br />

angemessen nachzukommen.<br />

336


Die Autoren:<br />

Scharmann, Arthur<br />

Professor Dr. Dr. h.c. mult.<br />

I. Physikalisches Institut der Justus Liebig-Universität Giessen<br />

Heinrich-Buff-Ring 16<br />

35392 Giessen<br />

Kass, Rüdiger<br />

Dr. jur., Ministerialdirektor<br />

Abteilungsleiter Bundesgrenzschutz<br />

im Bundesministerium des Innern<br />

Alt Moabit 101 D<br />

10559 Berlin<br />

Dombrowsky, Wolf. R.<br />

Dr. rer. soc.<br />

Stellvertretender Leiter der Katastrophenforschungsstelle<br />

der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />

24098 Kiel<br />

Schmidt, Gerhard<br />

Professor Dr.<br />

Abteilungsleiter des Pharmakologischen Instituts<br />

Robert-Koch-Straße 40<br />

37075 Göttingen<br />

Siegele, Gerhard<br />

Ministerialdirektor a.D.<br />

Wilkenstraße 13<br />

53913 Swisttal-Odendorf<br />

Freiherr von Richthofen, Hermann<br />

Dr., Botschafter<br />

Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland<br />

im Nordatlantikrat Brüssel<br />

B-1110 Brüssel<br />

337


Klingshirn, Heinrich<br />

Dr., Ministerialdirigent a.D.<br />

Bayerisches Staatsministerium des Innern<br />

Odeonsplatz 3<br />

80539 München<br />

Marzi, Willy B.<br />

Dr. rer. nat., Wissenschaftlicher Direktor<br />

RL im Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />

Deutschherrenstraße 93–95<br />

53177 Bonn<br />

Rebentisch, Ernst<br />

Professor Dr. med.<br />

Ganghoferstraße 4<br />

82041 Deisenhofen<br />

Wagner, Wolfgang<br />

Apotheker der Klinischen Pharmazie<br />

Schanzenstraße 21<br />

40549 Düsseldorf<br />

Domres, Bernd<br />

Professor Dr. med.<br />

Chirurgische Universitätsklinik Tübingen<br />

Hoppe-Seyler-Straße 3<br />

72076 Tübingen<br />

Sohns, Torsten<br />

Dr., Oberstarzt<br />

Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />

– Leiter Bereich Studien und Wissenschaft –<br />

Neuherbergstraße 11<br />

80937 München<br />

338


Reichenbach, Heinz<br />

Dr. rer. nat.<br />

Steinmatten 34<br />

79194 Gundelfingen-Wildtal<br />

ter Haseborg, Jan Luiken<br />

Professor Dr.-Ing.<br />

Technische Universität Hamburg-Harburg<br />

Arbeitsbereich Messtechnik<br />

Harburger Schloßstraße 20<br />

21079 Hamburg<br />

Matz, Gerhard<br />

Professor Dr.-Ing.<br />

Technische Universität Hamburg-Harburg<br />

Arbeitsbereich Messtechnik/Umweltmesstechnik<br />

Harburger Schloßstraße 20<br />

21079 Hamburg<br />

Gerber, Georg<br />

Professor Dr. Dr.<br />

De Heylanden 7<br />

B-2400 Mol<br />

Greim, Helmut<br />

Professor<br />

Institut für Toxikologie und Umwelthygiene der Technischen Universität<br />

München<br />

Lazarettstraße 62<br />

80636 München<br />

Buff, Klaus<br />

Dr.<br />

Institut für Toxikologie und Umwelthygiene<br />

der Technischen Universität München<br />

Lazarettstraße 62<br />

80636 München<br />

339


Kohl, Claus-Dieter<br />

Professor Dr. rer. nat., Diplom-Physiker<br />

Institut für Angewandte Physik<br />

Fachbereich Physik<br />

Justus-Liebig-Universität Giessen<br />

Heinrich-Buff-Ring 16<br />

35392 Giessen<br />

Rosen, Klaus-Henning<br />

Ministerialdirektor<br />

Abteilungsleiter im Bundesministerium des Innern<br />

Alt Moabit 101 D<br />

10559 Berlin<br />

Hüls, Ewald<br />

Dr. med.<br />

Ärztlicher Leiter Rettungsdienst Landkreis Celle<br />

Facharzt für Chirurgie<br />

Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie<br />

Allgemeines Krankenhaus Celle<br />

Siemensplatz 4<br />

29221 Celle<br />

Held, Volkmar<br />

Dr.<br />

Hörmann GmbH<br />

Hauptstraße 45–47<br />

85614 Kirchseeon<br />

Miska, Horst<br />

Dr. rer. nat., Diplom-Physiker<br />

Ministerialrat im Ministerium des Innern und für Sport<br />

Referat 352 – Schutz vor Gefahrstoffen<br />

und ionisierender Strahlung<br />

Schillerplatz 3–5<br />

55116 Mainz<br />

340


Koautoren:<br />

Schwarz<br />

Institut für Angewandte Physik<br />

Fachbereich Physik<br />

Justus-Liebig-Universität Giessen<br />

Heinrich-Buff-Ring 16<br />

35392 Giessen<br />

Petig, H.<br />

RWE Essen AG<br />

Kelleter, J.<br />

GTE GmbH Viersen<br />

Kiesewetter, O.<br />

UST GmbH Geschwenda<br />

341


Band 41 – in Vorbereitung –<br />

W. König, M. Köller<br />

Einfluss von Zytokinen und Lipidmediatoren<br />

auf die Kontrolle und Regulation spezifischer<br />

Infektabwehr bei Brandverletzung<br />

Band 40 – in Vorbereitung –<br />

Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt<br />

Entwicklung von Dekontaminationsmitteln und<br />

-verfahren bei Austritt von Industriechemikalien<br />

Band 39 – in Vorbereitung –<br />

TÜV Energie und Umwelt GmbH<br />

Optimierung des Schutzes vor luftgetragenen<br />

Schadstoffen in Wohngebäuden<br />

Band 38<br />

W. Kaiser, M. Schindler<br />

Rechnergestütztes Beratungssystem für das<br />

Krisenmanagement bei chemischen Unfällen<br />

(DISMA®)<br />

1999, 156 Seiten, Broschur<br />

Band 37 – in Vorbereitung –<br />

K.-J. Kohl, M. Kutz<br />

Entwicklung von Verfahren zur Abschätzung<br />

der gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von Großbränden<br />

Band 36<br />

M. Weiss, B. Fischer, U. Plappert und T. M. Fliedner<br />

Biologische Indikatoren für die Beurteilung<br />

multifaktorieller Beanspruchung<br />

Experimentelle, klinische und systemtechnische<br />

Untersuchung<br />

1998, 104 Seiten, Broschur<br />

Band 35 – in Vorbereitung –<br />

K. Amman, A.-N. Kausch, A. Pasternack, J. Schlobohm,<br />

G. Bresser, P. Eulenburg<br />

Untersuchung der Praxisanforderung an Atemund<br />

Körperschutzausstattung zur Bekämpfung<br />

von Chemieunfällen<br />

Band 34 – in Vorbereitung –<br />

W. Heudorfer<br />

Untersuchung der Wirksamkeit von Selbstschutzausstattung<br />

bei Chemieunfällen<br />

342<br />

<strong>Zivilschutz</strong>-<strong>Forschung</strong>, <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong><br />

Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />

Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />

ISSN 0343-5164<br />

Band 33<br />

J. Bernhardt, J. Haus, G. Hermann, G. Lasnitschka,<br />

G. Mahr, A. Scharmann<br />

Laserspektrometrischer Nachweis von Strontiumnukliden<br />

1998, 128 Seiten, Broschur<br />

Band 32<br />

Günther Müller<br />

Kriterien für Evakuierungsempfehlungen bei<br />

Chemikalienfreisetzungen<br />

1998, 244 Seiten + Faltkarte, Broschur<br />

Band 31<br />

G. Schallehn und H. Brandis<br />

Beiträge zur Isolierung und Identifizierung von<br />

Clostridium sp. und Bacillus sp. sowie zum<br />

Nachweis deren Toxine<br />

1998, 80 Seiten, Broschur<br />

Band 30<br />

Gerhard Matz<br />

Untersuchung der Praxisanforderung an die<br />

Analytik bei der Bekämpfung großer Chemieunfälle<br />

1998, 192 Seiten, Broschur<br />

Band 29<br />

D. Hesel, H. Kopp und U. Roller<br />

Erfahrungen aus Abwehrmaßnahmen bei chemischen<br />

Unfällen<br />

1997, 152 Seiten, Broschur<br />

Band 28<br />

Ronald Zech<br />

Wirkungen von Organophosphaten<br />

1997, 110 Seiten, Broschur<br />

Band 27<br />

Georg Ruhrmann, Matthias Kohring<br />

Staatliche Risikokommunikation bei Katastrophen<br />

Informationspolitik und Akzeptanz<br />

1996, 207 Seiten, Broschur<br />

Band 26<br />

43. und 44. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

beim Bundesminister des Innern<br />

Vorträge<br />

1997, 326 Seiten, Broschur


Band 25<br />

Klaus Buff, Helmut Greim<br />

Abschätzung der gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von<br />

Großbränden<br />

Literaturstudie<br />

Teilbereich Toxikologie<br />

1997, 138 Seiten, Broschur<br />

Band 24<br />

42. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> beim<br />

Bundesminister des Innern<br />

Vorträge<br />

1996, 205 Seiten, Broschur<br />

Band 23<br />

Klaus Haberer, Uta Böttcher<br />

Das Verhalten von Umweltchemikalien in Boden<br />

und Grundwasser<br />

1996, 235 Seiten, Broschur<br />

Band 22<br />

Beowulf Gloebel, Christiane Graf<br />

Inkorporationsverminderung für radioaktive<br />

Stoffe im Katastrophenfall<br />

1996, 206 Seiten, Broschur<br />

Band 21<br />

Arbeiten aus dem Fachausschuß III: Strahlenwirkungen<br />

– Diagnostik und Therapie<br />

1996, 135 Seiten, Broschur<br />

Band 20<br />

Arbeiten aus dem Fachausschuß V<br />

I.<br />

D. Henschler: Langzeitwirkungen phosphororganischer<br />

Verbindungen<br />

II.<br />

H. Becht: Die zellvermittelte typübergreifende Immunantwort<br />

nach Infektion mit dem Influenzavirus<br />

III.<br />

F. Hoffmann, F. Vetterlein, G. Schmidt:<br />

Die Bedeutung vasculärer Reaktionen beim akuten<br />

Nierenversagen nach großen Weichteilverletzungen<br />

(Crush-Niere)<br />

1996, 127 Seiten, Broschur<br />

Band 19<br />

Radioaktive Strahlungen<br />

I.<br />

B. Kromer unter Mitarbeit von K.O. Münnich, W.<br />

Weiss und M. Zähringer:<br />

Nuklidspezifische Kontaminationserfassung<br />

II.<br />

G. Hehn:<br />

Datenaufbereitung für den Notfallschutz<br />

1996, 164 Seiten, Broschur<br />

Band 18<br />

L. Clausen, W.R. Dombrowsky, R.L.F. Strangmeier<br />

Deutsche Regelsysteme<br />

Vernetzungen und Integrationsdefizite bei der<br />

Erstellung des öffentlichen Gutes Zivil- und<br />

Katastrophenschutz in Europa<br />

1996, 130 Seiten, Broschur<br />

Band 17<br />

41. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />

des Innern<br />

Vorträge<br />

1996, 197 Seiten, Broschur<br />

Band 16<br />

F.E. Müller, W. König, M. Köller<br />

Einfluß von Lipidmediatoren auf die Pathophysiologie<br />

der Verbrennungskrankheit<br />

1993, 42 Seiten, Broschur<br />

Band 15<br />

Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung<br />

in Notfällen<br />

Teil II: Klaus Haberer und Monika Drews<br />

1. Einfache organische Analysenmethoden<br />

2. Einfache Aufbereitungsverfahren<br />

1993, 144 Seiten, Broschur<br />

Band 14<br />

Beiträge zu Strahlenschäden und Strahlenkrankheiten<br />

I.<br />

H. Schüßler: Strahleninduzierte Veränderungen an<br />

Säugetierzellen als Basis für die somatischen Strahlenschäden<br />

II.<br />

K.H. von Wangenheim, H.-P. Peterson, L.E. Feinendegen:<br />

Hämopoeseschaden, Therapieeffekte und Erholung<br />

III.<br />

T.M. Fliedner, W. Nothdurft: Präklinische Untersuchungen<br />

zur Bechleunigung der Erholungsvorgänge<br />

in der Blutzellbildung nach Strahleneinwirkung<br />

durch Beeinflussung von Regulationsmechanismen<br />

IV.<br />

G.B. Gerber: Radionuklid Transfer<br />

1993, 268 Seiten, Broschur<br />

Band 13<br />

H. Mönig, W. Oehlert, M. Oehlert, G. Konermann<br />

Modifikation der Strahlenwirkung und ihre <strong>Folge</strong>n<br />

für die Leber<br />

1993, 90 Seiten, Broschur<br />

343


Band 12<br />

Biologische Dosimetrie<br />

I.<br />

H. Mönig, Wolfgang Pohlit, Ernst Ludwig Sattler:<br />

Einleitung: Dosisabschätzung mit Hilfe der Biologischen<br />

Dosimetrie<br />

II.<br />

Hans Joachim Egner et al.: Ermittlung der Strahlenexposition<br />

aus Messungen an Retikulozyten<br />

III.<br />

Hans Mönig, Gerhard Konermann: Strahlenbedingte<br />

Änderung der Chemilumineszenz von Granulozyten<br />

als biologischer Dosisindikator<br />

IV.<br />

Paul Bidon et al.: Zellmembranänderungen als biologische<br />

Dosisindikatoren. Strahleninduzierte<br />

Membranänderung im subletalen Bereich. Immunbindungsreaktionen<br />

an Lymphozyten<br />

1993, 206 Seiten, Broschur<br />

Band 11 vergriffen<br />

Beiträge zur Katastrophenmedizin<br />

1993, 135 Seiten, Broschur<br />

Band 10<br />

Wolf R. Dombrowsky<br />

Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophenschutz<br />

Das Konzept einer Planungszelle Zivil- und Katastrophenschutz<br />

1992, 79 Seiten, Broschur<br />

Band 9 vergriffen<br />

39. und 40. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />

beim Bundesminister des Innern<br />

Vorträge<br />

1993, 264 Seiten, Broschur<br />

Band 8 vergriffen<br />

Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung<br />

in Notfällen<br />

Teil I: Klaus Haberer und Ursula Stürzer<br />

Einfache anorganische und radiologische Methoden<br />

zur Wasseruntersuchung an Ort und Stelle<br />

1991, 78 Seiten, Broschur<br />

Broschüren und eine komplette Liste aller<br />

bisher erschienenen und bereits vergriffenen<br />

Bände können kostenlos bezogen werden<br />

bei:<br />

344<br />

Band 7 vergriffen<br />

Ernst Pfenninger und Friedrich Wilhelm Ahnefeld<br />

Das Schädel-Hirn-Trauma<br />

Klinische und tierexperimentelle Untersuchungen<br />

zur Pathogenese und neuen Behandlungsansätzen<br />

im Rahmen der Katastrophenmedizin<br />

1991, 208 Seiten, Broschur<br />

Band 6 vergriffen<br />

Otfried Messerschmidt und Alfons Bitter<br />

Neutronenschäden<br />

Untersuchungen zur Pathophysiologie, Diagnostik,<br />

Prophylaxe und Therapie<br />

1991, 96 Seiten, Broschur<br />

Band 5 vergriffen<br />

Rudolf E. Grillmaier und Franz Kettenbaum<br />

Strahlenexposition durch Ingestion von radioaktiv<br />

kontaminiertem Trinkwasser<br />

1991, 104 Seiten, Broschur<br />

Band 4 vergriffen<br />

Wolf R. Dombrowsky<br />

Computereinsatz im Zivil- und Katastrophenschutz<br />

Möglichkeiten und Grenzen<br />

1991, 94 Seiten, Broschur<br />

Band 3 vergriffen<br />

Burkhard Lommler, Eberhard Pitt, Arthur Scharmann<br />

und Rolf Simmer<br />

Der Nachweis schneller Neutronen in der Katastrophendosimetrie<br />

mit Hilfe von Ausweisen<br />

aus Plastikmaterial<br />

1990, 66 Seiten, Broschur<br />

Band 2 vergriffen<br />

Gammastrahlung aus radioaktivem Niederschlag<br />

Berechnung von Schutzfaktoren<br />

1990, 66 Seiten, Broschur<br />

Band 1 vergriffen<br />

Lars Clausen und Wolf R. Dombrowsky<br />

Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik<br />

bei technischen Großunfällen und Katastrophen<br />

1990, 115 Seiten, Broschur<br />

Katastrophenmedizin – Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall<br />

4. überarbeitete Auflage1997, 230 Seiten, Broschur<br />

Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />

– Referat II.2 –<br />

Deutschherrenstraße 93–95<br />

53177 Bonn

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