Zivilschutz-Forschung - Neue Folge Bd.42 - - Schutzkommission
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<strong>Zivilschutz</strong>-<br />
<strong>Forschung</strong><br />
Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />
Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band 42<br />
45., 46. und 48. Jahrestagung<br />
der <strong>Schutzkommission</strong><br />
beim Bundesminister des Innern<br />
- Vorträge -<br />
ISSN 0343-5164
ZIVILSCHUTZFORSCHUNG<br />
<strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band 42<br />
2
<strong>Zivilschutz</strong>-<br />
<strong>Forschung</strong><br />
Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />
Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Band42<br />
45., 46. und 48. Jahrestagung<br />
der <strong>Schutzkommission</strong><br />
beim Bundesminister des Innern<br />
– Vorträge –<br />
Nürnberg 16. – 18. Mai 1996<br />
Freiburg 08. – 10. Mai 1997<br />
Freiburg 13. – 15. Mai 1999<br />
ISSN 0343-5164<br />
3
Herausgeber: Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>,<br />
Deutschherrenstr. 93–95, 53117 Bonn<br />
Telefon: (02 28) 9 40-0<br />
Telefax: (02 28) 9 40-14 24<br />
Internet: http://www.bzs.bund.de<br />
Die Vorträge geben die Meinung der Autoren wieder. Sie stellen keine<br />
Äußerung des Herausgebers dar und sind auch nicht als solche auszulegen.<br />
© 2000 by Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>, Bonn<br />
Satz und Druck: Medienhaus Froitzheim AG, Bonn, Berlin<br />
4
Inhalt<br />
Vorträge ’96<br />
Eröffnung der 45. Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Grußwort des Bundesminister des Innern und Vorstellung des<br />
Regierungsentwurfs des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />
Rüdiger Kass. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />
Der „kundenorientierte“ Ansatz im Zivil- und Katastrophenschutz<br />
Das Beispiel der Federal Emergency Management Agency (FEMA)<br />
in den USA<br />
Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />
Die übrigen gehaltenen Vorträge dieser Jahrestagung wurden in den<br />
folgenden Gefahrenbericht aufgenommen.<br />
Gefahrenbericht – Mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei<br />
Großkatastrophen und im Verteidigungsfall – . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33<br />
Vorträge ’97<br />
Eröffnung der 46. Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85<br />
Zum Gedenken an Klaus Friedberg<br />
Gerhard Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89<br />
Grußworte des Bundesministers des Innern<br />
Gerhard Siegele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />
Die <strong>Neue</strong> NATO – aktuelle Entwicklungen und Perspektiven<br />
Hermann Freiherr von Richthofen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99<br />
Fachliche Perspektiven des BMBau im Bereich des baulichen<br />
Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
H. Bong . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />
<strong>Zivilschutz</strong> und Katastrophenschutz aus der Sicht der Länder<br />
Heinrich Klingshirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />
5
Fachlich-wissenschaftliche Schwerpunkte der Umsetzung des<br />
Gefahrenberichts und Perspektiven für künftige <strong>Forschung</strong>saktivitäten<br />
im <strong>Zivilschutz</strong><br />
Willy B. Marzi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119<br />
Konzeptionelles Vorgehen aus Sicht der medizinischen Versorgung<br />
im Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong><br />
Ernst Rebentisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />
Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle – Arzneimittel im<br />
Katastrophenfall –<br />
Wolfgang Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129<br />
Empfehlungen zur Bevorratung von Medikamenten für den<br />
Katastrophenschutz und <strong>Zivilschutz</strong><br />
B. Domres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />
Möglichkeiten und Grenzen des Schutzes vor B-Terrorismus<br />
Torsten Sohns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />
<strong>Neue</strong>s Konzept zur Zivilverteidigung in Israel<br />
H. Reichenbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179<br />
Die elektromagnetische Verträglichkeit komplexer für den<br />
<strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />
Jan Luiker ter Haseborg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187<br />
Task-Force für große Chemieunfälle und Brände<br />
Gerhard Matz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201<br />
Läßt sich über Zivil- und Katastrophenschutz mit dem Bürger ein<br />
Dialog führen? Praxisrelevante Aspekte aus der Krisen- und<br />
Kommunikationsforschung<br />
Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207<br />
Die Erstellung von Datenbasen als Entscheidungshilfe für die<br />
Regierung, eine Aufgabe für die <strong>Schutzkommission</strong>?<br />
Georg Gerber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217<br />
Der Einsatztoleranzwert als Instrument der raschen Gefahrenbewertung<br />
am Brandort und beim Gefahrstoffeinsatz<br />
Klaus Buff, Helmut Greim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221<br />
Sensorik für sicherheitsrelevante Anwendungen<br />
Claus-Dieter Kohl, H. Petig, J. Kelleter, O. Kiesewetter . . . . . . . . . . 229<br />
Gefahrstoff-Detektoren-Array – GDA für Gefahrstoffe nach ETW-Liste<br />
und Kampfstoffe<br />
Gerhard Matz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243<br />
6
Vorträge ’99<br />
Eröffnung der 48. Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255<br />
Zum Gedenken an P. Haxel<br />
Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261<br />
Zum Gedenken an Reinhold Reiter<br />
Arthur Scharmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />
Grußworte des Bundesministers des Innern<br />
Klaus-Henning Rosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265<br />
Die ICE-Katastrophe von Eschede – Fakten – Erfahrungen –<br />
Konsequenzen<br />
Ewald Hüls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275<br />
Ergebnisse der Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen der<br />
Effizienzsteigerung der medizinischer Versorgung der Bevölkerung<br />
in Not- und Gefahrenlagen<br />
Ernst Rebentisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291<br />
Schutzdatenatlas<br />
Wolf R. Dombrowsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303<br />
Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen<br />
Warnung der Bevölkerung – Ausgangssituation der Bevölkerungsfrühwarnung<br />
und Konzepte für zukünftige Warnsysteme –<br />
V. Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315<br />
Notwendigkeit eines Melde- und Einsatzzentrums<br />
Horst Miska. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331<br />
Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337<br />
7
Vorträge ’96<br />
9
Eröffnung der 45.Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann<br />
Liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />
ich begrüße Sie alle zur 45. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> und danke<br />
Ihnen, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind. Ich freue mich besonders,<br />
daß ich mit den Kollegen Prof. Vobruba und Sass zwei neue Mitglieder des<br />
Ausschusses VI in unseren Reihen begrüßen darf. Ich hoffe, daß wir im Verlaufe<br />
der Tagung Gelegenheit haben werden, uns gegenseitig näher kennen<br />
zu lernen.<br />
Ich begrüße ganz herzlich den alten und auch den neuen Präsidenten des<br />
Bundesamts für <strong>Zivilschutz</strong>, Herrn Schuch und Herrn Dusch. Lieber Herr<br />
Schuch, Sie kennen die <strong>Schutzkommission</strong> ja aus früheren Begegnungen<br />
auf Jahrestagungen. Ich hoffe, daß Sie der Arbeit der Kommission in ähnlicher<br />
Weise verbunden sind wie Ihr Vorgänger, der sich unermüdlich für<br />
unsere Belange eingesetzt hat. Daß diese Verbundenheit für die Kommission<br />
weit über das dienstlich Gebotene hinausging und geht, möge Ihnen die<br />
Tatsache beweisen, daß wir uns in diesem Jahr in Nürnberg, nicht allzu weit<br />
entfernt von der neuen Wirkungsstätte von Hans Georg Dusch treffen. Lieber<br />
Hans Georg, für die örtliche Organisation dieser Tagung in Nürnberg<br />
möchte ich Dir im Namen der Kommission, aber auch ganz persönlich meinen<br />
herzlichen Dank aussprechen.<br />
Ich begrüße ganz herzlich unter uns Ministerialdirektor Dr. Kass vom Bundesinnenministerium.<br />
Sie, lieber Herr Kass haben sich – wenngleich nicht<br />
mehr zuständig – dankenswerterweise bereit erklärt, uns über die konkreten<br />
Inhalte und den Gesetzgebungsstand für das unter Ihrer Regie erarbeitete<br />
<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz zu informieren. Das Gesetz wird sicher über<br />
die nächsten Jahre hinweg die Richtung im <strong>Zivilschutz</strong> und in der Kommission<br />
bestimmen, und wir sind natürlich sehr daran interessiert, die neue<br />
Geschäftsgrundlage für den <strong>Zivilschutz</strong> allgemein und die zukünftige Arbeit<br />
der Kommission von Ihnen zu erfahren. Sie lösen damit das Versprechen<br />
ein, das Sie uns anläßlich der Mitgliederversammlung in Ahrweiler gegeben<br />
haben.<br />
Wir selbst haben – wie mit Ihnen besprochen – mit der Erstellung eines<br />
Gefahrenberichts begonnen, in dem unsere gegenwärtige Einschätzung zur<br />
Situation im Zivil- und Katastrophenschutz klar zum Ausdruck kommt. Der<br />
Bericht, der Gegenstand dieser Jahrestagung ist, soll auch deutliche Hinweise<br />
und Empfehlungen zur Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung<br />
beinhalten und so dazu beitragen, die im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgegesetz<br />
z.T. noch wenig konkret beschriebenen Rahmenbedingungen des zukünftigen<br />
<strong>Zivilschutz</strong>es zu tragfähigen Lösungen fortzuentwickeln. Wir beabsichtigen,<br />
die Ergebnisse der Diskussion des jetzt vorliegenden Berichts in<br />
11
dessen Endfassung mit zu berücksichtigen. Dies soll noch vor der Sommerpause<br />
der Fall sein. Vom Bundesinnenministerium und vom Bundesamt<br />
für <strong>Zivilschutz</strong> erwarten wir dann allerdings, daß sie zu den aufgeworfenen<br />
Fragen und den Empfehlungen klar Stellung beziehen und daß der im<br />
Bericht aufgezeigte <strong>Forschung</strong>s- und Beratungsbedarf wieder zu einem<br />
gemeinsamen Handeln im Bereich der <strong>Zivilschutz</strong>forschung in der Bundesrepublik<br />
führt. Die Reaktion des Ministeriums wird letztlich auch entscheidend<br />
dafür sein, ob es für die Kommission auch weiterhin sinnvoll<br />
erscheint, für das Ministerium tätig zu sein. Ich wäre dankbar, lieber Herr<br />
Kass, wenn Sie diesen Wunsch der Kommission an Herrn Minister Kanther<br />
weiterleiten würden.<br />
Zum Gefahrenbericht selbst möchte ich an dieser Stelle nicht mehr sagen,<br />
da hierfür im Verlaufe der Tagung noch genügend Gelegenheit besteht.<br />
Eines liegt mir aber doch am Herzen: ich hätte nicht erwartet, daß das Engagement<br />
der Kommission in dieser Sache so hoch ist. Es gingen nach der<br />
Mitgliederversammlung im Oktober letzten Jahres eine so große Zahl von<br />
Stellungnahmen ein, daß es den Mitgliedern der Arbeitsgruppe in kurzer<br />
Zeit gelang, den Ihnen jetzt allen vorliegenden Entwurf des Gefahrenberichts<br />
zu erstellen. Hierfür möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen herzlich<br />
danken. Diese Art der Kooperations- und Einsatzbereitschaft entspricht<br />
zwar ganz dem Geiste der staatsbürgerlichen Verantwortung, deren sich die<br />
Mitglieder der Kommission stets verpflichtet fühlten. Doch ist dies in der<br />
heutigen Zeit nicht selbstverständlich, manche mögen sagen nicht mehr<br />
zeitgemäß. Ein solches Engagement ist auch auf Dauer nicht zu leisten,<br />
ohne eine langfristig tragfähige Geschäftsgrundlage zu haben. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />
hat nie einen Hehl daraus gemacht, daß die ständige wissenschaftliche<br />
Beschäftigung mir den hier einschlägigen Fragen einen wesentlichen<br />
Bestandteil dieser Geschäftsgrundlage bildet. Diese Voraussetzung<br />
erscheint mir besonders in diesen Zeiten wichtig zu sein, in denen aktives<br />
Handeln des <strong>Zivilschutz</strong>es weitgehend durch planerische Überlegungen<br />
ersetzt werden soll.<br />
Um unsere Arbeit erfüllen zu können, benötigen wir auch in Zukunft eine<br />
weisungsungebundene, wissenschaftliche Geschäftsführung. Bis heute ist<br />
diese Mindestvoraussetzung gegeben. Ich hoffe, daß wir bald verbindliche<br />
Aussagen darüber erhalten, wie es hier weitergehen soll, und wie die<br />
zukünftige Geschäftsgrundlage aussieht.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus der <strong>Schutzkommission</strong>: die mit dem<br />
Bericht verbundene Erwartungshaltung ist durchaus groß. Falls es nicht jetzt<br />
gelingt, eine tragfähige Basis für die zukünftige Arbeit zu finden, scheint mir<br />
die Grundlage für die Existenz der Kommission nicht mehr gegeben zu sein.<br />
Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich in einem solchen Fall als Vorsitzender<br />
einfach so weiter machen könnte wie in den letzten Jahren. Dies war letztlich<br />
der Grund dafür, daß wir uns ohne große Beteiligung von außen im Sinne<br />
einer wissenschaftliche Disputation innerhalb der <strong>Schutzkommission</strong> mit<br />
der gegenwärtigen Situation des Zivil- und Katastrophenschutzes ausein-<br />
12
andersetzen. In den Kreis der <strong>Schutzkommission</strong> schließe ich bewußt ein das<br />
Bundesbauministerium, das durch Herrn Bong vertreten ist, und das Bundesamt<br />
für <strong>Zivilschutz</strong>, das uns mit Herrn Dr. Kutschbach einen Experten auf<br />
dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln zur Verfügung<br />
gestellt hat. Beide Herren möchte ich in diesem Kreise herzlich<br />
begrüßen.<br />
Meine Damen und Herren, es ist ein Brauch, wichtigen Ereignissen in regelmäßigen<br />
Abständen zu gedenken. Das Jahr 1996 scheint mir das Jahr „zehn<br />
Jahre nach Tschernobyl“ zu sein. Landauf, landab wurde dieses Ereignis in<br />
Erinnerung gerufen und über Wochen und Monate hinweg in unterschiedlichster<br />
Weise bewertet. Ich möchte hier nicht den unwürdigen Streit um die<br />
Zahl der theoretischen und der tatsächlichen Opfer dieser Katastrophe kommentieren.<br />
Jeder einzelne Todesfall verdient unsere Anteilnahme. Auch<br />
möchte ich nicht in den Chor derjenigen einstimmen, die nüchtern distanziert<br />
anhand der jetzt vorliegenden umfassenden Bestandsaufnahme in den<br />
betroffenen Gebieten feststellen, daß alle Aufregungen abgesehen „von ein<br />
paar lästigen, das Gesamtbild etwas störenden Schilddrüsenkarzinomen“,<br />
eigentlich völlig unnötig waren.<br />
Ich möchte Ihnen vielmehr zu diesem Ereignis einige persönliche Eindrücke<br />
vermitteln: Als sich die <strong>Schutzkommission</strong> am 8.Mai 1986 zu ihrer<br />
35. Jahrestagung in Freiburg traf, waren die Eindrücke der Katastrophenfolgen<br />
in unserem Land noch allgegenwärtig und gehörten zu den Fragen<br />
des täglichen Lebens. Es ist interessant, die damaligen Äußerungen aus<br />
heutiger Sicht noch einmal zu lesen. Der damalige Vorsitzende der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />
Herr Kollege Pohlit, der in seiner Funktion als Vorsitzender<br />
des Notfallauschusses der Strahlenschutzkommission unmittelbar mit der<br />
Erarbeitung von Empfehlungen zum Schutze der Bevölkerung befaßt war,<br />
berichtete über die aktuelle Situation der Lageermittlung und -bewältigung<br />
in der Bundesrepublik. Auf dem Hintergrund der Eindrücke des zu diesem<br />
Zeitpunkt etwa eine Woche andauernden Geschehens richtete er sich an die<br />
Kommission mit der Feststellung: „Wäre die Anlage in Tschernobyl nicht<br />
ein Kernreaktor gewesen sondern z. B. ein Werk der chemischen Industrie,<br />
aus dem toxische Substanzen in die Bundesrepublik gelangten, dann hätte<br />
nicht die Strahlenschutzkommission sondern die <strong>Schutzkommission</strong> tätig<br />
werden müssen“. Er fügte dem nicht die bange Frage hinzu: „Und was<br />
dann?“ Ich kann mich aber noch gut daran erinnern, daß sich viele Mitglieder<br />
exakt diese Frage stellten. Sie ist heute noch schwieriger zu beantworten<br />
als vor zehn Jahren.<br />
Der Rektor der Universität Freiburg hat in seiner Begrüßungsansprache vor<br />
zehn Jahren ein zentrales Problem von Tschernobyl angesprochen, nämlich<br />
das der Information der Öffentlichkeit. Er hat über seine Erfahrungen an der<br />
Universität berichtet und die Reaktionen, die durch fehlende Information<br />
bei der Bevölkerung ausgelöst werden können. Er berichtete: „Laufend<br />
kommen Anrufe an; einer ist besorgter als der andere“. Diese Erfahrung aus<br />
dem Mai 1986, weit entfernt vom Unglücksort Tschernobyl im frühlings-<br />
13
haften Freiburg hat sich aus Distanz betrachtet als eines der größten Probleme<br />
bei der Bewältigung der Unglücksfolgen erwiesen. Es gibt viele, die<br />
behaupten, die <strong>Folge</strong>n der durch fehlende oder falsche Information hervorgerufenen<br />
Ängste bei den betroffenen Menschen seien weit gravierender als<br />
die medizinischen <strong>Folge</strong>n der Strahlenbelastung. Tatsache ist, daß viele der<br />
auch noch zehn Jahre nach dem Unglück zu beobachtenden Reaktionen in<br />
der Öffentlichkeit äußerst irrational erscheinen und sicher mehr ausdrücken<br />
als das allgemein bekannte und weit verbreitete Unbehagen gegenüber<br />
allem, was strahlt.<br />
Warum habe ich gerade diese beiden Beispiele von Reaktionen anläßlich<br />
der Jahrestagung von vor zehn Jahren erwähnt? Nun, sie erscheinen mir in<br />
vielfältiger Weise typisch zu sein für die Probleme, die wir beim Umgang<br />
mit Menschen in Extremsituationen erwarten müssen, und die letztendlich<br />
ausschlaggebend sein werden für Erfolg oder Mißerfolg von Maßnahmen<br />
zum Schutz der Menschen. Jede noch so perfekte und in der Sache richtige<br />
Schutzmaßnahme muß zum Scheitern verurteilt sein, wenn sie von den<br />
Betroffenen nicht akzeptiert wird. Da staatlichem Handeln immer und gerade<br />
in Extremsituationen von weiten Teilen der Bevölkerung mit kritischer<br />
Distanz begegnet wird, scheint es mir wichtig zu sein, Konzepte für den<br />
Umgang mit den betroffenen Menschen in solchen Situationen stärker in die<br />
Überlegungen zur Gefahrenabwehr mit einzubeziehen, als dies nach Tschernobyl<br />
der Fall war. Dies gilt sowohl für die Einheiten der Gefahrenabwehr<br />
als auch für die politisch Verantwortlichen. Ich will hiermit nicht die vielfältigen<br />
Anstrengungen sowohl in unserem Lande als auch international zur<br />
Verbesserung der Grundlagen und der technisch-materiellen Voraussetzungen<br />
zur Verhinderung bzw. Bewältigung solcher Ereignisse mindern. Es ist<br />
mir aber, zehn Jahre nach Tschernobyl mehr denn je bewußt geworden, daß<br />
diese sicherlich notwendigen organisatorischen und materiellen Voraussetzungen<br />
nicht hinreichend sind für eine erfolgreiche Abwehr von Gefahren<br />
für die Bevölkerung. Wir müssen den Fragen im Umgang mit der Öffentlichkeit<br />
in Zukunft sicherlich größere Aufmerksamkeit widmen.<br />
Bleibt die Frage von Herrn Pohlit: „Und wie würde die <strong>Schutzkommission</strong><br />
in einem solchen Fall funktionieren oder allgemeiner: wie würde der <strong>Zivilschutz</strong><br />
funktionieren?“.<br />
Meine Begrüßung endet mit dieser Frage.<br />
Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, diese Frage im Verlaufe dieser Tagung<br />
beantworten zu können. Ich danke Ihnen.<br />
14
Grußworte des Bundesministers des Innern<br />
und Vorstellung des Regierungsentwurfs des<br />
<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />
Rüdiger Kass<br />
Vielen Dank, Herr Vorsitzender, für Ihre Einladung zur 45. Jahrestagung<br />
und die freundliche Begrüßung. Auch ich möchte Sie, meine Damen und<br />
Herren von der <strong>Schutzkommission</strong> und die weiteren Anwesenden, herzlich<br />
begrüßen.<br />
Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema „<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz“<br />
komme, gestatten Sie mir zunächst eine persönliche Bemerkung: Der Bundesminister<br />
des Innern hat mir am 1. April 1996 die Leitung der Abteilung<br />
„Bundesgrenzschutz“ übertragen. Damit endete offiziell meine Zuständigkeit<br />
für die zivile Verteidigung und den <strong>Zivilschutz</strong>. Gleichwohl freue ich<br />
mich, heute bei Ihnen sein und mich mit diesem Grußwort von Ihnen verabschieden<br />
zu können.<br />
Bundesminister Manfred Kanther hat mich gebeten, Ihnen seine persönlichen<br />
Grüße zur diesjährigen Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> und<br />
seine besten Wünsche für die weitere Arbeit zu übermitteln.<br />
Ihre diesjährige Tagung ist besonders den Themen des Gefahrenberichts<br />
gewidmet, dessen Erarbeitung Sie bei Ihrem letzten Zusammentreffen im<br />
Herbst vergangenen Jahres beschlossen hatten. Für die Weiterentwicklung<br />
der Gefahrenprävention und Gefahrenrepression wird der Bericht wesentliche<br />
Impulse geben. Es ist ein eindrucksvoller Beweis für Ihr großes persönliches<br />
Engagement, daß die Arbeit an dem Bericht in so kurzer Zeit<br />
soweit vorangekommen ist. Hierfür möchte ich Ihnen – auch im Namen des<br />
Ministers – herzlich danken.<br />
Besonders danken möchte ich Ihnen, meine Damen und Herren von der<br />
<strong>Schutzkommission</strong>, auch für Ihren Bericht zum Thema „Chemische Kampfstoffe<br />
in der Ostsee“. Mit der Aufarbeitung dieser komplexen Problematik<br />
hat die <strong>Schutzkommission</strong> der Bundesregierung wertvolle Erkenntnisse und<br />
Entscheidungshilfen an die Hand gegeben. Der Bericht ist Ausdruck des<br />
hohen interdisziplinären Sachverstandes der Kommission und der humanitären<br />
Zielrichtung ihrer Arbeit.<br />
Ich bin Ihrer Einladung sehr gerne gefolgt.<br />
Zum einen möchte ich Ihnen sehr herzlich danken:<br />
– für die gute Zusammenarbeit in den vergangenen 2 1/2 Jahren, in denen<br />
ich im BMI für die Neuorganisation des <strong>Zivilschutz</strong>es zuständig war;<br />
– für Ihre Aufgeschlossenheit, auf veränderte Rahmenbedingungen für die<br />
Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> einzugehen;<br />
15
– für Ihre Bereitschaft, Ihre fachliche und persönliche Kompetenz in den<br />
Dienst dieser humanitären Aufgabe zu stellen.<br />
In diesen Dank schließe ich ausdrücklich und besonders auch die neuberufenen<br />
Mitglieder der <strong>Schutzkommission</strong> ein.<br />
Zum zweiten möchte ich Ihnen die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es – insbesondere<br />
das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz – erläutern.<br />
Und schließlich möchte ich einige Bemerkungen zur weiteren Arbeit der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> machen.<br />
Meine Damen und Herren<br />
am 23. April 1996 hat das Bundeskabinett den Gesetzentwurf für ein <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />
beschlossen und dem Gesetzgeber zur Beratung<br />
und Beschlußfassung übermittelt.<br />
Wir haben in den vergangenen zwei Jahren intensiv an der Neuorganisation<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es gearbeitet. Wir haben viel Überzeugungsarbeit leisten<br />
müssen: gegenüber den Ländern, den Hilfsorganisationen, den politischen<br />
Gremien und nicht zuletzt den von der Reform unmittelbar betroffenen<br />
hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern. Wir hatten schwierige<br />
Entscheidungen zu treffen, Verkrustungen aufzubrechen und erhebliche<br />
Widerstände zu überwinden.<br />
Ich will dies nicht im einzelnen nachzeichnen, sondern an dieser Stelle<br />
einige generelle Punkte ansprechen, die nicht zivilschutzspezifisch sind,<br />
sondern eher allgemein kennzeichnend für unsere heutige Schwierigkeit,<br />
mit notwendigen Veränderungen umzugehen. In vielen Bereichen, die uns<br />
unmittelbar berühren, gibt es objektive Veränderungszwänge, die sich<br />
unmittelbar auf unsere persönlichen Lebensverhältnisse auswirken: Ich<br />
nenne beispielhaft<br />
– die weltpolitischen Veränderungen nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation<br />
– die Wiedervereinigung unseres Landes<br />
– die weltweiten Wanderungsströme<br />
– die wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen, die sich auf<br />
unsere wirtschaftliche Situation nachhaltig auswirken<br />
– die veränderten sicherheitpolitischen Rahmenbedingungen – international<br />
und national: vom Jugoslawien-Konflikt bis zur Kurdenproblematik,<br />
von der organisierten Kriminalität bis zur Sicherheit von Castor-Transporten.<br />
Dies ist natürlich keine abschließende Aufzählung. Aber dies alles bedeutet<br />
vielfältigen Veränderungsstreß für viele Menschen in unserem Lande. Ich<br />
16
denke, es wird entscheidend sein, wie wir alle mit diesen Veränderungen<br />
umgehen und zurechtkommen.<br />
Konkret geht es dabei um das Infragestellen von Besitzständen, von persönlichen<br />
und beruflichen Gewohnheiten und nicht zuletzt auch von Standorten,<br />
also auch von Wohnorten. Es geht also um Flexibilität und Mobilität<br />
– nicht nur beim anderen, beim Freund und Nachbarn, sondern in vielen<br />
Fällen bei uns selbst.<br />
Das ist – kurz umrissen – das zentrale politische Problem unserer Tage: wie<br />
wir uns auf notwendige Veränderungen einlassen. Der <strong>Zivilschutz</strong> steht<br />
insofern zur Zeit nicht im Vordergrund, die anstehende Neuorganisation des<br />
Bundesgrenzschutzes, der mit seinen 40 000 Angehörigen bei einem Haushaltsvolumen<br />
von 3 Milliarden DM als Polizei des Bundes eine wichtige<br />
Aufgabe bei der Inneren Sicherheit unseres Landes zu erfüllen hat, ist dagegen<br />
von aktueller Bedeutung.<br />
Zurück zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es. Wir waren von der Richtigkeit<br />
unseres Weges und der Notwendigkeit der Veränderungen überzeugt. Und<br />
wir standen unter einem erheblichen Druck, Haushaltseinsparungen zu<br />
erzielen.<br />
Worum geht es konkret?<br />
– Es geht darum, die gesamte <strong>Zivilschutz</strong>materie in einem einzigen Gesetz<br />
zusammenzufassen. Das alte Recht ist unübersichtlich und unsystematisch<br />
in drei verschiedenen Gesetzen geregelt. Das neue Gesetz dient auch<br />
der Rechtsbereinigung und der Verwaltungsvereinfachung und ist somit<br />
ein wichtiger Beitrag zum „Schlanken Staat“ – einer Schwerpunktaufgabe<br />
für diese Legislaturperiode. Ziel ist es, staatliches Handeln effizienter zu<br />
machen, auf das notwendige Maß zu beschränken und Kosten zu senken.<br />
Die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es und der vorliegende Gesetzentwurf<br />
werden diesen Vorgaben in besonderer Weise gerecht.<br />
– Es geht darum, eine engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es, für den der<br />
Bund zuständig ist, mit dem friedensmäßigen Katastrophenschutz, für<br />
den die Länder zuständig sind, zu erreichen. Unter Verzicht auf bisherige<br />
Sonderstrukturen bei Organisation, Ausbildung und Instandsetzung<br />
akzeptiert der Bund zukünftig die von den Ländern für ihren Katastrophenschutz<br />
geschaffenen Strukturen und beschränkt sich darauf, diese für<br />
Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es durch Beschaffung spezieller Ausstattung und<br />
durch Finanzierung zivilschutzbezogener Ausbildungsinhalte im Rahmen<br />
einer integrierten Katastrophenschutzausbildung zu ergänzen. Der Bund<br />
konzentriert diese Ergänzungsmaßnahmen auf die im <strong>Zivilschutz</strong>fall<br />
besonders wichtigen Bereiche Brandschutz, Sanitätswesen, Betreuung<br />
und ABC-Schutz. Der Bund verzichtet zukünftig auf die Aufstellung<br />
besonderer <strong>Zivilschutz</strong>einheiten.<br />
– Es geht um eine Zusammenfassung der für den <strong>Zivilschutz</strong> zuständigen<br />
Behörden und nicht zuletzt um die Auflösung des Bundesverbandes für<br />
den Selbstschutz.<br />
17
– Für den Bereich der Bergung hält der Bund weiterhin das Technische<br />
Hilfswerk vor, das den Katastrophenschutz der Länder und Kommunen<br />
verstärkt.<br />
– Das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> wird auch in Zukunft für die technisch<br />
wissenschaftliche <strong>Zivilschutz</strong>forschung und die Auswertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />
zuständig sein. Darüber hinaus wird der Bereich der<br />
Ausbildung künftig ein besonderer Schwerpunkt des Amtes sein. Die<br />
Aufgaben der verschiedenen Ausbildungseinrichtungen im Bereich des<br />
<strong>Zivilschutz</strong>es werden in einer zentralen Ausbildungsstätte des Bundes<br />
beim BZS zusammengefaßt.<br />
– Der Selbstschutz soll neu geordnet werden, als verteidigungsbezogene<br />
Vorsorge bleibt er in der Verantwortung der Gemeinden. Der Bundesverband<br />
für den Selbstschutz soll mit Wirkung vom 1. Januar 1997 durch eine<br />
Bestimmung des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes aufgelöst werden; d.h.<br />
das Gesetz muß noch im Laufe dieses Jahres in Kraft treten.<br />
Ich will gar nicht verschweigen, daß die beabsichtigte Auflösung des Bundesverbandes<br />
für den Selbstschutz zunächst auf erhebliche Widerstände<br />
stieß. Der kostenaufwendige Verband ist jedoch nach den Erfahrungen der<br />
letzten Jahre entbehrlich geworden. Wir können dem Selbsthilfegedanken<br />
eine breitere Akzeptanz dadurch verschaffen, daß die allgemein bekannten<br />
Sanitätsorganisationen ihre Erste-Hilfe-Ausbildung um selbstschutzbezogene<br />
Inhalte erweitern und dafür vom Bund eine gezielte finanzielle<br />
Förderung erhalten. Damit unterstützt der Bund gleichzeitig die Maßnahmen<br />
der Länder und Kommunen zur Aufklärung der Bevölkerung<br />
über sachgerechtes Verhalten bei Unglücksfällen und Katastrophen. Die<br />
Auflösung des BVS ist für die Aufgabenerfüllung sinnvoll, sie war<br />
fiskalisch geboten, sie stellt uns allerdings – gerade in diesen Zeiten – vor<br />
schwierige Aufgaben beim Personalabbau, den wir ohne Kündigungen zu<br />
bewältigen haben.<br />
Stichwortartig einige Anmerkungen zu wichtigen Teilbereichen unserer<br />
Reform:<br />
– Die Sicherheitslage und die technische Entwicklung rechtfertigen nicht<br />
mehr die Vorhaltung des aufwendigen und nur für den Verteidigungsfall<br />
bestimmten bundeseigenen Warndienstes – mit 10 Warnämtern, mehreren<br />
Verbindungsstellen zu militärischen Einrichtungen, mit 300 Mitarbeitern<br />
und ca. 1500 Helfern.<br />
18<br />
Dieser bisherige Warndienst soll deshalb aufgelöst werden. Stattdessen<br />
wird sich der Bund künftig auch in diesem Bereich auf das Potential stützen,<br />
das Bund und Länder für Notfälle im Frieden vorhalten; die Länderbehörden<br />
führen die verteidigungsbezogene Warnung dann im Auftrag<br />
des Bundes durch. Dabei wird die Warnung über Rundfunk und Fernsehen<br />
im Vordergrund stehen.
– Die Schutzraumbauförderung wird eingestellt. Das neue Schutzbaurecht<br />
wird beschränkt auf die Erhaltung und die Verwaltung der mit öffentlichen<br />
Mitteln bereits gebauten oder geförderten Schutzräume. Der Schutzraumbau<br />
ist immer ein Torso geblieben; große Teile des Schutzbaugesetzes<br />
von 1965 sind nie in Kraft getreten; eine Schutzbaupflicht hat es<br />
somit weder für den Bürger noch für den Staat jemals gegeben. Die bisherigen<br />
außerordentlich teuren Förderungsmaßnahmen des Staates haben<br />
Schutzräume für gerade einmal drei bis vier Prozent der Bevölkerung<br />
geschaffen. Angesichts der gegenwärtigen Sicherheits- und Finanzsituation<br />
ist eine solche immens teure, aber letztlich ineffektive Schutzraumbauförderung<br />
nicht mehr zu rechtfertigen.<br />
– Auf die Bereitstellung spezieller Hilfskrankenhäuser wird im Hinblick auf<br />
die in ausreichendem Maße vorhandenen Behandlungskapazitäten in<br />
Akutkrankenhäusern künftig verzichtet. Auch die Beschaffung von Ausstattungsgegenständen<br />
und ärztlichem Gerät für diesen Zweck wird eingestellt.<br />
Die ungeschützten Objekte sind bereits aus der <strong>Zivilschutz</strong>bindung<br />
entlassen worden; die vorhandenen voll- und teilgeschützten Objekte<br />
werden als Schutzbauwerke in ihrem Bestand erhalten.<br />
– Schließlich ist auch eine dauernde Bevorratung umfangreichen Sanitätsmaterials<br />
angesichts der veränderten Sicherheitslage künftig nicht mehr<br />
notwendig.<br />
Mir ist folgende Feststellung noch besonders wichtig:<br />
Der Bund hält daran fest, daß die freiwilligen Helfer auch in Zukunft das<br />
tragende Element im Zivil- und Katastrophenschutz sind. Hilfsorganisationen<br />
und übrige Einrichtungen des Katastrophenschutzes leben ganz überwiegend<br />
vom ehrenamtlichen Engagement, den Ideen, der Fachkompetenz<br />
und der Einsatzbereitschaft ihrer freiwilligen Helfer. Dieses Engagement<br />
gilt es uneingeschränkt zu sichern – auch durch die Möglichkeit der Freistellung<br />
vom Wehrdienst für junge Männer unter 25 Jahren, die sich für<br />
mindestens sieben Jahre als ehrenamtliche Helfer im Zivil- oder Katastrophenschutz<br />
verpflichten.<br />
Das Ehrenamt ist von herausragender gesellschaftspolitischer Bedeutung.<br />
Ohne das Ehrenamt wären wesentliche Aktivitäten, z.B. in den Bereichen<br />
des Sports, der Kirchen und der Hilfsorganisationen, nicht denkbar. Dies<br />
wird oft übersehen. Es gilt daher, dieses wesentliche sozialpolitische Funktionselement<br />
– mehr als bisher – durch öffentliche Anerkennung seitens der<br />
Politik und der Gesellschaft nachhaltig zu stärken und zu fördern.<br />
Zusammenfassend kann ich feststellen:<br />
– Die Reform des <strong>Zivilschutz</strong>es ist sachlich geboten, sie trägt zugleich den<br />
Notwendigkeiten einer konsequenten Sparpolitik Rechnung. Seit 1992 ist<br />
der <strong>Zivilschutz</strong>etat jährlich um knapp 400 Millionen DM verringert worden,<br />
insgesamt konnten seither mehr als 1,1 Milliarden DM eingespart<br />
werden.<br />
19
– Die Neukonzeption baut überflüssige Bürokratien ab. Die Auflösung<br />
nicht mehr benötigter Einrichtungen und die kritische Durchforstung der<br />
Stellenpläne schafft kleinere aber effektive Verwaltungen. Die bisher vier<br />
<strong>Zivilschutz</strong>behörden des Bundes werden auf nur noch zwei reduziert: Die<br />
Bundesanstalt Technisches Hilfswerk und das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>.<br />
Insgesamt konnten seit 1992 mehr als 1 000 Stellen im Gesamtbereich des<br />
<strong>Zivilschutz</strong>es in Bund und Ländern sozialverträglich abgebaut werden;<br />
der Abbau weiterer rund 800 Stellen ist geplant.<br />
– Diese grundlegende Neustrukturierung des <strong>Zivilschutz</strong>es – ich denke dies<br />
ist durch meine Ausführungen deutlich geworden – war ein politischer<br />
Kraftakt. Natürlich konnten dabei keine Beliebtheitspreise gewonnen<br />
werden. Das Vorhaben beweist jedoch die Fähigkeit zu einer sachlich<br />
begründeten Reform, die dazu dient, staatliche Strukturen veränderten<br />
Rahmenbedingungen anzupassen und sie im Interesse des Ganzen schlanker<br />
und effizienter zu machen.<br />
Meine Damen und Herren<br />
gestatten Sie mir abschließend einige kurze Anmerkungen zur weiteren<br />
Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong>. Ich denke, daß Sie von mir hierzu eine Aussage<br />
erwarten:<br />
– Nach unserem Konzept zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es soll die Beratungsfunktion<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> nicht nur erhalten, sondern eher<br />
verstärkt werden.<br />
20<br />
Wir denken allerdings nicht nur an eine Intensivierung des Status quo,<br />
sondern an eine naheliegende Anreicherung der Aufgabenstellung:<br />
– Wie Sie wissen, gibt es seit 1992 Überlegungen, die Zusammenarbeit von<br />
Bund und Ländern auf dem Gebiet der <strong>Zivilschutz</strong>- und Katastrophenschutzforschung<br />
zu verstärken. Dementsprechend werden die Länder über<br />
die vorgesehenen <strong>Forschung</strong>svorhaben informiert und an den Beratungen<br />
der projektbegleitenden Arbeitsgruppen beteiligt, um eigene fachliche<br />
Aspekte einzubringen. Diese Zusammenarbeit hat sich erfreulich entwickelt.<br />
– Allerdings gibt es noch keine Berücksichtigung von Länderbelangen bei<br />
der Auswahl von <strong>Forschung</strong>sthemen und auch keine Durchführung<br />
gemeinsamer <strong>Forschung</strong>sprojekte. Wir alle wissen, daß solche Überlegungen<br />
rasch auch Fragen einer anteiligen Finanzierung aufwerfen.<br />
– Ich habe keine Patentlösung. Aber ich hielte weitere Überlegungen und<br />
gemeinsame Anstrengungen für sinnvoll, um die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in ihrer Aufgabenstellung, in ihrem Selbstverständnis und vielleicht<br />
auch in ihrer organisatorischen Zuordnung so anzureichern, daß<br />
nicht nur zivilschutz- sondern auch katastrophenschutzbezogene Themen<br />
und Gefahrenlagen bewußt einbezogen werden.
– Wir haben über diesen Punkt in der letzten Abteilungsleiter-Konferenz<br />
aus Bund und Ländern Ende März in Dresden – im sogenannten Arbeitskreis<br />
V der Innenministerkonferenz – sehr konstruktiv diskutiert.<br />
– Ich möchte Sie, meine Damen und Herren der <strong>Schutzkommission</strong>, ausdrücklich<br />
ermuntern, diese Überlegungen auch Ihrerseits konstruktiv aufzunehmen.<br />
Für die <strong>Schutzkommission</strong> eröffnen diese Überlegungen:<br />
– eine weiterreichende Perspektive für Ihre Arbeit<br />
– einen deutlich höheren fachlichen Stellenwert im Bereich der Gefahrenprävention<br />
und Gefahrenabwehr<br />
und schließlich:<br />
– auch eine stärkere öffentliche Wahrnehmung und Beachtung Ihrer<br />
Arbeit.<br />
Herr Vorsitzender,<br />
meine Damen und Herren,<br />
mit diesen Bemerkungen möchte ich mich von Ihnen verabschieden. Mein<br />
bevorzugtes Arbeitsfeld in der nächsten Zeit werden die vielfältigen und<br />
schwierigen Probleme des Bundesgrenzschutzes sein.<br />
Ich werde dennoch mit Interesse verfolgen, wie der Entwurf des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />
die parlamentarischen Gremien durchläuft und<br />
wie sich die weitere Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> entwickeln wird.<br />
In diesem Sinne danke ich Ihnen herzlich und wünsche Ihnen persönlich<br />
und beruflich alles Gute.<br />
21
Der „kundenorientierte“ Ansatz im Zivil- und<br />
Katastrophenschutz<br />
Das Beispiel der Federal Emergency Management Agency<br />
(FEMA) in den USA<br />
Wolf R. Dombrowsky<br />
Die Ausgangslage<br />
Ende der 80er Jahre, noch während der Amtsperiode Präsident Reagans,<br />
wurde die oberste <strong>Zivilschutz</strong>behörde der Vereinigten Staaten, die Federal<br />
Emergency Management Agency (FEMA), vor die Aufgabe gestellt, ihre<br />
Arbeit grundsätzlich zu überdenken und neu zu definieren. In die veränderte<br />
Außen-, Militär- und Bündnispolitik, die sich von der sogenannten Strategic<br />
Defense Initiative (SDI) und parallelen Abrüstungsverhandlungen<br />
(SALT I, START) mit der UdSSR über eine neue pazifische Orientierung<br />
bis hin zur Modernisierung ganzer Waffensysteme und neuen Aufgabenverteilungen<br />
innerhalb der NATO erstreckte, sollte auch das Zivilverteidigungskonzept<br />
einbezogen werden.<br />
Betrachtet man jedoch die organisatorischen und inhaltlichen Veränderungen,<br />
die die FEMA daraufhin vornahm, so lassen sich nur die wenigsten mit<br />
diesen außen-, sicherheits- und militärpolitischen Vorgaben und den daraus<br />
resultierenden Budgetkürzungen erklären. Statt mit einem bloßen Spar- und<br />
Kürzungsprogramm zu reagieren, entwickelte die FEMA eine grundlegend<br />
neue, eigenständige Politik, die sich am zutreffendsten als kundenorientierte<br />
Servicestrategie kennzeichnen läßt.<br />
Insofern ist es aus heutiger Sicht interessant, daß die „große Politik“ zwar<br />
neue Rahmenbedingungen gesetzt und eine weltweite öffentliche Debatte<br />
über Atomkrieg („star wars“) und Zivilverteidigung initiiert hatte, aber die<br />
FEMA, wie sich im Rückschluß aus ihren Maßnahmen ergibt, ganz anderen<br />
Erfordernissen Rechnung trug. Tatsächlich nämlich stand die FEMA bereits<br />
seit Jahren unter zunehmendem innenpolitischen Druck. Kritik kam von den<br />
Medien, aber auch von den im Zivil- und Katastrophenschutz mitwirkenden<br />
Organisationen und ganz besonders aus der Bevölkerung, von dort also, wo<br />
die FEMA bei Großschadensfällen und Katastrophen in Erscheinung tritt und<br />
Hilfe leisten soll. Die Leistungen wurden durchweg als mangelhaft beurteilt.<br />
Sie galten als unflexibel, bürokratisch, zu spät erbracht, zu kompliziert, unverständlich,<br />
kurz: den Betroffenen nicht oder nur wenig nützlich. Warum also<br />
sollten Bürger eine Einrichtung gutheißen, die ihnen nicht nützt?<br />
Die Reformarbeit der FEMA<br />
„Der erste Schritt war der schwerste“, so FEMA-Deputy Director Harvey<br />
G. Ryland (in einem Gespräch mit dem Autor) zur damaligen Situation:<br />
23
„Wir mußten die Hintertürchen verschließen, damit nicht immer wieder<br />
nach Schuldigen gesucht wurde, vor allem außerhalb, bei den Kritisierenden<br />
selbst. Es ist verlockend, ihnen die Kompetenz abzusprechen, oder sie<br />
als zu begierig und ohne Eigeninitiative darzustellen. Das alles wollten wir<br />
nicht. Wir wollten mit einem Grundsatz erfolgreicher Unternehmensführung<br />
beginnen: Jede Beschwerde ist ein Verbesserungsvorschlag und<br />
alles läßt sich verbessern, verbessern und nochmals verbessern.“<br />
Die FEMA versuchte also, wie ein Unternehmen zu reagieren, das Marktanteile<br />
verliert. Auch dort nützt keine Kundenschelte, sondern nur ein radikaler<br />
innerer Anpassungsprozeß an tatsächliche Kundenwünsche. Beides<br />
aber ließ sich anfangs nicht geeignet zusammenbringen; weder wußte man,<br />
wie angepaßt werden soll, noch woran. Als oberste Behörde war die FEMA<br />
von den Kundenwünschen zu weit entfernt, und die Kritik, auf die man<br />
reagieren wollte und mußte, ließ sich nicht ohne Naherfahrung in Verbesserungen<br />
umsetzen. Zudem war (und ist) die FEMA ein gigantischer Mischkonzern,<br />
der Bundes-und bundesstaatliche Behörden, Schulen und Akademien,<br />
Biblio- und Videotheken, Warn- und Informationsdienste, Fuhr- und<br />
Geräteparks, Rettungs- und Hilfsdienste, Hilfsprogramme, Schutzräume,<br />
eine umfassende Evakuierungsinfrastruktur sowie Maßnahmen und Einsatzmittel<br />
für den Kriegsfall, das Katastrophenmanagement, den Wiederaufbau<br />
(reconstruction) und die Nachsorge (recovery) umfaßt (vgl. Alphabetical<br />
Index). Wie sollte hier „Kundennähe“ erfaßt und bewertet, Nutzen<br />
indiziert werden?<br />
Die Probleme und die Lösungen<br />
Die Lösung der FEMA war ausgesprochen pragmatisch. Man evaluierte nur<br />
jene Bereiche, die wirklich mit „Kunden“ in Berührung kamen, statt den<br />
gesamten „Konzern“ auf einen erst noch zu entwickelnden Prüfstand zu<br />
stellen. Dabei unterstellte man, daß sich aus der Definition von Nutzen<br />
zugleich auch Hinweise auf die Mittel ableiten lassen, mit denen er sich<br />
erzielen läßt.<br />
Mit diesem Blick auf die Klientel von Angeboten fragte sich die FEMA:<br />
1. Welche Hilfen bieten wir welchen „Kunden“ überhaupt an?<br />
2. Wem bieten wir wann welche Hilfe an?<br />
3. Wie bringen wir unsere Angebote zum Kunden?<br />
4. Wie verteilen wir unsere Hilfe vor Ort?<br />
5. Wie kontrollieren wir ihren Nutzen?<br />
Hinter diesen Fragen versteckt sich ein klassisches Schema der nordamerikanischen<br />
Katastrophenforschung, das sogenannte „stage-model“ oder auch<br />
„sequence-pattern-concept“ (vgl. Dombrowsky 1983), nach dem auch die<br />
FEMA ihre Angebote entwickelt hat. Es geht davon aus, daß Notlagen am<br />
24
esten überstanden werden können, wenn Menschen geeignet vorbereitet<br />
sind (preparedness), über Schutzkompetenz und -maßnahmen verfügen<br />
(protection, training), bestmöglich gewarnt und informiert werden (warning<br />
and information) und nach Eintritt eines Schadensereignisses bestmöglich<br />
versorgt (rescue, emergency rescue & relief, mass care) und im Anschluß<br />
mittel- und langfristige Hilfen in Anspruch nehmen können (temporary<br />
rehabilitation, recovery, reconstruction).<br />
Die FEMA strukturierte ihr Evaluierungsprogramm nach dem Muster solcher<br />
Phasen und ließ ihre Mitarbeiter in den bundesstaatlichen Niederlassungen,<br />
aber auch durch wissenschaftliche und kommerzielle Institute<br />
erforschen, welche Probleme in den einzelnen Phasen auftreten:<br />
– Preparedness<br />
Aufgrund hoher Mobilität und zunehmender Individualisierung der Lebensstile<br />
werden die „grass root“-Kenntnisse vor Ort kaum mehr kommuniziert,<br />
so daß zunehmend die basale Alphabetisierung in Selbstschutzkenntnis und<br />
Nachbarschaftshilfe verlorengeht. Einfache Merkblätter oder Broschüren<br />
bleiben zunehmend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Insbesondere<br />
soziale und ökonomische Problemgruppen erweisen sich als uninformiert<br />
und unvorbereitet.<br />
– Protection, Training<br />
Schutzmaßnahmen kosten Geld und Anstrengung. Ihre Wirksamkeit steigt<br />
mit der Integration in komplexere Zusammenhänge, z.B. durch Einbeziehung<br />
in bauliche, konstruktive, technische Maßnahmen, durch tele- oder<br />
medienkommunikative Maßnahmen (vom weather radio über Mobiltelefon<br />
oder Funk) bis hin zu Schutzräumen, Abschaltautomaten für Gas, Wasser,<br />
Strom und den Einbau von Notstromgerät und Redunandanzen. Insbesondere<br />
Trainingsmaßnahmen werden kaum akzeptiert, obgleich ein breites<br />
Angebot besteht. (Ganz anders im Bereich Selbstverteidigung, wo quer<br />
durch alle Bevölkerungsgruppen rege Gebrauch gemacht wird.)<br />
– Warning<br />
Der bundesweit bestausgestattete Bereich. Das traditionell noch immer<br />
„weather radio“ geheißene Alarm- und Informationssystem, das gefahr- und<br />
regionalspezifische Warnungen ausstrahlt und Radio- wie Fernsehempfänger<br />
automatisch einschalten kann (mit einem Zusatzgerät für ca. 20 $), wird<br />
grundsätzlich in allen Schulen, Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden<br />
eingesetzt. In alle laufenden Sendungen werden Warnungen und Informationen<br />
eingeblendet, so daß sie (ohne Zusatzgerät) von allen eingeschalteten<br />
Geräten ausgestrahlt werden.<br />
– Rescue<br />
Über das bundesweit verfügbare Notrufsystem „911“, ein Notarzt- und Rettungsdienstsystem<br />
(EMS), aber auch über verschiedene Notfallinformationssysteme<br />
(z.B. Chemtrack der chemischen Industrie; NETwork,<br />
EENET, Recovery Channel) können Betroffene Hilfen abfragen und Hilfe<br />
25
ufen. Im Katastrophenfall stehen ähnliche Kräfte und Einheiten zur Verfügung<br />
wie in der Bundesrepublik, also freiwillige, ehrenamtliche Organisationen<br />
sowie staatliche Kräfte bis hin zur Armee.<br />
– Evacuation<br />
In den USA existieren vorgeplante und gekennzeichnete Evakuierungsrouten,<br />
die teilweise ferngeschaltet werden können (Ampeln, Beleuchtung).<br />
Schulbusse und private Unternehmen übernehmen den Sammeltransport.<br />
Die Routen werden über weather radio bekanntgegeben, sie sind zumeist<br />
in Telefonbüchern abgedruckt. Verschiedene Studien haben gezeigt, daß<br />
Evakuierungen im großen und ganzen recht gut funktionieren. Auch das<br />
emergency sheltering, also die Unterbringung in Sammelunterkünften<br />
gelingt durchweg schnell und effizient. Defizite ergeben sich bei der psychischen<br />
und sozialen Betreuung („Dichtekoller“, Langeweile).<br />
– Emergency relief<br />
Die wachsende Komplexität von Katastrophenschäden, insbesondere durch<br />
„lifeline-collapses“ und Sekundär-/Tertiärschäden (Ölleckagen und Brände<br />
bei Erdbeben; Lieferausfälle und ökonomische <strong>Folge</strong>schäden; Stromausfälle<br />
und Versorgungszusammenbrüche etc.) führt zu extremen Ressourcenbeanspruchungen<br />
und länger werdenden Wartezeiten bei Hilfe und Wiederherstellung.<br />
Hier liegen die größten Unzufriedenheitspotentiale.<br />
– Emergency rescue<br />
Gleiches gilt in diesem Bereich. Da bei modernen, insbesondere urbanen<br />
Schadensfällen zumeist auch die Ressourcen ausfallen, von denen die Rettungseinrichtungen<br />
abhängen (Straßen, Treibstoff, Elektrizität, Gebäude,<br />
Infrastruktur allgemein), werden auch die Intervalle länger, bis Hilfe eintrifft.<br />
Dies führt zu Unzufriedenheit.<br />
– Temporary rehabilitation<br />
Die größten Schwierigkeiten ergeben sich bei der Soforthilfe für die Betroffenen.<br />
Ethnische, sprachliche, soziale und psychische Probleme dominieren.<br />
Räumliche Bedingungen, vor allem durch Devianzverteilungen,<br />
erschweren die Adressierung und Verteilung von Hilfe. Immer stärker wirken<br />
auch geschlechtsspezifische Sonderheiten (Alkohol- und Drogenkonsum<br />
bei Männern, Verweigerung von Mithilfe durch Depravierte, durch<br />
Gangs und kriminelle Handlungen etc.<br />
– Recovery<br />
Der öffentlich artikulierte Unmut wurzelt zumeist in dieser Phase. Die staatlichen,<br />
von der FEMA verteilten Programme erfordern „Bewerbungsverfahren“,<br />
d.h. die Betroffenen müssen sich melden, Fragebögen ausfüllen<br />
und bestimmte Nachweise führen (von der Identifizierung bis zu Einkommens-<br />
und Besitznachweisen). Da die Betroffenen zumeist aus der unteren<br />
Mittelschicht und Unterschicht kommen, fällt oftmals der Nachweis von<br />
relevanten Besitztümern schwer. Zudem befinden sich unter den Opfern<br />
26
viele Analphabeten, Arbeitsmigranten, Arbeitslose, Obdachlose und illegale<br />
Einwanderer, so daß viele Bewerber abgewiesen werden, was deren<br />
Schicksal schwerer macht, vor allem aber bei Medienpräsenz besonders<br />
hartherzig und inhuman wirkt. Zumeist auch erwarten die Betroffenen<br />
mehr, als erfüllt werden kann, so daß Frustration programmiert ist.<br />
– Reconstruction<br />
Auch hier gilt das Gesagte: Die FEMA unterstützt über Kredite, zinslose<br />
Darlehen, Finanzierungsvermittlung und staatliche lnvestitionshilfen den<br />
mittel- und langfristigen Wiederaufbau nach Katastrophen. Zumeist richten<br />
sich die Programme an mittelständische und größere Unternehmen, um<br />
Arbeitsplätze zu schaffen, Infrastruktur wiederherzustellen oder gänzlich<br />
neue Unternehmen anzusiedeln. Auch für den Wiederaufbau von Wohnungen<br />
und Eigenheimen werden Hilfen gewährt, doch machen sie zumeist nur<br />
einen Bruchteil der Wiederherstellungskosten aus. Wiederbeschaffungsbeihilfen<br />
für Inventar oder Fahrzeuge werden hier nicht gewährt, was jedoch<br />
zumeist auf Unverständnis stößt. Ebenfalls fehlen wirksame Instrumente<br />
der Erfolgskontrolle.<br />
In einem zweiten Schritt wurde untersucht, welche Angebote überhaupt<br />
eine Nachfrage finden, ob es grundsätzlich falsche, am Bedarf vorbeigehende<br />
Angebote gibt, welche Angebote sinnvoll aber schlecht „konsumierbar“<br />
sind und ob es noch unentdeckte Bedürfnisse oder Widrigkeiten<br />
für eine wirksame Hilfe gibt. In diesem Untersuchungsschritt zeigte sich,<br />
daß man zuvörderst viel zu wenig über die tatsächlichen Lebenslagen und<br />
Bedürfnisse der potentiellen Klientele wußte. Hier erbrachte insbesondere<br />
die enge Zusammenarbeit mit der Katastrophenforschung wichtige Aufschlüsse<br />
über die Bedeutung der Frauen für die Organisierung von Hilfe, die<br />
Selbstorganisation der Betroffenen und deren Kommunikationsformen und<br />
für die Rekonstruktion des sozialen Lebens innerhalb betroffener Nachbarschaften<br />
und Kommunen. Zugleich erkannte man, daß das traditionelle<br />
Multiplikatoren-Konzept im Grundsatz noch stimmt, aber die Multiplikatoren<br />
ganz anderen Milieus entstammten und sich diversifiziert hatten.<br />
Waren früher noch Lehrer und Pfarrer schichten- und gruppenübergreifende<br />
Vorbilder, so hat man es inzwischen mit sehr verschiedenen „Vorbildern“<br />
zu tun. Es können Anführer von Jugendgangs sein, Stars aus der Street-Volleyball-<br />
oder der HipHop-Szene, es können, wie in ethnisch strukturierten<br />
Quartieren, Clanführer sein oder, wie im Umfeld von Arbeitsmigranten und<br />
Einwanderern, deren Kinder, die aufgrund ihrer besseren Sprachfähigkeiten<br />
und Kontaktfreude oftmals eine Dolmetscher- und Pfadfinderfunktion für<br />
die Erwachsenen übernehmen.<br />
Ein Programm der FEMA setzte systematisch auf der letzten Erkenntnis auf.<br />
Zusammen mit den Schulen wurde ein Lehr- und Lernprojekt entwickelt,<br />
dessen Lerneinheiten mit Videos eingeleitet wurden („Critical Time – Earthquake<br />
Response Planning for Schools“; „Non-structural Earthquake Damage<br />
Reduction“; „Children & Trauma – The Schools Response“) und die<br />
27
den Schülern zeigten, wie sie sich, ihren Kameraden, vor allem aber ihren<br />
Angehörigen helfen und Schaden abwenden können. Bewußt setzte man bei<br />
den Kindern an, weckte deren Neugier und unterstütze ihre vorhandene<br />
Rolle als Dolmetscher und Pfadfinder. Insofern wurde die vorhandene Rolle<br />
nicht nur akzeptiert, sondern aufgewertet und mit Werten aufgeladen: Hilfsbereitschaft,<br />
Verantwortungsgefühl, Gemeinsinn. In einem zweiten Lehrschritt<br />
stellte man den Schülern Computer zur Verfügung, mit denen sie<br />
Schadenslagen und Rettungsaktionen simulieren und über den Zugang zum<br />
Internet weiterführende und vertiefende Wissensquellen entdecken und<br />
anwenden konnten. Da dies auch muttersprachliche Quellen einschloß, entdeckten<br />
die Kinder so Lehrmittel für ihre Eltern und zugleich das Knowhow,<br />
sie ihnen auch zugänglich machen zu können. Die Kinder profitierten<br />
also nicht allein von diesem „Heldeneffekt“, sondern sie machten ihre<br />
Eltern neugierig und brachten sie nachmittags und abends mit in die<br />
Schulen, wo sie selbst Zugang zum Computer erhielten. Unmerklich entstand<br />
so eine Volkshochschule, die doppelt alphabetisierte – im traditionellen<br />
Sinne hin auf die Grundfertigkeiten Lesen und, wie es in den USA<br />
heißt: „computer literacy“ und im erweiterten Sinne hin auf preparedness.<br />
– Preparedness<br />
Das neue Verständnis von preparedness besteht darin, potentiell Betroffene<br />
dazu zu bewegen, sich basal alphabetisieren zu lassen: Zu wissen, was<br />
droht und was dies im Ernstfall für sich, die unmittelbaren Angehörigen und<br />
Nachbarn bewirken kann. Zu wissen, welche Hilfen von außen realistischerweise<br />
erwartet werden dürfen, wie lange man unter Umständen darauf<br />
warten muß und was man selbst tun kann, um bis dahin auszuhalten. Zu<br />
wissen, wie Gemeinde und Staat in solchen Fällen funktionieren; wer<br />
welche Hilfe anbietet, wo welche Kompetenzen verfügbar sind, wo welche<br />
Einrichtungen zu finden sind. Zu wissen, wie man Ausfälle überbrücken<br />
kann, wie man Menschen beruhigt und zu gemeinsamen Handeln organisiert.<br />
Zu wissen, welche bürokratischen Hürden vorhanden sind und wie<br />
man darauf zu reagieren hat. Also zu wissen, welche Papiere man bei sich<br />
haben sollte, welche Angaben bei Behörden oder Dienststellen gemacht<br />
werden müssen und welche Unterlagen man für den Notfall immer griffbereit<br />
haben sollte.<br />
– Protection, Training<br />
Hier besteht das neue Verständnis darin, von der Schule an zu vermitteln,<br />
daß Sicherheit auch ohne teure Investitionen erhöht werden kann. Die<br />
FEMA hat dazu neben Videos wie „Non-structural Earthquake Damage<br />
Reduction“ inzwischen umfassende Hilfen entwickelt bis hin zu speziellen,<br />
kostengünstigen Versicherungen, kostenlosen Kursen und Lehrgängen,<br />
Bau- und Bastelanleitungen und diversen Hotlines und Web-Pages, von<br />
denen Informationen abgerufen werden können. Die Grundidee besteht<br />
darin, das Gefühl zu vermitteln, weder ohnmächtig noch schutzlos sein zu<br />
müssen, sondern mit einfachen Mitteln etwas für sich und seine Angehörigen<br />
tun zu können. Insbesondere bei Arbeitslosen und Geringbeschäftigten<br />
28
haben sich solche Initiativen bewährt, weil sie darüber deutlich machen<br />
können, daß sie sich kümmern, nützlich sind und einen Beitrag für ihre<br />
Familien leisten.<br />
– Warning<br />
Im Bereich Warnung bestand kein Reformbedarf. Das System gilt als effektiv<br />
und ist akzeptiert. Im Bereich Information hat die FEMA inzwischen<br />
vollkommen auf neue Medien umgestellt. Die angefügten Ausdrucke aus<br />
dem Internet zeigen, daß hier ein Informationsangebot entstanden ist, das<br />
weltweit seinesgleichen sucht. Die Zahl der täglichen Zugriffe und die eingehenden<br />
mails mit Kommentaren, Anfragen und Anregungen belegen, daß<br />
sich inzwischen Akzeptanz eingestellt hat. Zusätzlich hat die FEMA „On-<br />
Scene-Media“ entwickelt, die im Katastrophenfall täglich mit neuesten<br />
Nachrichten, Hinweisen, Informationen und Anleitungen (z.B. für Behördengänge,<br />
zum Ausfüllen von Formularen) kostenlos verteilt werden.<br />
– Rescue<br />
Hier wurden die verschiedenen Notfallinformationssysteme (NETwork,<br />
EENET, Recovery Channel) modernisiert, aktualisiert und im Zugang verbessert.<br />
Automatische Erkennungssysteme (Rufnummernidentifizierung)<br />
erleichtern den Einsatz und vermindern Mißbrauch. Fax-On-Demand-<br />
Systeme liefern umgehend Anleitungen, Pläne u.ä., so daß Betroffene insgesamt<br />
Sofort-Hilfe abfragen und Hilfe rufen können.<br />
– Evacuation<br />
Im Bereich Evakulierung und Betreuung bestehen nach wie vor Probleme.<br />
Harrisburg und einige Leckagen bei der Kampfstoffbeseitigung haben<br />
gezeigt, daß „job-abandonment“ beim Funktionspersonal zunimmt und zu<br />
Ressourcenverknappungen und desorientierenden Meldungen führt. Die<br />
sozialen und psychischen Schwierigkeiten im Betreuungsfall scheinen<br />
ebenfalls noch zuzunehmen, zumindest dort, wo die sozialen Spannungen<br />
innerhalb der Evakuierten nicht entschärft werden können.<br />
– Emergency relief<br />
Die zunehmende Dauer bis zum Eintreffen organisierter Hilfe läßt sich<br />
inzwischen nicht mehr durch weiteren Ressourceneinsatz verkürzen, so daß<br />
immer bewußter die Bevölkerung als Ganze zu einem Glied der Soforthilfe<br />
werden muß. Dies führt einerseits zu preparedness zurück, andererseits zu<br />
einer massiven Reorganisation von Katastrophenhilfe. Schon heute sind die<br />
„local plannings committees“, die gemeindlichen Gefahrenabwehrkomitees<br />
aus Bürgern, Unternehmen, Behörden, Verbänden und gewählten Ämtern<br />
(wozu auch Sheriff und Fire-Chief gehören) die entscheidenden dezentralen<br />
Institutionen für Risiko-Kommunikation, vorbeugende Gefahrenabwehr,<br />
Bürgerinformation und Maßnahmenplanung. Die enge Verzahnung von<br />
Bürgerbeteiligung und gemeindlicher Gefahrenabwehr wirkt dabei integrativ<br />
und konfliktminimierend.<br />
29
– Emergency rescue & mass care<br />
Die neue Strategie der FEMA besteht darin, den Bürgern deutlich zu<br />
machen, was nicht möglich ist und nicht geleistet werden kann. Galt bis<br />
dahin, sich als besonders leistungsfähig und potent zu präsentieren, nahm<br />
man sich nunmehr weitgehend zurück und betonte die subsidiäre Funktion.<br />
Indem man massiv die Verantwortung des Bürgers betont, werden sowohl<br />
die falschen Erwartungen bekämpft, die sich aus dem ehemaligen Omnipotenzgehabe<br />
entwickelt hatten, als auch die Darstellungen der Medien, die<br />
die FEMA zu sehr als alles entscheidende und einzige Hilfsinstanz bei den<br />
Wechselfällen des Lebens geschildert hatten. Der Bürger rückt dadurch<br />
wieder in den Mittelpunkt, so daß die FEMA neben ihren nach wie vor vorhandenen<br />
Ressourcen der Katastrophenhilfe dazu übergehen kann, Selbsthilfeinitiativen<br />
der Bevölkerung zu fördern und Aktivitäten zu prämiieren,<br />
die den Grad der Selbstorganisation und gegenseitigen Hilfe erhöhen.<br />
– Temporary rehabilitation<br />
In diesem Bereich wurden die größten Verbesserungen erzielt. Die FEMA<br />
hat Quick-Alert-Teams gegründet, die bei Großunfällen und Katastrophen<br />
unmittelbar vor Ort praktische Hilfe und Beratung anbieten. Je nach Katastrophenart<br />
werden Begehungen mit Schadensfeststellungen und Bewertungen<br />
durchgeführt, Formulare und Fragebögen verteilt und gemeinsam,<br />
auch mit Dolmetschern, ausgefüllt. Es werden Wertmarken für Kleidung,<br />
Nahrung und Hilfsgüter ausgegeben oder mit Unterstützung der lokalen<br />
Leitpersonen verteilt. Härtefälle werden besonderen Lösungen zugeführt<br />
und Clearingstellen eingerichtet, um Ungerechtigkeiten oder schwierige<br />
Situationen vor Ort regulieren zu können.<br />
– Recovery<br />
Die staatlichen Programme zur Katastrophenhilfe wurden überarbeitet und im<br />
Verfahren vereinfacht, so daß eine breitere aber gerechtere Streuung ermöglicht<br />
wurde. Durch den Einsatz von Quick-Alert-Teams konnten soziale und<br />
ökonomische Benachteiligungen drastisch reduziert werden. In Zusammenarbeit<br />
mit den local planning committees und den Sozialbehörden wird versucht,<br />
Hilfen an jene Personen zu geben, die einen optimalen Nutzen bewirken<br />
(z. B. an die Frauen, statt an ihre alkoholsüchtigen Männer etc.), so daß<br />
auch hier dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ entsprochen wird.<br />
– Reconstruction<br />
Auch hier gilt Ähnliches: Die FEMA hat die Verfahren zur Kredit- und<br />
Darlehens-vergabe vereinfacht und Klauseln entwickelt, die eine Rückzahlung<br />
erzwingen, wenn die vereinbarten Bedingungen der Gewährung nicht<br />
eingehalten werden.<br />
Der öffentliche Zugang über das Internet<br />
Wie wirkungsvoll und transparent die neue Politik der FEMA für alle Bürger<br />
ist, zeigt der Blick ins Internet. Unter der ULR „http://www.fema.gov“<br />
30
meldet sich die „homepage“ der Federal Emergency Management Agency<br />
(Bild 1) mit einem Search Tool zur Stichwortsuche und einem Menü mit<br />
„Radio-Buttons“ („Who We Are“ „What We Do“ etc.), die auf Mausklick<br />
entsprechen weiterleiten.<br />
Die Wahlfelder (Radio-Buttons) „Preparing For A Disaster“ und „Help<br />
After A Disaster“ führen zu Anleitungen und Formularen, die man direkt am<br />
Computer ausfüllen und absenden, aber auch ausdrucken und konventionell<br />
lesen kann. Ebenso läßt sich in die Bibliothek weiterverbinden oder zu<br />
einem Neuigkeitenpult. Besonders interessant ist das Feld „Career Opportunities“,<br />
wo bundesweit offene Stellen im Bereich Katastropenmanagement,<br />
Feuerwehr, Gefahrenabwehr, Unternehmenssicherheit etc. angeboten<br />
werden. Diese einschlägige Jobbörse ist überaus beliebt und effektiv.<br />
Die leeren Kästchen auf Bild 1 repräsentieren weitere Radio-Buttons, die<br />
jedoch aufgrund fehlenden Platzes nicht ausgedruckt wurden. Unter ihnen<br />
befindet sich der Alphabetische Index des FEMA-Servers (Bild 2–4). Jedes<br />
Schlagwort verbindet weiter zu Informationen oder Diensten der FEMA<br />
bzw. Dritter, die ebenfalls zum Thema gehören.<br />
So verbindet beispielsweise das Schlagwort „Weather Link“ zu einer Auswahlseite<br />
„FEMA Links to Weather Information“ (Bild 5), von wo aus man<br />
sich zum Nationalen Wetterdienst, dem Massachussets Institute of Technology<br />
(MIT) oder der Flutvorhersage etc. weiterverbinden kann. Unter „Live<br />
Weather Cameras“ findet man z. B. (sofern es die Rechnerkapazität erlaubt)<br />
Echtzeitabläufe von Wetterfronten und Stürmen, die „Flood Forecast Maps“<br />
zeigen im Fünfminutentakt die Wasserstände aller Küsten (Bild 6).<br />
Ausblick<br />
Der neue, kundenorientierte Ansatz der FEMA geht von den Bedürfnissen<br />
der Menschen aus und versucht, deren Selbsthilfekräfte bestmöglich zu<br />
unterstützen. Teil dieses Ansatzes ist eine Servicestrategie, die so viel<br />
Information wie möglich zur Verfügung stellt und zugleich dafür Sorge<br />
trägt, daß möglichst viele Menschen möglichst einfach Zugang finden.<br />
Dabei spielen die Informationsmedien Computer und Internet eine entscheidende<br />
Rolle. Beide sind inzwischen leichter verfügbar als entsprechende<br />
Recherchen in Bibliotheken oder gar Buchläden. Zwar kann sich<br />
noch längst nicht jeder einen Computer leisten, doch hat die FEMA versucht,<br />
über die Kooperation mit Schulen und local planning committees,<br />
möglichst breite Zugangschancen zu eröffnen. Zusammen mit den neuentwickelten<br />
„On-Scene“-Medien wird zunehmend besser sichergestellt, daß<br />
auch unterprivilegierte Betroffene im Ernstfall Zugangsmöglichkeiten zu<br />
Informationen und Hilfen erhalten. Die millionenfachen Zugriffe auf die<br />
Internet-Angebote der FEMA beweisen, daß es sich um ein Angebot handelt,<br />
das neugierig macht und damit Interesse für die Thematik weckt. Da<br />
auch die „downloads“ registriert werden, erkennt man, welche Informationen<br />
sich die Nutzer auf den heimischen Rechner laden, so daß auch daraus<br />
31
auf einen hohen Nutzen geschlossen werden kann. Damit scheint die FEMA<br />
ihr Ziel erreicht zu haben: wieder nützlich zu sein und Zivil- und Katastrophenschutz<br />
zu einem Gebiet gemacht zu haben, bei dem nicht verächtlich<br />
abgewunken wird, sondern das als hilfreicher Bestandteil der individuellen<br />
Daseinsvorsorge Akzeptanz findet.<br />
Ein letzter Punkt sei angemerkt. Der kundenorientierte Ansatz der FEMA<br />
hat nicht nur einen neuen Umgang mit den Menschen bewirkt, den die<br />
Amerikaner mit „commitment“ umschreiben und der Anteilnahme, Sich-<br />
Kümmern beinhaltet. Er hat auch bewirkt, daß sich aus dem öffentlichen<br />
Gut „Zivil- und Katastrophenschutz“ immer stärker ein Markt für private<br />
Güter und Dienste herauskristallisiert. Neben vielen anderen bietet z. B. die<br />
Firma Rothstein Associates (Ossining, NY) den „Disaster Recovery Catalog“<br />
an, der auf über 30 Seiten Publikationen, Videos, Tonbandkassetten<br />
zum Aufbau einer Selbsthilfebibliothek anbietet. Andere Firmen haben<br />
Selbsthilfe-Werkzeuge, Rettungskoffer und spezielle Ausrüstungen im Programm.<br />
Man kann vom Schutzanzug bis hin zum kompletten Survival-<br />
Home (mit Wasserrückgewinnung, autarker Energieversorgung und Schutzraum)<br />
inzwischen alles kaufen, was Katastrophen und Krieg überstehen<br />
läßt. Wie immer man die Produkte beurteilen mag, eines ist sicher: Wo eine<br />
kaufkräftige Nachfrage ist, da ist auch Bedarf und Bedürfnis, mithin ein<br />
ökonomisch indizierbarer Nutzen eines Schutzgedankens, von dem in der<br />
Bundesrepublik noch niemand so recht glaubt, daß Bürger für ihn freiwillig<br />
Geld ausgeben würden. Vielleicht läßt sich von den Erfahrungen der FEMA<br />
lernen, daß Zivil- und Katastrophenschutz noch nie nutzlos war, wenn man<br />
beide angemessen und anregend vermittelt.<br />
Literatur<br />
Dombrowsky, W.R.: „Vom ,Stage-Model‘ zum ,Copability-Profile‘. Katastrophensoziologische<br />
Modellbildung in praktischer Absicht“, in: Lars Clausen & Wolf R. Dombrowsky: Einführung<br />
in die Soziologie der Katastrophen, <strong>Zivilschutz</strong>forschung Bd. 14, Schriftenreihe der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern, hg. v. Bundesamt für Zivilschulz, Bonn:<br />
Osang 1983 pp. 81– 102<br />
32
Mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei<br />
Großkatastrophen und im Verteidigungsfall<br />
(„Gefahrenbericht“)<br />
<strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />
Inhaltsangabe<br />
Zusammenfassung<br />
I. Einleitung<br />
II. Art der Gefahren<br />
II.1 Gefahren durch die Freisetzung von Chemikalien und von<br />
chemischen Kampfstoffen<br />
II.2 Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten und biologische<br />
Kampfmittel<br />
II.3 Gefahren durch die Freisetzung von Radioaktivität einschließlich<br />
des Einsatzes von Kernwaffen<br />
II.4 Gefahren durch spontane Freisetzung mechanischer Energie<br />
einschließlich Waffenwirkungen<br />
II.5 Gefahren durch starke elektromagnetische Felder<br />
III. Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung<br />
III.1 Selbstschutz<br />
III.2 Warnung der Bevölkerung<br />
III.3 Schutz durch bauliche Maßnahmen<br />
III.4 Medizinische Versorgung<br />
III.5 Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln<br />
und Trinkwasser<br />
Zusammenfassung<br />
Die Rahmenbedingung für die Planung und Durchführung von Maßnahmen<br />
zum Schutze der Bevölkerung gegen die Gefahren bei Großkatastrophen<br />
und im Verteidigungsfall haben sich mit dem Wandel der allgemeinen<br />
sicherheitspolitischen Lage, der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten<br />
Europa, der technologisch bedingten Veränderungen der Gesellschaft<br />
33
und der Zunahme des Terrorismus in den letzten Jahren grundlegend verändert.<br />
Auch aufgrund der von Seiten des BMI angestrebten und z.T. bereits<br />
umgesetzten Regelungen zur Neuorientierung im <strong>Zivilschutz</strong> sind in vielen<br />
Bereichen grundlegend neue Schutzkonzepte erforderlich geworden. Dies<br />
gilt insbesondere für die angestrebten Veränderungen der Aufgabenerledigung<br />
durch den Bund und die Länder, die nach Meinung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in Zukunft eine verstärkte Koordinationsaufgabe für den Bund zur<br />
<strong>Folge</strong> hat.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich mit den möglichen Konsequenzen dieser<br />
Veränderungen aus wissenschaftlicher Sicht auseinandergesetzt. Die Ergebnisse<br />
dieser Überlegungen werden in diesem Gefahrenbericht zusammengefaßt.<br />
Der Gefahrenbericht enthält eine Analyse der unterschiedlichen<br />
Kernbereiche des <strong>Zivilschutz</strong>es. m denen nach wie vor Gefahren bestehen.<br />
Es handelt sich hierbei im einzelnen um die Gefahren durch die<br />
– Freisetzung von Chemikalien und von chemischen Kampfstoffen<br />
– Erreger übertragbarer Krankheiten und biologische Kampfmittel<br />
– Freisetzung von Radioaktivität einschließlich des Einsatzes von Kernwaffen<br />
– spontane Freisetzung mechanischer Energie einschließlich Waffenwirkungen<br />
– Wirkung starker elektromagnetischer Felder<br />
– Überregionale Auswirkungen von Naturgewalten.<br />
Der Bericht gibt eine große Zahl detaillierter Empfehlungen für Durchführung<br />
vertiefender Untersuchungen sowie für konkrete Vorkehrungen und<br />
Maßnahmen, die aus Sicht der <strong>Schutzkommission</strong> dringend erforderlich<br />
sind, um den Schutz der Bevölkerung in den hier einschlägigen Gefahrenlagen<br />
auch unter den neuen Randbedingungen sicher stellen zu können. Er<br />
stellt den gegenwärtigen Stand der Überlegungen der Kommission dar und<br />
soll regelmäßig fortgeschrieben werden.<br />
Im Bereich Selbstschutz und Selbsthilfe wird eine rationale Gefahrenanalyse<br />
und eine Bestandsaufnahme der Gefährdungs- und Schutzpotentiale in<br />
der Bundesrepublik für erforderlich gehalten, die von der privaten bis zur<br />
gemeinwohlorientierten Daseinsvorsorge alle Möglichkeiten der Schutzvorkehr<br />
aufzeigt. Es wird die Entwicklung eines Schutzdatenatlasses und<br />
die Anwendung von gängigen Methoden der modernen Kommunikation für<br />
die Unterrichtung der Bevölkerung empfohlen.<br />
Im Bereich der Gefahrenerfassung liegen die Schwerpunkte in der Einführung<br />
und Weiterentwicklung der Meßtechnik für die Erfassung von chemischen<br />
Kampfstoffen und gefährlichen Industriechemikalien. Es wird<br />
außerdem empfohlen, eine Systemstudie durchzuführen für die Aufstellung<br />
von schnell einsetzbaren Spezialtrupps mit optimaler analytischer Ausstattung<br />
und Qualifikation, einer Task-Force ähnlich der GSG 9, die im Notfall<br />
per Hubschrauber schnell zum Einsatzort gelangen können.<br />
34
Im Bereich der Warnung geht es vorrangig darum, die nach dem Wegfall der<br />
flächendeckenden Sirenenwarnung entstandene „Warnlücke“ schnellstmöglich<br />
zu schließen. Dies bedarf neben der Erarbeitung eines tragfähigen<br />
technischen Konzepts und der Schaffung geeigneter alternativer Warnmittel<br />
den Aufbau entsprechender, für die Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es geeigneter<br />
organisatorischer Strukturen, die auch bei der Warnung in grenzüberschreitenden<br />
Schadenslagen effektiv arbeiten können.<br />
Nach wie vor bilden die Wohnung und öffentliche Gebäude eine wichtige<br />
Säule für den Schutz der Bevölkerung im Schadensfall, da die Empfehlung<br />
„Verbleiben im Haus und Fenster und Türen verschlossen halten“ oft die<br />
kurzfristig einzige Option zur Gefahrenabwehr darstellt. Der Schutz durch<br />
bauliche Maßnahmen stellt aus diesen Gründen nach wie vor eine wichtige<br />
Thematik dar. Bei den zukünftigen Überlegungen in diesem Bereich müssen<br />
zum einen das durch die Industrie- und die Technologieentwicklung<br />
gestiegene Gefährdungspotential vorhandener Gebäude berücksichtigt werden,<br />
zum anderen die zunehmende Auszehrung des Schutzwertes von<br />
Gebäuden, die z.B. durch die Verwendung neuer Werkstoffe oder den Verzicht<br />
von Kellerräumen verursacht wird.<br />
Die auch bisher schon bestehenden begründeten Zweifel an der Effektivität<br />
der, Grundstruktur der medizinischen Hilfe im Katastrophenschutz und<br />
Schutz der Bevölkerung im V-Fall führen zu der Forderung, ein an die Rettungsdienste<br />
angelehntes organisatorisches, fachlich zuverlässiges, im<br />
Bedarfsfall schnell verfügbares System ärztlicher und sanitätsdienstlicher<br />
Elemente zu schaffen. Die Diagnostik und Therapie akuter und chronischer<br />
Gesundheitsschädigungen, durch die Einwirkung gefährlicher Stoffe, z.B.<br />
radioaktiver Stoffe, hoch virulenter Krankheitserreger und chemischer<br />
Agenzien, ist durch gezielte Untersuchung und <strong>Forschung</strong> zu verbessern.<br />
Die Ergebnisse sind in die ärztliche Fortbildung einzubringen.<br />
Die bisherigen Notfalldepots sollten im Interesse katastrophenmedizinischer<br />
Leistungsfähigkeit erhalten und mit Arznei- und Verband mitteln<br />
befüllt werden, die von der bedarfsorientiert produzierenden Industrie bei<br />
Katastrophen und im Verteidigungsfall kurzfristig nicht verfügbar gemacht<br />
werden können, z.B. bestimmte Antidote, Sera, Analgetika. Dies bedarf<br />
einer detaillierten Untersuchung.<br />
Die Kenntnisse der Ärzte, des Rettungsdienstpersonals und der Helfer der<br />
Hilfsorganisationen über ihre Aufgaben im Katastrophenschutz und im Verteidigungsfall<br />
sind unzureichend oder gehen infolge Fehlens an praktischer<br />
Übung bald wieder verloren. Es gilt, dieser dem Bedürfnis potentieller<br />
Katastrophenopfer nicht genügenden Qualifikation durch praxisnahe Ausund<br />
Fortbildung entgegenzuwirken. Dies erfordert, die Ärzte und ebenso<br />
die Medizinstudenten nachhaltig zu informieren und zu praktischen Übungen<br />
heranzuziehen, insbesondere Notärzte auf ihre Leistungsaufgabe am<br />
Schadensort vorzubereiten, sowie freiwilligen Hilfskräften mehr Möglichkeiten<br />
zur Teilnahme an rettungsdienstlichen Einsätzen zu eröffnen.<br />
35
Im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit<br />
Nahrungsmitteln und Trinkwasser wird vordringlich empfohlen, eine Studie<br />
zur Optimierung des personellen, materiellen und finanziellen Aufwands<br />
sowie zur Organisation der erforderliche Maßnahmen aller staatlichen Stellen<br />
durchzuführen. Aufgrund der drastischen Reduzierung der EU-Interventionsbestände<br />
ist die Erhöhung der Mengen der in nationaler Zuständigkeit<br />
eingelagerten Nahrungsmittel zur Versorgung der Bevölkerung in Ballungsgebieten<br />
erforderlich.<br />
In einer Zeit, in der sich die Schwerpunkte der staatlichen Vorsorge zum<br />
Schutze der Bevölkerung gegen Gefahren bei Großkatastrophen und im<br />
Verteidigungsfall immer mehr in den planerischen Bereich verlagern sollen,<br />
ist die aktive wissenschaftliche Beratung des BMI in allen im Rahmen dieses<br />
Berichtes aufgezeigten Fragen mehr denn je gefordert. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />
ist hierzu auch in Zukunft bereit. Sie muß allerdings darauf hinweisen,<br />
daß ein Großteil der hier einschlägigen Themen nicht zu den an<br />
Universitäten und einschlägigen <strong>Forschung</strong>seinrichtungen ohnehin bearbeiteten<br />
Fragestellungen zählt, so daß man bei Bedarf das notwendige Wissen<br />
staatlicherseits einfach abrufen könnte. Um die erforderliche Beratung<br />
auch in Zukunft sicherstellen zu können, muß vielmehr der noch in der<br />
Kommission vorhandene Sachverstand durch eine aktive <strong>Forschung</strong>s- und<br />
Förderpolitik des BMI erhalten werden. Eine Grundlage für die Erstellung<br />
eines entsprechenden <strong>Forschung</strong>skonzepts könnten die vielfältigen Empfehlungen<br />
dieses Berichts darstellen.<br />
Die Kommission ist bereit, den BMI bei der Erarbeitung eines entsprechenden<br />
<strong>Forschung</strong>skonzepts und bei der Umsetzung der in diesem Bericht<br />
aufgezeigten konkreten Notwendigkeiten zur Verbesserung der gegenwärtigen<br />
Situation zu unterstützen und wissenschaftlich zu beraten. Eine existentielle<br />
Voraussetzung hierfür ist jedoch der politische Wille zur Durchsetzung<br />
der aufgezeigten Notwendigkeiten für eine tragfähige Neuregelung<br />
der Maßnahmen des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />
I. Einleitung<br />
Es steht außer Frage, daß sich mit dem Zusammenbruch der Ost-West Konfrontation<br />
die Rahmenbedingungen für die Gesamtverteidigung und damit<br />
auch für den <strong>Zivilschutz</strong> in den letzten Jahren grundsätzlich geändert haben.<br />
Insbesondere besteht nicht mehr die Gefahr einer groß angelegten Aggression,<br />
auf deren Abwehr die bisherigen Vorkehrungen der Gesamtverteidigung<br />
ausgelegt waren. Dies bedeutet, daß die bisherigen Vorkehrungen für<br />
die Gesamtverteidigung reduziert werden können. Im Bereich des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
erfolgt eine entsprechende Neuorientierung durch das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz.<br />
Die dort vorgesehenen Regelungen sehen insbesondere<br />
vor, die für den <strong>Zivilschutz</strong> bisher vorgehaltenen Sonderstrukturen wie<br />
– die staatliche Förderung des Schutzraumbaus<br />
– den Bau und die Vorhaltung von Hilfskrankenhäusern<br />
36
– die dauerhafte Bevorratung umfangreicher Arzneimittel sowie von Geräten<br />
und Ausstattungsgegenständen in Sanitätslagern<br />
– den Bundesverband für den Selbstschutz<br />
aufzugeben, die vorhandenen Strukturen zu vereinfachen und die Aufwendungen<br />
für den <strong>Zivilschutz</strong> insbesondere in den Bereichen „erweiterter<br />
Katastrophenschutz“ und „Warndienst“ zu reduzieren. Wesentliche Aufgaben<br />
sollen in Zukunft, aufbauend auf den bei den Ländern für die Zwecke<br />
der Gefahrenabwehr in Friedenszeiten ohnehin vorzuhaltenden Einrichtungen<br />
und Organisationen von diesen mit übernommen werden.<br />
Daß in Übergangszeiten wie den hier geschilderten und insbesondere in<br />
Zeiten immer knapper werdender Mittel die Gefahr besteht, daß bei einer<br />
solchen Neuorientierung auch unverzichtbare Positionen geschwächt oder<br />
gar aufgegeben werden, ohne daß hierfür geeignete Alternativen geschaffen<br />
werden, ist bekannt. Erinnert werden soll hier nur an die „Warnlücke“, die<br />
nach der Aufgabe des bundesweiten Sirenennetzes in den letzten Jahren entstanden<br />
ist.<br />
Vor dem Hintergrund dieser Situation möchte der vorliegende Bericht keine<br />
Bedrohungsanalyse im herkömmlichen Sinne darstellen. Er versucht vielmehr,<br />
basierend auf dem in der <strong>Schutzkommission</strong> über Jahrzehnte hinweg<br />
vorgehaltenen wissenschaftlichen Sachverstand in Fragen des Zivil- und<br />
Katastrophenschutzes, Hinweise auf die nach wie vor und auch in Zukunft<br />
existierenden Gefahren zu geben und Wege aufzuzeigen, wie mit diesen<br />
Gefahren umgegangen werden sollte. Der Bericht stellt die Sicht der Kommission<br />
auf die gegenwärtige Lage im <strong>Zivilschutz</strong> dar. Er soll nach dem<br />
gemeinsamen Verständnis der Kommission und des BMI zu geeigneter Zeit<br />
fortgeschrieben werden und ist von daher offen für Weiterungen und Modifikationen,<br />
falls diese von der Sache her angezeigt sein sollten. Aufgrund<br />
der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten Europa und der damit<br />
verbundenen Notwendigkeit der gemeinsamen Bewältigung von existenzbedrohenden<br />
Situationen ist es zwingend geboten, Fragen dieser Art auch<br />
über die Grenzen hinweg zu diskutieren. Auf der anderen Seite müssen<br />
vergleichbare Überlegungen, wie sie in unseren Nachbarländern oder von<br />
internationalen Organisationen angestellt werden, national berücksichtigt<br />
und umgesetzt werden.<br />
Bei der Aufarbeitung der im folgenden im Detail beschriebenen Fragestellungen<br />
muß damit gerechnet werden, daß die angestrebte Dezentralisierung<br />
der Verantwortung und der Aufgabenerfüllung im <strong>Zivilschutz</strong> die bisher<br />
existierenden schwierigen Bedingungen nicht unbedingt erleichtern wird.<br />
Dies gilt in allen Fällen, in denen Ländergrenzen überschreitende Fragestellungen<br />
betroffen sind, wie dies bei großräumigen Schadenslagen fast<br />
immer der Fall ist. Hier wird die Koordination des Bundes und der Länder<br />
in Zukunft verstärkt gefordert sein.<br />
Der vorliegende Bericht konzentriert sich in seinen Kernaussagen auf die<br />
Bereiche, in denen die Belange der Zivilbevölkerung und des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
37
stark betroffen sind. Randbereiche wie z.B. die Frage von militärischen Altlasten<br />
wurden zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in den Bericht aufgenommen.<br />
Nach Einschätzung der Kommission stellen diese – wie im Falle<br />
der in der Ostsee versenkten Chemischen Kampfstoffe – eher ein spezifisches<br />
Berufsrisiko der Fischer dar als ein <strong>Zivilschutz</strong>problem, oder – wie<br />
im Fall von Altlasten aus ehemaligen Munitionsanstalten der Streitkräfte –<br />
eher ein Umwelt- und Sicherheitsproblem.<br />
Eine wissenschaftliche Kommission wie die <strong>Schutzkommission</strong> muß die<br />
gegenwärtigen Bestrebungen der Verlagerung der Schwerpunkte des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
auf die Länder natürlich auch unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität<br />
der Vorhaltung entsprechenden Sachverstands bewerten. Tatsache ist<br />
ja, daß die hier in Frage stehenden Themen zu keiner Zeit das wohlwollende<br />
Interesse der Politik und der Öffentlichkeit besaßen und daß sie kaum zu<br />
den Themen gehören, die an Universitäten und Großforschungseinrichtungen<br />
zur den ohnehin bearbeiteten Fragestellungen zahlen. Die Kommission<br />
sieht deshalb große Probleme, entsprechenden wissenschaftlichen Sachverstand<br />
in der Bundesrepublik vorzuhalten, wenn nicht von Seiten des BMI<br />
auch in Zukunft die Bearbeitung solcher Fragestellungen aktiv weiter<br />
betrieben und finanziell unterstützt wird. Der vorliegende Bericht soll die<br />
politisch Verantwortlichen auf die vorhandenen Kenntnislücken aufmerksam<br />
machen und den konkreten <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf aufzeigen.<br />
Die in Kapitel II und m des Berichts gemachten Ausführungen betreffen<br />
naturgemäß eine sehr heterogene Materie. Es war deshalb unvermeidlich,<br />
daß die Behandlung der unterschiedlichen Bereiche mit unterschiedlicher<br />
Breite und Darstellungstiefe erfolgte.<br />
II. Art der Gefahren<br />
Das Grundgesetz unterscheidet hinsichtlich drohender Gefahren, die es im<br />
Interesse der Lebensgrundlagen der Bevölkerung abzuwehren gilt, zwischen<br />
– Seuchen Naturkatastrophen<br />
– besonders schweren Unglücksfällen und<br />
– dem Verteidigungsfall.<br />
Der Begriff „besonders schwere Unglücksfälle“ schließt nach heutigem<br />
Sprachgebrauch technische Katastrophen mit ein. Gefahren können durch<br />
solche technische Katastrophen auf Verkehrswegen und in der Industrie,<br />
durch von außen hereingetragene offene und subversive Angriffe bzw.<br />
Feindseligkeiten und durch innerstaatliche Gewaltakte auftreten. Bei der<br />
Bewertung der Gefahren ist zu berücksichtigen, daß unsere Gesellschaft in<br />
zunehmendem Maße von technischen Einrichtungen abhängt, die aufgrund<br />
ihrer hohen Vernetztheit in sich ein hohes Potential der Störanfälligkeit und<br />
38
der Verwundbarkeit besitzen, das früher in dieser Form nicht vorhanden<br />
war.<br />
Lebensbedrohende Gefährdungen für den Menschen resultieren im wesentlichen<br />
aus drei Quellen:<br />
– Natur und Umwelt (ökologischer Aspekt)<br />
– Wirtschaft und Technik (ökonomischer Aspekt)<br />
– Krieg und Terrorismus (politischer Aspekt)<br />
Ökologischer Aspekt<br />
Naturgewalten werden zunehmend als beherrschbares Risiko angesehen.<br />
Dennoch bleiben Dürre-, Eis- und Flutkatastrophen, Berg- und Erdrutsche,<br />
Dammbrüche, Wirbelstürme, Erdbeben und Eruptionen eine regelmäßig<br />
wiederkehrende Bedrohung, die bei Überschreitung eines gewissen Schadensmaßes<br />
nicht mehr beherrschbar ist.<br />
Ökonomischer Aspekt<br />
Wirtschaftliches Handeln des Menschen ist immer mit Gefährdungen versehen<br />
gewesen. Seien es die Risiken von Jagd- und Fischfang in primitiven<br />
Wirtschaftsformen bis hin zu den Unfällen einer modernen arbeitsteiligen<br />
Produktionstechnik, Verkehrs- und Hauswirtschaft. Die Gefährdungsentwicklungen<br />
in diesem Bereich haben zu einer ausgeklügelten Sicherheitstechnik<br />
geführt.<br />
Berufsgenossenschaftliche, gewerbeaufsichtliche und baupolizeiliche<br />
Anstrengungen haben beachtliche Resultate aufzuweisen. Die Entwicklung<br />
in Verkehr, Wirtschaft und Technik zeichnet sich aber. in starkem Maße<br />
dadurch aus, daß Produktions- und Transporttechniken immer mehr in<br />
Richtung auf „hoch komplexe“ und „eng gekoppelte Systeme“ hinauslaufen,<br />
bei denen bereits „triviale Synergien“ ausreichen, um großflächige<br />
Gefährdungen oder gar Katastrophen auszulösen.<br />
Die hierbei auftretende Bedrohung der Bevölkerung ist besonders augenfällig.<br />
Potentielle Opfer dieser Bedrohung sind nicht mehr nur die Bedienungsmannschaften,<br />
sondern zunehmend mehr auch Systembenutzer,<br />
Anwohner und unbeteiligte Bürger.<br />
Will man den Ängsten vor dieser Gefährdung, die eine politische Realität<br />
darstellen (können), entsprechen, bieten sich zweierlei Strategien an.<br />
– der bewußte Verzicht auf die Anwendung und Nutzung dieser Technologien<br />
oder<br />
– die Entwicklung von überzeugenden Sicherheitsstandards besonders für<br />
die Zivilbevölkerung, die von den Auswirkungen dieser Großrisiken<br />
betroffen sein können.<br />
In Anbetracht der gegebenen Entwicklung ist deshalb ein Gesamtkonzept<br />
für den Schutz der Bevölkerung dringender denn je erforderlich, will man<br />
39
die soziale Akzeptanz der mehrheitlich gewünschten Vorzüge einer arbeitsteiligen<br />
Industriegesellschaft auf Dauer sichern. In der Tat entsprechen die<br />
gegebenen Sicherheitsstandards vielfach in keiner Weise den befürchteten<br />
Gefährdungen.<br />
Politischer Aspekt<br />
Die Gefährdungen sind durch die Weiterentwicklung der Waffen- und<br />
Wehrtechnik und der Sabotage- und Terrorismusaktivitäten kaum kalkulierbar<br />
und in ihrer lebensbedrohenden Durchschlagskraft gewachsen. Auch<br />
Friedens- und Abrüstungsbemühungen lassen keine gefahrfreien Lebensverhältnisse<br />
mit Sicherheit und auf Dauer erwarten.<br />
Die Eigendynamik des Willensbildungsprozesses bei Fragen des Zivil- und<br />
Katastrophenschutzes wird politisches Handeln zunehmend erschweren,<br />
darf aber nicht dazu führen, daß Nichtstun und Belassen des Status Quo als<br />
verantwortbare politische Alternative akzeptiert werden kann.<br />
Im folgenden werden aus dem breiten Spektrum möglicher Gefahren diejenigen<br />
herausgegriffen, deren Bewältigung weiterer Anstrengungen bedarf.<br />
II.1 Gefahren durch die Freisetzung von Chemikalien und<br />
von chemischen Kampfstoffen<br />
II.1.1 Gefahren allgemein durch Chemikalien<br />
Chemikalien werden zur Gefahr, wenn sie freigesetzt werden und aufgrund<br />
ihrer Giftigkeit dazu führen, daß Menschen gesundheitlich geschädigt oder<br />
getötet werden, oder wenn diese <strong>Folge</strong>n im Fall des Einsatzes von chemischen<br />
Kampfstoffen bewußt herbeigeführt werden. Die Freisetzung und<br />
Verbreitung gefährlicher Chemikalien, die in Deutschland in großen Mengen<br />
als Zwischen- oder Fertigprodukte hergestellt, gelagert und transportiert<br />
werden, kann über die Atemluft oder durch Hautkontakt zur akuten oder<br />
chronischen Gefährdung vieler Menschen, aber auch der Umwelt führen.<br />
Sie können aber auch über das Trinkwasser oder über die Nahrung zur<br />
akuten Gefährdung werden.<br />
Unglücklicherweise ist der Geruchs- und Geschmackssinn des Menschen<br />
für viele der gefährlichen Stoffe nicht entwickelt oder zu unempfindlich.<br />
Außerdem zeigt die Geruchswahrnehmung eine schnelle Toleranzentwicklung,<br />
so daß z.B. bei langsamem Konzentrationsanstieg toxische Konzentrationen<br />
von flüchtigen Substanzen nicht mehr durch den Geruch wahrgenommen<br />
werden können, obwohl akut eine Geruchswahrnehmung möglich<br />
ist. So müssen für die Erkennung der Gefahr entweder bestimmte Auswirkungen<br />
auf die Umwelt interpretiert oder Meßgeräte herangezogen werden.<br />
40
Die Wirkung dieser Chemikalien ist von der Konzentration und der Einwirkdauer<br />
auf den Menschen abhängig. Ihre Gefährlichkeit kann durch toxikologische<br />
Beiwerte angegeben werden, wie z.B. die maximal zulässige<br />
Arbeitsplatzkonzentration (MAK), die für mehrere hundert Stoffe bekannt<br />
ist, die Technische Richtkonzentration (TRK), der Einsatztoleranzwert<br />
(ETW) und die Wassergefährdungsklasse (WGK). Im Fall einiger sehr<br />
toxischer und akut wirkender Stoffe, wie z.B. der Kampfstoffe, können das<br />
tödliche Konzentrations-Zeit-Produkt (LCT) oder das handlungsunfähig<br />
machende Konzentrations-Zeit-Produkt (ICT) angegeben werden.<br />
Die gefährlichen Chemikalien nach Art und Menge in der Umwelt schnell<br />
zu erfassen, ist Aufgabe der Gefahrenabwehrkräfte und deren meßtechnischer<br />
Ausstattung. Selbst unter der Annahme, daß die Ausstattung an<br />
Personal und Gerät optimal zu gestalten ist, ergeben sich aufgrund der<br />
unterschiedlichen Freisetzungsarten, Verteilungswege und Vielfalt der Substanzen<br />
große meßtechnische Schwierigkeiten. Die Lokalisierbarkeit und<br />
Vorhersehbarkeit des Ereignisortes und der Menge des beteiligten Stoffes<br />
hängen davon ab, ob es sich um einen Unfall in einer chemischen Anlage,<br />
in einem Lager oder beim Transport auf LKW, Bahn oder Schiff handelt,<br />
oder ob die Chemikalien bewußt als Angriff mit der höchst möglichen Wirkung<br />
auf den Menschen ausgebracht werden. Bei den Ursachen zur Freisetzung<br />
muß man deshalb unterscheiden zwischen Störfällen (wie Leckage<br />
oder Bersten von Behälter, Brand oder Explosion und Unfällen), militärischen<br />
Angriffen sowie terroristischen Aktionen, da deren <strong>Folge</strong>n sehr unterschiedlich<br />
ausfallen können.<br />
Störfälle und Unfälle in chemischen Anlagen und Lagern sind in der Regel<br />
gut lokalisierbar, haben regionalen Charakter und sind von der Gefahrenabwehr<br />
planbar. Die beteiligte Stoffpalette aus der großen Anzahl von insgesamt<br />
ca. 4 000 Gefahrstoffen ist in diesem Fall in der Regel bekannt und<br />
begrenzt, es sei denn durch Brand, explosive Reaktionen und Stoffumwandlung<br />
werden ganz neue, bisher nicht bekannte Stoffe und Gemische<br />
erzeugt. Solche spektakulären Chemieunfälle sind aber glücklicherweise<br />
nur in sehr geringer Anzahl bekannt. Wenn sie allerdings eintreten, sind sie<br />
mit vielen Schwerverletzten und Toten verbunden.<br />
Militärische oder auch terroristische Angriffe auf chemische Anlagen können<br />
aufgrund der vielen möglicherweise gleichzeitig frei werdenden Stoffe<br />
zu nicht kalkulierbaren Gefahren führen. Solche Fälle sind zwar zeitlich<br />
nicht vorhersehbar, in ihrer räumlichen Auswirkung aber abzuschätzen.<br />
Der Schadensort bei Unfällen von Gefahrstofftransporten ist zwar meist auf<br />
die Transportwege beschränkt, er kann aber über ganz Deutschland verteilt<br />
sein; ein spezielles Zugangswege- und -wasserstraßennetz ist für solche<br />
Transporte gesetzlich nicht vorgesehen. Beim Unfall werden in der Regel<br />
kleinere Stoffmengen freigesetzt. Ihre Konzentration hängt von der Art der<br />
Freisetzung ab, je nachdem, ob Leckage, Bersten von Tanks, Brand oder<br />
Explosionen die Ursache waren. Die besondere Aufgabe für die Gefahren-<br />
41
abwehrkräfte besteht dann, schnell auf eine nicht erwartete Situation in<br />
einer nicht bekannten oder erwarteten Umgebung zu reagieren.<br />
Die Meßtechnik und auch Datenbeschaffung über die gemessenen Stoffe<br />
wird dadurch erschwert, daß einer oder mehrere Stoffe aus einer sehr<br />
großen Palette von Stoffen auftreten kann. Die Wahrscheinlichkeit, daß<br />
bestimmte Stoffe beteiligt sind und die notwendige Meßtechnik läßt sich<br />
jedoch an der Menge der transportierten Stoffe abschätzen. Es gibt ca. 130<br />
Gefahrstoffe, die nach einer Studie auf dem Rhein bzw. durch den Hamburger<br />
Hafen in Mengen von mehr als 1 000 t transportiert werden und ca.<br />
480 Stoffe, deren Transport auf diesen Wegen überhaupt erfaßt ist. Von den<br />
Stoffen, die aufgrund ihrer physikalisch-chemischen und toxischen Eigenschaften<br />
akut eine Auswirkung haben, lassen sich die meisten mit der heute<br />
verfügbaren Meßtechnik erfassen.<br />
Chemische Kampfstoffe spielen aufgrund ihrer toxischen Wirkung eine herausragende<br />
Rolle. Während im Fall einer militärischen Auseinandersetzung<br />
die erhöhte Gefahr und die Erwartung von Kampfstoffen permanent sein<br />
wird, sind in friedlichen Zeiten terroristische Anschläge als besonders heimtückisch<br />
zu befürchten. Sehr toxische Stoffe können in Heimlaboratorien<br />
produziert, abgefüllt und besonders wirkungsvoll eingesetzt werden, wie<br />
die Anschläge in Japan gezeigt haben. Außerdem ist nicht auszuschließen,<br />
daß von Rüstungsaltlasten solche Stoffe entwendet und für erpresserische<br />
Drohungen verwendet werden.<br />
Der geringe notwendige Eigenschutz beim Herstellen und Abfüllen sowie<br />
die relativ risikolose Ausbringung bei extremer Wirkung in geschlossenen<br />
Großräumen stellen eine extreme Gefahr dar. Die Nachahmung von terroristischen<br />
Aktionen ist nicht unwahrscheinlich, da sich Bombenattentate mit<br />
Chemikalien relativ risikolos zur Erpressung von Einzelpersonen und des<br />
Staates einsetzen lassen.<br />
II.1.2 Spezifische Gefahren durch Organophosphate und Carbamate<br />
Organophosphate und Carbamate zählen zu den giftigsten Verbindungen<br />
unseres Industriezeitalters. Es handelt sich um eine unüberschaubar große<br />
Gruppe chemischer Verbindungen, die als Hemmstoffe des körpereigenen<br />
Enzyms Acetylcholinesterase und anderer verwandter Enzyme als sogenannte<br />
„Nervengifte“ eine hohe Toxizitat für Mensch und Tier haben. Substanzen<br />
dieser Stoffklasse werden heute in allen Industrienationen in der<br />
Großchemie im Tonnenmaßstab hergestellt. Sie dienen vor allem als Insektizide<br />
und Pestizide in der Landwirtschaft (z.B. Parathion = E 605R ), als<br />
Schmiermittel in der Industrie, als Weichmacher in der Kunststoffindustrie<br />
und, obwohl weltweit geächtet, in der Wehrtechnik einiger Länder auch<br />
heute noch als Kampfstoffe (z.B. die „Nervengase“ Sarin, Tabun, Soman<br />
und VX).<br />
Massenvergiftungen durch Organophosphate in der Landwirtschaft und<br />
Industrie, aber auch die latente Bedrohung beim mißbräuchlichen Einsatz<br />
42
oder bei der Beseitigung solcher Stoffe sind wichtige Gründe, sich mit den<br />
spezifischen Gefahren dieser Stoffe auseinanderzusetzen. Die Gefahren<br />
ergeben sich aus der Produktion selbst, die allein für zivile Zwecke auf weltweit<br />
200 000 Tonnen jährlich veranschlagt wird, aber auch aus der Lagerung,<br />
dem Transport und der Anwendung dieser Chemikalien: Im Rahmen<br />
der Produktion und Lagerung können Explosionen und Brände auftreten,<br />
beim Transport können durch Freisetzung der Gifte Umweltkatastrophen<br />
größten Ausmaßes verursacht werden und bei der fehlerhaften oder gar<br />
mißbräuchlichen Anwendung können Vergiftungsepidemien unter der Zivilbevölkerung<br />
schwerste Gesundheitsschäden hervorrufen.<br />
Das hier geschilderte Gefährdungspotential hat durchaus realistische Hintergründe.<br />
So führte die Beimengung von Triorthocresylphosphat zu Speiseöl<br />
1959 in Marokko zu einer Massenvergiftung; bei einer ähnlichen, als<br />
„Speiseölkatastrophe“ bezeichneten Vergiftung, deren Ursachen wegen<br />
fehlender wissenschaftlicher Untersuchungen allerdings niemals voll aufgeklärt<br />
werden konnten, wurden 1981 in Spanien 24 000 Menschen in Mitleidenschaft<br />
gezogen, und 1986 ereignete sich in Bhopal/Indien die größte<br />
zivile Katastrophe der Neuzeit, bei der es bei der Produktion von Carbamat-<br />
Insektiziden zur Freisetzung von 30–40 Tonnen Methylisocyanat und anderer<br />
Zwischenprodukte der Carbamatsynthese kam. Seriöse Schätzungen<br />
gehen von bis zu 5 000 Toten und bis zu 60 000 auf das schwerste vergifteten<br />
Patienten aus. Bis heute leiden die Opfer dieser Katastrophe unter<br />
schwersten Organveränderungen, insbesondere Lungenschäden und chronischen<br />
Schäden des Zentralnervensystems in Form von Lähmungen. Erinnert<br />
sei auch an das Chemieunglück bei der Firma Sandoz in Basel 1969,<br />
wo es bei der Produktion chlororganischer Pestizide zu einem grenzüberschreitenden<br />
Unglück kam, das glücklicherweise nur zu Schäden für Flora<br />
und Fauna des Rheins führte, wenn auch mit einer hochgradigen Gefährdung<br />
der Trinkwasserversorgung entlang des Rheins.<br />
Spezifische Gefahren ergeben sich auch aus dem geächteten Einsatz von<br />
Nervengasen im militärischen Bereich, wie sich leider in jüngster Zeit im<br />
Nahen Osten gezeigt hat. Aber auch in der Bundesrepublik bilden Kampfstoffmunitionsfunde<br />
aus Beständen des 2. Weltkrieges in der Ostsee und auf<br />
Truppenübungsplätzen nach wie vor eine latente Gefahr, ebenso der Transport<br />
und die Beseitigung von Beständen der NATO und des ehemaligen<br />
Warschauer Paktes.<br />
Ein besonderes Gefährdungspotential ergibt sich aus dem terroristischen<br />
Einsatz dieser Nervengifte, da Organophosphate leicht herzustellen sind<br />
und z.T. bereits in Milligrammengen tödlich wirken. Die Tatsache, daß sie<br />
sowohl über die Atemluft als auch über den Magen-Darm-Trakt, ja sogar<br />
über die intakte äußere Haut aufgenommen werden können, macht sie in<br />
kriminellen Händen besonders gefährlich. Jüngste Beispiele hierfür sind<br />
zwei Anschläge mit dem Nervengift Sarin in Japan, nämlich 1994 in Matsumoto<br />
mit 600 Vergifteten und 7 Toten und die Massenvergiftung vom<br />
März 1995 in Tokio, bei welcher mehr als 5 500 Menschen exponiert waren,<br />
43
von denen 11 akut verstarben. Auch dort sind bei zahlreichen, wenn nicht<br />
gar Tausenden von Opfern, lebenslange Spätschäden zu erwarten.<br />
II.1.2.1 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Unter standardisierten intensivmedizinischen Bedingungen gelingt es heute,<br />
selbst Patienten mit schweren Organophosphat- oder Carbamatvergiftungen<br />
über die Akutphase der Intoxikation hinwegzuretten. So finden sich in der<br />
Literatur zahlreiche Einzelfallbeschreibungen von Patienten mit Insektizidvergiftungen,<br />
die trotz ausgeprägter Vergiftungssymptomatik durch künstliche<br />
Beatmung, hochdosierte Atropingabe und Gabe von spezifischen Reaktivatoren<br />
der Enzyme sowie intensiver Therapie des Herz/Kreislaufversagens<br />
die Frühphase der Vergiftung überlebt haben. Hierzu haben nicht zuletzt die<br />
von der <strong>Schutzkommission</strong> des Bundesminister des Innern bisher geförderten<br />
experimentellen <strong>Forschung</strong>svorhaben auf diesem Gebiet beigetragen.<br />
Die Analyse der beschriebenen Massenvergiftungen mit mehreren tausend<br />
Exponierten ergibt jedoch für den Fall ähnlicher Unglücksfälle in der Bundesrepublik<br />
Deutschland erhebliche Defizite auf folgenden Gebieten:<br />
– Die medizinische Erstversorgung, der gezielte Abtransport und die ärztliche<br />
Weiterbehandlung einer großen Anzahl Exponierter sind nicht<br />
gewährleistet.<br />
– Die Versorgung der Zivilbevölkerung mit geeigneten Medikamenten<br />
(Atropin, Oxime und Diazepam) ist wegen fehlender Notfalldepots im<br />
zivilen Bereich nicht mehr gesichert.<br />
– Die Kapazität der pharmazeutischen Industrie, derartige Medikamente im<br />
akuten Notfall binnen Stunden bereitzustellen, fehlt.<br />
Die Diagnostik einer Organophosphatvergiftung ist wegen mangelnder klinisch-diagnostischer<br />
Erfahrungen der Ärzte im zivilen Bereich und wegen<br />
fehlender labor-diagnostischer Routineverfahren nicht in der notwendigen<br />
Kürze der Zeit gewährleistet. Trotz des nur 11 Monate zurückliegenden<br />
Sarinanschlages in Matsumoto hat es beim zweiten Giftgasanschlag in<br />
Tokio noch sieben Stunden gedauert, bis die Diagnose einer Organophosphatintoxikation<br />
gestellt wurde.<br />
Die Gefahr „falsch-positiver“ Diagnosen einer Organophosphatvergiftung<br />
ist gerade bei vermeintlichen Massenvergiftungen erheblich. In Israel führte<br />
die prophylaktische bzw. „therapeutische“ Anwendung von Antidoten bei<br />
lediglich vermuteter, aber nicht tatsächlicher Exposition zu schweren Komplikationen<br />
mit zum Teil tödlichem Ausgang; in der Bundesrepublik kam es<br />
im Raum Tübingen zu einer regelrechten Massenhysterie nach vermeintlicher<br />
Aufnahme von Insektiziden, die jedoch durch intensive Diagnostik<br />
ausgeschlossen werden konnte. Die psychischen <strong>Folge</strong>n vermeintlicher<br />
oder tatsächlicher Unglücke sind unerforscht.<br />
Bei schweren Organophosphat- bzw. Carbamatvergiftungen sind die sogenannten<br />
„nicht-cholinergen“ Spätschäden der Lunge, des Herz-Kreislauf-<br />
44
Systems, des Gerinnungs- und Fibrinolysesystems sowie die Schäden des<br />
Nervensystems (irreversible Nervenlähmungen) als Ausdruck der chronischen<br />
Neurotoxizität ein grundlegendes Problem. Diese Spätveränderungen<br />
wurden in der Vergangenheit eher selten beobachtet, weil die Patienten<br />
mangels ausreichender Therapiemöglichkeiten bereits in der Frühphase der<br />
Vergiftung verstarben. Heute dagegen muß mit dem vermehrten Auftreten<br />
der beschriebenen Spätsymptomatik gerechnet werden. Eine derartige<br />
Situation träfe die für den Schutz der Zivilbevölkerung Verantwortlichen in<br />
der Bundesrepublik völlig unvorbereitet.<br />
II.1.2.2 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />
Für die Gefahrenvorsorge ergeben sich neben der Beseitigung der beschriebenen<br />
logistischen Defizite auf dem Transportsektor und im Bereich der<br />
Versorgung der Zivilbevölkerung mit Notfallmedikamenten insbesondere<br />
folgende Konsequenzen:<br />
– Die chemische Analytik der Einzelsubstanzen, insbesondere deren quantitative<br />
Erfassung muß verbessert werden.<br />
– Es müssen Dateien über die Wirkungsprofile und Gefährdungspotentiale<br />
der wichtigsten Organophosphate und Carbarnate erstellt und verfügbar<br />
gemacht werden. Darin ist besonders die chronische Neurotoxizität von<br />
der akuten Toxizität und dem Intermediärsyndrom abzugrenzen.<br />
– Die Erforschung der Intermediär- und Spätschäden im Rahmen der <strong>Zivilschutz</strong>forschung<br />
muß mit größter Priorität vorangetrieben werden, da auf<br />
diesem Gebiet die größten Defizite bestehen. In diesem Zusammenhang<br />
ist u.U. die gegenwärtige forschungsfeindliche Einstellung gegenüber<br />
unumgänglichen, unter den strengen Kautelen des geltenden Tierschutzgesetzes<br />
durchzuführenden Tierversuchen neu zu überdenken.<br />
II.1.3 Anforderungen an die Gefahrenabwehr<br />
Die Messung muß so schnell wie möglich erfolgen, und zwar möglichst mit<br />
Identifizierung des Stoffes und Bestimmung seiner Konzentration. Nach<br />
einer Umfrage bei den Feuerwehren wird es als wichtig für die optimale<br />
Gefahrenabwehr erachtet, daß innerhalb der ersten 15 Min. Meßergebnisse<br />
vorliegen. Das Vorhandensein einer Gefahrstoffwolke, deren Abdrift und<br />
Wirkung kann später nur sehr unvollkommen berücksichtigt werden, selbst<br />
wenn die derzeit verfügbaren computergestützten Ausbreitungsmodelle eingesetzt<br />
werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, den weiteren Aufbau und<br />
die Verflechtung der Giftnotruf- bzw. Giftinformationszentralen fortzuführen<br />
und deren Datenbasis zu erweitern. Dies sind Voraussetzungen für<br />
eine angemessene Beratung der Einsatzkräfte und für die Warnung der<br />
Bevölkerung.<br />
45
Ein Ereignis mit chemischen Kampfstoffen erfordert eine Geräte- und<br />
Schutzausstattung, deren Leistungsdaten über das der Ausstattung für<br />
Gefahrenguteinsätze hinausgeht. In Tunneln mit wenig Konvektion oder in<br />
Gebäuden mit Klimaanlagen sind z.B. aufgrund der lang anhaltenden<br />
Gefährdung weitergehende Anforderung an die Ausstattung zu stellen.<br />
Zur Sicherstellung der Gefahrenabwehr bei Großschadenslagen ist eine effiziente<br />
Dekontamination erforderlich. Nur so kann gewährleistet werden,<br />
daß die vorhandenen technischen Ressourcen wieder verwendet werden<br />
können und nicht nach kurzer Zeit erschöpft sind.<br />
Es wird empfohlen, zur Beseitigung dieser Defizite eine schnell einsetzbare<br />
Task Force mit Hubschrauber einzurichten. Vorbild hierfür könnten die im<br />
Bereich des Strahlenschutzes bereits realisierten Einheiten zur Aero-<br />
Gammaspektrometrie sein.<br />
II.1.4 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
Der folgende <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf besteht:<br />
– Weiterentwicklung und Optimierung der Meßtechnik, die im militärischen<br />
Bereich bereits zur Kampfstoffdetektion eingesetzt wird, wie das<br />
Ionenmobilitätsspektrometer, hinsichtlich der Belange der industriellen<br />
Gefahrstoffe.<br />
– Entwicklung eines Verfahrens zur schnellen toxikologischen Bewertung<br />
analytischer Befunde.<br />
– Systemanalyse für die Einrichtung einer schnell einsetzbaren Spezialtruppe<br />
mit optimaler Ausstattung und Ausbildung auf der Basis von<br />
Hubschraubern nach dem Vorbild der existierenden Einheiten der Aero-<br />
Gammaspektrometrie. Die hierfür erforderliche meßtechnische Ausstattung<br />
existiert bereits.<br />
– Entwicklung eines Ausbildungs- und Übungskonzepts für Planspiele insbesondere<br />
im medizinischen Bereich sowie die Optimierung des Zusammenwirkens<br />
von neuer Meßtechnik und Einsatzleitung.<br />
– Ergänzung der bestehenden Datenbanken durch Sammeln von toxikologischen<br />
Daten, insbesondere von Industriechemikalien.<br />
– Untersuchung der toxischen Wirkung von Stoffgemischen, die bei Explosionen<br />
oder Bränden frei werden.<br />
– Einrichtung eines fächerübergreifenden <strong>Forschung</strong>sschwerpunktes für die<br />
Diagnostik und Therapie schwerer Organophosphat- und Carbamatvergiftungen.<br />
– Entwicklung diagnostischer und therapeutischer Verfahrensschemata für<br />
die Notfallmedizin unter Berücksichtigung der psychischen und sozialen<br />
46
Verhaltensmuster der Bevölkerung in vermeintlichen oder tatsächlichen<br />
Katastrophensituationen.<br />
– Untersuchung der Langzeitschäden durch Organophosphate und Carbamate.<br />
II.1.5 Fazit<br />
Die Gefahren, die durch die mögliche Freisetzung von Chemikalien entstehen,<br />
können durch optimale Vorsorge eingedämmt werden. Dazu gehört<br />
die Ausstattung der Gefahrenabwehrkräfte mit optimaler Schutztechnik,<br />
Meßtechnik und Informationstechnik und die Übung im Umgang mit diesen<br />
Techniken.<br />
Das Personal und die Ausstattung im Zivil- und Katastrophenschutz müssen<br />
in der Lage sein, nicht nur Industriechemikalien sondern auch Kampfstoffe<br />
zu erkennen und deren Auswirkungen zu bekämpfen und einzudämmen.<br />
Wenn die Techniken für Kampfstoffe beherrscht werden, kann auch den<br />
weniger toxischen industriellen Gefahrstoffen sicher begegnet werden. Alle<br />
Maßnahmen, die zur Kalkulierbarkeit des Risikos und zur Abwehr von<br />
Gefahren beitragen, werden den Chemiestandort Deutschland fördern und<br />
langfristig sichern helfen.<br />
II.2 Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten und<br />
biologische Kampfmittel<br />
II.2.1. Gefahren durch Erreger übertragbarer Krankheiten<br />
Die ständige Überwachung des Gefahrenpotentials übertragbarer Krankheiten<br />
durch internationale und nationale Institutionen gewährleistet im allgemeinen<br />
eine zuverlässige Information der Gesundheitsbehörden, der<br />
Ärzte und auch der Bevölkerung über mögliche Bedrohung und erlaubt,<br />
z.B. zur Vorbeugung gegen epidemisches Auftreten der Influenza oder der<br />
Poliomyelitis, gezielte Impfaktionen.<br />
Andere Infektionskrankheiten, z.B. die periodisch eskalierende Diphtherie<br />
oder die verschiedenen, häufig eingeschleppten Hepatitiden, bilden allein<br />
schon dadurch eine beachtliche Gefahr, weil der mögliche und sichere<br />
Impfschutz gegen sie gröblichst vernachlässigt wird. Dieser von Experten<br />
immer wieder beklagte, äußerst mangelhafte Impfschutz gegen die bekannten,<br />
nicht nur auf das Kindesalter beschränkten Infektionskrankheiten bildet<br />
eine erhebliche Zusatzgefährdung für die Bevölkerung, wenn es infolge<br />
einer Katastrophe, z.B. lediglich einer größeren und länger anhaltenden<br />
Überschwemmung, zu einem Absinken des Hygienestandards kommt.<br />
Keinesfalls außer acht zu lassen sind die Gefahren infolge eines veränderten<br />
Infektionsmodus bekannter Krankheitserreger, wie es das Auftreten der<br />
47
enterohaemorrhagischen Escherichia coli (EHEC) zeigt, oder infolge Einschleppung<br />
exotischer Krankheitserreger, deren Virulenzgrad unter den in<br />
Mitteleuropa gegebenen Bedingungen nicht vorhersehbar ist.<br />
Alle Erreger übertragbarer Krankheiten können im Zusammenhang mit<br />
Krieg, großräumig wirksamen Terrorakten und Katastrophen gleich welcher<br />
Ursache als <strong>Folge</strong> der veränderten Umwelt- und Lebensbedingungen der<br />
betroffenen Menschen zu einem explosionsartigen Ausbruch von Seuchen<br />
führen. Im Extremfall können auch in Mitteleuropa Typhus, Paratyphus,<br />
Ruhr und Cholera eine größere Bedeutung für die Gesundheit und das Überleben<br />
der Bevölkerung erlangen als das auslösende Katastrophenereignis.<br />
Die Verhütung und Bekämpfung dieser Gefahr steht und fällt mit dem Grad<br />
der Erhaltung bzw. der schnellen Wiederherstellung hygienischer Grundbedingungen.<br />
II.2.2. Gefahren durch den Einsatz hochkontagiöser Krankheitserreger<br />
zu terroristischen Zwecken und als militärisches Kampfmittel<br />
Die Gefahr, daß in Europa hochkontagiöse Krankheitserreger, z.B. Yersinia<br />
pestis, Bacillus anthracis, das toxinbildende Clostridium botulinum und<br />
andere als biologische Kampfmittel eingesetzt werden, ist aus vielen Gründen<br />
wenig wahrscheinlich. Diese massengefährdenden Krankheitserreger<br />
könnten sich jedoch zu terroristischen, erpresserischen und anderen kriminellen<br />
Angriffen auf größere, dagegen völlig ungeschützte Populationen<br />
anbieten. Ihre tödliche Wirkung kommt der chemischer Agentien gleich<br />
oder übertrifft diese, da sich diese Erreger schnell vermehren und ausbreiten.<br />
In ähnlicher Weise bilden auch Salmonellen, Escherichia coli, Choleravibrionen,<br />
Yersinia enterocolitica und verschiedene Kokkenarten, wie es die<br />
unter geordneten Alltagsbedingungen vorkommenden Enteritis-, Ruhr- und<br />
Paratyphus-Epidemien Jahr für Jahr belegen, ein nicht zu unterschätzendes<br />
Gefahrenpotential.<br />
II.2.3. Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />
Bereitet die frühzeitige Diagnose einer bekannten übertragbaren Krankheit<br />
in Deutschland kaum Schwierigkeiten, so besteht bei typischen Massenerkrankungen,<br />
z.B. Enteritiden, die Gefahr, daß einige Zeit vergeht, bis ihr<br />
Herd ermittelt und eingegrenzt, notwendige Schutz- und Behandlungsmaßnahmen<br />
eingeleitet sowie weitere Ausbreitung oder erneutes Aufflackern<br />
verhindert werden können.<br />
Eingeschleppte kontagiöse und bisher unbekannte Erreger, wie seinerzeit<br />
Legionellosen oder das Ebola-Virus, bereiten der nicht darauf gefaßten Ärzteschaft<br />
und selbst Spezialinstituten nach wie vor erhebliche diagnostische<br />
Schwierigkeiten mit entsprechender Auswirkung auf die Chancen einer spezifischen<br />
Therapie. Neu auftauchende Varianten bekannter Erreger wie<br />
48
jüngst der enterohaemorrhagischen Escherichia coli (EHEC) und das Versagen<br />
bisher üblicher Behandlungsmaßnahmen tragen ein übriges zur Unsicherheit<br />
der Ärzte gegenüber gehäuft auftretenden Infektionskrankheiten<br />
bei. Darüber hinaus kann die Neigung, frühzeitig eine antibiotische Therapie<br />
einzuleiten, Krankheitsbilder verschleiern und effektive Behandlung<br />
verzögern oder gar verhindern, wie dies vor einigen Jahren in Nordrhein-<br />
Westfalen bei einer Häufung von Diphtherie durch vorschnelle Gabe von<br />
Penicillin der Fall war.<br />
Die bisher enge Verflechtung der Gesundheitsämter mit den Medizinaluntersuchungsämtern<br />
ist neuerdings durch die in einigen Bundesländern<br />
begonnene Übertragung der bisherigen Institutsaufgaben auf private Einrichtungen<br />
in Gefahr geraten.<br />
II.2.4. Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />
– Im Interesse des Zivil- und des Katastrophenschutzes sollte die Verbindung<br />
der kommunalen bzw. staatlichen Gesundheitsämter zu den jeweiligen<br />
Katastrophenschutzbehörden und die Mitwirkung der Leiter dieser<br />
Ämter bei den Schutzplanungen und -vorbereitung verbindlich geregelt<br />
werden.<br />
– Die Privatisierung von Medizinaluntersuchungsämtern darf nicht zu ihrer<br />
Lösung aus dem Verbund mit den Gesundheitsämtern führen. Außerdem<br />
ist die ständige Information der Gesundheitsämter über Gefahrenlagen<br />
durch die Institutionen des Bundes, z.B. das Robert-Koch-Institut, verbindlich<br />
zu regeln.<br />
– Es muß ein offizielles Anliegen sein, die Ärzteschaft und auch andere<br />
Heilberufsgruppen über drohende Gefahren durch Krankheitserreger<br />
frühzeitig zu informieren.<br />
– Zur kurzfristigen Information der Ärzte über Maßnahmen der Hygiene im<br />
Katastrophenfall sowie über Diagnostik der Therapie infektiöser Krankheiten<br />
sollten die von der <strong>Schutzkommission</strong> bereits vor Jahren entwickelten<br />
Merkblätter aktualisiert und in größerem Rahmen zur Ausgabe<br />
vorbereitet werden.<br />
– An den Universitäten ist der in den letzten Jahren erheblich vernachlässigte<br />
Lehrstoff „Allgemeine Hygiene“ unter dem Gesichtspunkt des Zivilund<br />
Katastrophenschutzes entschieden zu aktivieren. Ebenso sind die<br />
ärztlichen Standesvertretungen aufzufordern, die Kenntnisse über Infektionskrankheiten,<br />
Impfschutz und Hygienemaßnahmen in Notsituationen<br />
in ihren Fortbildungsveranstaltungen zu fördern.<br />
49
II.3 Gefahren durch die Freisetzung von Radioaktivität<br />
einschließlich des Einsatzes von Kernwaffen<br />
II.3.1 Einleitung<br />
Eine Freisetzung von radioaktivem Material und eine Strahlenexposition<br />
einer größeren Anzahl von Personen kann bei Reaktorunfällen und beim<br />
Einsatz von Kernwaffen erfolgen. In kleineren Rahmen können solche Krisensituationen<br />
auch bei Unfällen beim Transport radioaktiven Materials<br />
und dessen Verlust, bzw. bei terroristischer Verwendung radioaktiver Quellen<br />
zustande kommen. Unfälle durch Exposition von Personen innerhalb<br />
nuklearer, industrieller oder medizinischer Anlagen bleiben hier außer<br />
Betracht, soweit sie nicht die Bevölkerung mitbetreffen, obwohl auch solche<br />
Unfälle ähnliche Vorkehrungen, wie unter III.4 erwähnt, erfordern. Die<br />
Wirkungen und Risiken von ionisierenden Strahlen und radioaktiver Kontaminierung<br />
sind besser bekannt als die der meisten anderen gefährlichen<br />
Agenzien, sowohl in Bezug auf akute, unter Umständen lebensgefährliche<br />
Strahlensyndrome, als auch auf <strong>Folge</strong>risiken wie maligne Tumoren, genetische<br />
Schäden, Mißbildungen nach Exposition von Schwangeren und <strong>Folge</strong>n<br />
örtlicher Überbestrahlung. Die <strong>Forschung</strong> nach dem Tschernobylunfall hat<br />
zudem wesentlich dazu beigetragen, die Langzeitrisiken einer radioaktiven<br />
Kontaminierung zu verstehen und entsprechende optimale Interventionen<br />
zum Schutz der Bevölkerung und zur Rehabilitierung kontaminierter Gebiete<br />
zu entwickeln.<br />
II.3.2 Spezifische Gefahren<br />
II.3.2.1 Kernwaffen<br />
Die politische Situation hat sich in den letzten Jahren soweit entspannt, daß<br />
ein Einsatz von Kernwaffen in einem globalen Konflikt unwahrscheinlich<br />
geworden ist. Zudem hat die Entwicklung von Kernwaffen sich von solchen,<br />
bei denen mit einer Bestrahlung einer größeren Zahl von Zivilpersonen<br />
und weiträumiger Kontaminierung zu rechnen ist, zu gezielten Waffen<br />
mit relativ geringer lokaler Kontaminierung hingewandt. Trotzdem ist ein<br />
Einsatz von Kernwaffen nicht a priori auszuschließen, zumal waffenfähiges<br />
Material auch in die Hände von Staaten mit erpresserischer Politik und<br />
selbst von terroristischen Gruppen kommen kann. Zudem weist die Überwachung<br />
spaltbaren Materials in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion<br />
Lücken auf; selbst eine Drohung der Verbreitung solchen Materials durch<br />
terroristische Gruppen, z.B. von Plutonium in der Wasserversorgung, kann<br />
zu Paniksituationen führen, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen<br />
Gefahr stehen. Schließlich ist bei allen Fragen im Zusammenhang mit Kernwaffen<br />
zu berücksichtigen, daß die politischen Bemühungen zur Verhinderung<br />
der Proliferation von Massenvernichtungswaffen nicht in jedem Fall<br />
erfolgreich sein konnten und diese deshalb bei allen Schutzüberlegungen<br />
mit berücksichtigt werden müssen.<br />
50
Die Wirkungskomponenten von Kernwaffen sind gut bekannt (siehe Sittkus<br />
et al. Beiträge für Wirkung von Kernwaffen, <strong>Zivilschutz</strong>forschung, Band 19,<br />
1989). Dabei handelt es sich um den Druckstoß, die thermische Strahlung, die<br />
Initialkernstrahlung und Rückstandsstrahlung aus dem Fallout. Die Falloutstrahlung<br />
betrifft zunächst die äußere Bestrahlung aus der „Wolke“ und die<br />
Ablagerung radioaktiven Materials auf der Erdoberfläche. Zusätzlich kann<br />
die Neutronenstrahlung Materialien auf der Erdoberfläche, an Gebäuden etc.<br />
zu radioaktiven Nukliden umwandeln. Schließlich ist die Aufnahme radioaktiven<br />
Materials durch Einatmen und die Nahrung zu berücksichtigen.<br />
II.3.2.2 Unfälle in Nuklearanlagen<br />
Der Unfall von Tschernobyl hat das enorme Schadenspotential solcher<br />
Situationen gezeigt, das sich nicht allein auf gesundheitliche Schäden<br />
beschränkt, sondern auch ökologische, landwirtschaftliche, wirtschaftliche<br />
und kommerzielle <strong>Folge</strong>n einschließt. Die Risiken von nicht völlig sicheren<br />
Kernanlagen in den Ländern des früheren Ostblocks bestehen weiter. Unfälle<br />
an Kernanlagen innerhalb der Europäischen Union sind, dank der besseren<br />
Sicherheitsvorkehrungen weit weniger wahrscheinlich und, sollten sie<br />
eintreten, mit besseren Vorwarnmöglichkeiten und geringerer Kontamination<br />
der Umwelt verbunden. Andererseits ist die Bevölkerungsdichte in der<br />
Nähe solcher Anlagen erheblich größer und die Notwendigkeit einer Rehabilitierung<br />
kontaminierter Gebiete dringender, als dies bei Tschernobyl der<br />
Fall war. Die <strong>Folge</strong>n eines solchen Unfalls sind akute Strahlenschäden unter<br />
Umständen mit Wunden, die eine medizinische Versorgung erfordern (vgl.<br />
III.4), und mit drohenden Spätschäden (malignen Tumoren, genetischen<br />
und teratogenen Risiken) kombiniert, die kurzzeitig durch die Aufnahme<br />
radioaktiven Materials und externe Bestrahlung aus der „Wolke“ und langzeitig<br />
durch die Aufnahme radioaktiver Nahrung, Trinkwasser und externe<br />
Bestrahlung von Oberflächen mit deponiertem radioaktiven Material<br />
zustande kommen. Eine direkte externe Bestrahlung, wie sie bei Kernwaffen<br />
auftritt, können das Personal der Anlage und die Einsatzkräfte betreffen,<br />
aber wohl kaum die allgemeine Bevölkerung. Sorgfältige Beachtung verlangt<br />
auch die Situation in der Landwirtschaft und der industriellen Produktion.<br />
Allgemein kann man annehmen, daß Kernwaffen eine größere Anzahl<br />
akuter Strahlenerkrankungen zur <strong>Folge</strong> haben können als Unfälle an Kernanlagen,<br />
während sie (heute) voraussichtlich ein geringeres Potential für<br />
weiträumige Kontaminierung haben. Andererseits ist die Gefahr des Mangels<br />
an geeigneten Nahrungsmitteln bei Nuklearunfällen geringer als beim<br />
kriegsmäßigen Einsatz von Kernwaffen, die die Transportmöglichkeiten<br />
aus unbetroffenen Gebieten beeinträchtigen können.<br />
II.3.2.3 Verlust/Verbreitung radioaktiver Quellen und Transportunfälle<br />
Der Verlust radioaktiver Quellen, vor allem aus medizinischen und industriellen<br />
Anlagen, bleibt ein Risiko, das durch eine bessere Überwachung<br />
51
aller Strahlenquellen vermindert, aber nicht ausgeschlossen werden kann<br />
und das in der Vergangenheit nicht selten zu einer Überbestrahlung von<br />
Personen und zu einer kleinräumigen Kontaminierung der Umgebung<br />
geführt hat (wie z.B. bei der willkürlichen Zerstörung einer Cäsiumquelle<br />
in Brasilien). Auch Unfälle beim Transport radioaktiven Materials, wozu<br />
auch medizinische und industrielle Strahlenquellen gerechnet werden müssen,<br />
bedürfen der Beachtung. Jedoch sind alle diese Fälle, im Gegensatz zu<br />
den oben genannten, meist lokale Probleme, die auch auf dieser Ebene<br />
gelost werden können. Doch sind vor allem die großen Wasserstraßen zu<br />
beachten; der verkehrsdichteste Kanal der Welt führt durch Holstein.<br />
II.3.3 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Es ist unbestritten, daß nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation kriegerische<br />
Szenarien, die von einem Kernwaffeneinsatz auf dem Gebiet der<br />
Bundesgebiet mit ausgehen mußten, äußerst unwahrscheinlich geworden<br />
sind. Außerdem sind die Kernwaffenstaaten bemüht, die bestehenden Kernwaffenarsenale<br />
abzubauen, die Weiterverbreitung von Kernwaffen international<br />
zu verhindern und Kernwaffentests weltweit zu verbieten. Trotz dieser<br />
Anstrengungen ist der kriegerische Einsatz von Kernwaffen in Zukunft<br />
nicht völlig auszuschließen. Die bestehenden Waffenarsenale bleiben<br />
immer noch beträchtlich, und es ist unverkennbar, daß die Kernwaffenstaaten<br />
sich selbst nach einem umfassenden Kernwaffenteststopp die Option der<br />
Weiterentwicklung der existierenden Kernwaffentechnik mit anderen<br />
Methoden offenhalten wollen.<br />
Trotz der zweifellos vorhandenen umfangreichen Kenntnisse über die Wirkungsweise<br />
ionisierender Strahlung auf den menschlichen Organismus,<br />
bekannter Dosis-Wirkungsbeziehungen bei unterschiedlichen Arten der<br />
Bestrahlung und der differenzierten Kenntnisse über den Verlauf eines<br />
Strahleninsults, müssen die Möglichkeiten zur Therapie hochexponierter<br />
Menschen immer noch als äußerst eingeschränkt angesehen werden. Dies<br />
gilt in verstärktem Maße für Kombinationsverletzungen, z.B. einen Strahleninsult<br />
bei gleichzeitigem thermischen Trauma: Die Behandlungsergebnisse<br />
nach Tschernobyl haben gezeigt, daß in solchen Fällen selbst die<br />
Methoden der Individualmedizin an Grenzen stoßen.<br />
II.3.4 Ermittlung der Strahlendosis der Bevölkerung in großräumigen<br />
Katastrophensituationen<br />
In den hier einschlägigen Gefahrenlagen ist mit einer Vielzahl von Betroffenen<br />
zu rechnen, die aufgrund unterschiedlicher Noxen einer medizinischen<br />
Betreuung bedürfen. Eine wesentliche Aufgabe besteht darin, die<br />
Personengruppen, die keiner unmittelbaren Therapie bedürfen, und diejenigen,<br />
die weiter beobachtet oder gar behandelt werden müssen, zu erkennen.<br />
Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist die Bestimmung der Strahlendosis.<br />
52
Hierfür stehen grundsätzlich die klinischen Frühsymptome sowie Methoden<br />
der biologischen und der physikalischen Dosimetrie zur Verfügung. Die<br />
Möglichkeiten der biologischen Dosimetrie sind in Band 12 der <strong>Zivilschutz</strong>forschung<br />
(H. Mönig, W. Pohlit, E.-L. Sattler, 1993, Biologische<br />
Dosimetrie) beschrieben. Im Gegensatz zur physikalischen Dosimetrie<br />
erlaubt es die biologische Dosisermittlung grundsätzlich, unmittelbar die<br />
biologische Reaktionslage der betroffenen Einzelpersonen zu erfassen.<br />
Allerdings ist im subletalen wie auch im letalen Bereich noch keine befriedigende<br />
Lösung für die biologische Dosimetrie gefunden worden, die in<br />
kurzer Zeit eine zuverlässige Aussage liefert.<br />
II.3.4.1 Möglichkeiten der physikalischen Dosimetrie<br />
Für die physikalische Dosimetrie können sowohl ortsfeste Systeme zur<br />
Überwachung der Gamma-Ortsdosisleitung als auch spezielle Dosimeter<br />
eingesetzt werden.<br />
Zur Ermittlung der externen Exposition durch Gammastrahlung bei einer<br />
großräumigen Kontamination der Umwelt und bei einem Kernwaffeneinsatz<br />
steht mit dem bundesweiten Meßnetz zur Bestimmung der Gamma-<br />
Ortsdosisleistung ein leistungsfähiges Meßsystem hoher räumlicher Dichte<br />
zur Verfügung, das die Dosisbelastung beim Aufenthalt im Freien in einer<br />
Region im Mittel abzuschätzen gestattet. Der Betrieb des Meßnetzes durch<br />
den Bund wird auch in Zukunft sichergestellt werden.<br />
Für die Zwecke der physikalischen Individualdosimetrie sind Methoden<br />
erforderlich, die für den Massenanfall geeignet sind. Entsprechende Methoden<br />
sind von der <strong>Schutzkommission</strong> sowie von anderen Arbeitsgruppen<br />
untersucht worden. Es wurden in der Regel Materialien als Dosis-Sonden<br />
verwendet, die am Aufenthaltsort von Personen ohnehin vorhanden sind<br />
und dosisabhängige Änderungen physikalischer Eigenschaften aufweisen,<br />
z.B. die Lumineszenz von Zucker beim Lösen in Wasser nach Absorption<br />
ionisierender Strahlung. Geeignete Materialien wurden ermittelt und spezifiziert.<br />
Dabei wurde für die Anwendung solche Methoden zunächst vorausgesetzt,<br />
daß für die Sonden-Auslesung Geräte eingesetzt werden, die möglichst<br />
im medizinischen Bereich bereits zur Verfügung stehen und von<br />
Laborkräften bedient werden können. Nachteilig erwies sich jedoch noch<br />
die aufwendige Probenbehandlung im Anwendungsfall.<br />
II.3.4.2 Notwendige Schritte zur Verbesserung der Situation<br />
Die Möglichkeiten der biologischen Dosimetrie bedürfen der weiteren<br />
Untersuchung. Im Bereich der physikalischen Individualdosimetrie ist die<br />
Verfügbarkeit der untersuchten Methoden gegenwärtig nicht sichergestellt.<br />
Die erforderlichen nächsten Schritte für die Verbesserung dieser Situation<br />
sind:<br />
53
– es ist eine Methode auszuwählen, die eine einfache Sondenauswertung<br />
durch ungeschultes Personal erlaubt,<br />
– es ist ein computerunterstützter Leitfaden für die Auswertung zu erstellen,<br />
– es sind die Standorte geeigneter Geräte zu ermitteln,<br />
– es ist die Verfügbarkeit von Personal und Geräten im Katastrophenfall<br />
sicherzustellen.<br />
II.4 Gefahren durch spontane Freisetzung mechanischer<br />
Energie einschließlich Waffenwirkungen<br />
II.4.1 Terroranschläge<br />
Die starke Abhängigkeit unserer Gesellschaft von einer hochtechnologischen<br />
Infrastruktur erlaubt keine Ausfälle sensibler Einrichtungen (z.B.<br />
Datenräume, Versorgungseinrichtungen). Aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen<br />
Lage wird zukünftig mehr mit Terror- oder Sabotageanschlägen<br />
zu rechnen sein.<br />
II.4.1.1 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Der derzeitige Stand der Kenntnisse läßt keine Beantwortung der damit verbundenen<br />
Fragestellungen zu. Es ist unbekannt, welchen Beanspruchungen<br />
vorhandene Wand- oder Deckenkonstruktionen standhalten, die durch lokale<br />
Belastungen infolge von Sprengstoffanschlägen verursacht werden.<br />
II.4.1.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation<br />
Um auf derartige terroristische Akte besser vorbereitet zu sein, sind<br />
Anschläge durch Autobomben oder Selbstlaborate zu untersuchen. Neben<br />
Beanspruchungen von außen sind auch Detonationen im Inneren von<br />
Gebäuden zu betrachten, bei denen besonders große Schäden zu erwarten<br />
sind. Dies ist für die Wand- und Deckenkonstruktion der dafür in Frage<br />
kommenden Baumaterialien (Mauerwerk, Stahlbeton) vorzunehmen. In<br />
einem ersten Schritt ist das Widerstands-verhalten der vorhandenen Bausubstanz<br />
zu erfassen. Dazu muß eine Vielzahl von Einflußgrößen wie z.B.<br />
Materialfestigkeit oder Bruchverhalten für die unterschiedlichen Baustoffe<br />
berücksichtigt werden. Im Anschluß daran sind wirkungsvolle Verstärkungen<br />
durch neu zu entwickelnde Baustoffe bzw. Konstruktionsprinzipien<br />
bereitzustellen.<br />
Ferner sind Schutzmaßnahmen gegen typische Belastungen bei Sprengstoffanschlägen<br />
in Form kostengünstiger Verstärkung gefährdeter Objekte zu<br />
erarbeiten. Dazu ist die Entwicklung neuer duktiler Werkstoffe mit hohem<br />
Energieaufnahmenvermögen bei der Verformung erforderlich. Unter<br />
Berücksichtigung der besonderen Umstände bei Anschlägen sind Schutz-<br />
54
abstände neu zu definieren. Darüber hinaus sollte untersucht werden, ob<br />
durch spezielle Tarnmaßnahmen die Auffälligkeit gefährdeter Bauten und<br />
Bauteile reduziert werden kann.<br />
II.4.2 Impaktwirkungen<br />
In Katastrophenfällen kommt es vielfach durch den Anprall von z.B. aufschlagenden<br />
Fahrzeugen, Maschinenteilen und Trümmerfragmenten von<br />
berstenden Behältern, aber auch durch detonierende Sprengladungen infolge<br />
terroristischer Anschläge zu hohen dynamischen Druckbeanspruchungen<br />
von Bauteilen und Bauwerken, die im überwiegenden Umfang in Beton<br />
oder Stahlbeton gefertigt sind. Das Studium dieser Anprallvorgänge und die<br />
Interaktion zwischen anprallendem „Trümmerfragment“ und Widerstand<br />
leistender Betonstruktur ist eine Vorbedingung für eine Abschätzung des<br />
dabei auftretenden Schadensumfanges und des Gefährdungspotentials.<br />
II.4.2.1 Analyse des Ist-Zustandes<br />
Die Abschätzung der <strong>Folge</strong>wirkungen dieser „Katastrophenlastfälle“ auf<br />
vorhandene Baustrukturen aber auch für die Formfindung und Dimensionierung<br />
entsprechender Schutzstrukturen konnte bisher nur beschränkt und<br />
empirisch mit Hilfe von aufwendigen und kostenintensiven, experimentellen<br />
Untersuchungen erfolgen. Ein Einsatz der modernen numerischen Verfahren,<br />
wie z.B. Finite-Element-Methoden, konnte nicht erfolgen, da hierzu<br />
die entsprechenden konstitutiven Gesetze und Zustandsgleichungen für<br />
die sehr hohen Druckbeanspruchungen fehlen bzw. keine experimentell<br />
verifizierte analytische Untersuchungen vorliegen.<br />
II.4.2.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation und<br />
<strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
Vordringlich ist deshalb die Erarbeitung und punktuelle experimentelle<br />
Verifizierung eines Rechen-Codes, der auf realistischen Stoffgesetzen für<br />
Stahlbeton basiert und die fortschreitende Rißbildung sowie Auswirkungen<br />
der Bewehrung und dynamisch bedingte Festigkeitssteigerungen wirklichkeitsnah<br />
berücksichtigt.<br />
Mit diesem Verfahren ist es dann möglich, entsprechende Katastrophenszenarios<br />
numerisch zu simulieren und dabei den Schadensverlauf zu studieren.<br />
Damit kann das Verhalten von Bauwerken und Bauteilen bei diesen<br />
Sonderbeanspruchungen effektiv untersucht und beurteilt werden und auch<br />
die Dimensionierung von Schutzbauten und -elementen wirklichkeitsnah<br />
durchgeführt werden.<br />
II.4.3 Gefahren durch Zuganprall<br />
Das knapper werdende Bauland und die zentrale Lage vieler auf Stadtgebiet<br />
liegender Bahnanlagen führt zu vermehrten Geleiseüberbauten. Der durch<br />
55
einen Zuganprall verursachte Einsturz eines solchen Bauwerks, aber insbesondere<br />
das Entgleisen eines Zuges im Bahnhofsbereich muß zu hohen<br />
Personen- und Sachschaden und in der <strong>Folge</strong> zu einschneidenden Betriebsstörungen<br />
führen. Die Erhöhung der Zugdichten und insbesondere der Fahrgeschwindigkeiten<br />
der neuen Hochgeschwindigkeitszüge, wie z.B. TGV<br />
und ICE, haben das Gefahrenpotential maßgeblich vergrößert, da die kinetische<br />
Energie des Zuges und damit das Zerstörungspotential quadratisch<br />
mit der Geschwindigkeit ansteigt.<br />
II.4.3.1 Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />
Aufgrund der verfügbaren Kenntnisse können Bauwerke und Bauteile für<br />
den Fall normaler Belastung weitgehend realistisch modelliert und ihr Verhalten<br />
weitgehend wirklichkeitsnah bis hin zum Versagenszustand abgeschätzt<br />
werden. Auf der Gegenseite ist selbst eine vereinfachte rechnerische<br />
Erfassung eines Zuganpralls derzeit kaum möglich, da wesentliche theoretische<br />
und experimentelle Erkenntnisse hierfür noch nicht verfügbar sind.<br />
Das mit einem Zuganprall verbundene hohe Schadenspotential erfordert<br />
eine genauere Berücksichtigung des Gefährdungsszenarios „Zuganprall“,<br />
um wirklichkeitsnahe Aussagen für Schutzeinrichtungen und realistische<br />
Abschätzungen für erforderliche Schutzzonen zu erhalten.<br />
II.4.3.2 Empfehlung zur Verbesserung der Situation<br />
– Katalogisierung der verschiedenen Schienenfahrzeuge und Klassifizierung<br />
im Hinblick auf ihr Tragverhalten unter Horizontallast (Anprall)<br />
sowie Verformungsverhalten.<br />
– Auswahl charakteristischer Zugfahrzeuge und Zugkompositionen unter<br />
Einbeziehung statistischer Komponenten.<br />
– Entwicklung charakteristischer Gefährdungsszenarios.<br />
– Entwicklung vereinfachter numerischer Rechenmodelle.<br />
– Angabe einfacher, zuverlässiger Verfahren zur Abschätzung der Einwirkungen<br />
aus Zuganprall.<br />
II.5 Gefahren durch starke elektromagnetische Felder<br />
II.5.1 Wirkungsweise und spezifische Gefahren<br />
Der Nukleare ElektroMagnetische ImPuls (NEMP) ist eine der Wirkungskomponenten<br />
bei Kernwaffenexplosionen. Er basiert auf einer bei der<br />
Explosion frei werdenden sehr energiereichen Á-Strahlung, die durch<br />
Wechselwirkung, z.B. mit der umgebenden Lufthülle (Compton Effekt),<br />
diese ionisiert und damit ein impulsförmiges elektromagnetisches Feld<br />
56
generiert. Im wesentlichen dabei zu unterscheiden ist zwischen einem exoatmosphärischen<br />
NEMP (Exo-NEMP) und einem endoatmosphärischen<br />
NEMP (Endo-NEMP). Der Exo-NEMP entsteht bei Kernwaffenexplosionen<br />
außerhalb der Atmosphäre. Abhängig von der Detonationshöhe wird ein<br />
mehr oder weniger großes Gebiet auf der Erdoberfläche mit elektromagnetischer<br />
Energie beaufschlagt, während die Einflüsse der anderen Kernwaffenwirkungskomponenten<br />
wie Druck, Hitze und Kernstrahlung auf der Erde<br />
praktisch nicht mehr wirksam sind. Der Endo-NEMP entsteht bei bodennahen<br />
Kernwaffenexplosionen und tritt im Gegensatz zum Exo-NEMP in<br />
Konkurrenz zu den anderen hier wirksamen Komponenten wie Druck,<br />
Hitze und Kernstrahlung auf. Von besonderem Interesse ist in diesem<br />
Zusammenhang der Exo-NEMP, da er großflächig elektrische Einrichtungen<br />
unzulässig stark beaufschlagen und damit insbesondere die immer<br />
schneller expandierende Telekommunikationstechnik empfindlich stören<br />
bzw. zerstören kann. Diese Gefährdung besteht sowohl für die leitungsgebundene<br />
als auch für die drahtlose Telekommunikationstechnik und gilt<br />
gleichermaßen für den militärischen und für den zivilen Bereich. Aufgrund<br />
der seit Anfang dieses Jahrzehnts eingeleiteten politischen Entwicklung hat<br />
diese Thematik etwas an Brisanz verloren, dennoch ist eine Bedrohung<br />
durch den NEMP keineswegs ausgeschlossen.<br />
An Bedeutung gewinnt zunehmend im militärischen Bereich der Problemkreis<br />
High Power Electromagnetics (HPE), bei dem mit Hilfe geeigneter<br />
Generatoren und Antennen ein scharf gebündelter elektromagnetischer<br />
Strahl hoher Energiedichte erzeugt und abgestrahlt werden kann, der eine<br />
Gefahr für die beaufschlagte Elektronik darstellt. In diesem Zusammenhang<br />
muß generell die Beeinflussung elektrischer und elektronischer Geräte,<br />
Anlagen und Systeme durch elektromagnetische Felder betrachtet werden.<br />
Probleme dieser Art sind ganz allgemein Gegenstand der elelektromagnetischen<br />
Verträglichkeit (EMV). Die EMV ist die Fähigkeit einer elektrischen<br />
Einrichtung, in ihrer elektromagnetischen Umgebung zufriedenstellend zu<br />
funktionieren, ohne diese Umgebung, zu der auch andere Einrichtungen<br />
gehören können, unzulässig zu beeinflussen. Die EMV berücksichtigt somit<br />
einerseits die elektromagnetische Störaussendung (Emission) und andererseits<br />
die elektromagnetische Störfestigkeit. Die Störaussendung und die<br />
Störfestigkeitsbeeinträchtigung können sowohl leitungsgebunden als auch<br />
über das elektromagnetische Feld erfolgen. Man könnte hier die Beeinflussung<br />
durch NEMP, LEMP (lightning electromagnetic pulse d.h. Blitzentladungen)<br />
und HPE im weitesten Sinne als Untermenge der EMV auffassen.<br />
– Im weitesten Sinne bestehen damit elektromagnetische Beeinflussungen<br />
von Systemen und Anlagen, die für die Bevölkerung von großer Bedeutung<br />
sind und im Falle des Ausfalls eine unmittelbare Gefährdung darstellen<br />
können; dies sind insbesondere:<br />
– zentrale Telekommunikationseinrichtungen, z.B. Radio- und Fernsehsender<br />
sowie persönliche Telekommunikationseinrichtungen, z.B. Radio,<br />
Fernseher, Telefon, Fax und PC,<br />
57
– Telekommunikationseinrichtungen im Rettungswesen (Feuerwehr, Katastrophenschutz),<br />
– Versorgungseinrichtungen; hier sind in erster Linie Krankenhäuser mit<br />
ihren vielfältigen elektronisch medizinischen Einrichtungen zu nennen,<br />
– Energieversorgungseinrichtungen,<br />
– das Bahntransportwesen.<br />
Um die EMV eines Gerätes, einer Anlage oder eines komplexen Systems<br />
sicherzustellen, muß gelten:<br />
– die Störaussendung, d.h. die Emission elektromagnetischer Energie darf<br />
bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten,<br />
– die Störfestigkeit darf bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht<br />
unterschreiten bzw. die Störempfindlichkeit darf bestimmte in Normen<br />
festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten.<br />
Es ist wichtig, daß Grenzwerte festgelegt werden, denn nur dann kann festgestellt<br />
werden, ob einer elektrischen Einrichtung die EMV bescheinigt<br />
werden kann bzw. ob und in welchem Umfang Maßnahmen zur Sicherstellung<br />
der EMV durchgeführt werden müssen.<br />
II.5.2 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Zur Vermeidung von Handelshemmnissen innerhalb der Europäischen<br />
Union hat der Rat der EG am 3. Mai 1989 eine entsprechende „EU-Rahmenrichtlinie<br />
zur Elektromagnetischen Verträglichkeit“ (89/336EG) erarbeitet,<br />
mit deren Erlaß die EMV zum Schutzziel erklärt wurde. Jede elektrische<br />
Einrichtung, die ab dem 1. 1. 1992 innerhalb der EU in Verkehr<br />
gebracht wurde bzw. in Betrieb gehen sollte, mußte dieser Richtlinie genügen.<br />
Die von der EU zugestandene Übergangsfrist, die erforderlich war, um<br />
Nachqualifikationen auslaufender Produktserien zu vermeiden, ist zum<br />
31. 12. 1995 abgelaufen. Die Bundesrepublik Deutschland hat die Umsetzung<br />
der Rahmenrichtlinie in nationales Recht am 9. November 1992 durch<br />
Erlaß des Gesetzes über die elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten<br />
(EMV) vollzogen. Gemäß Artikel 10 der Rahmenrichtlinie ist die Übereinstimmung<br />
elektrischer Einrichtungen mit den Schutzanforderungen durch<br />
eine EU-Konformitätserklärung des Herstellers zu bescheinigen.<br />
Geräte, die nach dem 31. 12. 1995 in Verkehr gebracht werden bzw. in<br />
Betrieb genommen werden, müssen nach dem EMV-Gesetz über eine ausreichende<br />
Störfestigkeit verfügen und dürfen bezüglich der elektromagnetischen<br />
Emission bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Bei der elektromagnetischen<br />
Verträglichkeit ist zwischen der EMV auf der Geräteebene<br />
und der auf der Systemebene zu unterscheiden. Das bedeutet, daß ein<br />
System, bestehend aus mehreren Geräten und Komponenten, nicht unbedingt<br />
EMV-fest zu sein braucht, obwohl den einzelnen Geräten und System-<br />
58
komponenten die EMV bescheinigt worden ist. Hier können zur Erlangung<br />
der EMV zusätzliche Maßnahmen erforderlich werden, die in der Regel<br />
systemspezifisch sind. Die EMV-Vorschriften und -Normen berücksichtigen<br />
daher ohne weiteres nicht die Beeinflussungen durch NEMP, LEMP<br />
und HPE. Auf diesem Gebieten existieren teilweise Normen bzw. sind in<br />
der Entstehung. Im Gegensatz zu den EMV-Normen sind diese Normen<br />
nicht zwingend für alle Geräte z.B. in Telekommunikationseinrichtungen,<br />
in Krankenhäusern, in Rettungseinrichtungen vorgeschrieben. Bei NEMP,<br />
LEMP und HPE können die erreichbaren Feldstärken um Größenordnungen<br />
höher liegen, so daß hier nicht nur mit reversiblen Veränderungen der Bauteileparameter<br />
sondern auch von Beschädigungen von Bauelementen und<br />
vollständigen elektronischen Komponenten ausgegangen werden muß.<br />
II.5.3 Resümee/Analyse der momentanen Situation<br />
Aufgrund der obigen Ausführungen<br />
– weisen die auf dem Markt verfügbaren Geräte und Anlagen im Einflußbereich<br />
der Bevölkerung, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen einen<br />
NEMP- und einen LEMP-Schutz auf. Ein Schutz gegen HPE existiert<br />
generell noch nicht;<br />
– muß zwar nach den zur Zeit gültigen Gesetzen für jedes Gerät in Zukunft<br />
die Einhaltung der EMV-Vorschriften bezüglich Störaussendungen und<br />
Störfestigkeit nachgewiesen werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß aus<br />
diesen Geräten aufgebaute Systeme und Anlagen automatisch über die<br />
erforderliche EMV-Festigkeit verfügen (EMV auf der Systemebene).<br />
II.5.4 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
Damit ergibt sich ein <strong>Forschung</strong>sbedarf auf folgenden Gebieten:<br />
Untersuchung der NEMP-, LEMP- sowie HPE-Festigkeit von für die<br />
Bevölkerung relevanten Einrichtungen wie:<br />
– Telekommunikationseinrichtungen (Rundfunk, Feuerwehr, Rettungsdienste)<br />
– elektronisch medizinische Einrichtungen in Krankenhäusern<br />
– Stromversorgungseinrichtungen<br />
– Bahntransport (einschließlich Signal- und Fernmeldewesen)<br />
– Konzeption eines Schutzes, ggf. Untersuchung und Realisierung von<br />
Schutzmaßnahmen<br />
Untersuchung der EMV bezüglich Störaussendung und Störfestigkeit für<br />
die Bevölkerung relevanter Systeme der oben bezeichneten Einrichtungen.<br />
59
III. Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung<br />
Die Vorkehrungen zum Schutze der Bevölkerung betreffen sowohl die Verpflichtungen<br />
des Bundes und der Länder als auch die Eigenverantwortung<br />
jedes einzelnen Bürgers. Die Verpflichtung beinhaltet, sich mit den Notwendigkeiten<br />
von Schutzvorkehrungen auseinanderzusetzen. Leider ist es<br />
in unserer Versorgungsgesellschaft nur allzu üblich geworden, nach staatlicher<br />
Hilfe zu rufen und Eigeninitiative zu vermeiden. Diese Einstellung in<br />
weiten Kreisen der Bevölkerung ist in den hier angesprochenen Ausnahmesituationen<br />
äußerst gefährlich, da nur durch die aktive Zusammenarbeit<br />
zwischen den betroffenen und den mit der Gefahrenabwehr befaßten Stellen<br />
eine effektive Abwehr der Gefahren möglich wird. Auf diesem Hintergrund<br />
werden sowohl der Selbstschutz und die Selbsthilfe als auch die von Seiten<br />
des Staats angebotenen und vorgehaltenen Einrichtungen und Maßnahmen<br />
angesprochen.<br />
III.1 Selbstschutz<br />
III.1.1 Beschreibung der Situation<br />
Die öffentliche Gefahrenabwehr in der Bundesrepublik Deutschland befindet<br />
sich im Umbruch (Neukonzeption des Zivil- und Katastrophenschutzes).<br />
Im europäischen Maßstab werden weitere Umbrüche wahrscheinlich<br />
(Maastricht II; europäische Außen-und Sicherheitspolitik;<br />
NATO-Erweiterung). Derzeit kann von einer „Organisations-, Motivationsund<br />
Warnlücke“ gesprochen werden, die sich auf die zuständigen Verwaltungsebenen<br />
und verantwortlichen Ressorts auswirkt, aber auch das in<br />
modernen Gesellschaften ohnehin mit Schwierigkeiten belastete ehrenamtliche<br />
und freiwillige Engagement und die (Wohn-)Bevölkerung insgesamt<br />
beeinflußt und dadurch die ohnehin vorhandene Selbstschutzlücke<br />
nochmals verbreitert. „Selbstschutz“ wird in diesem Zusammenhang im<br />
weitest möglichen Sinne verstanden. Er schließt Selbst- und Nachbarschaftshilfe<br />
sowie die grundlegende Fähigkeit und Bereitschaft zu Hilfe von<br />
der Ersten Hilfe bei Unfällen bis hin zur Hilfe bei Notfällen ein.<br />
III.1.2 Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Die auf Bundesebene unternommenen Versuche, den Katastrophenschutz<br />
der Länder in Teilbereichen z.B. in der Führungsstruktur zu vereinheitlichen,<br />
dürfen als gescheitert angesehen werden. Der ehedem natoweit vorgehaltene<br />
CIMEX-Rahmen, schutzpolitisch ohnehin kritikwürdig, ist bislang<br />
ersatzlos entfallen. Eine länderübergreifende Schutzkonzeption müßte<br />
in Länderinitiative von neuem entwickelt werden. Auf Gemeinde- und<br />
Kreisebene sind Teile des Hilfepotentials entmotiviert und ohne tragende<br />
Zukunftsperspektive. Das Warnwesen wurde vollkommen zerlöchert, eine<br />
für Ernstfälle tragfähige und glaubwürdige Informationsstruktur für die<br />
60
Bevölkerung fehlt derzeit. Auch in anderen Bereichen fehlt es an konsistenten,<br />
überzeugenden Lösungen. Eine geeignete Integration von Schutzkomponenten<br />
und -gesetzgebungen (z.B. vom Gesundheitsschutz und<br />
Strahlenschutz über Arbeits-, Natur- und Umweltschutz bis hin zum Zivilund<br />
Katastrophenschutz), aber auch von unterschiedlichen öffentlichen und<br />
privaten Schutz- und Vorsorgesystemen (öffentliche und betriebliche<br />
Gefahrenabwehr, auch Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung sowie<br />
private Risikoabsicherungen) könnte durchaus auch ökonomisch relevante<br />
Rationalisierungen, administrative Vereinfachungen (insbesondere bei<br />
Genehmigungsverfahren) und überzeugendere Lösungen (auch im Hinblick<br />
auf Risikoakzeptanz) bewirken. Eine solche Gesamtkonzeption, die die<br />
unterschiedlichen Schutzgesetzgebungen auf deutscher (oder gar auf EU-)<br />
Ebene zusammenführen und harmonisieren könnte, erscheint unter den<br />
gegenwärtigen Bedingungen ausgeschlossen.<br />
Auch von den <strong>Zivilschutz</strong>zielen selber her gesehen stellen sich Probleme:<br />
Die zentralen Begriffe, wissenschaftliche (wie „Risiko“, „Katastrophen“<br />
oder „Akzeptanz“) und verwaltungstypische (wie „Selbstschutz“, „Katastrophenschutz“<br />
und „öffentliche Gefahrenabwehr“), werden unscharf<br />
gefaßt und teilweise widersprüchlich umgesetzt. Die umlaufenden Definitionen<br />
formulieren eher die Handlungsabsichten und -strategien der Definierenden,<br />
als daß sie eine interessenübergreifende Operationalisierung und<br />
Methodik möglich machen. Somit bleiben diese Definitionen vor allem<br />
gegenüber der für Selbstschutz anzusprechenden und auf diesen angewiesenen<br />
Bevölkerung bedeutungs- und wirkungsarm. Der schwach wirksame<br />
Bundesverband für den Selbstschutz fällt gänzlich fort. Zudem verstärkt<br />
eine modische Untergangssemantik und ein medial inszenierter „Katastrophismus“<br />
eine falsche Risikowahrnehmung. Übertreibende, auf Sensationslust<br />
und Emotionen abzielende Darstellungen in den Medien, insbesondere<br />
effekthascherische (Katastrophen-)Filme, erzeugen, vor allem dann wenn<br />
tatsächliche Erfahrungen fehlen, fehlleitende Erwartungshaltungen und<br />
Orientierungsmodelle. Entgegen allen tatsächlichen Fällen halten selbst<br />
Helfer im Katastrophenschutz hysterische Reaktionen und Panik für die<br />
wahrscheinlichsten Reaktionsmuster in Katastrophen, so daß der Mangel an<br />
realitäts-gerechter Darstellung und Aufklärung zunehmend mehr Menschen<br />
die Fähigkeit verlieren läßt, Bedrohungen angemessen einschätzen und<br />
Gefahren in Relation zueinander bewerten zu können. Dadurch werden<br />
Gefährdungen immer spekulativer und Handlungsoptionen immer irrationaler.<br />
Im einzelnen: Die Planung und Maßnahmen des Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
beruhen noch überwiegend auf überkommenen Bemessungsgrundlagen<br />
und fragwürdigen Szenarien (z.B. im Bereich Evakuierung,<br />
„ungelenkte Bevölkerungsbewegungen“, Bevölkerungsverhalten). Erforderlich<br />
wäre eine rationale Gefährdungsanalyse auf Gemeinde- und<br />
Kreisebene statt eine Bezugnahmen auf einen quantitativen Bevölkerungsschlüssel.<br />
Eine moderne Gefahrenabwehr muß auf die Gefahrenquellen,<br />
61
ihre Verteilung im Raum und ihre möglichen Schadenswirkungen (Verletzlichkeitsbewertung)<br />
bezogen sein und auf aussagefähige Statistiken über die<br />
verfügbaren Einsatzkräfte und Einsätze und über die Schadensfälle und<br />
-verläufe zurückgreifen können. Insbesondere die Reaktions- und Handlungspotentiale<br />
der (Wohn-) Bevölkerung können nicht realistisch dargestellt<br />
und einbezogen werden, weil teils kostenträchtige empirisch aktuelle<br />
Grundlagen fehlen, teils aber auch durchaus vorhandene empirische <strong>Forschung</strong><br />
zum Thema nicht im Umfang ihres Kenntnisstandes wahrgenommen<br />
wird. Unkenntnis bis hin zum Mißtrauen zwischen staatlichen Instanzen<br />
und Öffentlichkeit resultiert aus diesen bislang nicht aufgearbeiteten<br />
Einschätzungen und Kenntnislücken. Aber auch in der Bevölkerung muß<br />
daß Mißtrauen gegenüber einer umfassenden staatlichen Gefahrenabwehrplanung<br />
abgebaut werden. Ziel muß eine transparente, konsistente,<br />
überzeugende Gefahrenabwehrplanung sein, die zu einer Sicherheitspartnerschaft<br />
zwischen Bevölkerung, staatlichen Institutionen, Trägern der<br />
Gefahrenabwehr und risikorelevanten Unternehmen befähigt.<br />
III.1.3 Empfehlungen zur Verbesserung der Situation<br />
Es mangelt eine rationale Gefahrenanalyse und eine Bestandsaufnahme der<br />
Gefährdungen und Schutzpotentiale. Gefahren und Schutzvorkehr müssen<br />
in ihrem Bezug erfaßbar und damit kalkulierbar gemacht werden. Die Bundesrepublik<br />
Deutschland bedarf also einer Vulnerabilitätsanalyse und einer<br />
integrativen Schutzpolitik, die von der privaten bis zur gemeinwohlorientierten<br />
Daseinsvorsorge alle Möglichkeiten der Schutzvorkehr in der<br />
modernen Industriegesellschaft aufzeigt.<br />
Es bedarf einer modernen Aufklärungspolitik, die bis in die Begrifflichkeit<br />
hinein eine angemessene Darstellung von Risiko und Katastrophe ermöglicht<br />
und das Bedrohliche dem einzelnen Bürger rational, gleichwohl auch<br />
emotional befriedigend zu erklären ebenso imstande ist, wie sie desgleichen<br />
eine konstruktive Sicht auf Sinn und Nutzen von Schutzvorkehrungen zu<br />
eröffnen vermag.<br />
Es bedarf einer allgemeinverständlichen Aufklärungsschrift (um die sich ein<br />
abrufbarer netz- und printgestützter Ring abrufbarer Informationen legt) zur<br />
Verletzlichkeit unserer Gesellschaft, über Ursachen, Verlauf und <strong>Folge</strong>n<br />
von Großunglücken und Katastrophen, über realistische (auch realistischkarge)<br />
Selbstschutz- und Selbsthilfechancen – durch die also nicht neu verunsichert<br />
wird, die aber die latenten und von den Medien noch beförderten<br />
Übertreibungen und Irrationalitäten überwinden helfen. Hier wäre es sinnvoll,<br />
die neue „konsumentenorientierte“ Aufklärungspolitik der FEMA<br />
(Federal Emergency Management Agency, USA) zu studieren und für deutsche<br />
Verhältnisse fruchtbar zu machen.<br />
Maßnahmen im Katastrophenfall werden nur akzeptiert und können in<br />
optimaler Weise nur durchgesetzt werden, wenn sie von einer objektiven<br />
62
Aufklärung der Öffentlichkeit begleitetet werden, die nicht von irrationalen<br />
Ängsten oder politischem Opportunismus bestimmt ist. Für die verschiedenen<br />
denkbaren Katastrophensituationen müssen daher Persönlichkeiten vorgesehen<br />
werden, die in der Lage sind, objektive Information über Risiken<br />
und Gegenmaßnahmen zu geben. In der <strong>Schutzkommission</strong> steht eine solche<br />
Gruppe mit solch breitgefächerter Kompetenz zur Verfügung.<br />
Eine Katastrophensituation konfrontiert die Entscheidungsträger mit einer<br />
überwältigenden Menge verschiedenster Informationen, deren Bedeutung<br />
in Bezug auf die Risiken für die Bevölkerung und die optimalen Gegenmaßnahmen<br />
unter Streß schwer zu beurteilen sind. Für eine massive Freisetzung<br />
radioaktiven Materials stehen bereits Computersysteme zur Entscheidungshilfe<br />
in Echtzeit zur Verfügung. Diese sollte auch für andere<br />
denkbare Katastrophen vorgesehen werden.<br />
III.1.4. <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
<strong>Forschung</strong>sbedarf besteht<br />
– im Bereich einer rationalen Bestandsaufnahme der Gefährdungen und der<br />
Schutzvorkehr in der Bundesrepublik Deutschland: Eine flächendeckende<br />
Schwachstellenanalyse (Vulnerabilitätsanalyse) wäre nützlich und<br />
sinnvoll.<br />
– im Bereich der Schutzvorkehr der Bevölkerung: Ein „Handlungsbezogener<br />
Schutzdatenatlas“ (HSD) auf der Grundlage einer Vulnerabilitätsanalyse<br />
könnte die Bevölkerung zu einer emotionsloseren und konstruktiveren<br />
Umsetzung von Selbstschutzmaßnahmen befähigen.<br />
– im Bereich öffentlicher Darstellung (insbesondere nach Wegfall des BVS)<br />
von Gefährdungen und Schutzmöglichkeiten: Hier sollte eine moderne<br />
Aufklärungskampagne entwickelt werden.<br />
– im Bereich des Einsatzes und der Anwendung moderner, Telekommunikation.<br />
Hier sollte, durchaus in Anlehnung an das Computer-Quiz-Spiel<br />
des Bundesamtes für Verfassungsschutz, eine für Kinder und Jugendliche<br />
geeignete spielerische Heranführung an die Probleme „Risiko“, „Gefährdung“<br />
und „Daseinsvorsorge“ entwickelt werden, wie auch moderne<br />
Informations- und Kommunikations-medien auf der Basis von WWW<br />
(World Wide Web) und Internet, um das erstarrte Desinteresse an der<br />
Thematik in neuen Formen diskussionsfähig aufzubereiten.<br />
III.2 Warnung der Bevölkerung<br />
Gerade Katastrophen und Großschadenslagen zeigen, daß die rechtzeitige<br />
Warnung der Bevölkerung für deren Schutz eine außerordentlich große<br />
Bedeutung besitzt. Ein effizientes Warnsystem ist Voraussetzung für die<br />
Aktivierung anderer <strong>Zivilschutz</strong>bereiche und die Wirksamkeit von Schutz-<br />
63
maßnahmen. Insofern müssen die Maßnahmen zur Warnung der Bevölkerung<br />
zusammen mit den in solchen Fällen erforderlichen Maßnahmen als<br />
ein Gesamtpaket zum Schutze der Bevölkerung angesehen werden.<br />
III.2.1 Gegenwärtige Situation<br />
Für die Warnung der Bevölkerung wurde bis vor wenigen Jahren im Rahmen<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es durch den Bund ein bundesweites Sirenennetz mit<br />
über 60 000 Sirenen betrieben. Im Rahmen der Reduktion des Bundes für<br />
den Warndienst wurde dieses Sirenennetz aufgegeben und in Teilen (ca.<br />
30 000 Stück) von den Ländern zur weiteren Nutzung übernommen. Die<br />
Nutzung dieser Sirenen beschränkt sich allerdings in der Regel auf die örtliche<br />
Nutzung im Bereich von Anlagen mit erhöhtem Gefahrenpotential.<br />
Die nicht mehr betriebenen Sirenen werden in den nächsten Jahren auf<br />
Kosten des Bundes abgebaut. Damit ist das wichtigste Instrumentarium zur<br />
schnellen, zuverlässigen und flächendeckenden Warnung der Bevölkerung<br />
in einer Situation mit akuter Gefahren für die Bevölkerung verloren, ohne<br />
daß hierfür bisher ein tragfähiger Ersatz geschaffen worden wäre.<br />
Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll die Warnung zukünftig<br />
über die für diese Zwecke bei Katastrophen im Frieden von den Ländern<br />
vorgesehenen Warnsysteme erfolgen. Angestrebt wird die Einrichtung eines<br />
Gefahrenerfassungs- und Informationssystems, das die Warnung der Bevölkerung<br />
in allen denkbaren Gefahrenlagen z.B. über Rundfunk ermöglicht.<br />
Einzelheiten hierzu liegen gegenwärtig noch nicht fest.<br />
III.2.2 Mindestvoraussetzungen zur Schließung der existierenden<br />
„Warnlücke“<br />
Eine Verlagerung der <strong>Zivilschutz</strong>aufgabe Warnung der Bevölkerung von<br />
bisher 10 (8) Bundeseinrichtungen (Warnämter) auf möglicherweise<br />
16 Warnzentralen der Länder erfordert<br />
– ein tragfähiges technisches Konzept zur Bereitstellung der zur Lageermittlung<br />
und -bewertung erforderlichen Daten und Informationen des<br />
Bundes, die Grundlage für die Warnung der Bevölkerung sind;<br />
– den Aufbau von möglichst einheitlichen organisatorischen und technischen<br />
Strukturen in den Ländern, die dieses Konzept operationell umsetzen<br />
und ständig verfügbar vorhalten;<br />
– die Schaffung geeigneter alternativer, robuster Warnmittel, die abhängig<br />
von der Größe des Ausmaßes eines Schadensgebiets durchaus unterschiedlich<br />
sein können. Hierbei sollten, aufbauend auf allen in einem<br />
Land verfügbaren Warnmitteln, auf unterschiedliche Gefahrenlagen zugeschnittene<br />
Warnkonzepte entwickelt und mit den jeweiligen Nachbarländern<br />
abgestimmt werden;<br />
– die verbindliche Regelung für die gegenseitige Information und die Koordination<br />
der Warnung der Bevölkerung bei Ereignissen, die Ländergrenzen<br />
überschreiten.<br />
64
Man erkennt aus dieser Aufzählung, daß der Bund im Bereich Warnung der<br />
Bevölkerung als koordinierende Instanz auch in Zukunft national gefordert<br />
sein wird. Dies gilt natürlich auch für die Warnung von Nachbarstaaten im<br />
Rahmen bilateraler und internationaler Informationsabkommen.<br />
III.3 Schutz durch bauliche Maßnahmen<br />
Angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Lage und der in Kapitel<br />
II.4 beschriebenen Gefahrenpotentiale im Frieden verändern sich auch die<br />
Anforderungen an den Schutz, insbesondere den baulichen Schutz und die<br />
zugehörige Infrastruktur. Nach wie vor bildet die Wohnung den ersten und<br />
ursprünglichsten Schutzort, auch wenn Arbeitsplatz, Schule, Kindergarten<br />
und öffentliche wie gewerbliche Gebäude ebenso wahrscheinliche Aufenthaltsorte<br />
im Schadensfall sein können. Insofern als kriegsbedingte Bedrohungen<br />
geringer wahrscheinlich geworden sind, können hier Schutzstandards<br />
herabgesetzt werden. Da andererseits größere Gefährdungslagen vor<br />
allem im C-Bereich und mobilitätsbedingte Probleme zunehmen, wird<br />
zukünftig stärker auf Evakuierung abgestellt werden müssen. Dann dürften<br />
vor allem öffentliche Gebäude als Auffang- und Sammelstellen an Bedeutung<br />
gewinnen und Schutzleistungen eine Rolle spielen, die auf Lenkung,<br />
Betreuung, Information und Versorgung abstellen können. Hierfür fehlt es<br />
jedoch an Infrastruktur, Übung und teilweise auch schon an geeigneter<br />
Planung und Vorbereitung.<br />
Betrachtet man das Haus als ein unmittelbares Schutzsystem für die Bevölkerung,<br />
so muß man ein wachsendes Sicherheitsrisiko feststellen. Dies<br />
ergibt sich aufgrund gegenläufiger Entwicklungen:<br />
– Steigendes Gefährdungspotential vor allem aufgrund der hochkomplexen<br />
Industrie- und Technologieentwicklung sowie wachsender terroristischer<br />
Aktivitäten.<br />
– Auszehrung des Schutzwertes der Gebäude z.B. aufgrund der Verwendung<br />
neuer Werkstoffe beim Bau und in der Ausstattung, aus Kosteneinsparungsgründen,<br />
wegen des weitgehenden Verzichts auf Kellerräume etc.<br />
III.3.1 <strong>Forschung</strong>sbereiche<br />
Aus den vorgenannten Gefährdungen ergeben sich für den „Schutz durch<br />
bauliche Maßnahmen“ schwerpunktmäßig folgende <strong>Forschung</strong>smaßnahmen:<br />
• Baulicher Schutz gegen äußere Gefahren<br />
– aus nicht machtpolitisch bedingten Entwicklungen<br />
– aus machtpolitisch bedingten Entwicklungen<br />
• Ertüchtigung der vorhandenen Bausubstanz<br />
65
• Einfachschutz bei Neubauten<br />
• Sachschutz, Industrieschutz<br />
• Schutz gegen mechanische und toxische Einwirkungen<br />
– Schutz gegen aufschlagende Gegenstände (z. B. Trümmer)<br />
• Schutz gegen Kontaktladungen<br />
– Schutzwirkung von Erdüberdeckungen für Räume und Behältnisse<br />
– Schutz vor luftgetragenen Schadstoffen<br />
• Schutz gegen dynamische Einwirkungen (z.B. Zuganprall)<br />
• Schutz gegen Brandeinwirkungen<br />
– Einzelbrände<br />
– Meilerbrände<br />
• Bauliche Hilfe bei Bergungsmaßnahmen<br />
– Erdrutsche<br />
– Wirbelstürme<br />
– Erdbeben<br />
– Überschwemmungen<br />
Als vordringlich werden folgende <strong>Forschung</strong>sthemen angesehen:<br />
– Entwicklung von Stoffgesetzen für Beton unter dynamischer Beanspruchungen.<br />
Impakt durch aufschlagende Trümmer jeglicher Art, mit dem in<br />
Katastrophenfällen gerechnet werden muß, und Blastwirkungen detonierender<br />
Sprengladungen (z.B. Autobomben und Selbstlaborate) führen zu<br />
hohen dynamischen Beanspruchungen von Bauteilen und Bauwerken. Die<br />
Kenntnis der Wechselwirkung zwischen Belastung und Widerstand leistender<br />
Betonstruktur ist Voraussetzung für die Abschätzung des Schadensumfangs<br />
und des Gefahrenpotentials. Empirische Untersuchungen<br />
sind aufwendig, kostenintensiv und nur beschränkt durchführbar.<br />
Für den Einsatz moderner Rechenverfahren fehlen bisher jedoch die entsprechenden<br />
konstruktiven Gesetze und Zustandsgleichungen. Diese sind<br />
zu erarbeiten.<br />
• Dynamisches Verhalten lokal beanspruchter Mauerwerkswände und<br />
Stahlbetonkonstruktionen (Material- und Bruchverhalten bei Impakt).<br />
Da zu diesem Themenkreis experimentell verifizierte analytische Untersuchungen<br />
kaum vorliegen, ist die Erarbeitung und punktuelle Validierung<br />
eines geeigneten Rechencodes erforderlich, der auf realistischen<br />
Stoffgesetzen basiert. Dazu müssen die fortschreitende Rißbildung, die<br />
Auswirkungen der Bewehrung und die dynamisch bedingte Festigkeitssteigerung<br />
realistisch berücksichtigt werden.<br />
• <strong>Neue</strong>ntwicklung duktiler Werkstoffe (Faserbeton, hochfeste Betone,<br />
SIFCON 1<br />
66
Um wirkungsvolle und kostengünstige Verstärkungen für Bauwerke und<br />
Bauelemente bereit stellen zu können, die durch dynamische Belastungen<br />
(z. B. Impakt, Blastbelastung von außen, Detonation im Innern) bedroht<br />
werden, müssen neue Werkstoffe mit hoher Energieaufnahme bei der Verformung<br />
entwickelt werden. Mit SIFCON bieten sich beispielsweise eine<br />
Reihe von Anwendungsmöglichkeiten an, die es entsprechend umzusetzen<br />
gilt:<br />
– Schutz von Hochspannungsmasten (Ummantelung der Gitterkonstruktion<br />
zum Schutz gegen Sägen und Sprengladungen).<br />
– Bau von Transformatorenhäusern (Berstschutz).<br />
– Anprallelemente und Sicherheitszäune.<br />
– Schutzbauelemente für wechselnde Einsatzorte.<br />
• Modellentwicklungen zum Zuganprall<br />
Wie unter II.4.3 begründet, besteht ein hohes, wachsendes Zerstörungspotential<br />
durch Zuganprall. Für diese Sonderbelastung sind derzeit<br />
wesentliche theoretische und experimentelle Erkenntnisse nicht verfügbar.<br />
Hierzu sind u.a. charakteristische Gefährdungs-Szenarien und vereinfachte<br />
Rechenmodelle zu entwickeln.<br />
III.4 Medizinische Versorgung<br />
III.4.1. Ausgangslage<br />
Haben die alljährlich eintretenden Naturkatastrophen bisher nur begrenzt<br />
Gesundheitsschäden verursacht, so bilden technische Katastrophen stets<br />
eine nach Zahl, Art und Schwere der Gesundheitsschädigungen unwägbare<br />
Gefahr.<br />
Gewaltaktionen und von außen geführte Angriffe auf die Bundesrepublik<br />
können die Gesundheit der Bevölkerung sowohl durch direkte Einwirkungen<br />
als auch infolge der durch sie verursachten infrastrukturellen Schäden<br />
bedrohen. Zahlreiche Schadensereignisse jeglicher Art können mehrere<br />
Bundesländer zugleich einbeziehen oder sich auf sie auswirken. Die Schädigungen<br />
der Gesundheit können Tod, Verletzungen aller Art, Infektionen,<br />
Vergiftungen, Verbrennungsverletzungen und Strahlenschäden umfassen.<br />
Daß eine Katastrophe infolge einer schnell um sich greifenden Seuche<br />
infolge zufälliger Einschleppung hochpathogener Erreger seit Jahrzehnten<br />
in Deutschland nicht mehr eingetreten ist, berechtigt nicht, diese Gefahr zu<br />
vernachlässigen. Überdies können solche Erreger zu einer bösen Überraschung<br />
werden, wenn sie im Zuge einer Aggression von außen oder als<br />
subversive Maßnahme zum Einsatz kommen.<br />
Haben Katastrophen jeglicher Art erhebliche Zerstörungen der Infrastruktur<br />
oder massive Umweltschäden verursacht, ist infolge des Zusammenbruchs<br />
67
von Versorgungssystemen usw. sehr bald mit dem zusätzlichen Ausbruch<br />
von Infektionen zu rechnen, die bei mangelnder Vorsorge seuchenartigen<br />
Charakter annehmen. Dieser Umstand gewinnt besondere Bedeutung durch<br />
die Tatsache, daß schon heute – besonders in Intensivstationen von Krankenhäusern<br />
– zunehmend Keime isoliert werden, die gegen alle bzw. nahezu<br />
alle bekannten Antibiotika resistent sind. Der Selektionsvorteil derartiger<br />
humanpathogener Erreger liegt auf der Hand, so daß in großem Ausmaß mit<br />
längst vergessen geglaubten, letal verlaufenden Infektionen, wie z.B. Pneumonien<br />
und Septicopyärnien, zu rechnen ist.<br />
Die Ärzte sind nach Berufsrechten und -pflichten verantwortlich für die<br />
nach wissenschaftlichen und praktischen Erkenntnissen zu veranlassenden<br />
Maßnahmen, die der Rettung von Leben und der Wiederherstellung der<br />
Gesundheit dienen. Sie wissen jedoch vielfach nicht, wie sie dieser Verantwortung<br />
gerecht zu werden haben. Im Gegensatz zur Schweiz erhält der<br />
deutsche Medizinstudent auch nur an den beiden Münchner Universitäten<br />
eine kurze Einweisung in allgemeine katastrophen-medizinische Erfordernisse.<br />
Gibt es solche Einweisungen andernorts überhaupt nicht, so sind in<br />
den neuen Bundesländern darüber hinaus die zuvor bestehenden Lehrstühle<br />
für Militärmedizin aus unsachlichen Gründen nicht in solche der Katastrophenmedizin<br />
umgewandelt worden.<br />
III.4.2. Gesetzliche Gegebenheiten für die medizinische<br />
Katastrophenhilfe<br />
Die einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen sind:<br />
– Entwurf des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungs-Gesetzes vom 23. April 1996, hier:<br />
Artikel 1, §§15–17.<br />
– Katastrophenschutzgesetze der Länder, über die in der Begründung des<br />
Entwurfs zum Neuordnungsgesetz ausgesagt wird, daß der Bund die von<br />
den Ländern geschaffenen Strukturen nach dem vergeblichen Versuch,<br />
„auf bundeseinheitliche Stärken und Strukturen des Katastrophenschutzes<br />
und auch seiner Führungsorganisation einzuwirken“, anerkennt.<br />
– Rettungsdienstgesetze bzw. -vereinbarungen der Bundesländer, die nach<br />
Inhalt und Ziel unterschiedlich sind.<br />
– Subsidiär, insbesondere bei nicht-militärischen Konflikten, die Bestimmungen<br />
über die Mitwirkung der Bundeswehr, speziell ihres Sanitätsdienstes<br />
bei der Bekämpfung von Katastrophen.<br />
– Landesgesetze für den öffentlichen Gesundheitsdienst.<br />
III.4.3 Benötigte Kräfte zur medizinischen Katastrophenhilfe:<br />
– Notärzte und Leitende Notärzte entsprechend den Ländergesetzen und<br />
-Vereinbarungen.<br />
68
– Kräfte des Rettungsdienstes, gestellt von Feuerwehren und Hilfsorganisationen<br />
gemäß den Bestimmungen der Länder.<br />
– Sanitätsdienstliche Kräfte der Hilfsorganisationen, Freiwillige.<br />
– Institutionen des öffentlichen Gesundheitsdienstes.<br />
III.4.4 Voraussetzungen zur Bewältigung der durch Katastrophen<br />
und Gewaltakte verursachten Gesundheitsschäden<br />
Unstreitig im Vordergrund der Hilfeleistung steht die qualifizierte<br />
notfallmedizinische Hilfe am Schadensort.<br />
Dazu ist ein verantwortliches Tätigwerden von Hilfsorganisationen noch nie<br />
berechtigt gewesen, da sie nur Laienhilfe leisten können. Ihre Bezeichnung<br />
bestätigt eindeutig, daß sie lediglich zur Unterstützung etatmäßiger, unter<br />
ärztlicher Leitung stehender Sanitätsdienste gebildet worden waren.<br />
Für die innerhalb kürzester Zeit (Minuten 1) notwendigen notfallmedizinischen<br />
Maßnahmen stehen stets zunächst nur die Notärzte und Rettungsdienste<br />
zur Verfügung, die allein schon auf Grund ihrer speziellen Erfahrungen<br />
und zeitlich lange vor dem Eintreffen weiterer Hilfskräfte die Rettung<br />
von Schadensopfern, ihre Sichtung, Erstbehandlung und Weiterleitung<br />
zu Krankenhäusern vornehmen bzw. einleiten.<br />
Sobald wie möglich wird ein Leitender Notarzt am Schadensort die Leitung<br />
der gesamten medizinischen Maßnahmen übernehmen, wie dies in den meisten<br />
Ländern auch vorgesehen ist.<br />
Die Mitwirkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes erstreckt sich auf<br />
Planung und Steuerung der medizinischen Hilfe innerhalb der zuständigen<br />
Katastrophen- bzw. <strong>Zivilschutz</strong>behörde.<br />
III.4.4.1 Strahlenunfälle und nukleare Katastrophen, Erste Hilfe und<br />
ärztliche Maßnahmen<br />
Strahlenschäden stehen im Hinblick auf die Zahl der Opfer keinesfalls an<br />
der Spitze tödlicher Ereignisse, dennoch ist die Furcht der Menschen vor<br />
der Kernstrahlung unverhältnismäßig groß. Die Bomben von Hiroshima<br />
und Nagasaki und noch mehr der schwere Störfall des Reaktors in Tschernobyl<br />
haben ein Tiefentrauma in der Psyche große Teile der Bevölkerung<br />
erzeugt, das sie ständig an die Möglichkeit einer Reaktorkatastrophe denken<br />
läßt.<br />
Bei einem schwerwiegenden Ereignis, etwa der explosionsartigen Freisetzung<br />
großer Strahlenmengen, kann die Anzahl hoch strahlenbelasteter,<br />
unmittelbar betroffener Personen etwa der eines schweren Bergwerksunglücks<br />
vergleichbar sein. Nach dem ersten Tschernobyl-Bericht der IAEA-<br />
Konferenz August 1986 waren es 203 Betroffene, von denen 26 (28) am akuten<br />
Strahlensyndrom, zumeist kombiniert mit Verbrennungen, verstarben.<br />
69
Im Fall einer nuklearen Katastrophe ist in der weiteren Umgebung des<br />
Schadensortes mit einer noch weit höheren Anzahl strahlenexponierter<br />
Menschen zu rechnen, die medizinischer Erfassung, Betreuung und<br />
Behandlung bedürfen werden. Dazu sind bereits vor Jahren Vorstellungen<br />
über Maßnahmen entwickelt und neue Erkenntnisse folgend fortgeschrieben<br />
worden, die in nuklearen Unfällen oder Katastrophen zu ergreifen<br />
sind.<br />
Während bei einem Unfall in einer Kernenergieanlage die Erfassung und<br />
Behandlung der unmittelbar betroffenen Opfer durch werkseigenes Personal<br />
erfolgt, sowie Personal des Rettungsdienstes und der Feuerwehren Erste<br />
Hilfe leistet, obliegt die Hilfeleistung außerhalb der Anlage so lange dem<br />
Rettungsdienst und zusätzlich herbeigerufenen Ärzten und Hilfskräften, bis<br />
der Hauptverwaltungsbeamte durch Erklärung des Katastrophenfalles die<br />
Mobilisierung zusätzlicher Einheiten anfordert.<br />
Bei jeder Hilfeleistung ist es vor allem ärztliche Aufgabe, die ausschließlich<br />
Strahlengeschädigten von ausschließlich Verletzten und von kombiniert<br />
strahlen- und traumatisch Geschädigten zu unterscheiden. Sie sind im Sinne<br />
der allgemeinen Sichtungsgrundsätze nach den Schweregraden ihrer Schädigung<br />
und Lebensbedrohung einzuordnen, so weit wie möglich zu dekontaminieren,<br />
zu behandeln und je nach Erfordernis und Dringlichkeit in<br />
Krankenhäuser abzutransportieren.<br />
Ist ein nukleares Schadenereignis eingetreten, das sich weit, auch über Ländergrenzen<br />
hinweg, auf die Bevölkerung auswirken kann, so ist es eine der<br />
wichtigsten Aufgaben des zuständigen Hauptverwaltungsbeamten einer<br />
Kreis- oder Stadtbehörde, die erforderlichen Schutz- und Abwehrmaßnahmen<br />
anzuordnen und wenn notwendig den Katastrophenfall zu erklären.<br />
Strahlenexpositionen kommen zustande durch die z.B. aus einem Reaktor<br />
freigesetzte radioaktive Wolke, durch am Boden abgelagerte Radioaktivität<br />
und durch Kontamination der Körperoberfläche. In selteneren Fällen<br />
kommt es zur Inkoiporation radioaktiver Substanzen.<br />
Als Schutz- und Abwehrmaßnahmen für die mittelbar betroffene Bevölkerung<br />
sind die Maßnahmen „Verbleiben im Haus“, „Evakuierung“, die Ausgabe<br />
von Jodtabletten und die ambulante Erfassung möglicher, nicht sofort<br />
festgestellter Strahlenfolgen vorgesehen. Außerdem müßten in solchen<br />
Fällen in der Regel der Ingestionspfad unterbunden und Maßnahmen im<br />
landwirtschaftlichen Bereich ergriffen werden.<br />
Dem Hauptverwaltungsbeamten steht neben der Feuerwehr, dem THW und<br />
Hilfsorganisationen ein Beratungsstab von Spezialisten zur Verfügung, darunter<br />
ein „Strahlenschutzarzt“. Letzterer soll anhand von Meßergebnissen<br />
über die Strahlenbelasteter im kontaminierten Bereich Vorschläge zum weiteren<br />
Verfahren machen, z.B. zur Durchführung von Evakuierungsmaßnahmen<br />
oder Ausgabe von Jodtabletten mit Anweisungen, wann und wie diese<br />
einzunehmen sind.<br />
70
Falls die Kontamination der Umgebung des Reaktors ein bedrohliches Maß<br />
erreicht, hat der die Katastrophenschutzleitung beratende „Strahlenschutzarzt“<br />
die Errichtung von Notfallstationen zu veranlassen. Dieser medizinischen<br />
Einrichtung werden Personen, die im Verdacht stehen, strahlenexponiert<br />
zu sein, zur Sichtung und Erstversorgung zugeführt.<br />
In der Notfallstation sollen die möglicherweise kontaminierten Personen<br />
registriert, befragt und anhand vorliegender Umgebungsmessungen auf ihre<br />
Gefährdung hin beurteilt werden. Kontaminierte müssen nach geltenden<br />
Grundsätzen dekontaminiert und mit Ersatzkleidung ausgestattet werden.<br />
Schließlich hat ein Arzt zu entscheiden, ob die Betroffenen weiterer Überwachung,<br />
ambulanter oder gar stationärer Behandlung bedürfen.<br />
Zur Ermittlung einer Strahlenschädigung stehen allerdings dem „Strahlenschutzarzt“<br />
nur wenige, ziemlich unsichere Hilfsmittel zur Verfügung, so<br />
z.B. die gemessene Ganima-Ortsdosisleistung im betroffenen Gebiet. Die<br />
Kontamination der Haut kann durch Messung ermittelt werden. Da biologische<br />
Laborparameter, z.B. Granulo- und Lymphozytenzahlen und<br />
Chromosomenaberrationen, zu einem frühen Zeitpunkt noch nicht aussagekräftig<br />
sind, bleibt dem Arzt in der Notfallstation für seine Erstdiagnose<br />
eines Strahlenschadens in der Regel nur die Feststellung der nicht sehr spezifischen<br />
Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerz, Bewußtseinsstörungen,<br />
Hauterythem und Konjunktivitis. Diese können aber auch<br />
Ausdruck einer starken emotionalen Reaktion auf das Schadensereignis<br />
sein.<br />
In der Notfallstation ist keine stationäre Behandlung vorzusehen oder auch<br />
nur zu beginnen. Eine große Bedeutung kommt an jedem Ort des Geschehens<br />
der psychologischen Betreuung, insbesondere in der Notfallstation,<br />
für alle Strahlenopfer, aber auch für die nur vermeintlich Geschädigten<br />
zu. Es bedarf der Erfahrung und des hohen Einfühlungsvermögens, die<br />
nicht oder wenig Gefährdeten zu überzeugen, daß sie keiner ärztlichen<br />
Behandlung bedürfen. Hierzu geeignete Psychologen schnell zur Hand<br />
zu haben, ist keineswegs gewährleistet. Der Einsatz von Geistlichen ist<br />
hier im Gegensatz zu ihrem Zuspruch für Sterbende kaum in Betracht zu<br />
ziehen.<br />
Empfehlungen zur Verbesserung der Vorbereitungen für den nuklearen<br />
Katastrophenfall:<br />
– Nach bisherigen Beobachtungen betreiben lediglich die in der Nähe einer<br />
Kernenergieanlage zuständigen Katastrophenschutzbehörden in Zusammenarbeit<br />
mit dem Betreiber die Vorbeugung gegen mögliche Schadensauswirkung<br />
auf die Bevölkerung mit der notwendigen Zuverlässigkeit. Im<br />
Hinblick auf die nach wie vor im Ausland existierenden Risiken ist zu fordern,<br />
daß sich alle Hauptverwaltungsbeamten der Kommunen und Landkreise<br />
ernsthaft mit den zu ergreifenden Vorsorge- und Schutzmaßnahmen<br />
befassen.<br />
71
– Die ermächtigten Strahlenschutzärzte sollten von den Katastrophenschutzbehörden<br />
im Interesse ihrer im Notfall notwendigen schnellen<br />
Verfügbarkeit im voraus erfaßt und ihre Anwesenheitspflicht festgelegt<br />
werden.<br />
– Es sind in Städten und ländlichen Regionen, insbesondere in der Nähe<br />
kerntechnischer Anlagen geeignete Objekte für die mögliche Errichtung<br />
von Notfallstationen zu ermitteln und in den Katastrophenschutzplänen<br />
festzuschreiben.<br />
– Notwendige Ausrüstungsgegenstände für die Notfallstationen müssen<br />
sehr kurzfristig verfügbar gemacht werden.<br />
– Die Entwicklung funktionssicherer und einfach zu handhabender Dosimeter<br />
sollte weiter gefördert werden.<br />
– Es bedarf wissenschaftlicher <strong>Forschung</strong> zu weiterer Verbesserung der<br />
Diagnostik und Therapie von Strahlenschäden.<br />
– Die bisher weithin fehlende Information der Ärzteschaft über die mögliche<br />
Inanspruchnahme jedes einzelnen Arztes zur Hilfeleistung und<br />
Übernahme bestimmter Aufgaben im Falle einer nuklearen Katastrophe,<br />
z.B. in einer Notfallstation, ist unbedingt in Angriff zu nehmen. Auch der<br />
Rettungsdienst und die Angehörigen der Hilfsorganisation müssen über<br />
die im speziellen Fall einer nuklearen Katastrophe von ihnen erwarteten<br />
Hilfeleistungen unterrichtet werden.<br />
III.4.4.2. Grundregeln für den Abtransport jeglicher Schadensopfer<br />
Die Lenkung des Abtransportes ist Aufgabe der Rettungsleitstelle, die gem.<br />
§ 16, Abs. 1, Nr. 2 des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes unter ärztlicher Leitung<br />
die Belegung der stationären Einrichtungen zu regeln hat. Voraussetzung<br />
für die höchstmögliche Zweckmäßigkeit der Entscheidung ist allerdings<br />
eine kontinuierliche Abstimmung mit dem am Schadensort leitenden<br />
Notarzt.<br />
Transportmittel sind die Fahrzeuge und Hubschrauber des Rettungsdienstes<br />
und der Krankentransportdienste sowie auch Privatfahrzeuge und Taxen<br />
zum Abtransport Leichtverletzter. Hinzu kommen nach Alarmierung die<br />
Fahrzeuge der Hilfsorganisationen und ggf. des Sanitätsdienstes der Bundeswehr.<br />
III.4.4.3 Stationäre Behandlung der Schadensopfer<br />
Dies ist nach Zuweisung durch Leitende Notärzte und/oder der Rettungsleitstelle<br />
Aufgabe der Krankenhäuser und Spezialabteilungen.<br />
72
III.4.5 Erforderliche Maßnahmen des Bundes in Zusammenarbeit mit<br />
den Ländern zur Verbesserung bisheriger Maßnahmen und Regelungen<br />
für den medizinischen Zivil- und Katastrophenschutz<br />
Die Maßnahmen beziehen sich auf die Organisation katastrophenmedizinischer<br />
Maßnahmen, die Infektionsabwehr und Seuchenbekämpfung, Aus-,<br />
Fort- und Weiterbildung sowie die erforderlichen materiellen Vorbereitungen<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />
III.4.5.1 Organisation<br />
– Es ist notwendig, daß der Bund im Interesse frühestmöglicher Hilfeleistung<br />
auf die Länder einwirkt, damit diese ihre medizinischen Katastrophenschutzvorbereitungen,<br />
den tatsächlichen Geschehensabläufen<br />
entsprechend, enger mit den Einrichtungen der Notarzt- und Rettungsdienste<br />
verbinden.<br />
– In Zusammenarbeit mit den ärztlichen Berufsorganisationen ist eine, auch<br />
bei Katastrophen und im Verteidigungsfall gesicherte Verbindung des<br />
Notarztdienstes mit den ärztlichen Notfalldiensten herzustellen.<br />
– In allen Bundesländern sollten vorsorglich mehr Notärzte und vor allem<br />
leitende Notärzte herangebildet und vorsorglich zum Einsatz bei Massenunfällen<br />
und Katastrophen eingeplant werden; ebenso bedarf es einer<br />
festen Einteilung notfallmedizinisch erfahrener Ärzte zur Leitung medizinisch<br />
erforderlicher Transporte in den Rettungsleitstellen entsprechend<br />
§16. Abs.1, Nr.2 des Katastrophenneuordnungsgesetzes bzw. des KatS-<br />
ErgG von 1990.<br />
– Größere Gruppen sanitätsdienstlicher Helfer der Hilfsorganisationen sollten<br />
enger mit dem regulären Rettungsdienst verbunden werden und in<br />
dessen Alltagsdienst mitwirken, um bei Katastrophenfällen frühzeitig leistungsfähige<br />
Verstärkungen zur Hand zu haben. (Dabei Mehrfachzählungen<br />
und Kapazitätsüberschätzungen vermeiden).<br />
– Die Katastrophenschutzpläne der Länder, Landkreise und Kommunen<br />
sowie ebenso der Krankenhäuser müssen zumindest in grenznahen Bereichen<br />
mit den benachbarten territorialen Zuständigkeitsbereichen abgestimmt<br />
werden. Im übrigen besteht auch innerhalb der Länder keine Einheitlichkeit<br />
der Pläne, so daß ihre Effektivität im Verteidigungsfall und<br />
bereits bei Flächenkatastrophen zu erheblichen Zweifeln Anlaß gibt.<br />
– Die schnelle Ermittlung von Infektionserregern und ihrer Bekämpfungsmöglichkeiten<br />
durch den öffentlichen Gesundheitsdienst ist in mehreren<br />
Bundesländern durch die Übertragung der bisher von bundeseigenen<br />
Instituten getragenen Aufgaben an private, unabhängige Institute gefährdet.<br />
Es ist erforderlich, daß der Bund seinen Einfluß auf die Länder geltend<br />
macht, dies zu verhindern bzw. bindende Regelungen für die Zusam-<br />
73
74<br />
menarbeit solcher Institute mit dem öffentlichen Gesundheitsdienst,<br />
insbesondere auf dem Gebiet der Information, zu treffen.<br />
III.4.5.2 Aus-, Fort- und Weiterbildung<br />
– Verstärkte Fortbildung der Ärzte in der Notfallmedizin, insbesondere<br />
Heranbildung eines Überschusses an Notärzten und frei praktizierenden<br />
Notfallärzten für den Einsatz.<br />
– Fortbildung des Rettungsdienstpersonals in den Grundsätzen des Zivilund<br />
Katastrophenschutzes.<br />
– Unterrichtung der sanitätsdienstlichen Helfer der Hilfsorganisationen<br />
über die Grundsätze ihrer Mitwirkung im Zivil- und Katastrophenschutz<br />
sowie ihre Gebundenheit an die Weisung der am Schadensort verantwortlichen<br />
Ärzte.<br />
– Fortbildung der freiwilligen Sanitätshelfer und Erhaltung ihrer Fähigkeiten<br />
durch aktive Mitwirkung im Rettungsdienst, um ihre durch mangelnde<br />
Praxis verursachten Kenntnis- und Fähigkeitsverluste zu überwinden.<br />
Dazu sind auf der Grundlage des sog. „Ulmer Modells“ eingehende und<br />
das gesamte System der Hilfeleistung umfassende Untersuchungen unter<br />
Beteiligung aller am bisherigen Hilfeverfahren beteiligten Gruppen und<br />
Organisationen erforderlich.<br />
– Planmäßige Erste-Hilfe-Ausbildung der Bevölkerung, in den Schulen<br />
beginnend und möglichst oft wiederholt.<br />
– Einführung von Pflichtvorlesungen über Katastrophenmedizin an allen<br />
deutschen Universitäten und Aufforderung an die deutsche Ärzteschaft,<br />
katastrophenmedizinische Themen in ihren Fortbildungsveranstaltungen<br />
zu behandeln.<br />
– Erfahrungsgemäß sind auf dem Gebiet der Verhinderung und Bekämpfung<br />
der Infektionskrankheiten und Seuchen Übungen erforderlich, da der<br />
in der Bundesrepublik erreichte hohe Hygienestandard mit einem Verlust<br />
an praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen einhergeht.<br />
III.4.5.4 Materielle Vorbereitungen des medizinischen <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
Es ist ein Irrtum zu glauben, daß die leistungsfähige pharmazeutische Industrie<br />
in Deutschland kurzfristig in der Lage sei, den im Zivil- und Katastrophenschutz<br />
entstehenden Bedarf an notfallmedizinischen Arzneimitteln und<br />
Lösungen abzudecken. Der Bedarf schnellt bei vielen Verletzten, insbesondere<br />
bei Vergifteten und Brandverletzten, in kürzester Zeit in die Höhe.<br />
Damit kann die beste Industrie nicht Schritt halten, weil sie ausnahmslos<br />
bedarfsorientiert produziert, so daß vor allem die Produkte zur Behandlung<br />
chronischer Krankheiten verfügbar sind.
Dazu kommt, daß auch die in den Apotheken und Krankenhäusern vorgehaltenen<br />
Arzneimittel ihrem durchschnittlichen Umsatz bzw. Verwendungsbedarf<br />
entsprechen. Eine zumindest begrenzte Bevorratung typisch<br />
notfallmedizinischer Arzneimittel, evtl. abgestimmt oder gemeinsam mit<br />
dem Sanitätswesen der Bundeswehr, erscheint erforderlich. Dies gilt in<br />
begrenztem Rahmen auch für Verbandmittel und muß wie auch für Arzneimittel<br />
unter allen Umständen so weitgehend wie möglich dezentral erfolgen.<br />
III.4.6 Fazit<br />
Ohne Berücksichtigung der vorstehenden, relativ einfach zu befolgenden<br />
Vorschläge durch den Katastrophenschutz der Länder und eine entsprechende<br />
Einwirkung des Bundes auf sie dürfen die Regierungen und insbesondere<br />
die betroffene Bevölkerung nicht darauf hoffen, daß der medizinische Katastrophenschutz<br />
der Länder sowie deren Eingreifen im Verteidigungsfall in der<br />
Lage ist, unnötige Opfer an Leben und Gesundheit zu vermeiden. Das Sterben<br />
verletzter Opfer beginnt im Augenblick des Schadenseintrittes und<br />
nimmt von Minute zu Minute zu!<br />
III.4.7 <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
Es wird eine gründliche Untersuchung aller im Zusammenhang mit dem<br />
Zivil- und Katastrophenschutz zu lösenden gesundheits- und sanitätsdienstlichen<br />
Fragen vorgeschlagen, die die Entwicklung einer zukunftsweisenden<br />
Konzeption für eine funktionsfähige und wirkungsvolle medizinische Hilfe<br />
zum Ziel hat.<br />
Diese Untersuchung sollte sich erstrecken auf<br />
– die Mitwirkung des öffentlichen Gesundheitsdienstes unter Berücksichtigung<br />
der Tatsache, daß es sich um teils staatliche, teils kommunale Institutionen<br />
handelt;<br />
– die Auswertung vorliegender Studien über die Verfügbarkeit und Qualifikation<br />
bisher vorhandener Helferpotentiale sowie Vorschläge zur Verbesserung<br />
und Erhaltung ihres Ausbildungsstandes;<br />
– die Darlegung des tatsächlichen Bedarfes an medizinischer Katastrophenhilfe<br />
sowie insbesondere des Ablaufes der Hilfeleistung am Schadensort<br />
nach Zeit, Verfügbarkeit und Qualifikation der Kräfte sowie<br />
Gegenüberstellung des ärztlichen und des nicht-ärztlichen Entscheidungsbedarfes;<br />
– die Ermittlung des materiellen Bedarfes an<br />
a) Arznei- und Verbandmitteln,<br />
b) örtlich benötigtem Material (Zelte, Absperrung usw.),<br />
75
c) Funk-, Fernsprech- und Fernschreibverbindungen,<br />
d) Transportmitteln aller Art;<br />
– die bisher getroffenen Entscheidungen und Maßnahmen zur Übernahme<br />
der ärztlichen Leitung in den Rettungsleitstellen im Katastrophenfall;<br />
– die Effektivität der vorbereitenden Maßnahmen zur Einrichtung von Notfallstationen<br />
und deren Arbeitsverfahren im Falle einer nuklearen Katastrophe<br />
sowie die klinischen Behandlungskapazitäten für Strahlenopfer,<br />
– die behördlichen Maßnahmen zur Vorbeugung gegen den Ausbruch<br />
übertragbarer Krankheiten und zur Verhinderung der Einschleppung allgemein<br />
gefährlicher Krankheiten oder deren Erreger im Verbund mit<br />
nationalen und internationalen Institutionen sowie der Verfahren zur<br />
Bekämpfung seuchenartiger Krankheiten.<br />
III.5 Sicherstellung der Versorgung der Bevölkerung mit<br />
Nahrungsmitteln und Trinkwasser<br />
III.5.1 Versorgung mit Lebensmitteln<br />
Gefahren für die Lebensmittelversorgung können entstehen durch Störungen<br />
des freien Güteraustausches, durch einen krisenbedingten und auch<br />
produktionseinschränkenden Ausfall von Nahrungsmittel- und Futtermittelimporten<br />
und dadurch, daß Lebensmittel nicht mehr sozialgerecht verteilt<br />
werden können. Ursachen solcher Störungen können sein:<br />
– Unfälle in großtechnischen Anlagen,<br />
– Natur- und Umweltkatastrophen,<br />
– Tierseuchen größeren Ausmaßes,<br />
– massive Störungen des Weltmarktes und<br />
– kumulative Wirkungen der Ursachen.<br />
Aber auch politisch-militärische Krisen auf der Grundlage des Wiederentstehens<br />
alter Nationalismen, ungelöster Regionalkonflikte, ethnischer<br />
Rivalitäten, Instabilitäten durch wirtschaftliche, soziale und politische<br />
Schwierigkeiten sowie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen mit<br />
Auswirkungen auf Mitteleuropa und Deutschland können als Ursachen<br />
angesehen werden.<br />
III.5.1.1. Analyse des gegenwärtigen Zustandes<br />
III.5.1.1.1 Landwirtschaft<br />
Die gegebene Situation ist gekennzeichnet durch<br />
– hohe Leistungsfähigkeit bei stark unterschiedlicher Strukturierung;<br />
76
– Abbau der erheblichen Überschüsse durch Reform der gemeinsamen<br />
Agrarpolitik innerhalb der EU u.a. durch Abbau der Stützpreise;<br />
– konjunkturelle und strukturelle Flächenstillegungs- und Extensivierungsmaßnahmen;<br />
– Abhängigkeit von der Wissenschaft sowie anderen Wirtschaftszweigen<br />
z.B. durch Zulieferung vielfältiger Betriebsmittel, Techniken und Informationssysteme;<br />
– Abhängigkeit von umfangreichen Rohstofflieferungen aus dem Ausland;<br />
– Anfälligkeit durch nationale und internationale Verflechtungen.<br />
Der Selbstversorgungsgrad liegt derzeit bei ca. 93 %, bei Ausfall des Auslandsfutters<br />
ca. 83 %. Die regionale Bedarfsdeckung kann nur bei hohen<br />
Transportleistungen erzielt werden. Wegen unterschiedlicher Inhaltsstoffe<br />
liegt nur eine bedingte Austauschbarkeit der Nahrungsmittel vor. Der Nahrungsmittelverbrauch<br />
könnte allerdings wegen des hohen Nährwertgehaltes<br />
schon aus gesundheitlichen Gründen um etwa 30 % gesenkt werden.<br />
III.5.1.1.2 Ernährungswirtschaft<br />
In Industrie, Handwerk und Handel führte eine starke Konzentration zu<br />
großen, leistungsfähigen, mit modernster Technik und fortschrittlichem<br />
Management ausgestatteten Betrieben. Dieser Konzentrationsprozeß hat<br />
sich verlangsamt, ist aber keineswegs abgeschlossen. Das führt in Notsituationen<br />
zu Nachteilen u.a. bei der Verteilung der Nahrungsmittel und<br />
erfordert hohe und leistungsfähige Transportkapazitäten.<br />
III.5.1.1.3 Bevölkerung<br />
Die Hälfte der Bevölkerung lebt in großen Ballungsräumen, die zugleich<br />
wichtige Wirtschafts- und Verwaltungszentren sind. Die Erhaltung der<br />
Steuerungskraft und Leistungsfähigkeit der Zentren über die Regionen<br />
hinaus ist von großer Bedeutung. Die Nahrungsmittelversorgung kann in<br />
Krisenzeiten wesentlich durch Transportprobleme erschwert werden.<br />
III.5.1.1.4 Legislativer Bereich<br />
Notwendige Rechtsgrundlagen wurden durch die Bundesregierung geschaffen,<br />
werden grundsätzlich ständig überprüft und ggf. verändert. Sie bestehen<br />
für politisch-militärische Krisen als auch für friedenszeitliche Notsituationen.<br />
Ihre Ausführung liegt in der Zuständigkeit der Länder als eigene Angelegenheit<br />
oder in Bundesauftragsverwaltung.<br />
III.5.1.1.5 Materiell-investiver Bereich<br />
Durch das Anlegen, Halten und Umwälzen von Vorräten werden regionale<br />
und zeitliche Unterschiede zwischen dem Bedarf an Lebens- und Futter-<br />
77
mitteln und ihrer Erzeugung ausgeglichen. Neben den Beständen in der<br />
Landwirtschaft und Wirtschaft und den freiwilligen Vorräten in den<br />
Haushaltungen sind die Vorräte der öffentlichen Hand von besonderer<br />
Bedeutung. Dazu zählen die Bundesreserve an Getreide zur Mehl- und<br />
Brotversorgung, die Zivile Notfallreserve zur Versorgung der Bevölkerung<br />
in Ballungsgebieten mit verbrauchsfertigen Lebensmitteln und die EU-<br />
Interventionsbestände zur Schaffung von Preisstabilität und Marktgleichgewicht.<br />
Letztere wurden allerdings nicht im Hinblick auf die Versorgung in<br />
Krisenzeiten angelegt und nehmen in ihrem Umfang ständig ab.<br />
III.5.1.2 Überlegungen zur Verbesserung der Situation<br />
Nachfolgende Überlegungen leiten sich aus dem derzeitigen Zustand ab und<br />
könnten dazu beitragen, die Versorgungssituation der Bevölkerung in Krisenzeiten<br />
zu verbessern.<br />
III.5.1.2.1 Ausbildung<br />
Da die bisherigen Vorkehrungen für die Zivile Verteidigung/Notfallvorsorge<br />
im wesentlichen auf planerische Vorbereitungsmaßnahmen zurückgeführt<br />
werden, wird eine darauf ausgerichtete Ausbildung besonders erforderlich.<br />
Dem trägt die Bundesregierung insoweit Rechnung, daß die Ausbildung<br />
der Akademie für zivile Verteidigung grundlegend überarbeitet und<br />
der gegenwärtigen Situation angepaßt wird. Gleiches geschieht mit der<br />
durch das Bundeslandwirtschaftsministerium organisierten Ausbildung in<br />
Neuherberg und Sonthofen. Der ergänzenden Ausbildung in den Ländern<br />
wird dagegen nicht im genügenden Maße Rechnung getragen. Die bessere<br />
Erfüllung dieser Aufgabe durch die Länder würde dazu führen, daß die in<br />
Notsituationen tätig werdenden Mitarbeiter der Verwaltungen gründlicher<br />
vorbereitet wären und Fehlentscheidungen vermieden würden. Die Akzeptanz<br />
dieses öfter vernachlässigten Bereiches würde verbessert.<br />
III.5.1.2.2 Vorsorgemaßnahmen im Transportbereich<br />
Das in Vorbereitung befindliche Verkehrsvorsorgegesetz soll die Bundesregierung<br />
in die Lage versetzen, in Notfallsituationen Entscheidungen zu<br />
treffen, die durch das Verkehrssicherstellungsgesetz nicht geregelt werden<br />
können. Es bleibt abzuwarten, ob damit den Bedürfnissen der Ernährungsvorsorge<br />
entsprochen werden kann.<br />
III.5.1.2.3 Vorbereitungsmaßnahmen zur Reproduktion stillgelegter<br />
Flächen<br />
Die derzeitige Situation in der Landwirtschaft ist gekennzeichnet durch<br />
konjunkturelle, aber auch strukturelle Flächenstillegungen besonders in den<br />
neuen Ländern. Diese Flächen wären im Notfall erst nach umfassenden<br />
Vorbereitungsmaßnahmen mit bis zu einem Jahr Dauer wieder zum Anbau<br />
78
von Nutzpflanzen, wie Getreide, Hülsenfrüchte u.a. zu nutzen. Überlegenswert<br />
erscheint es zu prüfen, mit welchen Mitteln und Methoden diese<br />
Flächen einer schnelleren Nutzung zugeführt werden könnten.<br />
III.5.1.2.4 Erweiterte Lagerhaltung<br />
Zur Zeit lagern in Deutschland in nationaler Zuständigkeit etwa 80 000 t<br />
Hafer, etwa 100 000 t Reis und Hülsenfrüchte und etwa 6 700 t Kondensmilch/Vollmichpulver<br />
für die Notfallversorgung der Bevölkerung in Ballungsgebieten.<br />
Gründe dafür sind die Einfuhrabhängigkeit der Bundesrepublik<br />
und die Notwendigkeit der Überbrückung der Zeit bis zum Wiedereinsetzen<br />
einer geregelten Versorgung in Notfällen. Die Menge der eingelagerten Nahrungsmittel<br />
wurde limitiert durch finanzielle Überlegungen und die Tatsache,<br />
daß noch erhebliche Vorräte aus den EU-Interventionsbeständen zur Verfügung<br />
standen. Letztere wurden aber inzwischen vor allem aus Gründen der<br />
teueren Lagerhaltung stark verringert. Bemühungen um eine Erweiterung<br />
der in nationaler Zuständigkeit eingelagerten Nahrungsmittel sind demzufolge<br />
dringend angezeigt.<br />
III.5.1.2.5 Vergrößerung der Produktionssicherheit für die Landwirtschaft<br />
und die Ernährungswirtschaft<br />
Die energieintensive Produktion in der Land- und Ernährungswirtschaft hat<br />
durch den Einsatz moderner Produktionsmittel in den letzten Jahrzehnten<br />
stark zugenommen. Beim Ausfall der Stromversorgung, aus welchen Gründen<br />
auch immer, käme es zu Produktionsausfällen mit erheblichen Auswirkungen<br />
auf die Versorgung der Bevölkerung. Das trifft ebenfalls auf die<br />
Versorgung mit Trinkwasser zu (s.u.). Die Vermeidung eines solchen<br />
Zustandes muß vergrößerte Aufmerksamkeit gewidmet werden.<br />
III.5.1.3 <strong>Forschung</strong>sfelder<br />
Aus der Sicht des zuständigen Referates des Bundesministeriums für<br />
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ergibt sich aus der beschriebenen<br />
Situation zwar kein zusätzlicher <strong>Forschung</strong>sbedarf. Trotzdem soll auf folgendes<br />
aufmerksam gemacht werden.<br />
In den Behörden der Länder bis zu den Verwaltungen der Gemeinden zeichnen<br />
sich Überlegungen ab, die dazu führen sollen, daß die erforderlichen<br />
Maßnahmen mit möglichst geringem personellen, materiellen und finanziellen<br />
Kostenaufwand durchgeführt werden können. Die Kommunale<br />
Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung erstellte 1984 einen<br />
Bericht, mit dem Empfehlungen für Gemeinden und Kreise gegeben wurden,<br />
um die Ernährung auf der Grundlage des Ernährungssicherstellungsgesetzes<br />
sicherzustellen. Diese Unterlagen sind aus vielerlei Hinsicht nicht<br />
79
mehr auf dem neuesten Stand und in der heutigen Zeit nur noch bedingt zu<br />
nutzen.<br />
Es erscheint sinnvoll, ähnliche Überlegungen erneut anzustellen und dabei<br />
zu berücksichtigen, daß<br />
– die politische Situation sich verändert hat und auch zukünftig ein Instrumentarium<br />
zur Bewältigung von Notfallsituationen bereitgehalten werden<br />
muß,<br />
– das Krisenmanagement auf der Grundlage des Ernährungssicherstellungsund<br />
des Ernährungsvorsorgegesetzes sowie des Strahlenschutzvorsorgegesetzes<br />
erfolgt, sich daraus für die öffentliche Verwaltung Vereinfachungen,<br />
Personal- und Kosteneinsparungen ergeben sollen und<br />
– eine gesamtheitliche Betrachtungsweise zu einer Organisationsstruktur<br />
führt, die gleichermaßen für die Bewältigung von Schadensereignissen<br />
nach Katastrophen, Krisen und im Verteidigungsfall geeignet ist.<br />
Diese Untersuchungen könnten in Form einer Studie den Behörden und<br />
Verwaltungen als Empfehlung an die Hand gegeben werden.<br />
III.5.2 Versorgung mit Trinkwasser<br />
III.5.2.1. Beschreibung spezifischer Gefahren<br />
Durst ist schlimmer als Hunger. Die Wasserversorgung ist einer der wichtigsten<br />
Faktoren für das Leben in Gemeinschaften. Nach allen außergewöhnlichen<br />
Naturereignissen größeren Ausmaßes wie Erdbeben, Hochwasser<br />
und Flutkatastrophen, Feuersbrünsten und nach vom Menschen herbeigeführten<br />
Katastrophen kommen immer zugleich auch Meldungen über<br />
den Zustand der Wasserversorgung und bei Ausfall einige Zeit später über<br />
deren (teilweise) Wiederinbetriebnahme. Diesen Zeitraum gilt es möglichst<br />
kurz zu halten und zu überbrücken; sonst ist hohe Seuchengefahr gegeben.<br />
Hinsichtlich der erforderlichen und möglichen Maßnahmen muß man unterscheiden<br />
zwischen<br />
a) einer weitgehenden oder teilweisen Zerstörung von Anlagen und Anlagenteilen<br />
zur Wasserversorgung, beispielsweise durch Naturkatastrophen,<br />
Explosionen oder konventionelle Waffen, und<br />
b) einer außergewöhnlichen Beeinträchtigung der (Roh-) Wasserqualität,<br />
beispielsweise durch Industrie- und Transportunfälle oder den Einsatz<br />
von ABC-Waffen, oder<br />
c) durch gleichzeitiges Eintreten von a) und b).<br />
Notsituationen können auch auftreten durch logistische Probleme, wenn<br />
beispielsweise zur Reparatur und zum Betrieb benötigte Materialien und<br />
80
Chemikalien nicht verfügbar sind oder nicht herbeigeschafft werden können<br />
oder eine erforderliche Qualitätskontrolle nicht möglich ist.<br />
III.5.2.2. Analyse des gegenwärtigen Zustands<br />
Auf Trinkwasser kann der Mensch nicht verzichten, am wenigsten noch in<br />
Katastrophensituationen. Im Falle a) müssen je nach Ort und Schwere der<br />
Zerstörung möglicherweise andere Rohwässer genutzt, manche Aufbereitungsstufen<br />
stillgelegt oder überbrückt, „fliegende“ Rohrleitungen verlegt<br />
oder andere Notmaßnahmen getroffen werden, um die Wasserver- und<br />
ent(!)sorgung möglichst rasch, auch unter eingeschränkten Bedingungen,<br />
wieder in Betrieb nehmen zu können. Voraussetzung hierfür ist die seuchenhygienisch<br />
einwandfreie Beschaffenheit des zumindest trinkbaren Wassers.<br />
Bevor die Wasserlieferung zumindest behelfsmäßig wieder aufgenommen<br />
werden kann, müssen gegebenenfalls andere verfügbare Wasserquellen<br />
genutzt und dem Verbraucher zugänglich gemacht werden. Hierzu dienen<br />
beispielsweise Notbrunnen oder nicht beeinträchtigte Brunnen und Quellen<br />
im Umland, um zumindest den lebensnotwendigen Wasserbedarf von<br />
Mensch und Tier decken zu können. Hier ergeben sich oft Transport- und<br />
Verteilungsprobleme.<br />
Im Fall b) sind nicht die Anlagen beschädigt oder zerstört, sondern vielmehr<br />
die (Roh-)Wässer in ihrer Beschaffenheit beeinträchtigt. Die erforderlichen<br />
Maßnahmen hängen von der Art und dem Ausmaß der belastenden Schadstoffe<br />
oder Mikroorganismen ab. Durch eine sorgfältige und den Problemen<br />
angepaßte Aufbereitung läßt sich die Gefährdung verringern – vorausgesetzt<br />
die Kontaminanten sind bekannt. Sind jedoch keine Aufbereitungsmöglichkeiten<br />
gegeben, so müssen entweder andere, nicht belastete<br />
Wasserarten oder vorhandene Aufbereitungsanlagen, beispielsweise der<br />
Industrie oder in Schwimmbädern genutzt werden.<br />
Im Fall c), d.h. bei gleichzeitigem Vorliegen von a) und b), sind die Probleme<br />
potenziert. Kann nicht auf Notbrunnen oder Wasservorräte im Haushalt<br />
zurückgegriffen werden, so müßten Wege gefunden und Empfehlungen<br />
ausgesprochen werden, wie man Regenwasser, Wasser aus geschädigten<br />
Versorgungseinrichtungen oder aus Oberflächengewässern in kleineren<br />
Mengen trinkbar machen kann.<br />
Aus den hier nur kurz skizzierten Verhältnissen ergibt sich eine Vielzahl von<br />
rechtzeitig zu ergreifenden Maßnahmen der Vorsorge. Voraussetzung für<br />
alle im Notfall zu ergreifenden Maßnahmen ist es, die Gefährdung erkennen<br />
und die Genußfähigkeit des Wassers kontrollieren zu können. Und hier steht<br />
bei weitem im Vordergrund die Verhütung von Seuchen und damit der<br />
Nachweis der seuchenhygienisch annehmbaren Beschaffenheit in kürzester<br />
Zeit und unter Notstandsbedingungen.<br />
81
III.5.2.3. <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
Beispielhaft werden aus der Fülle der Aufgabenstellungen nur einige der<br />
wichtigsten <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaufgaben benannt:<br />
– Vergleichende Untersuchungen über Handhabung, Empfindlichkeit und<br />
Zuverlässigkeit von<br />
– mikrobiologischen Schnelltests für Trinkwasser<br />
– Wirkungstests zur Untersuchung der akuten Wassertoxizität<br />
– Entwicklung einfacher Methoden zur Trinkbarmachung von Wasser in<br />
kleinen Mengen.<br />
82
Vorträge ’97<br />
83
Eröffnung der 46. Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann<br />
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren,<br />
liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />
ich begrüße Sie recht herzlich zur 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und danke Ihnen, daß Sie unserer Einladung in das schöne Freiburg gefolgt<br />
sind.<br />
An erster Stelle möchte ich unseren Gastredner des heutigen Vormittags,<br />
Herrn Dr. Freiherr von Richthofen, begrüßen. Herr von Richthofen ist als<br />
Botschafter und Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der Nordatlantikpakt-Organisation<br />
in Brüssel in besonderem Maße dazu befähigt, uns über<br />
die <strong>Neue</strong> NATO zu informieren. Zugleich möchte ich auch Herrn MinRat<br />
Norbert Vogt begrüßen. Herr Vogt war ja, bevor er nach Brüssel ging, mit der<br />
Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> über einige Jahre hinweg eng verbunden, und<br />
er hat es dankenswerter Weise für die Kommission übernommen, Sie, Herr<br />
Botschafter, für die Jahrestagung zu gewinnen.<br />
Im Verlauf der Erstellung des Gefahrenberichtes der <strong>Schutzkommission</strong><br />
wurde zu keiner Zeit eine Diskussion über Gefährdungspotentiale im Sinne<br />
einer Sicherheitsanalyse geführt. Entsprechende Analysen waren – falls sie<br />
überhaupt existieren – für die Kommission nicht verfügbar. Sie sind aber<br />
zweifellos erforderlich für ein zielgerichtetes staatliches Handeln zum<br />
Schutze der Zivilbevölkerung. Im Rahmen solcher Sicherheitsanalysen, wie<br />
sie im militärischen Bereich sicherlich existieren, ist die Globalisierung<br />
von Konflikten mehr denn je zu einer zentralen Fragestellung geworden.<br />
Dies bedeutet, daß neben den nationalen Regelungen und Vorkehrungen zur<br />
Gefahrenabwehr die internationalen Bemühungen zur Erhaltung von politischer<br />
Stabilität, zur Konfliktlösung und zum Schutze der Zivilbevölkerung<br />
zu berücksichtigen sind. Wir hoffen deshalb von Ihnen, sehr geehrter Herr<br />
Botschafter, näheres über die aktuellen Entwicklungen und die Perspektiven<br />
der NATO zu erfahren.<br />
Bevor ich meine Begrüßung fortsetze, gestatten Sie mir bitte einen Exkurs<br />
in die Vergangenheit. Die Kernwaffenentwicklung der 50-er und 60-er Jahre<br />
hat ja bekanntermaßen die Arbeit der Kommission über Jahrzehnte hinweg<br />
entscheidend mitbestimmt. Die Mitglieder der Kommission haben im Rahmen<br />
ihrer Arbeit nicht nur ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die Gefahren<br />
durch ionisierende Strahlung meßtechnisch erfaßt und bewertet werden<br />
können. Sie haben sich auch in ihrer Verantwortung als Staatsbürger zu den<br />
einschlägigen Fragen immer wieder öffentlich geäußert. Die vor fast genau<br />
40 Jahren, am 12. April 1957, abgegebene Göttinger Erklärung ist ein wichtiges<br />
Beispiel hierfür. Zu den 18 Unterzeichnern der Erklärung gehörten<br />
u.a. die Herren Hahn, Heisenberg, Meier-Leibnitz, von Weizsäcker und die<br />
85
<strong>Schutzkommission</strong>s-Mitglieder Wolfgang Riezler und Otto Haxel. Ich freue<br />
mich sehr, lieber Herr Haxel, Sie heute unter uns begrüßen zu können. Sie<br />
waren und sind für uns alle, besonders aber auch für mich, als Wissenschaftler<br />
und als Mensch ein großes Vorbild. Vor 40 Jahren ging es um nicht<br />
mehr und nicht weniger als um die Frage der atomaren Bewaffnung der<br />
Bundeswehr. Die die öffentliche Diskussion in Deutschland damals beherrschenden<br />
Themen waren die weltweiten Proteste über die atmosphärischen<br />
Kernwaffentests, die Pläne Großbritanniens zur Entwicklung von Wasserstoffbomben<br />
und die Absicht Frankreichs, eigene Kernwaffen zu entwickeln.<br />
In dieser Situation beabsichtigte die Bundesregierung, sich die<br />
Option eigener taktischer Kernwaffen zu eröffnen. Die „Göttinger 18“<br />
machten diese Pläne mit ihrer öffentlichen Erklärung letztendlich zunichte.<br />
Dort heißt es:<br />
„Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor den Wasserstoffbomben<br />
heute einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung des Friedens in der ganzen<br />
Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten aber diese<br />
Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf Dauer für unzuverlässig,<br />
und wir halten die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich.“<br />
Diese Erklärung löste in der Bundesregierung eine heftige Kontroverse und<br />
in der Öffentlichkeit eine heftige Diskussion über Wissenschaft und Verantwortung<br />
aus. Letztlich identifizierte sich Bundeskanzler Adenauer mit den<br />
Motiven und Zielen der „Göttinger 18“, und die Pläne zur Entwicklung von<br />
Kernwaffen wurden nicht weiter verfolgt. Aus heutiger, fast schon historischer<br />
Sicht, muß man feststellen, daß die damals in Deutschland eingeleitete<br />
Entwicklung des Verzichts auf Kernwaffen inzwischen auch in den Kernwaffenstaaten<br />
ernsthaft diskutiert wird. Trotz vielfältiger internationaler<br />
Bemühungen, Absichtserklärungen und Abkommen sind wir aber auch<br />
heute, 40 Jahre später, noch weit von einer befriedigenden Lösung entfernt.<br />
Nach diesem Exkurs möchte ich mit meiner Begrüßung fortfahren. Aus dem<br />
Bundesinnenministerium begrüße ich Herrn Ministerialdirektor Siegele und<br />
seine Mitarbeiter. Herr Siegele ist Abteilungsleiter im Bundesinnenministerium;<br />
seine Abteilung ist u. a. auch für die Fragen des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
zuständig. Einige Mitglieder der Kommission hatten bereits<br />
anläßlich der Übergabe des Gefahrenberichtes an den Staatssekretär Professor<br />
Schelter am 18. Februar die Gelegenheit, Sie kennenzulernen. Wir<br />
freuen uns sehr, daß Sie mit der Teilnahme an der Jahrestagung den Dialog<br />
mit der Kommission aufnehmen wollen. Aus dem BMBau begrüße ich den<br />
langjährigen Betreuer des Ausschusses 1 der Kommission, Herrn Bong,<br />
und vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> Herrn Präsidenten Schuch und seine<br />
Mitarbeiter.<br />
Natürlich sind wir alle sehr gespannt darauf, sehr geehrter Herr Ministerialdirektor<br />
Siegele, konkrete Aussagen über die Prioritäten bei der Bearbeitung<br />
der anstehenden Fragen zur Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es aus Sicht<br />
des MBI, des BMBau und des BZS zu erhalten. Die Kommission erwartet,<br />
86
daß Sie uns in klarer Form die Sicht der Bundesregierung darlegen und uns<br />
mitteilen, in welcher Weise Sie die Dienste der Kommission in Zukunft<br />
noch benötigen und wie Sie sich die künftige Zusammenarbeit vorstellen.<br />
Eine Antwort auf diese, die Kommission seit langem bewegende Frage ist<br />
mir im Februar von Herrn Staatssekretär Schelter zugesagt worden.<br />
Das Problem der Überalterung der Kommission wurde von mir wiederholt<br />
angesprochen. Es kann nur dann gelöst werden, wenn die zu gewinnenden<br />
jungen Wissenschaftler in der Kommission neben der Herausforderung als<br />
Staatsbürger auch fachliche Perspektiven aufgezeigt bekommen. Voraussetzung<br />
hierfür ist die Bereitstellung von Mitteln für die Bearbeitung der<br />
einschlägigen Fragen, die ohne die Finanzierung durch den Zivil- und Katastrophenschutz<br />
aus den Ihnen bekannten Gründen an keiner Hochschule<br />
oder <strong>Forschung</strong>seinrichtung mit hinreichender Tiefe bearbeitet werden.<br />
Die vom Bund angestrebte Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es berührt in vielfältiger<br />
Weise die Länder. Damit werden verfassungsmäßige Fragen des<br />
Verhältnisses zwischen dem Bund und den Ländern, aber auch Eigeninteressen<br />
in beiden Bereichen berührt. Wenn es in diesem Spannungsfeld und in<br />
finanziell schwierigen Zeiten um die Klärung der Frage geht, wer bereit ist,<br />
zusätzliche Lasten zu tragen, dann werden naturgemäß schwierige Einigungsprozesse<br />
erforderlich. Der schleppende Fortgang des Gesetzgebungsverfahrens<br />
zum <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz hat dies ja sehr deutlich<br />
gemacht. Ich begrüße an dieser Stelle ganz herzlich Herrn Ministerialdirigent<br />
Dr. Klingshirn in unserem Kreis. Herr Dr. Klingshirn ist Leiter der<br />
Abteilung Brand- und Katastrophenschutz, Rettungswesen und zivile Verteidigung<br />
im Bayerischen Staatsministerium des inneren und Vorsitzender<br />
des Arbeitskreises V „Feuerwehrangelegenheiten, Rettungswesen, Katastrophenschutz<br />
und Zivilverteidigung“ der Arbeitsgemeinschaft der Innenminister<br />
der Länder. Ich freue mich, daß Sie zu uns gekommen sind, um uns<br />
die Sicht der Länder zum neuen Zivil- und Katastrophenschutz zu vermitteln.<br />
Mit dem Gesetz zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es sind zwar die Randbedingungen<br />
für eine Neuordnung dieses Bereiches geschaffen worden. Bevor<br />
es jedoch zu einer tragfähigen Neuordnung in allen Bereichen kommen<br />
kann, bedarf es noch vielfältiger Überlegungen, um die z.T. erst im Vermittlungsausschuß<br />
gefundenen Kompromißformeln für zukünftige Regelungen<br />
mit Inhalt und Leben zu erfüllen. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich<br />
stets dagegen ausgesprochen und auch praktiziert, die verfassungsmäßig<br />
vorgegebene Trennung zwischen Zivil- und Katastrophenschutz zur Grundlage<br />
ihrer fachlichen Arbeit zu machen. Sie war und ist der Meinung, daß sie<br />
als fachlich neutrale Institution mit dem Gefahrenbericht des BMI und den<br />
Ländern und glaubwürdiger Form Hinweise auf fachliche Erfordernisse<br />
geben kann. Dem Tagungsprogramm können Sie entnehmen, wo die Kommission<br />
Prioritäten der zukünftigen Arbeit sowohl in der Beratung als auch<br />
in der <strong>Forschung</strong> sieht.<br />
87
Ich danke allen Mitgliedern und Gästen, die sich bereit erklärt haben, durch<br />
Vortrags- und Diskussionsbeiträge die Tagung zu bereichern. Mein besonderer<br />
Dank gilt den Kollegen Domres, Wagner, Sohns und ter Haseborg, die<br />
bisher nicht oder nicht regelmäßig an den Jahrestagungen und der Arbeit der<br />
Kommission teilgenommen haben. Ich hoffe, daß Sie für die Kommission<br />
auch in Zukunft zur Verfügung stehen werden.<br />
Lassen Sie mich zum Abschluß meiner Begrüßungsansprache unseres im<br />
vergangenen Jahr verstorbenen Mitglied Klaus Dietrich Friedberg gedenken.<br />
Über fast drei Jahrzehnte hinweg hat er die Höhen und Tiefen der<br />
Kommission miterlebt und ihre Arbeit stets mit großem Engagement mitbestimmt.<br />
Wir haben mit ihm einen geschätzten Kollegen und einen wahren<br />
Freund verloren, den wir sehr vermissen werden. Herr Kollege Schmidt hat<br />
es dankenswerterweise übernommen, die wissenschaftliche Leistung von<br />
Professor Friedberg im Anschuß zu würdigen.<br />
Bevor ich meine Begrüßung schließe, darf ich an dieser Stelle unserer<br />
Geschäftsstelle, nämlich Herrn Professor Weiss und Frau Seifert, von<br />
ganzem Herzen für ihren unermüdlichen Einsatz für unsere Kommission<br />
danken. Unsere Geschäftsstelle ist ein mustergültiges Beispiel dafür, wie<br />
man große Effizienz in einem schlanken Staat verwirklichen kann.<br />
Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf und uns allen erfolgreiche<br />
fachliche Diskussionen sowie gute menschliche Begegnungen.<br />
Ich danke Ihnen.<br />
88
Zum Gedenken an Klaus Friedberg<br />
Gerhard Schmidt<br />
Am 4. Oktober 1996 verstarb in seinem Haus in Limburgerhof bei Mannheim<br />
nach schwerer Krankheit Professor Dr. med. Klaus Dietrich Friedberg;<br />
emeritierter ordentlicher Professor für Pharmakologie und Toxikologie<br />
der Fakultät für klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg<br />
im Alter von 71 Jahren. Friedberg hat alle Phasen seiner Erkrankung,<br />
die zunächst erfolgreiche Operation mit Hoffnung auf vollständige Genesung<br />
und den Rückschlag der wiederkehrenden Erkrankung, in allen Einzelheiten<br />
bewußt und gefaßt miterlebt.<br />
Geboren in Berlin als Sohn einer angesehenen Juristenfamilie, sah er sich<br />
als Schüler Anfeindungen durch die Machthaber des dritten Reiches ausgesetzt.<br />
Er hat den Krieg beim Arbeitsdienst, als Soldat und später als Kriegsgefangener<br />
miterlebt. Früh starb sein Vater.<br />
Unmittelbar nach Kriegsende konnte Friedberg an der wiedereröffneten<br />
Universität in Göttingen das Studium der Naturwissenschaften und der<br />
Medizin aufnehmen. Er wohnte in der Göttinger Burse, einem Studentenwohnheim,<br />
das bewußt als eine andere Form studentischen Gemeinschaftslebens<br />
konzipiert war als die damals wiederauflebenden, traditionellen studentischen<br />
Verbindungen. Die Burse beherbergte politisch besonders engagierte<br />
Studenten, die im Nachkriegsdeutschland später viele einflußreiche<br />
Positionen innehatten.<br />
Nach Abschluß des Medizinstudiums trat Klaus Friedberg als Assistent in<br />
das Pharmakologische Institut in Göttingen unter Ludwig Lendle ein. Die<br />
Begegnung mit diesem von ihm hochverehrten akademischen Lehrer sollte<br />
seinen weiteren beruflichen Weg bestimmen. In den frühen Nachkriegsjahren<br />
gab es an den Universitäten praktisch keine Mittel, um <strong>Forschung</strong>svorhaben<br />
zu finanzieren. Man mußte sich noch stärker als heute um die <strong>Forschung</strong>sfinanzierung<br />
von außen bemühen. Friedberg fand eine Finanzierung<br />
für seine Untersuchungen über die Elimination von Staubpartikeln aus der<br />
Lunge durch die Bergbauberufsgenossenschaft. Friedberg wollte herausfinden,<br />
durch welche Mechanismen die Entfernung von inhaliertem Staub aus<br />
der Lunge erfolgt und ob die Staubelimination medikamentös gesteigert<br />
werden kann. Voraussetzung für diese Untersuchungen war eine definierte<br />
Staubdeposition in der Lunge von Laboratoriumsratten und eine exakte<br />
Quantifizierung der Stäube und ihrer zeitlichen Konzentrationsänderung in<br />
der Lunge. Es mußten ein aufwendiger Staubkanal für Ratten in Zusammenarbeit<br />
mit Physikern entwickelt und die chemisch analytischen Meßverfahren<br />
angepaßt und verbessert werden. Ich erwähne diese erste<br />
<strong>Forschung</strong>sarbeit Friedbergs so ausführlich, weil sie beispielhaft seine<br />
naturwissenschaftlich ausgerichtete Arbeitsweise zeigt, gleichzeitig aber<br />
89
auch sein Bemühen deutlich werden läßt, durch wissenschaftliche Untersuchungen<br />
praktisch verwertbare Konsequenzen für die Prophylaxe und<br />
Therapie von Erkrankungen, in diesem Fall der Silikose bei Bergleuten, zu<br />
erarbeiten. Die Arbeiten zur pharmakologischen Beeinflussung der Staubelimination<br />
in der Lunge waren auch das Thema seiner Habilitationsschrift,<br />
mit der Friedberg 1960 die Venia legendi für Pharmakologie und Toxikologie<br />
an der Universität Göttingen erwarb.<br />
In den 50er Jahren tauchten Berichte auf, daß in den Ostblockstaaten an der<br />
Frage gearbeitet wurde, ob die Blausäure als Giftgas für militärische<br />
Zwecke verfügbar gemacht werden könnte. Ludwig Lendle hatte im Auftrag<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> Klaus Friedberg gebeten, nach effektiveren<br />
Wegen der Behandlung der Cyanidvergiftung zu fahnden. Friedberg hat<br />
die Wirksamkeit verschiedener Behandlungsmöglichkeiten vergleichend<br />
geprüft und mit dem Hydroxocobalamin ein ungiftiges Gegenmittel mitentwickelt,<br />
das eine optimale Behandlung auch schwerster akuter Zyanidvergiftungen<br />
zuläßt.<br />
Friedberg hat diese Untersuchungen zunächst über seinen Lehrer Ludwig<br />
Lendle in die Diskussionen des Fachausschusses Pharmakologie und Toxikologie<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> eingebracht. Anfang 1968 wurde Friedberg<br />
selbst zum Mitglied der <strong>Schutzkommission</strong> berufen.<br />
Die Universität Göttingen ernannte Friedberg 1965 zum außerplanmäßigen<br />
Professor und 1967 zum wissenschaftlichen Rat und Professor.<br />
Im Jahre 1973 folgte Friedberg einem Ruf auf den Lehrstuhl für Pharmakologie<br />
und Toxikologie am Klinikum Mannheim der Universität Heidelberg.<br />
Da die Fakultät neugegründet war, mußte auch das Pharmakologische Institut<br />
völlig neu aufgebaut werden. Hier konnte Friedberg sein großes organisatorisches<br />
Geschick und seine zielstrebige Beharrlichkeit voll zur Geltung<br />
bringen. Er hat oft erzählt, welche vielfältigen Schwierigkeiten es zu überwinden<br />
galt, bis ein großes, modernes und leis-tungsfähiges Institut entstanden<br />
war. Jeder, der das Institut in zwei Etagen über einem großen<br />
Möbelhaus in Mannheim betrat, war beeindruckt, welche experimentellen<br />
Möglichkeiten im Laufe der Jahre in diesem Institut entstanden sind.<br />
Friedberg hat in Mannheim seine <strong>Forschung</strong>sarbeiten intensivieren und ausweiten<br />
können. Es gelang ihm, leistungsfähige Mitarbeiter für das Institut<br />
zu gewinnen. Friedbergs besonderes Interesse galt der Wirkung von<br />
Schwermetallionen in niedrigen Konzentrationen, besonders bezüglich der<br />
hemmenden Wirkungen am Immunsystem. Durch seine Initiative konnte<br />
die Umwelttoxikologie frühzeitig zu einem Schwerpunkt seiner Fakultät in<br />
Mannheim gemacht werden.<br />
Durch die erweiterten Möglichkeiten im eigenen Institut konnte Friedberg<br />
auch die <strong>Forschung</strong>stätigkeit für die <strong>Schutzkommission</strong> wesentlich intensivieren.<br />
Er hat über Behandlungsmöglichkeiten der Lost-Schädigung und<br />
über immunmodulatorische Wirkungen von Antibiotica für die <strong>Schutzkommission</strong><br />
gearbeitet.<br />
90
Friedberg war lange Jahre Vorsitzender des Fachausschusses Pharmakologie<br />
und Toxikologie. 1981 wurde ihm in Anerkennung seiner Verdienste für<br />
die <strong>Schutzkommission</strong> das Bundesverdienstkreuz verliehen.<br />
Klaus Friedberg gehörte zu den Menschen, die intensiv den unmittelbaren<br />
menschlichen Kontakt, besonders zu ihren Mitarbeitern suchen. Er war kein<br />
abgehobener Institutsleiter, sondern verstand es, schnell die persönlichen<br />
Schwierigkeiten aller Institutsangehörigen aufzuspüren. Er empfand den<br />
Einsatz für das berufliche Fortkommen der ihm anvertrauten Mitarbeiter als<br />
eine ganz besonders wichtige Aufgabe. Es war ihm ein ständiges Bedürfnis,<br />
alles in seiner Macht stehende zu unternehmen, um helfend einzugreifen.<br />
Sein großer Freundeskreis hat ihn dabei tatkräftig unterstützt. Seine Fähigkeiten<br />
und Beharrlichkeit ließen ihn sehr oft erfolgreich sein und so gibt es<br />
viele, die ihm zu Recht für seine tatkräftige Hilfe dankbar sind.<br />
Viele von uns wissen, daß Friedberg sich auch für eine von ihm als richtig<br />
erkannte Sache vehement und temperamentvoll engagieren konnte. So<br />
mochte er es beispielsweise nicht hinnehmen, daß Tierversuche, die durch<br />
ein aus seiner Sicht optimales Genehmigungsverfahren begutachtet worden<br />
sind, nicht für Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es eingesetzt werden sollen. Bei solchen<br />
Auseinandersetzungen wurde allerdings auch sein Bemühen deutlich,<br />
sachliche Meinungsverschiedenheiten nicht zu einer persönlichen Kontroverse<br />
werden zu lassen. Friedberg war ein gesuchter Fachberater und hoch<br />
angesehener Leiter akademischer Gremien. Er war mehrere Jahre Dekan<br />
der Medizinischen Fakultät in Mannheim, Mitglied des Senats der Deutschen<br />
<strong>Forschung</strong>sgemeinschaft für gesundheitsschädigende Arbeitsstoffe<br />
und Vorsitzender der Sektion Toxikologie der Deutschen Gesellschaft für<br />
Pharmakologie und Toxikologie.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit Klaus Friedberg einen ihrer engagiertesten<br />
Vertreter verloren. Er hat sich große Verdienste um den <strong>Zivilschutz</strong> erworben.<br />
Er wird uns fehlen. Wir werden ihn nicht vergessen.<br />
91
Grußwort des Bundesministers des Innern<br />
Gerhard Siegele<br />
Sehr geehrter Herr Professor Scharmann, sehr geehrte Damen und Herren<br />
vielen Dank für Ihre Einladung zur 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und für die freundliche Begrüßung.<br />
Auch ich möchte Sie, meine Damen und Herren, herzlich begrüßen. Gleichzeitig<br />
überbringe ich Ihnen die persönlichen Grüße und guten Wünsche von<br />
Herrn Bundesminister Manfred Kanther.<br />
Da dies für mich die erste Jahrestagung ist, gestatten Sie mir zunächst einige<br />
Worte zu meiner Person. Die Leitung der Abteilung O, in deren Bereich<br />
die Angelegenheiten des <strong>Zivilschutz</strong>es wahrgenommen werden, habe ich<br />
vor etwa einem Jahr übernommen. Vorher war ich in der Funktion des Stellvertretenden<br />
Abteilungsleiters im Bereich der Inneren Sicherheit tätig.<br />
Das Aufgabenspektrum der Abteilung O ist sehr vielschichtig und umfassend.<br />
Es beinhaltet die Aufgabengebiete Verwaltungsorganisation, Rechtsund<br />
Verwaltungsvereinfachung, Realisierung des Schlanken Staates, Kommunalwesen,<br />
Statistik, staatliche und nationale Repräsentation sowie das<br />
Protokoll Inland, öffentliches Auftragswesen, Verwaltungshilfe für die GUS<br />
und MOE-Staaten, Angelegenheiten der Koordinierung und Beratung der<br />
Bundesregierung in Fragen der lnformationstechnik und – last not least als<br />
weiteres Kernstück – den Bereich der Zivilverteidigung und des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />
Die vielfältigen Aspekte und Probleme gerade dieses Bereiches<br />
habe ich im Verlauf des letzten Jahres näher kennengelernt, insbesondere<br />
anläßlich der Beratungen des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes.<br />
Ich freue mich, heute an Ihrer Jahrestagung teilnehmen zu können. Die Tatsache,<br />
daß Sie auch die diesjährige Jahrestagung in die Diskussion und<br />
Fortentwicklung des Gefahrenberichts stellen, beweist Ihr besonderes persönliches<br />
Engagement, das Sie ehrenamtlich in den Dienst des Schutzes der<br />
Menschen stellen. Hierfür möchte ich Ihnen – auch im Namen des Ministers<br />
– herzlich danken.<br />
Meine Damen und Herren, bevor ich auf den Gefahrenbericht näher eingehe,<br />
möchte ich Sie kurz über die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es informieren:<br />
Das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz ist am 4. April 1997 in Kraft getreten. Es<br />
stellt die gesicherte Basis für eine zukunftsorientierte Arbeit im <strong>Zivilschutz</strong><br />
dar. Es berücksichtigt sowohl die heutige Sicherheitslage als auch die Notwendigkeiten<br />
der Bündelung bestehender Ressourcen, insbesondere durch<br />
die engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem friedensmäßigen Katastrophenschutz<br />
der Länder. Die Bündelung der Ressourcen ist sachlich<br />
geboten, aber auch im Hinblick auf die Sparzwänge der öffentlichen Hand<br />
93
erforderlich. Das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz setzt die Neukonzeption<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es, die das BMI in seinem Bericht zur zivilen Verteidigung<br />
vom 27. 6. 1995 dem Innen- und dem Haushaltsausschuß des Deutschen<br />
Bundestages unterbreitet hat, gesetzlich um. Rückblickend kann bemerkt<br />
werden, daß dieses Gesetzesvorhaben, nachdem es am 23. April 1996 vorigen<br />
Jahres vom Bundeskabinett beschlossen worden war, zügig zum<br />
Abschluß gebracht werden konnte. Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich<br />
dem Kollegen Dr. Klingshirn aus Bayern danken, der mit seinem Engagement<br />
wesentlich dazu beigetragen hat, daß das Gesetz so zustande kam. Der<br />
Bundesrat hat zwar im Dezember 1996 dem vom Deutschen Bundestag<br />
beschlossenen Gesetz zunächst nicht zugestimmt und den Vermittlungsausschuß<br />
angerufen. Der Vermittlungsausschuß hat aber am 26. Februar 1997<br />
einen Einigungsvorschlag beschlossen, der die Billigung von Bundestag<br />
und Bundesrat gefunden hat. Damit waren die letzten parlamentarischen<br />
Hürden für die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>rechts genommen. Obwohl es<br />
zur Klärung einzelner Fragen der Einschaltung des Vermittlungsausschusses<br />
bedurfte, ist festzuhalten, daß von Anfang an mit den Ländern Übereinstimmung<br />
darüber bestand, daß die Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es unabweisbar<br />
ist.<br />
Gegenstand der Erörterungen im Vermittlungsausschuß war auch eine<br />
Bestimmung, die die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> berührt, und zwar der<br />
§ 4 Abs. 2 Nr. 5 ZSG. Danach wird der Bund dem Wunsch der Länder entsprechen,<br />
alle <strong>Forschung</strong>svorhaben im Benehmen mit den Ländern durchzuführen.<br />
Diese waren bereits bisher bei einzelnen sie interessierenden<br />
Themen eingebunden, vor allem im Rahmen projektbegleitender Arbeitsgruppen.<br />
Die drei grundlegenden Zielsetzungen, die wir mit den Gesetzgebungsvorhaben<br />
verfolgt haben – und die Ihnen bereits von meinem Vorgänger, Herrn<br />
Dr. Kass, dargelegt wurden – konnten erreicht werden. Ich möchte Sie<br />
Ihnen deshalb nur ganz kurz in Erinnerung rufen. Im einzelnen sind dies:<br />
1. Die bereits angesprochene engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem<br />
friedensmäßigen Katastrophenschutz, für den die Länder zuständig sind;<br />
2. der Verzicht auf bisherige Sonderstrukturen des Bundes und die<br />
Beschränkung auf zivilschutzrelevante Ergänzung des Katastrophenschutzes<br />
der Länder;<br />
3. die Zusammenfassung der für den <strong>Zivilschutz</strong> zuständigen Behörden<br />
verbunden mit der Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz.<br />
Gleichzeitig beinhaltet das Gesetz eine Rechtsbereinigung und wesentliche<br />
Verwaltungsvereinfachung.<br />
Weiter fortgeschritten ist die praktische Umsetzung der einzelnen Maßnahmen<br />
der Neuordnung. Ich möchte hierauf im einzelnen nicht eingehen. Deshalb<br />
nur einige Zahlen, welche die finanzielle Dimension der Neuordnung<br />
für den Bund beleuchten:<br />
94
Für die Aufgaben des <strong>Zivilschutz</strong>es sind im Haushalt 1997 insgesamt rd.<br />
458 Mio DM bereitgestellt worden. Im Vergleich zu 1992 konnte damit der<br />
Jahresetat um rd. 380 Mio DM verringert werden. Die sich daraus seither<br />
kumulativ ergebenden Einsparungen betragen rd. 1,4 Mrd. DM. Die vom<br />
Bund bis 1995 finanzierten vier <strong>Zivilschutz</strong>behörden werden nach erfolgter<br />
Auflösung des Bundesverbandes für den Selbstschutz und der Akademie für<br />
zivile Verteidigung auf nur noch zwei <strong>Zivilschutz</strong>behörden, und zwar die<br />
Bundesanstalt Technisches Hilfswerk und das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>,<br />
zurückgeführt. Die Zahl der Bediensteten im <strong>Zivilschutz</strong> wurde inzwischen<br />
bei Bund und Ländern um rd. 1 450 sozialverträglich abgebaut. Die Reduzierung<br />
um weitere rd. 350 Beschäftigte ist geplant.<br />
Durch die erfolgte engere Verzahnung des <strong>Zivilschutz</strong>es mit dem friedensmäßigen<br />
Katastrophenschutz der Länder kann das Gesamtsystem wirtschaftlicher<br />
gestaltet und dennoch der Sicherheitsstandard für die Bürger<br />
erhalten werden.<br />
Auch wenn das Jahrzehntelang unser Aufgabenspektrum beherrschende<br />
Bild einer evtl. existenzbedrohenden Konfrontation zwischen den Machtblöcken<br />
der Vergangenheit angehört, bedeutet dies jedoch nicht, daß wir in<br />
Sorglosigkeit verfallen könnten. <strong>Neue</strong>, kaum kalkulierbare und nur schwer<br />
einordnungsfähige Gefahren haben an Bedeutung gewonnen.<br />
Lassen Sie mich damit überleiten zu dem Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und einige der sich daraus für das BMI ergebende Perspektiven<br />
skizzieren. Ich darf zunächst der <strong>Schutzkommission</strong> auch an dieser Stelle<br />
nochmals meinen Dank und meine Anerkennung für die geleistete Arbeit<br />
bei der Erstellung des Gefahrenberichts aussprechen.<br />
Welcher Wertschätzung sich die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> erfreut, zeigt<br />
die Äußerung von Staatssekretär Professor Dr. Schelter bei der Vorstellung<br />
des Gefahrenberichts im BMI am 18. 2. 1997. Er sagte, daß man die <strong>Schutzkommission</strong><br />
erfinden müsse, wenn es sie noch nicht gäbe. Dem kann ich<br />
mich nur anschließen. Wie er, möchte auch ich die Tatsache unterstreichen,<br />
daß die <strong>Schutzkommission</strong> als ehrenamtliches Beratungsgremium des BMI<br />
die Aufarbeitung des komplexen Themas „Mögliche Gefahren für die<br />
Bevölkerung bei Großkatastrophen und im Verteidigungsfall“ aus eigener<br />
Initiative in Angriff genommen und den Bericht kostenlos erstellt hat.<br />
Sie haben die Thematik eingehend auf der letzten Jahrestagung der Kommission<br />
und darüber hinaus in weiteren kleineren Beratungsrunden erörtert<br />
und Ihren wissenschaftlichen Sachverstand in den Bericht eingebracht. Mit<br />
dem Bericht haben Sie verdeutlicht, daß es auch nach den sicherheitspolitischen<br />
Veränderungen der letzten Jahre einer kritischen Auseinandersetzung<br />
mit vielfältigen möglichen Gefahren bedarf. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit<br />
dem Gefahrenbericht unter Beweis gestellt, daß sie mit der erforderlichen<br />
Breite und Erfahrung als fachlich neutrale Institution den Bundesressorts,<br />
dem BMI und den Ländern eine ressortübergreifende Darstellung möglicher<br />
Risiken geben kann. Mit der Vorlage des Gefahrenberichts hat die Schutz-<br />
95
kommission unterstrichen, daß sie ein kompetentes wissenschaftliches Gremium<br />
für Politik und Fachwelt ist.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> hat mit dem Bericht eine in dieser Weise bisher<br />
nicht verfügbare fachübergreifende Ausarbeitung vorgelegt. Der Bericht<br />
zeigt, daß Gefahren unterschiedlichster Art uns bedrohen können, ohne daß<br />
uns dies im Alltag bewußt ist. Auch wenn Gefährdungen – zum Glück –<br />
nicht unser Leben bestimmen, gilt es, hier nicht die Augen zu verschließen<br />
und in Sorglosigkeit zu verfallen. Vielmehr bedarf es der Vorsorge, damit<br />
wir nicht unvorbereitet einer eventuellen Krisensituation gegenüberstehen.<br />
Gefahren machen nicht an den Grenzen halt; sie orientieren sich nicht an<br />
Zuständigkeiten.<br />
Der Gefahrenbericht greift dementsprechend über den <strong>Zivilschutz</strong> hinaus<br />
aktuelle Fragen der inneren Sicherheit auf – ich denke hier insbesondere an<br />
die Ausführungen zu den Giftgasanschlägen in Japan – und berührt vielfältige<br />
Zuständigkeitsbereiche anderer Bundesressorts und der Länder. Die<br />
Ausarbeitung gibt daher Impulse für staatliche und nichtstaatliche Stellen<br />
auf den verschiedenen Ebenen, um sich mit der Thematik zu befassen und<br />
zwar gerade auch im Wege einer ressort- und zuständigkeitsübergreifenden<br />
Zusammenarbeit.<br />
Zur Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es enthält der Gefahrenbericht aus der<br />
Sicht des BMI zwei kritische Passagen, auf die ich kurz eingehen möchte.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> sieht erstens die Notwendigkeit zur flächendeckenden<br />
Warnung der Bevölkerung und hält zum zweiten die Einrichtung von<br />
Notfalldepots für Sanitätsmaterial für erforderlich.<br />
Zu 1.<br />
Das alte Sirenenwarnsystem war sehr kostenaufwendig, technisch überholt<br />
und störanfällig. Eine grundlegende Modernisierung wäre erforderlich<br />
gewesen. Die damit verbundenen hohen Investitionen sind angesichts der<br />
erheblich verbesserten außenpolitischen Sicherheitslage wirtschaftlich nicht<br />
vertretbar. Nach der Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es verzichtet daher der<br />
Bund auch hier weitgehend auf zivilschutzspezifische Strukturen und stützt<br />
sich im Rahmen einer integrierten Lösung auf die Warnmittel, die die Länder<br />
zur Warnung vor friedensmäßigen Gefahren vorhalten. Hierüber ist Einvernehmen<br />
mit den Ländern im Vermittlungsausschuß erzielt worden. Der<br />
Bund ergänzt das Instrumentarium allerdings insoweit, als die Warnmittel<br />
der Länder nicht ausreichen. Überlegt werden neue Warnmethoden, z.B.<br />
über Rundfunk, ähnlich dem Verkehrsfunk.<br />
Zu 2.<br />
Die Einrichtung von Notfalldepots für Sanitätsmaterial wird von der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> auch im Hinblick auf friedensmäßige Katastrophen für<br />
wünschenswert gehalten. Einige der für den friedensmäßigen Katastrophenschutz<br />
zuständigen Länder wollen Sanitätsmaterial aus Beständen der<br />
vom Bund aufgegebenen Sanitätsmateriallager übernehmen. Auch hier ist<br />
96
angesichts der erheblich verbesserten außenpolitischen Sicherheitslage die<br />
weitere Beibehaltung der Lagerung von Sanitätsmaterial durch den Bund<br />
für <strong>Zivilschutz</strong>zwecke wegen der damit verbundenen hohen Kosten für<br />
Beschaffung, Wälzung, Lagerung, Zustandsprüfung sowie Bewirtschaftung<br />
der Liegenschaft und Bauunterhaltung wirtschaftlich nicht mehr vertretbar.<br />
Für den Spannungsfall kann nach § 17 des neuen ZSG durch Rechtsverordnung<br />
angeordnet werden, daß ausreichend Sanitätsmaterial auch durch Dritte<br />
vorgehalten wird.<br />
Lassen Sie mich nochmals auf die erwähnten Giftgasanschläge in Japan<br />
zurückkommen. Diese Ereignisse zeigen, daß Chemikalien und chemische<br />
Kampfstoffe trotz des umfassenden Chemiewaffenverbots nach wie vor und<br />
auf nicht absehbare Zeit ein großes Gefahrenpotential für die Zivilbevölkerung<br />
darstellen. Die terroristische Verwendung der leicht herstellbaren toxischen<br />
Substanzen stellt uns vor neue Herausforderungen. Der Anschlag auf<br />
die U-Bahn in Tokio hat die ganze Verletzlichkeit aufgezeigt. Die eingesetzten<br />
chemischen Grundstoffe sind so verbreitet, daß sich eine Rohstoffüberwachung<br />
äußerst schwierig gestalten würde.<br />
Sicherlich ist es zunächst Aufgabe der Sicherheitsbehörden, gefährliche<br />
Gruppierungen sorgfältig zu beobachten, um solche Anschläge möglichst zu<br />
verhindern.<br />
Daneben ist jedoch von besonderer Bedeutung, auch für die Bewältigung<br />
eventueller Gefährdungslagen gerüstet zu sein. Hier kommt es darauf an,<br />
daß sowohl Polizei als auch Katastrophenschutz diese Möglichkeit in ihre<br />
Erwägungen zur Gefahrenabwehr mit einbeziehen. Gefordert ist hier eine<br />
besonders enge Zusammenarbeit aller Stellen.Lassen Sie mich im Hinblick<br />
auf Anschläge mit terroristischen Hintergrund einige Gedanken zur<br />
Bekämpfung des Terrorismus darlegen.<br />
Notwendig zur Bekämpfung des Terrorismus ist ein Bündel von Maßnahmen,<br />
die ineinander greifen und in ihrem Zusammenwirken eine globale<br />
Bekämpfungsstrategie ergeben. Denn Terrorismus ist nicht statisch; er<br />
ändert sein Gesicht, seine Methoden.<br />
Bei einem strategischen Ansatz müssen wir von folgendem ausgehen:<br />
Terroristen brauchen Nachwuchs, den sie aus Sympathisanten in unterstützenden<br />
Organisationen rekrutieren. Deshalb müssen wir die politische Auseinandersetzung<br />
mit den ideologischen Grundlagen offensiv angehen. Dazu<br />
können im Einzelfall auch Verbote von Organisationen gehören. Verbote<br />
sind zwar kein Patentrezept, sie wirken aber präventiv, reduzieren das Lager<br />
der Anhänger und geben den Gerichten und Behörden bessere Möglichkeiten<br />
an die Hand. Terroristen brauchen Geld und logistische Unterstützung.<br />
Deshalb sind Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche auch für den<br />
Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Terroristen brauchen Waffen,<br />
Sprengstoff und andere für Anschläge geeignete Substanzen. Daher muß der<br />
Waffenhandel noch besser kontrolliert, muß der Waffenschmuggel unter-<br />
97
unden und müssen neue Methoden entwickelt werden, daß die Herkunft<br />
von Sprengstoff und anderen Substanzen besser bestimmt werden kann.<br />
Das BMI hat den Gefahrenbericht an die von seinem Inhalt betroffenen<br />
Bundesressorts und an die Innenminister der Länder übersandt, mit der<br />
Bitte, seine inhaltliche Aussagen gegebenenfalls zu ergänzen. Nach meinem<br />
Eindruck besteht auf Grund der nachgeforderten Exemplare ein reges Interesse<br />
bei den Ressorts und auch bei der Ärzteschaft an dem Bericht. Ob aber<br />
auch von anderer Seite als von der <strong>Schutzkommission</strong> selbst Anstöße zur<br />
Fortschreibung des Berichts kommen werden, vermag ich zum gegenwärtigen<br />
Zeitpunkt noch nicht zu beurteilen. Meine Einschätzung geht allerdings<br />
dahin, daß die betroffenen Stellen vor allem auf die weitere wissenschaftliche<br />
Begleitung der einzelnen Themen des Gefahrenberichts durch<br />
die <strong>Schutzkommission</strong> angewiesen sein werden. Ich denke, daß die <strong>Schutzkommission</strong><br />
ihre Funktion als wissenschaftliches Beratungsgremium des<br />
BMI gerne auch in die gemeinsame Sache von Bund und Ländern stellen<br />
wird. Denn nur, wenn wir zur Zusammenarbeit finden, können wir eine effiziente<br />
Gefahrenvorsorge betreiben.<br />
Ich möchte die <strong>Schutzkommission</strong> daher ausdrücklich bitten, den mit dem<br />
Gefahrenbericht eingeschlagenen Weg einer übergreifenden Betrachtung<br />
von Problemen weiter zu gehen und ihren wissenschaftlichen Rat auch in<br />
Zukunft einzubringen. Dies eröffnet der <strong>Schutzkommission</strong> eine weiterreichende<br />
Perspektive für ihre Arbeit, einen deutlich größeren fachlichen Stellenwert<br />
im Bereich der Gefahrenprävention und Gefahrenabwehr und<br />
schließlich eine stärkere Beachtung ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> hält es zu Recht für zwingend geboten, „auf Grund<br />
der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten Europa und der damit<br />
verbundenen Notwendigkeit der gemeinsamen Bewältigung von existenzbedrohenden<br />
Situationen“, Fragen der Sicherheitsvorsorge und Gefahrenabwehr<br />
auch über die Grenzen hinweg zu diskutieren Ich freue mich daher,<br />
daß Sie unseren Ständigen Vertreter bei der NATO, Herrn Botschafter Dr.<br />
Hermann Freiherr von Richthofen zu der Jahrestagung eingeladen haben<br />
und wir aus seiner Sicht Näheres zu den Schwerpunkten staatlicher Sicherheitsvorsorge<br />
hören werden.<br />
98
Die <strong>Neue</strong> NATO – aktuelle Entwicklungen und<br />
Perspektiven<br />
Botschafter Dr. Hermann Freiherr von Richthofen<br />
Herr Vorsitzender,<br />
meine Damen und Herren,<br />
ich danke Ihnen für die Einladung, auf der 46. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
beim BMI zu sprechen. Ich bin gerne nach Freiburg gekommen,<br />
um in Ihrem interessierten Kreis hochrangiger Wissenschaftler über<br />
die <strong>Neue</strong> NATO, über aktuelle Entwicklungen und Perspektiven unseres<br />
Bündnisses zu sprechen.<br />
Unser Bündnis, das am 4. April 1949 in Washington als Militärallianz unter<br />
amerikanischer Führung gegen die damalige Bedrohung aus dem Osten<br />
gegründet wurde, ist heute dabei, sich den großen Veränderungen im Sicherheitsumfeld<br />
einer Welt im Umbruch anzupassen und sich als <strong>Neue</strong> NATO<br />
zu profilieren.<br />
Die NATO soll in Zukunft dem geeinten und freien Europa einen Stabilitätsrahmen<br />
bieten.<br />
Um den Kurs der Allianz zur Festigung von Stabilität und Sicherheit auf<br />
dem Weg in das 21. Jahrhundert festzulegen, werden sich die Staats- und<br />
Regierungschefs der NATO sich am 8./9. Juli zu einem Gipfel in Madrid<br />
treffen.<br />
Sie haben sich vorgenommen, im Außenverhältnis<br />
– erste mitteleuropäische Länder, die Interesse am Beitritt zur Allianz<br />
bekundet haben, zu Beitrittsverhandlungen einzuladen;<br />
– den Ländern, die nicht zu solchen Verhandlungen eingeladen werden,<br />
glaubhaft zu versichern, daß die Allianz für weitere Beitritte offen bleibt;<br />
– die Kooperationsbeziehungen mit allen Partnern der 1994 gegründeten<br />
Partnerschaft für den Frieden zu stärken und ihnen in einem Euro-Atlantischen<br />
Partnerschaftsrat einen flexiblen Rahmen für die Wahrnehmung<br />
ihrer Sicherheitsinteressen zu bieten;<br />
– eine weitreichende Sicherheitspartnerschaft mit Rußland einzugehen;<br />
– eine eigenständige, besondere Beziehung auch mit der Ukraine zu entwickeln<br />
und<br />
im Innenverhältnis der NATO wollen sie<br />
– über die Eckwerte einer neuen Kommandostruktur entscheiden und das<br />
Konzept der alliierten Streitkräftekommandos (CJTF) zur Durchführung<br />
friedensunterstützender Missionen in Gang setzen;<br />
99
– die transatlantischen Verbindungen weiter festigen und gleichzeitig<br />
– Vorkehrungen für die Ausprägung der europäischen Sicherheits- und<br />
Verteidigungsidentität innerhalb der NATO treffen, namentlich für die<br />
Vorbereitung und Durchführung von Operationen unter Führung der<br />
Westeuropäischen Union (WEU).<br />
Ferner stehen auf der Gipfelagenda:<br />
– die internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung in und für<br />
Europa im Auftrag der Vereinten Nationen sowie<br />
– der weitere Ausbau der politischen und verteidigungspolitischen Anstrengungen<br />
gegen die Weiterverbreitung nuklearer, biologischer und chemischer<br />
Waffen sowie ihrer Trägersysteme.<br />
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich die Punkte dieser Gipfelagenda<br />
für sich beleuchten:<br />
Zu den wesentlichen Weichenstellungen vor der Jahrtausendwende gehört<br />
die Entscheidung über die Einladung erster Kandidaten zu Beitrittsverhandlungen.<br />
Dies ist eine Entscheidung von großer außenpolitischer Tragweite.<br />
Für das Bündnis ergab sich erst mit der Einbeziehung des vereinten<br />
Deutschland in die NATO am Ende des Kalten Krieges die Möglichkeit,<br />
sich überhaupt nach Osten zu öffnen.<br />
Schon auf dem Gipfel 1994 sprachen sich die Staats- und Regierungschefs<br />
des Bündnisses grundsätzlich für eine Erweiterung der NATO im Zuge<br />
eines evolutionären Prozesses aus.<br />
Mit der Entscheidung für die Erweiterung beantwortete die NATO zugleich<br />
die Frage, ob das Bündnis nach dem Wegfall der Bedrohung aus dem Osten,<br />
über seinen bisherigen Zweck der kollektiven Verteidigung hinaus, Funktionen<br />
der kooperativen Sicherheit in Europa übernehmen solle, um in der<br />
Zukunft militärisch und politisch relevant zu bleiben.<br />
Der Fortbestand der NATO wurde nämlich von vielen Denkfabriken und<br />
den Medien in Frage gestellt, die den Bündnisauftrag für erfüllt und damit<br />
auch das Bündnis selbst bereits für erledigt hielten. Die Regierungen der<br />
Mitgliedsstaaten sahen das allerdings anders.<br />
Sie wollten nicht das gleiche tun, wie seinerzeit Wellington und Blücher, die<br />
sich auf dem Schlachtfeld von Waterloo in der ,,BeIle Alliance“ trafen, um<br />
ihren Sieg zu feiern und anschließend auseinander zu gehen.<br />
Unsere heutigen Staatsmänner sprachen sich für die Erhaltung der NATO<br />
aus, unterstützt von weiten Teilen der öffentlichen Meinung. Und das hat<br />
seinen guten Grund.<br />
Denn nur die NATO mit ihrer militärischen Kompetenz, ihrer effizienten<br />
Organisation und ihrem transatlantischen Ausleger kann als Stabilitätsanker<br />
des europäischen Sicherheitssystems fungieren.<br />
100
Schon auf dem ersten Gipfeltreffen nach dem Fall der Berliner Mauer im<br />
Juli 1990 in London waren sich die Staats- und Regierungschefs der NATO<br />
einig, daß die Nordatlantische Allianz in der neuen Ära mehr sein mußte als<br />
ein reines Verteidigungsbündnis gegen militärische Bedrohung von außen,<br />
und daß es nunmehr darauf ankomme, zur Erhöhung der Stabilität und<br />
Sicherheit in ganz Europa beizutragen. An dieser großen Aufgabe sollten<br />
künftig alle europäischen Staaten mitarbeiten, die sich zur Sicherung von<br />
Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa im Wege der gemeinsamen<br />
Wahrnehmung gemeinsamer Interessen durch gemeinsame Institutionen<br />
bekennen.<br />
1991 wurde für den Dialog und die Zusammenarbeit mit den Partnern im<br />
Osten der NATO-Kooperationsrat und 1994 die Partnerschaft für den Frieden<br />
ins Leben gerufen. Beide sind in kürzester Zeit zu einem Erfolg geworden.<br />
Meine Damen und Herren, im Herbst 1995 hat die NATO eine Studie zur<br />
Erweiterung veröffentlicht, die in der <strong>Folge</strong>zeit mit den interessierten Partnern<br />
lebhaft diskutiert worden ist. Darin wird belegt, daß die NATO mit der<br />
Öffnung keine neuen Trennlinien schafft, sondern zum Bau einer breit angelegten<br />
europäischen Sicherheitsarchitektur beiträgt. Für die Öffnung der<br />
NATO sprechen vielmehr unabweisbare Gründe:<br />
1. die NATO, die sich während des Kalten Krieges erfolgreich als Garant<br />
von Sicherheit und Freiheit bewährt hatte, wirkt auf die Staaten Mittelund<br />
Osteuropas mit magnetischer Anziehungskraft.<br />
Diese Staaten, deren Gesicht 1945 in Jalta zwangsweise nach Osten<br />
gedreht worden war, sind nunmehr frei, sich der Verteidigungsgemeinschaft<br />
westlicher demokratischer Staaten anzuschließen, unter deren<br />
Werteordnung sie sich stellen möchten.<br />
2. Samuel Huntington sagt zurecht, daß nämlich gemeinsame Werte,<br />
gemeinsame Institutionen, gemeinsame Geschichte und Kultur die Stärke<br />
des Westens ausmachen. Wer wollte unsere mittel- und osteuropäi<br />
schen Nachbarn aus dieser transatlantischen Gemeinschaft heraushalten?<br />
Versuche, diesen Staaten die Tür zu weisen, wären nicht nur hochmütig,<br />
sondern unfair und unhistorisch.<br />
3. Wenn die NATO die mittel- und osteuropäischen Staaten, die dies wün<br />
schen, nicht aufnähme, so würden diese Staaten Teil einer Grauzone in<br />
Europa, die den europäischen Kontinent erneut trennte.<br />
Umgekehrt führt die Erweiterung zur Integration und Zusammenarbeit<br />
in Europa und steuert damit Tendenzen zur nationalen und ethnischen<br />
Desintegration entgegen. Davon profitieren sichtlich gutnachbarliche<br />
Beziehungen, wie sich an den Verträgen Ungarns mit Rumänien und der<br />
Slowakei und Rumäniens mit der Ukraine ablesen läßt.<br />
4. Wir Deutsche möchten nach der Wiedervereinigung nicht noch einmal,<br />
daß unsere Landesgrenzen die Grenzen zu einer anderen Welt bilden.<br />
101
Statt dessen möchten wir entsprechend unserer geographisch mitteleuropäischen<br />
Lage auch in der Mitte der NATO und der Europäischen Union<br />
liegen. Die Mitgliedschaft im gleichen Verteidigungsbündnis besiegelt<br />
im übrigen auch die Aussöhnung zwischen uns und unseren östlichen<br />
Nachbarn.<br />
Meine Damen und Herren, natürlich übersehe ich nicht, daß die NATO-<br />
Erweiterung in der bestehenden Lage Europas auch Probleme aufwirft, die<br />
einer befriedigenden Lösung bedürfen. Ich könnte mir denken, daß auch<br />
Sie, meine Damen und Herren, mich fragen werden:<br />
– Schafft die NATO-Erweiterung angesichts der Proteste aus Moskau nicht<br />
doch neue Trennlinien in Europa, die wir ja gerade vermeiden wollen?<br />
Welche <strong>Folge</strong>n hat denn die NATO-Erweiterung für das Verhältnis zu<br />
Rußland?<br />
– Wie wirkt sich die Öffnung der Allianz auf die Länder aus, die zunächst<br />
nicht zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eingeladen werden?<br />
Ich will versuchen, auf diese Fragen zu antworten:<br />
Die russischen Sorgen vor den <strong>Folge</strong>n der NATO-Erweiterung sind strategischer,<br />
politischer und psychologischer Natur. Sie sind aus alten Bedrohungs-<br />
oder Einkreisungsängsten und der Furcht vor einer Verschiebung des<br />
militärischen Gleichgewichts gespeist.<br />
Sie entspringen allesamt überholtem russischen Denken, Mißtrauen gegenüber<br />
dem Westen und einer Wagenburgmentalität. Die russische Elite<br />
möchte am liebsten einen Gürtel von Pufferstaaten, die Moskauer Einfluß<br />
unterliegen.<br />
Die NATO ist dennoch bereit, sich mit diesen Sorgen ernsthaft auseinander<br />
zu setzen.<br />
Sie bemüht sich nach Kräften, diese Auffassungen zu korrigieren. Sie<br />
weist die russische Führung auf ihre neue Rolle und auf die Aufgaben in<br />
der europäischen Sicherheitsstruktur hin, in der Rußland einen gleichberechtigten<br />
Platz als Partner der NATO einnehmen soll. Sie versucht, der<br />
russischen Führung verständlich zu machen, daß die Aufnahme von mittel-<br />
und osteuropäischen Staaten in die NATO die Interessen Rußlands<br />
nicht bedroht, sondern im Gegenteil, daß die Stabilität in Mittel- und Osteuropa<br />
durch die Erweiterung von NATO und Europäischer Union auch<br />
Rußland zusätzliche Stabilität verleihen wird und diese Stabilität ist<br />
etwas völlig anderes als die Balance of Power des 19. Jahrhunderts und<br />
die Errichtung von Einflußzonen, die einer vergangenen Epoche<br />
angehören.<br />
Was die militärisch-strategischen Sorgen Rußlands angeht, so hat das<br />
Bündnis am 10. Dezember 1996 erklärt, daß die Erweiterung der Allianz<br />
keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich<br />
macht und daher die NATO-Länder weder die Absicht, noch Pläne<br />
102
oder auch nur einen Anlaß haben, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet<br />
neuer Mitglieder zu stationieren.<br />
Auch sehen sie keine Notwendigkeit, das NATO-Nukleardispositiv oder<br />
die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern, und<br />
dies gilt auch für die Zukunft.<br />
Zum konventionellen Streitkräftedispositiv, hat die NATO am 14. März<br />
1997 erklärt: „Im gegenwärtigen und künftig absehbaren Sicherheitsumfeld<br />
wird das Bündnis seine kollektive Verteidigung und andere Aufgaben<br />
eher durch die Gewährleistung der notwendigen Interoperabilität, Integration<br />
und Verstärkungskapazität als durch zusätzliche ständige Stationierung<br />
substantieller Kampftruppen durchführen“, mit anderen Worten<br />
substantielle Kampftruppen dort nicht dauerhaft stationieren.<br />
Was die konventionellen Rüstungen angeht, so sind in Wien entsprechend<br />
dem Ergebnis des OSZE-Gipfels am 1. Dezember 1996 Verhandlungen<br />
aufgenommen worden, um den KSE-Vertrag dem sich verändernden<br />
Sicherheitsumfeld in Europa anzupassen. Die Allianz hat in die Verhandlungen<br />
einen Vorschlag eingebracht, der auf russische Besorgnisse eingeht.<br />
Zusätzlich wird zwischen der NATO und Rußland über vertrauensbildende<br />
Maßnahmen gesprochen, um Transparenz auch für nicht vom KSE-<br />
Vertrag erfaßte Infrastruktur herzustellen.<br />
Da die Sicherheit neben militärischen Aspekten auch Wirtschaft und Handel,<br />
Menschenrechte und Minderheitsfragen umfaßt, kann sie nicht auf<br />
eine Organisation allein abgestützt werden. Sie beruht deshalb auf einem<br />
Zusammenspiel der multilateralen europäischen Institutionen, ohne Überund<br />
Unterordnung. Zu ihnen gehören außer der NATO die EU, die WEU,<br />
die OSZE und der Europarat. Aber nicht nur die Institutionen, sondern<br />
auch Dialog und Partnerschaft der Allianz mit Rußland sind ein tragender<br />
Teil dieser Architektur.<br />
Meine Damen und Herren, gleichzeitig mit der Einladung erster Kandidaten<br />
zu Beitrittsverhandlungen möchte das Bündnis den Ländern, die ihr<br />
Interesse am Beitritt zur Allianz bekundet haben, in Madrid aber noch<br />
nicht zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eingeladen werden können,<br />
eine klare Perspektive geben.<br />
Die Staats- und Regierungschefs werden ihnen zusichern, daß die NATO<br />
für weitere Mitglieder offen bleibt, und daß die Konsultationen mit ihnen<br />
fortgesetzt werden.<br />
Je kleiner im übrigen der Kreis der Länder ist, die 1997 zum Beitritt eingeladen<br />
werden, desto glaubwürdiger wird die Zusicherung empfunden<br />
werden. Darüber hinaus bietet die NATO in einer Begleitstrategie allen<br />
Kooperationspartnern, auch denen, die nicht beitreten möchten, die Schaffung<br />
eines Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates an.<br />
103
Sie sollen dadurch noch enger an die euro-atlantische Gemeinschaft angebunden<br />
und es soll ihnen ermöglicht werden, sich den Bündnisstrukturen<br />
weiter anzunähern.<br />
Damit bin ich bereits mitten im zweiten und dritten Tagesordnungspunkt der<br />
Gipfelagenda für Madrid, einer Begleitstrategie nämlich zur NATO-Erweiterung.<br />
Seit September 1996 tagt eine hochrangige Arbeitsgruppe, die alle<br />
Möglichkeiten zur Stärkung und Intensivierung des Programms der Partnerschaft<br />
für den Frieden prüft.<br />
Sie soll bis zum Gipfel eine Strategie ausarbeiten, die die politische Dimension<br />
dieser Partnerschaft vertieft. Er soll den Partnern einen flexiblen neuen<br />
Konsultations- und Kooperationsrahmen zur Verfügung stellen, der jedem<br />
Land bei der Lösung seiner Sicherheitsprobleme helfen kann. Außerdem<br />
sollen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Partner in den verschiedenen<br />
Arbeitsfeldern der Partnerschaft für den Frieden erhöht werden. So können<br />
die einzelnen Länder ihre Potentiale noch besser einbringen. Sie werden<br />
dadurch noch enger an das Bündnis und seine Strukturen angebunden und<br />
wir werden das große Wachstumspotential, das noch in der Partnerschaft für<br />
den Frieden steckt, voll ausschöpfen. Jeder Partner bestimmt selbst, wie eng<br />
und intensiv sich die Zusammenarbeit mit dem Bündnis gestaltet.<br />
Meine Damen und Herren, zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, daß<br />
diese Begleitstrategie umfassend sein muß, indem sie auch Maßnahmen<br />
anderer Organisationen und solche der bilateralen Beziehungen einschließt.<br />
Denn die Sicherheit in Europa kann nicht allein auf die NATO abgestellt<br />
werden. Wenn es also richtig ist, daß die Öffnungspolitik des Bündnisses<br />
Teil einer gesamteuropäischen Sicherheitspolitik ist, dann ist auch die<br />
Europäische Union aufgerufen, den mittel- und osteuropäischen Staaten in<br />
ihren Beitrittsverhandlungen Perspektiven ihrer engeren Anbindung an die<br />
euro-atlantischen Sicherheitsstrukturen insgesamt aufzuzeigen.<br />
Durch ein paralleles, transparentes und komplementäres Vorgehen von<br />
NATO und Europäischer Union bei ihren jeweiligen Beitrittsverhandlungen<br />
muß zum Ausdruck gebracht werden, daß sie dem gleichen Stabilitätsziel<br />
verpflichtet sind. Zwischen der NATO und der EU muß eine Dialogstruktur<br />
geschaffen werden, um die Erweiterungsprozesse besser aufeinander abzustimmen.<br />
Zusammen mit der erweiterten Europäischen Union wird die neue<br />
NATO einen großen Stabilitäts- und Prosperitätsrahmen bilden, an den sich<br />
Rußland anlehnen kann.<br />
Damit komme ich zur Vereinbarung einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland.<br />
Wir haben vorhin gesehen, daß es für Rußland politisch-psychologisch<br />
schwierig ist, die Osterweiterung der NATO zu akzeptieren. Unser Angebot<br />
einer Sicherheitspartnerschaft mit Rußland darf indessen nicht als Preis für<br />
eine Hinnahme der NATO-Erweiterung mißverstanden werden. Unabhängig<br />
von den beschwörenden Tönen aus Moskau ist es vielmehr ein Gebot<br />
der Stunde, die Beziehungen der NATO zu Rußland auf eine dauerhafte<br />
Grundlage zu stellen.<br />
104
Generalsekretär Solana steht mit Außenminister Primakov in intensiven<br />
Verhandlungen über ein politisch verbindliches Dokument, das die künftige<br />
Ausgestaltung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der NATO und<br />
Rußland regeln und die Haupteinwände gegen die NATO-Erweiterung entkräften<br />
soll. Schlüsselbegriffe des neuen Verhältnisses der NATO zu Rußland<br />
sind strategische Partnerschaft, Transparenz und Reziprozität. Das<br />
eigentliche Angebot des Bündnisses an Rußland, das in einer Akte besiegelt<br />
werden soll, ist die Herstellung eines Instrumentariums zur Vertrauensbildung.<br />
In der Akte sollen die Prinzipien, zu denen sich beide Seiten bekennen,<br />
darunter das Prinzip der freien Bündniswahl, die Gebiete für Zusammenarbeit<br />
und Dialog und ein Mechanismus für Konsultationen über<br />
Sicherheitsfragen niedergelegt werden. Es soll ein NATO-Rußland-Rat<br />
gebildet werden, in dem Rußland gleichberechtigt mit der NATO Sitz und<br />
Stimme hat. Es gilt das Konsensprinzip und wenn es keine Einigung gibt,<br />
bleiben beide Seiten in ihrem Handeln frei.<br />
Das übergeordnete Ziel westlicher Rußlandpolitik muß es sein, Rußland auf<br />
dem Pfad sich verdichtender Zusammenarbeit mit den westlich geprägten<br />
weltpolitischen Strukturen, einer Politik der guten Nachbarschaft und einer<br />
Politik innerer Reform zu halten.<br />
Ein normales Rußland liegt im fundamentalen westlichen Interesse. Eine<br />
solche Politik wird auch auf russischer Seite eine Eigendynamik entfalten.<br />
Gleichzeitig möchte die NATO besondere Beziehungen auch mit der<br />
Ukraine herstellen, dem nach Rußland größten und bevölkerungsreichsten<br />
Staat in Osteuropa, dessen erst vor fünf Jahren wiedergewonnene Souveränität,<br />
politische Unabhängigkeit und territoriale Integrität besonderer Pflege<br />
und besonderen Schutzes bedürfen. Gedacht ist auch hier an ein politisch<br />
verbindliches Dokument mit Prinzipien, Feldern der Zusammenarbeit und<br />
einem Rahmen für eigenständige Konsultationen. Die NATO hat am Mittwoch<br />
in Kiew ein Informationsbüro errichtet, das der Beziehung zwischen<br />
dem Bündnis und der NATO sichtbar Ausdruck verleiht.<br />
Meine Damen und Herren, damit möchte ich zum Innenverhältnis kommen:<br />
Neben dem Stabilitätstransfer nach Osten dürfen wir nicht die enge Interdependenz<br />
Europas und Amerikas als Grundlage dieser Politik vernachlässigen.<br />
Vielmehr ist es essentiell, daß die neue NATO auch eine neue Partnerschaft<br />
zwischen Amerika und Europa begründet. Das Fundament der europäischen<br />
Sicherheitsarchitektur ist und bleibt der starke transatlantische Verbund und<br />
die militärisch bedeutsame amerikanische Präsenz in Europa.<br />
Das Hauptinstrument für die amerikanische Rolle in Europa bleibt die<br />
NATO, wenn auch der transatlantische Dialog zwischen den USA und der<br />
Europäischen Union zunehmend Bedeutung erlangt.<br />
Die Europäer müssen in diesem Verhältnis mehr Verantwortung und mehr<br />
Risiken, sie sollen dann aber auch mehr Zuständigkeiten übernehmen.<br />
105
Die neue und sich erweiternde NATO muß ihre inneren Strukturen der<br />
neuen Lage und den neuen Aufgaben anpassen. Sie möchte bis zum Gipfel<br />
ihre Führungsstrukturen verkleinern und verschlanken.<br />
Das veränderte Sicherheitsumfeld in Europa erlaubt es, die alte Organisation<br />
militärischer Abschreckung abzuspecken und eine flexiblere Struktur an ihre<br />
Stelle zu setzen. Die neue Kommandostruktur soll die militärische Leistungsfähigkeit<br />
der Allianz künftig auf drei statt bisher vier Führungsebenen<br />
gewährleisten: ich meine damit die strategische Ebene, weiterhin unter amerikanischer<br />
Führung, die regionale, unter grundsätzlich europäischer<br />
Führung und die subregionale Ebene, in der vor allem die mittleren und kleineren<br />
Bündnispartner sich wiederfinden sollen. Diese multinationale<br />
Kommandostruktur soll alle Bündnispartner, d.h. künftig auch Spanien und<br />
Frankreich und die neuen Mitglieder zur vollen Teilnahme befähigen.<br />
Zu den grundsätzlichen Zielsetzungen der Strukturreform gehört auch, unter<br />
Wahrung der transatlantischen Bindungen, die europäische Verteidigungsund<br />
Sicherheitsidentität innerhalb der NATO zu entwickeln.<br />
Dies wird sich nach dem Grundsatz trennbarer, jedoch nicht getrennter<br />
Fähigkeiten vollziehen. In der NATO werden europäische Führungsvorkehrungen<br />
geschaffen, mit deren Hilfe militärische Operationen mit den<br />
Kräften der NATO unter dem Kommando der WEU, durchgeführt werden<br />
können. Die NATO-Offiziere, die gleichzeitig eine europäische Rolle spielen,<br />
werden künftig einen atlantischen und einen europäischen Hut tragen.<br />
Das höchste Kommando dieser Art wird beim stellvertretenden SACEUR<br />
liegen, der stets ein Europäer sein wird. Weiter werden die Fähigkeiten und<br />
Kräfte der NATO identifiziert, die der WEU für eine von ihr geführte Operation<br />
zur Verfügung gestellt werden können. Auch werden Regeln für die<br />
Freigabe, Beobachtung und Rückführung von Kräften und Fähigkeiten der<br />
Allianz und natürlich auch die Modalitäten für die Zusammenarbeit der<br />
NATO mit der WEU entwickelt. Die WEU kann künftig ihre Planungen und<br />
Übungen von der NATO vorbereiten und durchführen lassen.<br />
Für künftige Allianzoperationen, aber auch für WEU geführte militärische<br />
Missionen, ist die Verwirklichung des Combined Joint Task Force Konzepts<br />
von entscheidender Bedeutung, mit dem die rasche Zusammenstellung auftragsangepaßter<br />
Truppenkörper und ihrer Führungsstäbe vorbereitet werden<br />
soll. Dieses Konzept wird es künftig erlauben, die neuen militärischen<br />
Handlungsoptionen sowohl im NATO-, als auch im WEU-Rahmen optimal<br />
vorzubereiten und auszuführen und darüber hinaus die Teilnahme von<br />
Nicht-NATO-Staaten an friedensunterstützenden Operationen organisatorisch<br />
sicherzustellen.<br />
Die Anpassung der Allianzstrukturen ist insgesamt auf gutem Wege, wenn<br />
auch bis zum Gipfel noch einige Hürden zu nehmen sind. Franzosen und<br />
Amerikaner haben z.B. noch keine Einigung erzielen können, ob künftig<br />
106
wie bisher ein amerikanischer Admiral oder ein Europäer NATO-Befehlshaber<br />
in Südeuropa werden soll.<br />
Frankreich macht von einer Lösung dieser Führungsfrage seinen Eintritt in<br />
die neuen militärischen Strukturen der NATO abhängig.<br />
Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, hat die Allianz nach dem Ende<br />
des Kalten Krieges auch Aufgaben des Krisenmanagements, der Konfliktverhütung<br />
und Führung internationaler Friedensmissionen im Auftrage<br />
der Vereinten Nationen oder der OSZE übernommen. Der Konflikt im<br />
ehemaligen Jugoslawien hat gezeigt, daß der Krieg leider keineswegs aus<br />
Europa verschwunden ist.<br />
Er hat vielmehr die Notwendigkeit unterstrichen, daß die NATO aktive<br />
Friedensunterstützung leistet.<br />
Erst die zur Umsetzung der militärischen Aspekte des Dayton-Abkomens<br />
des Dayton-Abkommens vom November 1995 ins Leben gerufene Friedensmission<br />
„Joint Endeavour“ hat die Waffen dort zum Schweigen<br />
gebracht.<br />
Die damals gebildete Friedenskoalition aus 33 NATO- und Nicht-NATO-<br />
Mitgliedern setzt sich nunmehr bis Ende Juli 1998 in der Stabilisation Force<br />
(SFOR) fort. Die Bundeswehr ist an dieser internationalen Friedensmission<br />
zum ersten Mal voll beteiligt. Ihr Einsatz im Rahmen der von Frankreich<br />
geführten multinationalen Division im Raum von Sarajewo ist ein gutes<br />
Beispiel für die Entwicklung von ehemaligen Feinden zu Partnern und<br />
Freunden.<br />
SFOR verhindert durch Abschreckung eine Wiederaufnahme von Feindseligkeiten.<br />
Ferner trägt SFOR zu einem sicheren Umfeld bei, daß zur<br />
Umsetzung des Schiedsspruchs zu Brcko am 15. 2., für die Durchführung<br />
der Gemeindewahlen im September 1997 und die Rückführung der Flüchtlinge<br />
nach Bosnien unbedingt erforderlich ist. Sie wird ferner mit dafür<br />
sorgen, daß die politische Aussöhnung und der wirtschaftliche Wiederaufbau<br />
in Gang kommen, um den Frieden zu konsolidieren.<br />
Rußland ist auch an SFOR beteiligt.<br />
Diese Zusammenarbeit hat Europa in eine neue Phase der Sicherheitskooperation<br />
geführt. Noch bevor alles fertig verhandelt oder gar umgestaltet<br />
ist, ist in Ex-Jugoslawien die „<strong>Neue</strong> NATO“ in Aktion.<br />
Meine Damen und Herren, der letzte oder keineswegs unwichtige Punkt der<br />
ehrgeizigen Gipfelagenda betrifft die große Herausforderung der Proliferation<br />
nuklearer, biologischer und chemischer Waffen sowie ihrer Trägermittel.<br />
Nach der Weisung der Staats-und Regierungschefs vom Januar 1994 hat<br />
die NATO ihre politischen und verteidigungspolitischen Bemühungen mit<br />
Blick auf die Risiken der Proliferation verstärkt und in einem ehrgeizigen<br />
Programm konzeptionelle Vorstellungen und Ziele entwickelt. Die Staatsund<br />
Regierungschefs werden einen Ergebnisbericht entgegennehmen und<br />
107
neue Richtlinien für die Rolle und Aufgabe der NATO auf diesem Gebiet<br />
erteilen, die bis ins nächste Jahrhundert reichen werden.<br />
Dazu dürfte auch die Definition einer substantiellen, zielgerichteten Zusammenarbeit<br />
zwischen NATO und Rußland in der zunehmend wichtigen und<br />
vor Ländergrenzen nicht halt machenden Problematik der unkontrollierten<br />
Weiterverbreitung von Massenvernichtungsmitteln gehören.<br />
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß einige Worte über<br />
die zivile Notfallplanung in der NATO sagen. Ihre große Bedeutung im<br />
Rahmen der kollektiven Verteidigung nach Artikel V des Washingtoner Vertrages<br />
ist Ihnen geläufig. In der neuen NATO hat sie jedoch zunehmende<br />
Bedeutung für die praktische Zusammenarbeit mit Nicht-NATO-Staaten.<br />
Ihr breites Aufgabenspektrum vom Schutz der Bevölkerung bis hin zur<br />
Vorsorge für die Aufrechterhaltung der Regierungs- und Verwaltungsfunktionen<br />
in Spannungs- und Krisenlagen stellt ein wichtiges Feld sicherheitspolitischer<br />
Zusammenarbeit in Europa dar. Dieser Aufgabenbereich eröffnet<br />
in der NATO auch den Partnerstaaten ein großes Potential für eine enge<br />
Zusammenarbeit.<br />
Die zivile Notfallplanung ermöglicht ihnen Sicherheitsbeziehungen mit den<br />
Mitgliedsstaaten der NATO und untereinander auch im Bereich nicht<br />
militärischer Sicherheit anzuknüpfen.<br />
Seit 1994 werden eine Fülle von Seminaren und Workshops durchgeführt.<br />
Dabei standen die zivile Notfallgesetzgebung in den Mitgliedstaaten der<br />
NATO, der Ausbau der Katastrophenschutzstrukturen sowie die zivilmilitärische<br />
Zusammenarbeit bei Katastrophen oder Großunfällen im<br />
Mittelpunkt des Dialogs.<br />
Die zivile Notfallvorsorge ist einer der Planungsbereiche, in denen Rußland<br />
mit der NATO praktisch zusammenarbeiten möchte.<br />
Die Bedeutung dieser Zusammenarbeit wird durch ein im März 1996 in<br />
Moskau unterzeichnetes Memorandum of Understanding unterstrichen.<br />
Gerade ist ein Seminar in Moskau zu Ende gegangen.<br />
Auch zur Ukraine bestehen nach der von der NATO 1995 koordinierten<br />
erfolgreichen Hilfsaktion anläßlich der Hochwasserkatastrophe von Kharkov<br />
besondere Beziehungen.<br />
Künftig sollen Partnerstaaten an den Beratungen der neun Fachausschüsse<br />
auf den Gebieten der zivilen Transport- und Verkehrsplanung, der Wirtschafts-<br />
und Industrieplanung, der Fernmelde- und Kommunikationsplanung<br />
für zivile Krisensituationen sowie des Schutzes der Bevölkerung in<br />
Gefahrenlagen teilnehmen dürfen.<br />
Die NATO leistet damit Basisarbeit für den Auf- und Ausbau von funktionsfähigen,<br />
kooperativen zivilen Notfallstrukturen in Mittel- und Osteuropa,<br />
die eine wichtige Voraussetzung für ein angemessenes staatliches<br />
108
Handeln und Zusammenwirken in Krisen- und Katastrophensituationen<br />
bilden.<br />
Neu ist auch die koordinierende Rolle, die das Direktorat für zivile Notfallplanung<br />
der NATO bei Katastrophen in Friedenszeiten übernommen hat.<br />
Danach können Partnerstaaten auf der gleichen Grundlage wie die NATO-<br />
Mitgliedstaaten in Katastrophenfällen Unterstützung über die NATO anfordern.<br />
Eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen in Genf ist<br />
sichergestellt.<br />
Die zivile Notfallplanung der NATO spielt schließlich eine unverzichtbare<br />
Rolle in der internationalen Krisenbewältigung in und für Europa.<br />
Im Bedarfsfall kann über die Civil Emergency Crisis Cell auf über 360<br />
zivile Sachverständige und Experten in den NATO-Mitgliedstaaten zurückgegriffen<br />
werden.<br />
Sie sollen den Generalsekretär in allen Fragen des zivilen Land-, See- und<br />
Lufttransportes in Krisensituationen, aber auch hinsichtlich staatlicher<br />
Krisenplanung in der Energiewirtschaft, der Industrie und dem Lebensmittelsektor<br />
beraten. Das Gleiche gilt für den zivilen Nachrichten- und<br />
Kommunikationsbereich und vor allem für den Schutz der Bevölkerung<br />
einschließlich der medizinischen Notversorgung in Gefahrenlagen.<br />
Das breite Spektrum heute möglicher Krisenfälle erfordert ferner angemessene<br />
Vorkehrungen auch auf ziviler Seite.<br />
Für die schnelle Verlegung militärischer Einsatzkräfte kommt es in besonderer<br />
Weise auf unterstützende zivile Transportplanung und -kapazitäten an.<br />
Die Ministerrichtlinie für die zivile Notfallplanung fordert daher von den<br />
Mitgliedsstaaten, ihre nationalen gesetzlichen Grundlagen für staatliches<br />
Handeln in Krisensituationen zu überprüfen. Die Bundesregierung ist<br />
bereits initiativ geworden und hat den Entwurf eines Verkehrsvorsorgegesetzes<br />
auf den Weg gebracht.<br />
Zu den Lektionen, die die NATO bei dem Einsatz von IFOR und SFOR in<br />
Bosnien-Herzegowina gelernt hat, gehört die Fortentwicklung der zivilmilitärischen<br />
Zusammenarbeit. Die NATO braucht neue zivil-militärische<br />
Koordinationsverfahren, damit die militärische Seite lernt, mit zivilen Einrichtungen<br />
und Organisationen im Krisengebiet zusammenzuarbeiten. Der<br />
Ausschuß für zivile Notfallplanung prüft zur Zeit die Möglichkeiten, wie<br />
eine solche zivil-humanitäre Komponente in künftige friedensunterstützende<br />
militärischen Einsätzen der NATO integriert werden kann.<br />
Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß kommen:<br />
Das Jahr 1997 entscheidet über die künftige Sicherheitsstruktur Europas. In<br />
diesem Jahr werden die Erweiterungsprozesse der NATO und der Europäischen<br />
Union beginnen. Wenn auch die ersten Beitritte zur NATO erst 1999<br />
und zur Europäischen Union erst nach dem Jahr 2000 wirksam sein werden,<br />
so werden dennoch in diesem Jahr die Grundzüge der künftigen politischen,<br />
109
sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Struktur Europas auf Jahrzehnte<br />
hin festgelegt. Die neue NATO soll ein wesentlicher Bestandteil dieser<br />
zukünftigen Sicherheitsordnung Europas sein.<br />
Unser Ziel ist ein stabiles, wohlhabendes und friedliches Europa. Dieses<br />
Ziel zu erreichen ist die erste Aufgabe deutscher Außenpolitik.<br />
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
110
Fachliche Perspektiven des BMBau im Bereich des<br />
bauliches Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
H. Bong<br />
Manuskript lag bei Drucklegung noch nicht vor.<br />
111
112
<strong>Zivilschutz</strong> und Katastrophenschutz aus der Sicht<br />
der Länder<br />
Heinrich Klingshirn<br />
I. <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />
Mit dem im April dieses Jahres in Kraft getretenen Gesetz zur Neuordnung<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es hat der Bund die Neukonzeption des <strong>Zivilschutz</strong>es auf<br />
eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Die geänderte sicherheitspolitische<br />
Lage in Europa, die neuen politischen Rahmenbedingungen und<br />
Zwänge des Haushalts haben für den Bund die schon lange notwendige<br />
Anpassung des <strong>Zivilschutz</strong>es und insbesondere des auf den Verteidigungsfall<br />
bezogenen Katastrophenschutzes unausweichlich gemacht.<br />
Die Länder begrüßen die Zielsetzung und die Grundaussagen dieser Neukonzeption.<br />
Dies gilt insbesondere für das Aufgabenfeld Katastrophenschutz,<br />
dem sicherheits- und ordnungsrechtlich eine besondere Bedeutung<br />
zukommt. Die Besonderheit und damit auch die Schwierigkeit des Katastrophenschutzes<br />
liegt darin, daß durch diesen Bereich die verfassungsrechtliche<br />
Schnittstelle geht:<br />
– Der Bund ist zuständig für die Abwehr der besonderen Gefahren und<br />
Schäden, die in einem Verteidigungsfall drohen,<br />
– die Länder sind zuständig für alle anderen Gefahren, einschließlich des<br />
allgemeinen Katastrophenschutzes.<br />
Gerade in diesem sensiblen Bereich des Katastrophenschutzes war es – entgegen<br />
anderes lautenden Behauptungen – bisher nie zu einer echten Verzahnung<br />
von allgemeinem und verteidigungsfallbedingten Katastrophenschutz<br />
gekommen. Der immer wieder behauptete sogenannte Doppelnutzen<br />
ist bisher – sieht man von einigen wenigen Teilbereichen ab – nie wirklich<br />
eingetreten.<br />
In einzelnen Fachdiensten entstanden auf die Bedürfnisse des Verteidigungsfalls<br />
zugeschnittene „Spezialeinheiten“, die für friedensmäßige<br />
Schadenslagen und Katastrophen nicht oder bestenfalls nur sehr bedingt<br />
einsatzfähig waren. Die Handicaps des bisherigen erweiterten Katastrophenschutzes<br />
lagen vor allem<br />
– in der für Friedenszwecke viel zu schwerfälligen und untauglichen Organisationsform<br />
des Zuges,<br />
– in der im wesentlichen auf den Verteidigungsfall ausgerichteten Ausbildungs-<br />
und Führungsstruktur, die für die friedensmäßigen Katastrophenschutzfälle<br />
untauglich ist, sowie<br />
113
– in der zentralistischen und oft auf Gängelung ausgerichteten Bundesverwaltung.<br />
Im Ergebnis war die bisherige Organisationsstruktur des <strong>Zivilschutz</strong>es geradezu<br />
ein Musterbeispiel für eine ineffiziente Verwaltung, die gekennzeichnet<br />
war durch<br />
– zentralistischen Bürokratismus,<br />
– unzählige Verwaltungsvorschriften,<br />
– einem aufgeblähten Personalkörper und<br />
– einer überperfektionistischen Bundesverwaltung.<br />
Aus diesen Mängeln hat der Bund nunmehr mit dem <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />
vom 25. 3. 1997 die richtigen Konsequenzen gezogen. Im einzelnen:<br />
– Der auf den Verteidigungsfall bezogene sogenannte erweiterte Katastrophenschutz<br />
baut nunmehr – anders als früher – auf den friedensmäßigen<br />
Strukturen der Länder auf. Der Bund gibt – anders als früher – keine<br />
starren organisatorischen Vorgaben mehr und beschränkt den Aufgabenbereich<br />
auf den Brandschutz, das Sanitäts- und Betreuungswesen sowie<br />
auf den ABC-Schutz.<br />
– Für die Aufgaben der Bergung sowie für die Abwehr spezifischer Gefahren<br />
hält er zur Verstärkung des Katastrophenschutzes der Länder das<br />
Technische Hilfswerk vor.<br />
Zusammenfassend wird die Neukonzeption von den Ländern positiv bewertet.<br />
Positiv ist vor allem festzustellen, daß die Neukonzeption des Bundes<br />
im Bereich der Erweiterung des Katastrophenschutzes<br />
– sich realitätsbezogen den veränderten Rahmenbedingungen anpaßt,<br />
– den Gesichtspunkt, daß Basis aller Maßnahmen der friedensmäßigen<br />
Katastrophenschutz ist, berücksichtigt,<br />
– die Handlung- und Organisationsspielräume in den Ländern erweitert,<br />
– die ehrenamtliche Mitwirkung in den Mittelpunkt aller Überlegungen<br />
stellt,<br />
– den Ländern die Möglichkeit eröffnet, in ihren Landkreisen und kreisfreien<br />
Städten eine gleichwertige Grundversorgung zu etablieren um das<br />
bisherige Versorgungsgefälle zu beseitigen.<br />
II. Konsequenzen für die Länder<br />
Die Umsetzung der Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es bringt gerade im Katastrophenschutz<br />
– und auf den möchte ich mich hier im wesentlichen<br />
beschränken – große Herausforderungen mit sich.<br />
114
Eine Reihe von Ländern, die sich in der Vergangenheit zurückgelehnt hatten,<br />
müssen nun ihre Hausaufgaben machen.<br />
Denn die Erweiterung der Handlungs- und Organisationsspielräume für die<br />
Länder bedeutet auch mehr Verantwortung.<br />
1. Die Länder übernehmen nicht nur verstärkt finanzielle Verantwortung,<br />
sondern sind nunmehr selbst für die Führung und Infrastruktur verantwortlich.<br />
Die Länder müssen sich jetzt dieser Aufgabe stellen und sie<br />
neu definieren.<br />
Bayern hat dies – wie eine Reihe weiterer Länder – bereits im Vorgriff<br />
der genannten gesetzlichen Neuregelung getan und den friedensmäßigen<br />
Katastrophenschutz zum 1. 1. 1997 auf eine neue Rechtsgrundlage<br />
gestellt. Wichtigste Regelungen sind:<br />
– Anstelle des für friedensmäßige Schadenslagen und Katastrophen<br />
untauglichen, weil zu großen und unbeweglichen Führungsstabes tritt<br />
eine kleine und flexible Führungsgruppe bei der Kreisverwaltungsbehörde.<br />
– Vor Ort wird ein bereits vorbestimmter örtlicher Einsatzleiter tätig. Als<br />
verlängerter Arm der Katastrophenschutzbehörde obliegt ihm die taktisch-operative<br />
Führung vor Ort.<br />
– Die dritte Ebene bilden die Führer der einzelnen Fachorganisationen<br />
(Feuerwehr, Polizei, THW, Rettungsdienst, Sanitätsdienst usw.), die<br />
die unmittelbare Schadensbekämpfung vor Ort wahrnehmen.<br />
Alle bisherigen Erfahrungen zeigen, daß sich dieses Führungsmodell in<br />
der Praxis bestens bewährt und vor allem bei den Akteuren des Katastrophenschutzes<br />
große Zustimmung findet.<br />
2. Die Neukonzeption des Verteidigungsfall bezogenen Katastrophenschutzes<br />
durch den Bund eröffnet den Ländern erstmals die Möglichkeit,<br />
die einzelnen Bundesfahrzeuge sinnvoll neuzuverteilen. Auch Bayern<br />
hat diese Chance wahrgenommen und für die vom Bund noch weiterhin<br />
finanzierten Fahrzeuge ein Verteilungskonzept erarbeitet, das die bisherige<br />
Verteilung der Bundesfahrzeuge dem friedensmäßigen Bedarf<br />
anpaßt.<br />
So kann der viel beschworene Doppelnutzen auch tatsächlich realisiert<br />
werden.<br />
An diesen beiden Beispielen wollte ich Ihnen deutlich machen, daß sich die<br />
Länder der neuen erhöhten Verantwortung stellen. Die häufig vorgetragenen<br />
Befürchtungen, daß eine Zersplitterung und Auflösung der Katastrophenschutzstrukturen<br />
in 16 nicht kompatible Ländersysteme eintritt und infolge<br />
mangelnder Einheitlichkeit massive Unzulänglichkeiten im Katastrophenschutz<br />
entstehen, teile ich nicht. Wie in anderen Bereichen, z.B. im Rettungsdienst<br />
und im Feuerwehrwesen, werden sich die Länder auch im<br />
115
Bereich Katastrophenschutz dort, wo er tatsächlich für die Praxis wichtig<br />
ist, abstimmen. Hierfür gibt es die Innenministerkonferenz mit ihrem<br />
zuständigen Arbeitskreis V, den ich die Ehre habe derzeit zu leiten.<br />
All denen, die immer noch Schwierigkeiten haben, sich in die neuen Gegebenheiten<br />
einzufinden, kann ich nur sagen, es lohnt sich nicht den alten,<br />
zentralistischen Einheitsstrukturen nicht nachzutrauern; denn<br />
– die Mehrzahl der Katastrophen sind örtlich bzw. regional begrenzt, es gibt<br />
kaum landesübergreifende Szenarien;<br />
– ein dezentrales, förderales System kann maßgeschneiderte Lösungen<br />
bieten, die gerade bei den Einsatzkräften Akzeptanz vermittelt;<br />
– ein wirksamer Katastrophenschutz kommt ohne die Vorabfestlegung von<br />
Führungsorganisationsstrukturen nicht aus. Diese müssen so ausgerichtet<br />
sein, daß insbesondere bei sich aufbauenden Schadenslagen Führungsbrüche<br />
vermieden werden. D. h. ein Führungsmodell muß für alle<br />
Schadenslagen von klein bis groß einschließlich Katastrophen im Grundsatz<br />
identisch sein. Dabei ist eine vertikale Einheitlichkeit innerhalb eines<br />
Landes wichtiger als die horizontale Einheitlichkeit zwischen Bundesländern.<br />
– Darüber hinaus hat sich die bestehende Auftragstaktik in der Praxis schon<br />
bisher im Führungsbereich länderübergreifend hervorragend bewährt. Bei<br />
den letzten Hochwasserkatastrophen in Bayern wirkten die Bundeswehr<br />
und das Technische Hilfswerk mit ihren gegenüber den Katastrophenschutzeinheiten<br />
ganz unterschiedlichen Organisationsstrukturen unter der<br />
Leitung der Katastrophenschutzbehörde mit, ohne daß es deshalb zu Problemen<br />
gekommen wäre.<br />
III. Konsequenzen der Neukonzeption für die<br />
<strong>Schutzkommission</strong><br />
Nach der neuen <strong>Zivilschutz</strong>konzeption bezieht der Bund das Gesamtpotential<br />
der Länder im Bereich Katastrophenschutz in seine <strong>Zivilschutz</strong>planung<br />
mit ein. Er baut auf diese für den friedensmäßigen Katastrophenschutz von<br />
den Ländern geschaffenen Strukturen auf. Diese neue Konzeption darf sich<br />
aber nicht auf den Zivil- und Katastrophenschutz beschränken, sondern<br />
muß auch die Organisation, Struktur und Arbeitsweise der <strong>Schutzkommission</strong><br />
mit einschließen. Um nicht mißverstanden zu werden, die Länder<br />
stellen die <strong>Schutzkommission</strong> nicht in Frage; sie meinen aber, daß sich die<br />
<strong>Forschung</strong>sschwerpunkte ändern sollten.<br />
Konkret bedeutet das<br />
– Die <strong>Forschung</strong>svorhaben sollten sich nicht mehr ausschließlich auf die<br />
Gefahrenabwehr im Verteidigungsfall beschränken, sondern sich auch<br />
dem <strong>Forschung</strong>sbedarf im allgemeinen Katastrophenschutz öffnen. Hier<br />
haben wir Defizite; hier brauchen wir die Wissenschaft.<br />
116
– Vor allem aber sollten die Ländern bei der Festlegung des <strong>Forschung</strong>sbedarfs<br />
und der einzelnen <strong>Forschung</strong>svorhaben qualifiziert beteiligt werden.<br />
– Die Gefahrenberichte schließlich, die – wie auch der jüngste noch sehr<br />
„verteidigungslastig“ sind – sollten sich den veränderten Rahmenbedingungen<br />
anpassen.<br />
Unter diesen Prämissen könnten Bund, Länder und <strong>Schutzkommission</strong> in<br />
einen fruchtbaren Dialog miteinander eintreten.<br />
117
118
Fachlich-wissenschaftliche Schwerpunkte der<br />
Umsetzung des Gefahrenberichts und Perspektiven<br />
für künftige <strong>Forschung</strong>saktivitäten im <strong>Zivilschutz</strong><br />
Willy B. Marzi<br />
Um die grundgesetzlich verankerte Pflicht zum Schutz der Bevölkerung<br />
wahrzunehmen, muß der Staat zukunftsorientierte Vorsorgepolitik betreiben.<br />
Den Rahmen für Maßnahmen zur Umsetzung dieser Vorsorgepolitik<br />
liefert das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz (ZSNeuOG), dessen grundsätzliche<br />
Ziele bereits vorgestellt wurden. Das Ziel der Effektivierung des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
führt etwa im Katastrophenschutz zur Abschaffung von Sonderstrukturen<br />
des Bundes und zur Integration von Maßnahmen des Bundes in<br />
den friedensmäßigen Katastrophenschutz der Länder. Effektivierung bedeutet<br />
jedoch auch die Nutzung moderner Technik, neuester Erkenntnisse und<br />
das Erkennen und Verfolgen erfolgversprechender Entwicklungen für<br />
Zwecke des <strong>Zivilschutz</strong>es.<br />
Der <strong>Forschung</strong> zur Entwicklung von planerischen Konzepten, Strategien,<br />
Verfahren und Schutzsystemen sowie zur Gefahrenerfassung und Schadensbekämpfung<br />
kommt deshalb besondere Bedeutung zu. Im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />
ist die <strong>Forschung</strong> verankert. Zu den Aufgaben des Bundesamtes<br />
für <strong>Zivilschutz</strong> gehört „die Aufgabenstellung für technisch-wissenschaftliche<br />
<strong>Forschung</strong> im Benehmen mit den Ländern, die Auswertung von<br />
<strong>Forschung</strong>ergebnissen“ usw.<br />
Die Einbeziehung der Länder in das Verfahren erfolgte in der Vergangenheit<br />
über die Mitarbeit von Ländervertretern in den projektbegleitenden Arbeitsgruppen<br />
und die Information über die Ergebnisse der abgeschlossenen <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />
Künftig wird entsprechend der Regelung im ZSNeuOG<br />
über das bisherige Verfahren hinaus eine Information und Beteiligung<br />
bereits in der Planungsphase erfolgen.<br />
<strong>Zivilschutz</strong>forschung dient der Erweiterung des Kenntnisstandes im <strong>Zivilschutz</strong><br />
und wird vom Bund finanziert. Vorhaben aus der Thematik des<br />
friedensmäßigen Katastrophenschutzes werden demgegenüber von den<br />
Ländern veranlaßt und finanziert. Selbstverständlich werden jedoch vom<br />
Bund unter dem Gesichtspunkt des Doppelnutzens bei einem für <strong>Zivilschutz</strong>zwecke<br />
vergebenen <strong>Forschung</strong>svorhaben auch Aspekte des friedensmäßigen<br />
Katastrophenschutzes soweit wie möglich berücksichtigt. Viele<br />
Vorhaben der <strong>Zivilschutz</strong>forschung haben ihren Nutzen für die friedensmäßige<br />
Gefahrenabwehr bereits unter Beweis gestellt. Indiz dafür ist das<br />
rege Interesse von Katastrophenschutzbehörden an den entsprechenden<br />
Abschlußberichten.<br />
Die <strong>Forschung</strong>splanung für den <strong>Zivilschutz</strong> orientiert sich am <strong>Forschung</strong>sbedarf<br />
und an den finanziellen Möglichkeiten.<br />
119
Zur Ermittlung des aktuellen <strong>Forschung</strong>sbedarfs hat der Gefahrenbericht<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> durch die systematische Aufarbeitung von Kernbereichen<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es eine solide Grundlage geliefert. Er analysiert ein<br />
breites Spektrum möglicher Bedrohungen und die daraus resultierenden<br />
Erfordernisse für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen. Lücken und Schwachstellen<br />
sowie der sich daraus ergebende Handlungsbedarf und zu bearbeitende Themenstellungen<br />
werden aufgezeigt.<br />
Der Handlungsbedarf im Hinblick auf <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaktivitäten<br />
ist gewaltig. Dementsprechend groß ist die Anzahl der Themenvorschläge<br />
für <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben, etwa 40, mit unterschiedlichem<br />
Konkretisierungsgrad. Eingebracht wurden diese Vorschläge<br />
von der <strong>Schutzkommission</strong> und ihren Mitgliedern, Bundesressorts wie BMI<br />
und BMBau, Ländern der Bundesanstalt THW und den Fachabteilungen des<br />
BZS. Eine kurzfristige Realisierung all dieser Vorschläge ist mit den zur<br />
Verfügung stehenden Finanzmitteln nicht möglich.<br />
Fast alle Vorschläge betreffen Fragestellungen, die im Gefahrenbericht<br />
direkt angesprochen oder indirekt enthalten sind.<br />
Der <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsbedarf betrifft insbesondere die<br />
– Medizinische Versorgung im <strong>Zivilschutz</strong>, die<br />
– Technik im <strong>Zivilschutz</strong> und<br />
– Entscheidungshilfen für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen.<br />
Bei den Fragen der medizinischen Versorgung im <strong>Zivilschutz</strong> ergeben<br />
sich bei den Vorschlägen für <strong>Forschung</strong>svorhaben Schwerpunkte bei der<br />
Analyse des Ist-Zustands der Vorbereitungen zur medizinischen Versorgung<br />
im <strong>Zivilschutz</strong>, nachdem durch das <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz<br />
doch deutlich veränderte Rahmenbedingungen definiert sind. Ein weiterer<br />
Schwerpunkt ist bei Vorhaben aus dem Themenkreis Organophosphate und<br />
Carbamate zu sehen, denen auch ein Abschnitt des Gefahrenberichts gewidmet<br />
ist. Der Sarin-Anschlag in Tokio hat gezeigt, daß diese Stoffgruppe<br />
nach wie vor relevant ist. Hieran wird auch kurz- und mittelfristig das<br />
nunmehr in Kraft getretene Chemiewaffenübereinkommen nichts Entscheidendes<br />
ändern.<br />
Bei der Technik im <strong>Zivilschutz</strong>, die ein weites Feld von der Warnung bis<br />
hin zu Maßnahmen des baulichen Schutzes umfaßt, ergeben sich unter<br />
Berücksichtigung der Umsetzung des <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetzes<br />
Schwerpunkte bei der ABC-Gefahrenerfassung und im Selbstschutz unter<br />
Einschluß baulicher Maßnahmen, dem verstärkt Bedeutung beigemessen<br />
wird.<br />
Entscheidungshilfen für <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen umfassen eine breite<br />
Palette von Vorhaben, die sich mit dem Verhalten von Menschen in Notfallsituationen<br />
über Vulnerabilitätsanalysen bis hin zur Erarbeitung von<br />
Grundlagen für die Ausbildung von Helfern in Fragen des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
befassen. Durch das ZSNeuOG stehen wir bei der Ausbildung vor der Situa-<br />
120
tion, daß <strong>Zivilschutz</strong>inhalte in die friedensmäßige Ausbildung integriert<br />
werden müssen.<br />
Die diesbezüglichen Fragen haben wegen der damit verbundenen Weichenstellungen<br />
hohe Priorität.<br />
Neben den genannten Schwerpunkten existieren Vorschläge zu Einzelthemen<br />
aus vielen Bereichen des <strong>Zivilschutz</strong>es. Warnung, Dekontamination,<br />
Wassersicherstellung seien stellvertretend genannt.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> prägt die <strong>Forschung</strong>saktivitäten im <strong>Zivilschutz</strong> entscheidend.<br />
Hinsichtlich der Umsetzung von Schwerpunktthemen in wohldefinierte<br />
Vorhaben besteht seitens des Hauses Beratungsbedarf – sowohl<br />
bei der fachlichen Vertiefung und Konkretisierung der Einzelthemen als<br />
auch bei der Evaluierung der Einzelthemen. Diese Beratung könnte nach<br />
meiner Auffassung am besten in kleinen Arbeitsgruppen unter Beteiligung<br />
der zuständigen Ressorts erfolgen. Eine Einbindung von Ländervertretern<br />
zu diesem Zeitpunkt ist ebenfalls zu erwägen.<br />
Im Gefahrenbericht wird ein weiter Bereich des <strong>Zivilschutz</strong>es systematisch<br />
untersucht. Dennoch bedarf nach meiner Auffassung der Gefahrenbericht<br />
der Fortschreibung. Die Analyse der Gefährdungsarten bildet einen deutlichen<br />
Schwerpunkt bei der Behandlung der aus dem Einsatz biologischer,<br />
chemischer und radioaktiver Stoffe resultierenden Effekte. Dabei wird differenziert<br />
zwischen direkter Einwirkung auf den Menschen und indirekter<br />
Einwirkung z.B. durch Beeinträchtigung der Infrastruktur. Eine Fortschreibung<br />
des Gefahrenberichts könnte die Analyse der Gefahrenarten noch<br />
erheblich ausweiten und damit ein noch umfassenderes Bild der Gefährdung<br />
der Bevölkerung zeichnen.<br />
Beispielhaft seien einige Themenbereiche genannt, die aufgegriffen werden<br />
sollten:<br />
Bezogen auf direkte Einwirkung auf den Menschen wäre eine Analyse<br />
mechanischer Wirkungen moderner Waffen wünschenswert. Indirekt sind<br />
zwar diesbezügliche Angaben im Gefahrenbericht enthalten. Es fehlt jedoch<br />
eine zusammenfassende Darstellung unter <strong>Zivilschutz</strong>aspekten. Die <strong>Schutzkommission</strong><br />
könnte die vorhandenen Informationen aus dem militärischen<br />
Bereich auswerten und Schlußfolgerungen für den <strong>Zivilschutz</strong> ableiten.<br />
Zunehmend diskutiert wird auch die Entwicklung nicht letaler Waffen<br />
unterschiedlichster Art. Die Analyse der hieraus resultierenden Bedrohung<br />
und der Relevanz für den <strong>Zivilschutz</strong> steht aus.<br />
Charakteristikum bewaffneter Auseinandersetzungen ist das Auftreten<br />
gewaltiger Flüchtlingsströme, die in Krisen- und Kriegszeiten in einer<br />
modernen Industriegesellschaft, die zur Aufrechterhaltung von Versorgungsleistungen<br />
aller Art auf eine funktionierende Infrastruktur angewiesen<br />
ist, schnell zum Kollaps führen kann. Die Analyse der Auswirkungen ist für<br />
die zivile Verteidigung von elementarem Interesse.<br />
121
Ebenso wie die Gefahrenanalyse mußten sich im Gefahrenbericht auch die<br />
Schlußfolgerungen zu den erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der<br />
Bevölkerung auf einige, allerdings bedeutende Schwerpunkte beschränken.<br />
Auch hier wäre eine Ausweitung der behandelten Themen wünschenswert.<br />
Für die Aufgabenbereiche Selbstschutz und Katastrophenschutz wäre eine<br />
systematische Analyse, wie sie für die medizinische Versorgung ausgearbeitet<br />
wurde, für die Planung von <strong>Zivilschutz</strong>maßnahmen sehr hilfreich.<br />
Es kann nicht erwartet werden, daß eine Fortschreibung des Gefahrenberichts<br />
zu einem abschließenden Werk führt; dazu ist die Materie zu vielfältig,<br />
und die Gefährdungen sind ebenso wie die Rahmenbedingungen ständigen<br />
Wandlungen unterworfen. Die Fortschreibung sollte in bewährter<br />
Weise interdisziplinär erfolgen.<br />
Abschließend kann festgestellt werden, daß auch unter den veränderten<br />
politischen Rahmenbedingungen für die <strong>Zivilschutz</strong>forschung ein breites<br />
Betätigungsfeld verbleibt.<br />
122
Konzeptionelles Vorgehen aus Sicht der<br />
medizinischen Versorgung im Katastrophen- und<br />
Zivil-Schutz<br />
Ernst Rebentisch<br />
Es würde reizen, die Entwicklung des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
sowie auch des Rettungswesens in der Bundesrepublik einer dokumentarisch<br />
belegten Untersuchung zu unterziehen. Dabei würde deutlich, warum<br />
trotz der bitteren Kriegserfahrungen ausgerechnet in Deutschland die bei<br />
einem Großschaden mit vielen Verletzten umgehend erforderliche medizinische<br />
Hilfe durch qualifizierte Ärzte und Helfer mit entsprechendem<br />
notfallmedizinischen Gerät und Material nicht gewährleistet ist.<br />
Dies würde aber den Rahmen meines kurzen Vortrages sprengen.<br />
Wir haben heute folgende Fakten zur Kenntnis zu nehmen:<br />
1. Der Bundesminister des Innern will und wird die bisherigen kostspieli<br />
gen Sanitätseinheiten des erweiterten Katastrophenschutzes auflösen<br />
und Reste den Ländern zur Verfügung stellen.<br />
2. Die Hilfsorganisationen haben noch zu keiner Zeit garantieren können,<br />
daß die von ihnen aufgestellten und unterhaltenen Sanitätseinheiten<br />
tatsächlich in kürzester Zeit in voller Stärke und gesamter Ausrüstung<br />
an einem Einsatzort verfügbar sind. Sie haben bei Befragungen stets<br />
bestätigt, daß eine Einheit nach der Alarmierung rund 2 Stunden<br />
benötigt, bis sie an einem 20 km entfernten Schadensort eintrifft. Über<br />
dies waren diese früheren Sanitätszüge nach den Vorgaben des Bundes<br />
und der Länder erst dann zu alarmieren, wenn der zuständige Hauptverwaltungsbeamte<br />
ein Schadensereignis als Katastrophe klassifiziert<br />
und den „Katastrophenfall“ erklärt hatte. Eine unabhängig von dieser<br />
veranlaßte Alarmierung war zwar möglich, käme es aber doch nicht zu<br />
einem förmlichen Einsatz, stellte sich sofort die Frage, wer für die<br />
durch Alarmierung, Arbeitsausfall, Betriebskosten usw. entstandenen<br />
Kosten aufzukommen hat.<br />
3. Die fachliche, insbesondere notfallmedizinische Qualifikation sowie<br />
die örtliche und zeitliche Verfügbarkeit der den bisherigen Sanitätszügen<br />
zugeteilten Ärzte gibt nach eindeutigen Beobachtungen zu erheblichem<br />
Zweifel Anlaß.<br />
4. Die Zukunft der Verfahrens der Zuteilung Ersatzdienst leistender Wehrpflichtiger<br />
zum Katastrophenschutz der Länder hängt weitgehend von<br />
der Wehrstruktur und vom Umfang der Streitkräfte ab. Sie ist daher<br />
nicht vorhersehbar.<br />
5. Die Hilfsorganisationen beklagen seit Jahren einen erheblichen<br />
Schwund an freiwilligen Helfern bis in die mittleren Führungsebenen<br />
123
hinein. Mit ein Grund dafür ist die durch wenig attraktive Hilfseinsätze<br />
sinkende Motivation der meist jungen Menschen. Die Besetzung<br />
von Sanitätsposten bei Sport- und anderen Veranstaltungen ersetzt den<br />
Katastropheneinsatz nicht, vor allem wenn Hilfe nicht gefragt oder<br />
auch ein Miterleben des Veranstaltungsgeschehens nicht möglich ist.<br />
Nachlassendes Interesse führt zum Absinken des Ausbildungsstandes<br />
und der Qualität der Helfer.<br />
6. Eifersucht untereinander und das Streben der Hilfsorganisationen nach<br />
Eigenständigkeit unter gleichzeitiger Einflußnahme auf Politiker und<br />
Katastrophenschutzbehörden sowie in Einsatzleitungen stehen dem<br />
Erreichen einer medizinischen Hilfeleistungsfähigkeit im Katastrophenfall<br />
hinderlich im Wege.<br />
7. Da die Hilfsorganisationen, wie es schon ihre Bezeichnung zum Ausdruck<br />
bringt, freiwillige Laienorganisationen sind, denen Ärzte vorwiegend<br />
nur zu Repräsentations- und Ausbildungsaufgaben, aber nicht<br />
zum Katastropheneinsatz zur Verfügung stehen, sind ihre Führungsorgane<br />
und Vertreter in den Katastrophenschutzstäben und Einsatzleitungen<br />
weder befähigt noch nach den Heilberufsgesetzen berechtigt, medizinische<br />
Entscheidungen zu treffen.<br />
8. Die verfaßte Ärzteschaft verhält sich möglichen katastrophenmedizinischen<br />
Einsatzaufgaben und Leitungsfragen gegenüber weitgehend passiv.<br />
Dem einzelnen Arzt fehlt es weitgehend an der Kenntnis seiner allgemein<br />
bürgerlichen und speziell ärztlichen Mitwirkungspflicht im<br />
Katastrophenfall sowie an der Einsicht in katastrophenmedizinische<br />
Entscheidungszwänge, obwohl die Kammern seit den Achtzigerjahren<br />
weitaus mehr diesbezügliche Fortbildungsveranstaltungen anbieten.<br />
Das Interesse niedergelassener Ärzte, insbesondere derer die zur Teilnahme<br />
am ärztlichen Notfalldienst verpflichtet sind, gilt bestenfalls<br />
notfallmedizinischen Themen.<br />
9. Jedes Katastrophenereignis imponiert in den ersten Minuten wie ein<br />
Unfall und führt sofort zur Alarmierung von Polizei, Feuerwehr und<br />
Rettungsdienst, die jeder für sich erforderliche Verstärkungen zunächst<br />
aus dem eigenen Umfeld heranziehen. Zur medizinischen Unterstützung<br />
stehen inzwischen vielerorts „Schnelle Einsatzgruppen“ bereit;<br />
auch ist durchaus mit dem Hinzukommen freiwilliger Helfer zu rechnen.<br />
Doch eine umfassende Gewißheit über die Verfügbarkeit eines<br />
qualifizierten Kräftepotentials und dessen fachliche Leitung besteht im<br />
Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland nicht.<br />
10. In den meisten Katastrophenschutzgesetzen des Bundes und der Länder<br />
ist inzwischen der Einsatz „Leitender Notärzte“ am Schadensort und/<br />
oder in Einsatzleitungen vorgeschrieben. Solche werden an beiden<br />
Plätzen benötigt!<br />
124<br />
Da aber nur in einigen Landes-Katastrophenschutzgesetzen auch eine<br />
längere Mitwirkung und ärztlich notwendige Leitung durch Notärzte
und Rettungsdienst in Betracht gezogen werden, müßten diese unsinnigerweise<br />
alsbald durch andere Ärzte und Helfer abgelöst werden.<br />
Dies ist nicht geregelt und kann aus den zuvor genannten Gründen keinesfalls<br />
den Hilfsorganisationen überlassen werden.<br />
11. Die Mehrzahl der Rettungsdienstgesetze und -regelungen als reine<br />
Länderangelegenheit stellen keine Verbindung zum Katastrophenschutz<br />
her, obwohl Rettungsdienst und Notärzte das einzige sofort<br />
greifbare und notfallmedizinisch bestqualifizierte Element sind, um die<br />
ersten Rettungsmaßnahmen vor Ort durchzuführen, das Überleben<br />
Schwerstgeschädigter zu sichern, die Leitung zu übernehmen und erste<br />
organisatorische Entscheidungen über die Einrichtung von Verbandplätzen<br />
zu treffen sowie in Verbindung mit der Rettungsleitstelle den<br />
gezielten Abtransport Verletzter in die Wege leiten zu können.<br />
Diese und noch viele weiter detaillierbare Erkenntnisse sollen der <strong>Schutzkommission</strong><br />
als das erwählte Beratungsorgan des Bundesinnenministers<br />
genügender Anlaß sein, im Interesse eines tatsächlich funktionsfähigen<br />
medizinischen Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>es folgende Untersuchungen<br />
anzustellen:<br />
1. Wie können die den medizinischen Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong><br />
betreffenden Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Länder so<br />
vereinheitlicht werden, daß sie über Ländergrenzen hinweg gleichartig<br />
zu handhaben sind, damit die im Katastrophen- und auch Großschadenseinsatz<br />
tätigen Kräfte nach gleichen Grundsätzen verfahren?<br />
2. In welcher Form kann und sollte, so lange eine Zusammenfassung in<br />
einem Gesetz nicht möglich ist, in den jeweiligen Katastrophenschutzund<br />
Rettungsdienstgesetzen bzw. -regelungen die Initialverantwortung<br />
des Rettungsdienstes und der Notärzte bis zur und ebenso nach<br />
Erklärung des Katastrophenfalles verankert werden?<br />
3. Wie ist die ärztlich-rechtliche Verantwortung für Verletzte und andere<br />
gesundheitlich Geschädigte in der Leitungsstruktur des Zivil- und<br />
Katastrophenschutzes bundeseinheitlich sicherzustellen?<br />
4. In welcher Weise, auf welcher Ebene und mit welchem Auftrag sind die<br />
Ärzte des öffentlichen Gesundheitswesens in die Vorbereitungen und<br />
Maßnahmen des Zivil- und Katastrophenschutzes einzuordnen?<br />
5. Welche Schritte sollten die Regierungen des Bundes und der Länder<br />
ergreifen, um die Ärzteschaft zuverlässig in die Organisation der medizinischen<br />
Katastrophenhilfe einzubinden?<br />
6. Wie kann die Fortbildung auf den Gebieten der Toxikologie, der Infektiologie<br />
und der Seuchenabwehr sowie der Gefährdung durch Freisetzung<br />
von Radioaktivität durch die ärztlichen, tierärztlichen und<br />
pharmazeutischen Kammern durchgesetzt und im Sinne des Bevölkerungsschutzes<br />
vertieft werden?<br />
125
7. Wie kann in Zusammenarbeit mit der verfaßten Ärzteschaft, erforderlichenfalls<br />
auch auf juristischem Wege, geklärt werden, ob und inwieweit<br />
allein schon die berufliche Approbation jeden Arzt zwingt, für<br />
Notfall- und Katastrophenlagen zumindest Grundkenntnisse zu erwerben<br />
und sich zur Hilfeleistung zur Verfügung zu stellen?<br />
8. Wie und auf welchem Wege ist es durchsetzbar, daß den Studenten der<br />
Medizin Grundkenntnisse über die Besonderheiten der medizinischen<br />
Hilfe in Katastrophenfällen an allen Hochschulen vermittelt werden?<br />
9. Auf welche Weise läßt sich ein verfügbarer Stamm gut ausgebildeter<br />
Helfer für den Zivil- und Katastrophenschutz schaffen und erhalten?<br />
Ausgangspunkt dazu sollten die von Ahnefeld und Pfenninger entwickelten<br />
Gedanken über das „Ulmer Modell“ sowie Pfenningers Feststellungen<br />
nach Untersuchungen in vier Bereichen der Bundesrepublik<br />
sein.<br />
Im Vordergrund steht hierbei die Frage, ob es möglich ist, zusätzliche<br />
freiwillige Helfer zur Mitwirkung im Rettungsdienst zu gewinnen und<br />
ihre Tätigkeit auch rechtlich abzusichern. Mit einem solchen Verfahren<br />
könnten auf örtlicher und regionaler Ebene rettungsdienstlich erfahrene<br />
Reserven für Großschadensfälle gebildet werden.<br />
10. Welcher allgemeinen und medizinischen Geräte und Ausrüstungen<br />
sowie insbesondere welcher Arznei- und Verbandmittel bedarf es, um<br />
angesichts einer Vielzahl an Katastrophenopfern unverzüglich mit der<br />
Rettung, ersten ärztlichen Hilfe und Herstellung der Transportfähigkeit<br />
beginnen zu können?<br />
Wo und in welchem Umfang müßte solches Material dem zuerst eingreifenden<br />
Rettungsdienst für die ersten Hilfeleistungen zur Verfügung<br />
stehen? Wo und in welchem Umfang müßte ergänzendes Material so<br />
gelagert und jederzeit greifbar bereitgehalten werden, um innerhalb<br />
Stundenfrist einem bis zu 100 km entfernten Ort der medizinischen<br />
Katastrophenhilfe zugeführt werden zu können?<br />
Wie kann die sofortige Verfügbarkeit der am Ort der Ersthilfe dringendst<br />
benötigten Analgetika, Infusionslösungen usw. erreicht werden?<br />
11. Welche Gefahren drohen bei der Vernachlässigung bereits einer oder<br />
mehrerer der zuvor genannten, klärungsbedürftigen Fragen?<br />
12. Gibt es eine Alternative durch Schaffung einer neuen Form effektiver<br />
Mitwirkung der Hilfsorganisationen im Zivil- und Katastrophenschutz,<br />
die dem tatsächlichen Geschehen bei einem Einsatz und der fachlichen<br />
Verantwortung für den Ablauf der Hilfemaßnahmen zum Wohle der<br />
Schadensopfer gerecht wird?<br />
Die Einführung eines jeglichen Verfahrens zum Schutz und zur Hilfe für<br />
gefährdete Menschen sowie die Verantwortung für dessen dauerhafte Funk-<br />
126
tionsfähigkeit – dies muß nachdrücklichst betont werden – liegt ausschließlich<br />
bei den Ministerien des Bundes und der Länder sowie deren nachgeordneten<br />
Behörden. Private Organisationen können und dürfen niemals<br />
anstelle der Behörden die der Bevölkerung durch das Grundgesetz gewährten<br />
Ansprüche auf Schutz und Überleben abzudecken versuchen. Sie haben<br />
ihre Bereitschaft zur Mitwirkung – wohlgemerkt nicht Führung – im Bevölkerungsschutz<br />
freiwillig bekundet und müssen entscheiden, ob und in<br />
welcher Weise sie sich in den vorgegebenen Rahmen einzuordnen bereitfinden.<br />
Es bedarf nun der Entscheidung, daß und ob die von der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in ihrem Gefahrenbericht angeregten Untersuchungen in Angriff genommen<br />
werden. Daß dies eine zeitaufwendige Arbeit sein wird, darf nicht verschwiegen<br />
werden. Es werden neben internen Untersuchungen umfangreiche<br />
Befragungen und Ermittlungen in Zusammenarbeit mit allen Aufgabenträgern,<br />
Interessierten, aber auch noch manchen Desinteressierten<br />
erforderlich werden.<br />
127
128
Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle<br />
Arzneimittelversorgung im Katastrophenfall<br />
Wolfgang Wagner<br />
Unglücksfälle, Großschadenereignisse und Katastrophen sind seit jeher ein<br />
Bestandteil des Weltgeschehens; sie greifen immer wieder unvorhergesehen<br />
und schicksalhaft darin ein.<br />
Unglücksfälle im privaten Bereich, bei Arbeitsprozessen und im Verkehr<br />
sowie plötzliche, vital bedrohliche Erkrankungen sind uns im Alltag vertraut,<br />
auch wenn wir sie möglichst aus unseren Gedanken verbannen.<br />
Großschadensereignisse, wie z.B. der Flughafenbrand in Düsseldorf 1996,<br />
sind außergewöhnlich große Notfälle, die jedoch mit den verfügbaren Mitteln<br />
bewältigt werden können. Bei Katastrophenfällen werden wir mit dem<br />
Problem konfrontiert, daß wir für die Rettungs- und Sicherungsmaßnahmen<br />
sowie die Schadensbegrenzung in der Regel weder ein ausreichendes Potential<br />
an Helfern noch genügend Hilfsmaterial zur Verfügung haben, und daß<br />
eine überregionale Lenkung der Notfallmaßnahmen erforderlich ist.<br />
Was jedoch die Vorsorge für Großunglücke und Katastrophen angeht, so ist<br />
die reale Situation durch folgende Faktoren bestimmt:<br />
– Durch Wohlstand und Abhängigkeit von der Technik ist die moderne<br />
Gesellschaft verwundbar!<br />
– Die Gefahren sind allgemein bekannt!<br />
– Es ist bekannt, wie sie vielfach vermieden werden können!<br />
– Es gibt ausreichende Kenntnisse, welche Vorbereitungen getroffen werden<br />
können und müssen, um Schäden zu begrenzen!<br />
Wir müssen uns heute fragen:<br />
Behandeln Staat und Gesellschaft die Fragen der Notfallvorsorge angemessen?<br />
Sind ausreichende Vorkehrungen für die Notfallvorsorge getroffen?<br />
In der Vergangenheit haben oft heftige Widerstände gegen Katastrophenschutz,<br />
und Katastrophenmedizin immer wieder die Diskussionen um Vorsorgemaßnahmen<br />
für Not- und Katastrophenfälle bestimmt. Sie wurden oft<br />
politisch sehr einseitig und teilweise unsachlich mit Diffamierungen z. B.<br />
„militärischen Zwecken dienend“ belastet.<br />
In unserem hochentwickelten und reichen Land müßten eigentlich in den<br />
letzten 30–40 Jahren alle notwendigen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr<br />
bei Katastrophenfällen effizient konzipiert worden sein. Wir, die Teilnehmer<br />
dieser Tagung, kennen die Defizite, und ich verweise nur auf das Gutachten<br />
des Deutschen IDNDR-Komitees für Katastrophenvorbeugung e.V. von<br />
129
1996 sowie den Gefahrenbericht dieser <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern vom Oktober 1996.<br />
Die Diskussion um die Fragen der Notfallvorsorge für den Zivil- und Katastrophenschutz<br />
sind heute durch folgende Fakten und Fragen gekennzeichnet:<br />
– In den letzten 40 Jahren haben sich nur relativ wenig Großschadensereignisse<br />
ereignet, und es hat vor allem keine Katastrophen in Deutschland<br />
gegeben.<br />
– Die umwälzenden politischen Veränderungen Ende der 80er-Jahre haben<br />
das Risiko einer flächendeckenden, militärischen Auseinandersetzung in<br />
Europa sehr reduziert.<br />
– Sind die Strukturen sollten der Zivil- und Katastrophenschutz noch zeitgemäß;<br />
wie sollten sie zukünftig besser gestaltet werden?<br />
– Brauchen wir für den <strong>Zivilschutz</strong> medizinische Notfallvorräte, und wie<br />
sind sie zu finanzieren?<br />
Meinen Vortrag möchte ich nun auf die Aspekte der materiellen Sicherstellung<br />
der medizinisch-pharmazeutischen Versorgung begrenzen.<br />
Wir unterscheiden in der medizinischen Regel- und Notfallversorgung die<br />
Bereiche<br />
Individualmedizin unter Normalbedingungen mit freier Arztwahl<br />
und unabhängiger Therapiefreiheit des Arztes,<br />
Notfallmedizin mit ausreichendem Potential an Ärzten,<br />
medizinischem Assistenzpersonal sowie<br />
Material und Gerät,<br />
Katastrophenmedizin mit simultaner Behandlung vieler Patienten<br />
unter erschwerten Bedingungen und unter<br />
Zeitdruck ohne genügend Ärzte, Helfer,<br />
Material und Gerät.<br />
Die Katastrophenmedizin hat es mit einem begrenzten Spektrum an<br />
Schadensmustern zu tun, die jedoch von der Vielzahl der Patienten und den<br />
äußeren Bedingungen geprägt sind.<br />
– Traumatische Schäden<br />
– Brandverletzungen<br />
– Kälteschäden<br />
– Chemische Schäden<br />
– Strahlenschäden<br />
– Polytraumen<br />
– Vergiftungen<br />
130
– Epidemische Infektionen<br />
– Psychische Schäden<br />
– Versorgungsmängel<br />
Lebensmittel – Arzneimittel<br />
Bei Großschadensereignissen müssen nicht alle klinisch relevanten Arzneimittel<br />
am Schadensort verfügbar sein. Vielmehr können wir uns auf wenige<br />
Arzneimittelgruppen für die vorgenannten Schadensmuster konzentrieren.<br />
Von Bedeutung ist dabei ein planerisches Denken und logistisches Handeln<br />
für verschiedene Verfügungszeiträume.<br />
Verfügungszeiträume 1. sofort: unmittelbar nach Schadensereignis<br />
2. kurzfristig: innerhalb 6–24 Stunden<br />
3. mittelfristig: innerhalb 24–48 Stunden<br />
1. Für die erste, noch präklinische Notfallversorgung benötigen wir an Arzneimitteln<br />
zur sofortigen Verfügbarkeit:<br />
– Analgetika<br />
– Sedativa<br />
– Kreislaufmittel<br />
– Inhalative Kortikoide<br />
– Antidote<br />
– Infusionslösungen<br />
– Kristalloide Lösungen<br />
– Kolloidale Volumenersatzmittel<br />
Beim Einsatz anläßlich des Bombenanschlages auf das Münchener<br />
Oktoberfest hat sich ein Bevorratungskonzept mit kleinen Sets mit Arzneimitteln<br />
und Sanitätsmaterial bewährt, die von dem Rettungspersonal<br />
unmittelbar nach dem Eintreffen am Schadensort bei den Notfallpatienten<br />
für die Erstversorgung deponiert wurden.<br />
2. Für die weitere, in der Regel klinische Versorgung der Notfallpatienten<br />
benötigen wir dann Arzneimittel mit einer kurzfristigen Verfügbarkeit<br />
innerhalb von 6 bis 24 Stunden. Da die allgemein für die Regelversorgung<br />
verfügbaren Vorräte beim Massenanfall von Patienten punktuell<br />
rasch verbraucht werden, muß dann auf kurzem Wege Nachschub verfügbar<br />
gemacht werden. Notfallsituationen sind Streßsituationen für alle<br />
Beteiligten, sowohl für die Helfenden und Rettenden als auch für die<br />
Opfer. Bei prädestinierten Patienten kann es durch den Streß zu einer<br />
Akzentuierung von Grundkrankheiten kommen. Das bedeutet, daß es<br />
z.B. bei Patienten mit kardialen Vorschäden vermehrt zu Angina pectoris-Anfällen<br />
oder Myocardinfarkten kommen kann. Wir müssen also bei<br />
unseren Planungen und Bevorratungen für ausreichend Arzneimittel zur<br />
Behandlung chronischer Erkrankung, die vital bedrohlich sein können,<br />
sorgen.<br />
131
3. Die Versorgung mit Arzneimitteln zur mittelfristigen Verfügbarkeit<br />
innerhalb von 24 bis 48 Stunden dient der allgemeinen Sicherstellung<br />
von Dauermedikationen wie z.B. Diabetes, Hypertonie oder Atemwegserkrankungen.<br />
Auch die Behandlung von besonderen Patientengruppen<br />
muß immer eingeplant werden. Denken Sie nur einmal daran, daß es<br />
durch die schon erwähnten Streßsituationen vermehrt zu Frühgeburten<br />
kommen kann, und diese müssen adäquat versorgt sein. Und wir vergessen<br />
bei allen Vorsorgeplanungen viel zu leicht die Pädiatrie und die<br />
ausreichende Bevorratung mit Arzneimitteln in pädiatrischen Dosierungen<br />
und Darreichungsformen. Hier müssen wir vor allem an spezifische<br />
Infusionslösungen und die adäquaten, geeigneten Medizinprodukte zur<br />
Behandlung von Kindern und vor allem Kleinstkindern sowie Säuglingen<br />
denken.<br />
Welche Arzneimittel und Medizinprodukte für die Notfallversorgung unentbehrlich<br />
sind, das ist bekannt und vielfach veröffentlicht worden. Es gibt<br />
bislang aber noch keine ausreichenden, wissenschaftlichen oder empirischen<br />
Unterlagen über den quantitativen Bedarf an Arzneimitteln und medizinischem<br />
Bedarf bei Großschadensereignissen und Katastrophen. Solch ein<br />
Bedarf ist natürlich immer abhängig von der Anzahl der Patienten sowie der<br />
Art und Größe der Schäden. In der Vergangenheit haben Einberger (3,4,5,6)<br />
und Heidemanns (7,8) hierzu bereits einige wichtige Empfehlungen veröffentlicht,<br />
die jedoch noch nicht ausreichen.<br />
Der Arzneimittelbedarf für die primäre Versorgung von Katastrophenopfern<br />
wird sich oft überschneiden, so daß man davon ausgehen kann, daß ein kalkulierter<br />
Katastrophenvorrat für Polytraumatisierte und Brandverletzte<br />
bereits ein breites Spektrum zu erwartender Personenschäden abdeckt.<br />
Pauschal können Bevorratungsmengen nach folgender Formel ermittelt<br />
werden:<br />
Q = D x 1/100 x A x T<br />
Dabei bedeuten:<br />
Q Bedarfsmenge je Einzeldosis D Tagesbedarf je Patient<br />
I Prozent-Anteil an den Traumen A Angenommene Zahl an Verletzten<br />
T Zeit in Tagen für den Vorrat<br />
Beispiel einer Bedarfsberechnung<br />
Nach einem Erdbeben rechnen wir mit folgendem Patientenanfall:<br />
Polytraumen mit Schock........................60 %<br />
Knochenbrüche ......................................20 %<br />
Quetschungen.........................................10 %<br />
Verbrennungen .........................................5 %<br />
Psychogener Schock ................................5 %<br />
132
Der Bedarf an Analgetika errechnet sich dann nach folgenden Vorgaben:<br />
Bedarf an Analgetika besteht bei 95 % der Verletzten<br />
Initialphase: pro Patient 2 Ampullen eines Analgetikums pro Tag.<br />
präventive Bevorratung für 2 Tage für 100 potentielle Erdbebenopfer<br />
Q = 2 x 95/100 x 100 x 2 = 380<br />
Entsprechend den Vorgaben sind 380 Ampullen Analgetikum einzulagern.<br />
Der Bedarf an Gipsbinden errechnet sich nach den Vorgaben<br />
Bedarf an Gipsbinden besteht bei 20 % der Verletzten.<br />
Pro Patient werden 5 Gipsbinden veranschlagt.<br />
Die Gipsbinden werden nur am Unfalltag benötigt, ein 2-Tage-Vorrat erübrigt<br />
sich.<br />
Es soll ein Vorrat für 100 potentielle Erdbebenopfer angelegt werden.<br />
Q = 5 x 20/100 x 100 = 100<br />
Entsprechend den Vorgaben sind 100 Gipsbinden einzulagern.<br />
Nach den dargestellten Überlegungen und Schemata lassen sich „Versorgungspakete“<br />
für jeden vorstellbaren Großschadenfall zusammenstellen. 1)<br />
Ein dezidierter Vorrat für den Großschadensfall ist in der Finanzierung der<br />
Krankenhäuser nicht vorgesehen. Der Routinevorrat einer Klinik sollte<br />
allerdings die Initialphase eines Großschadensfalls abdecken können. Aufgrund<br />
pragmatischer Fälle und Fallzahlen im Krankenhaus sowie praktizierte<br />
Therapieschemata ergibt sich zum Beispiel als Vorrat für die<br />
Behandlung von 100 Polytraumatisierten in den ersten 48 Stunden folgender<br />
Bedarf1) :<br />
– 600–800 ✕ 500 ml Ringer(lactat)lösung oder<br />
– 400 ✕ 500 ml Kolloidlösung<br />
– 300 ✕ 500 ml Glucoselösung 10%<br />
– 300 ✕ 500 ml Glucoselösung 20% und<br />
– 100 ✕ 500 ml streßadaptierte Aminosäurenlösung oder<br />
– 200 ✕ 1.000 ml Komplettlösung (2-l-Konzept)<br />
– 100 ✕ 1 ml Norepinephrin 0,1mg<br />
– 200 ✕ 100 mg Dexamethason-21-dihydrogenphosphat<br />
– 200 ✕ 10 mg Morphin-HCI<br />
– 100 ✕ 20 mg Morphin-HCI<br />
1) Aus: Taschenbuch der Krankenhauspharmazie 1991/92, Deutscher Apotheken-Verlag, Stuttgart.<br />
133
– 200 ✕ 10 mg Diazepam<br />
– 200 ✕ 20 ml Ketamin-HCI 200 mg<br />
– 200 ✕ 1 Tagesdosis Breitspektrumantibiotikum<br />
– 100 ✕ 250 I.E. Tetanusimmunoglobulin<br />
– 100 ✕ 75 I.E. Tetanus-Adsorbat-Impfstoff<br />
In gleicher Weise wie bei den dargestellten Beispielen ist der Bedarf an<br />
Sanitätsmaterial im weitesten Sinne und an Arzneimitteln für von möglichen<br />
Versorgungsengpässen betroffene Dauerpatienten empirisch zu<br />
ermitteln und für potentielle Opferzahlen hochzurechnen.<br />
Inzwischen arbeiten in einer Arbeitsgruppe der Universität Tübingen Notfall-<br />
und Katastrophenmediziner gemeinsam mit Krankenhausapothekern<br />
an Bevorratungskonzepten für Großschadensereignisse und Katastrophenfälle<br />
134<br />
Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V.<br />
Arbeitsgruppe<br />
„Katastrophenmedizin – Katastrophenpharmazie<br />
Krisenmanagement – Humanitäre Hilfe“<br />
Leitung: Prof. Dr. med. B. D. Domres, Tübingen<br />
– Ermittlung des Versorgungsbedarfs für Not- und Katastrophenfälle<br />
– Festlegung von Bevorratungsvolumina<br />
– Konzeption von Notfalldepots mit Umfang und Standort<br />
– Kostenermittlung<br />
– Beschaffungseinrichtungen<br />
– Logistik<br />
– Arzneimittelüberwachung<br />
– administrative Regelungen<br />
Seit 1993 sind Fachapotheker für Klinische Pharmazie im Bundesverband<br />
Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V. mit den Aufgaben der<br />
„Katastrophenpharmazie“ befaßt.
ADKA-Arbeitsgruppe<br />
„Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle“<br />
Aufgaben<br />
– Einbindung der Katastrophenpharmazie in die Klinische Pharmazie.<br />
– Sammlung von Daten und Fakten zur Notfall und Katastrophenvorsorge<br />
aus den Bereichen Medizin, Pharmazie, Zivil- und Katastrophenschutz.<br />
– Dokumentation und Veröffentlichung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />
in der Notfall- und Katastrophenmedizin zur Fort- und Weiterbildung<br />
von Krankenhausapothekern.<br />
– Ermittlung des Versorgungsbedarfs in der Notfallvorsorge gemeinsam<br />
mit Katastrophenmedizinern.<br />
– Erarbeitung von Arbeitshilfen für Krankenhausapotheken zur:<br />
Organisation – Logistik – Bedarfsermittlung – Notfallbevorratung.<br />
– Erarbeiten von vereinfachten Herstellungsvorschriften für die notfallmäßige<br />
Arzneimittelherstellung.<br />
– Ergänzung der Rahmenrichtlinien der Bundesapothekenkammer zur<br />
Fachausbildung „Apotheker für Klinische Pharmazie“.<br />
– Erarbeitung von Lehrinhalten zur Katastrophenpharmazie für die Fachausbildung<br />
„Klinische Pharmazie“.<br />
– Vorschläge für die Neukonzeption der Bevorratung mit Arzneimitteln<br />
und Sanitätsmaterial für Großschadensereignisse und Katastrophen.<br />
– Mitwirkung bei der Katastrophenschutz-Planung in Krankenhäusern.<br />
– Zusammenarbeit und Informationsaustausch mit:<br />
Standesorganisationen<br />
Behörden und Institutionen im Gesundheits- und Krankenhauswesen<br />
Einrichtungen des Rettungswesens, Zivil- und Katastrophenschutzes,<br />
der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin der Bundeswehr.<br />
– Internationaler Erfahrungsaustausch mit Klinischen Pharmazeuten,<br />
Notfall- und Katastrophenmedizinern und Hilfsorganisationen<br />
Spätestens seit den Unglücken von Ramstein, Remscheid und Amsterdam<br />
sind diskriminierende Vorwürfe und Vorurteile bezüglich der Notwendigkeit<br />
einer Katastrophenmedizin und Notfallvorsorge für Großunglücke<br />
nicht mehr diskussionsbestimmend. Anläßlich dieser großen Unglücke sind<br />
jeweils vielfältige Forderungen und Bekenntnisse zu effizienterer Notfallvorsorge<br />
zu hören gewesen. Doch was ist davon geblieben? Was ist vor<br />
allem aus der Notfallbevorratung geworden? Selbst die Feststellung der<br />
Notwendigkeit einer medizinischen Notfallbevorratung im „Gefahrenbe-<br />
135
icht“ der <strong>Schutzkommission</strong> vom Oktober 1996 wurde nicht ernst genommen.<br />
Heute bestimmen erstmals und primär finanzpolitische Aspekte das Maß für<br />
die Zivil- und Katastrophenschutzvorsorge. Angesichts der schwierigen<br />
Finanzsituation des Bundes sowie aufgrund der veränderten politischen und<br />
militärischen Rahmenbedingungen sieht die Bundesregierung derzeit keine<br />
akute Notwendigkeit mehr für eine <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung mit Arzneimitteln<br />
und rechtfertigt so deren Streichung. Daher wurde nun in die endgültige<br />
Fassung des Gesetzes zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (ZSNeuOG)<br />
vom 25. März 1997 auch keine permanente Sanitätsmaterialbevorratung<br />
mehr aufgenommen sondern folgende Regelung:<br />
136<br />
§ 17 ZSNeuOG<br />
Sanitätsmaterialbevorratung<br />
Das Bundesministerium des Innern kann durch Rechtsverordnung mit<br />
Zustimmung des Bundesrates anordnen, daß nach Maßgabe des Artikels<br />
80a des Grundgesetzes ausreichendes Sanitätsmaterial von Herstellungsbetrieben,<br />
Großhandlungen sowie Öffentlichen- und Krankenhaus-Apotheken<br />
vorgehalten wird, um den zusätzlichen Bedarf im Verteidigungsfall<br />
sicherzustellen. Die §§ 4, 8, und 13 bis 16 des Wirtschaftssicherstellungsgesetzes<br />
in der jeweils geltenden Fassung sind entsprechend anzuwenden.<br />
Der Bundesrat hat in der Sitzung am 19. 12. 1996 diese Regelung folgendermaßen<br />
begründet:<br />
„Eine ersatzlose Streichung des bisherigen § 14 des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes,<br />
der im Frieden eine Sanitätsmaterialbevorratung vorsieht, ist nicht vertretbar,<br />
weil die friedenszeitlichen Vorräte den vermehrten Bedarf in einem<br />
Verteidigungsfall nicht decken können. Nur zusätzlich angelegte Vorräte<br />
gewährleisten dann eine ausreichende Versorgung. Es genügt, diese Vorräte<br />
in einer Krise nach Maßgabe des Artikels 80a GG anzulegen.<br />
Bedenken gegen eine gegebenenfalls entschädigungspflichtige Bevorratung<br />
bestehen angesichts der Bevorratungsregelung im Wirtschaftssicherstellungsgesetz<br />
nicht. Ähnliche Regelungen sind in § 6 des Ernährungssicherstellungsgesetzes,<br />
§ 4 des Verkehrssicherstellungsgesetzes und § 12 des<br />
Wassersicherstellungsgesetzes enthalten.“<br />
Diese Regelung ist keine Regelung, denn sie wird in einem Bedrohungsfall<br />
für die Bundesrepublik Deutschland keine ausreichende<br />
Bevorratung mehr möglich machen!<br />
Aus der Tatsache, daß einerseits die Notwendigkeit zusätzlicher Vorräte<br />
zwar ausdrücklich herausgestellt wird, andererseits aber diese erst in einer<br />
Krisensituation angelegt werden sollen, ergibt sich eine Vielzahl von<br />
Gedanken und Fragen:
– Wann fällt die Entscheidung, eine militärische Krise zu konstatieren?<br />
– Woher sollen dann die Güter kurzfristig geholt werden?<br />
– Es gibt keine weitreichenden Vorräte bei Herstellern, Großhandlungen<br />
und Apotheken!<br />
– Belieferung mit Arzneimitteln und Medizinprodukten:<br />
kurzfristig: aktueller „Tages“-Bedarf für die Regelversorgung der Patienten.<br />
– Versorgungsengpässe durch Lieferausfälle im Pharma-Bereich gibt es<br />
auch unter friedenszeitlichen Normalbedingungen!<br />
– Die Hersteller sind nicht autark!<br />
Rohstoff und Material-Beschaffung: weltweite Handelsbeziehungen.<br />
– Kriterien für die Herstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten:<br />
„Lean production“ „just-in-time production“<br />
Wirtschaftlichkeit Kostenminimierung<br />
Nachteil: Abhängigkeit von zeitgerechter Zulieferung<br />
Produktionsausfälle: Toyota: Ursache: Großbrand in einem<br />
Zulieferwerk<br />
Februar 1997 Volkswagen: Ursache: Straßenblockaden in<br />
Spanien.<br />
– Der Bund wälzt die Verantwortlichkeit und Kosten für eine Sanitätsmaterialbevorratung<br />
ab auf:<br />
Hersteller · Großhandlungen – Öffentliche Apotheken – Krankenhausapotheken<br />
– Sind davon alle oder nur spezifische Hersteller von Arzneimitteln und<br />
Medizinprodukten betroffen?<br />
– Unterschiedliche Belastungen: Gibt es Wettbewerbsnachteile am<br />
Markt?<br />
– Auswirkungen auf die Kosten im Gesundheitswesen?<br />
Notfallbevorratung – Quo vadis?<br />
Seit 1995 haben wir bekanntlich keine <strong>Zivilschutz</strong>vorräte an Sanitätsmaterial<br />
mehr!<br />
Der ersatzlose Wegfall der Sanitätsmittelbevorratung des Bundes hat nun<br />
akut bundesweit zu einem generellen Bevorratungsdefizit für die medizinische<br />
Materialversorgung in Not- und Katastrophenfällen geführt. Es mangelt<br />
zur Zeit an ausreichenden Vorsorgemaßnahmen der Bundesländer für<br />
die friedenszeitliche Notfallvorsorge, denn sie haben in der Vergangenheit<br />
aufgrund der vorhandenen <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung der Bundesregierung<br />
keine eigene, umfangreichere Bevorratung mit Sanitätsmaterial für Groß-<br />
137
schadensereignisse und Katastrophen in Friedenszeiten vorgenommen. Und<br />
nun fehlen natürlich auch den Bundesländern die erforderlichen finanziellen<br />
Mittel, um kurzfristig medizinische Vorräte zu beschaffen. Argumentativ<br />
wird daher teilweise auf die Vorräte in Öffentlichen Apotheken, Krankenhausapotheken,<br />
des Pharma-Großhandels und der Arzneimittelhersteller<br />
verwiesen, die im Bedarfsfall dann nur noch zusammengeführt werden<br />
müßten.<br />
Dazu ist festzustellen:<br />
– Die Arzneimittelhersteller betreiben aus Kostengründen eine „schlanke“<br />
Produktion ohne umfangreichere Materialbevorratung und ohne größere<br />
Vorräte an Fertigarzneimitteln und Medizinprodukten. Im Großschadensfall<br />
kann u.U. eine begrenzte Produktionserhöhung für bestimmte Präparate<br />
ermöglicht werden.<br />
– Der Pharmazeutische Großhandel ist allgemein nicht auf den Klinikbedarf<br />
und schon gar nicht im größeren Umfang auf die flächendeckende Versorgung<br />
mit Arzneimitteln für die Notfall- und Intensivmedizin eingerichtet.<br />
– Bei zusätzlicher, notfallmäßiger Versorgung durch die Pharmaindustrie<br />
und den Großhandel sind in Krisensituationen auch immer logistische<br />
Probleme einzukalkulieren.<br />
– In den Öffentlichen Apotheken sind die Vorräte nur auf die tägliche Versorgung<br />
im Rahmen der breitgefächerten Individualmedizin ausgerichtet.<br />
Gemäß §15 (1) Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) sind Arzneimittel<br />
und Medizinprodukte in einer Menge vorrätig zu halten, die dem Durchschnittsbedarf<br />
für eine Woche entspricht, was jedoch in der Praxis nicht<br />
immer gegeben ist.<br />
– In den Krankenhausapotheken sind Arzneimittel für den Bedarf von mindestens<br />
2 Wochen vorrätig zu halten. Diese Vorräte sind beim Massenanfall<br />
von Patienten auch nur für begrenzte Zeit verfügbar. Dann wird der<br />
große Bedarf an Arzneimitteln sehr bald zu Engpässen in der Versorgung<br />
führen. Bei Großschadensereignissen wird zusätzlich auch noch der<br />
Rettungs- und Sanitätsdienst bei den Krankenhäusern um Ergänzung von<br />
dringend benötigten Arzneimitteln und Sanitätsmaterial für die notfallmäßige<br />
Erstversorgung der Opfer bitten.<br />
– Die Bundeswehr ist zu Friedenszeiten in der Lage und bereit, im Rahmen<br />
der zivilmilitärischen Zusammenarbeit bei Großschadenereignissen und<br />
Katastrophen Personal- und Materialhilfe zu leisten.<br />
Notfallvorsorge bedeutet immer Zusatzbevorratung für außergewöhnliche<br />
Ereignisse; und diese kann nicht aus dem für die Regelversorgung der<br />
Bevölkerung verfügbaren Potential abgezogen werden. Wir benötigen also<br />
dringend ausreichende Maßnahmen zur Versorgung mit Arzneimitteln und<br />
Sanitätsmaterial bei Not- und Katastrophenfällen und letztendlich natürlich<br />
138
auch im Fall äußerer Bedrohung, der niemals eintreten möge. Im Rahmen<br />
einer gerechten Lastenteilung muß ein gemeinsames Konzept von Bund und<br />
Ländern für die Arzneimittelbevorratung gefunden werden.<br />
Um die Defizite bei der Notfallbevorratung so bald wie möglich zu beseitigen,<br />
und in Anbetracht der knappen öffentlichen Haushaltsmittel wurde<br />
nun dem Land Nordrhein-Westfalen ein mehrstufiges Konzept vorgeschlagen,<br />
das in einem mehrjährigen Verfahren aufgebaut werden könnte.<br />
1. Stufe<br />
– In allen Kommunen/Kreisen des Landes wird ein Ergänzungsvorrat<br />
für die erste präklisch-medizinische Versorgung beim Massenanfall von<br />
Patienten am Schadensort geschaffen.<br />
a) Ein einheitlich festgelegter Zusatzvorrat für den Rettungsdienst mit<br />
Arzneimitteln, Medizinprodukten und Sanitätsmaterial für die Versorgung<br />
von 40–50 Notfallpatienten.<br />
b) Ein Set mit Antidoten für 100 Vergiftungspatienten<br />
(einschließlich des Rettungspersonals)<br />
c) Sets für 10 Verbrennungspatienten.<br />
Diese Notfallvorräte werden in Container verpackt und bei den Rettungsdiensten<br />
der Kommunen und Landkreise zentral und jederzeit verlastbar<br />
bereitgestellt. Durch ein Zusammenführen dieser Notfallvorräte wird dann<br />
im Bedarfsfall schnell eine große Materialreserve für den Rettungsdienst<br />
und Katastrophenschutz in einem Schadensraum ermöglicht.<br />
2. Stufe<br />
– Schwerpunktmäßig werden dezentrale Vorräte an Arzneimitteln und<br />
Medizinprodukten bei ausgewählten Krankenhausapotheken mit Landesmitteln<br />
angelegt. In dieses Konzept sollten neben den Apotheken der Universitätskliniken<br />
auch andere leistungsfähige Krankenhausapotheken auf<br />
Kreisebene bzw. in Großstädten einbezogen werden, damit die Vorräte<br />
überschaubar und breit gestreut schnell verfügbar sind. Für die Versorgung<br />
bei Großschadensfällen ist ein logistisches Netzwerk zu schaffen.<br />
Eine Reserve für Not- und Katastrophenfälle bei Klinikapotheken hat<br />
folgende Vorteile:<br />
– sie ist jederzeit verfügbar,<br />
– sie wird sachgerecht verwaltet,<br />
– sie ist kostengünstig durch: – das Prinzip der einmaligen Finanzierung,<br />
– die Umwälzung im klinischen Betrieb,<br />
– die Vermeidung von Verfall.<br />
3. Stufe<br />
– Nach wie vor ist eine <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung mit Arzneimitteln, Medizinprodukten<br />
und Sanitätsmaterial unverzichtbar. Aufbauend auf eine<br />
139
ausreichende Notfallbevorratung der Länder könnte die <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung<br />
zukünftig einen erheblich geringeren Umfang haben als in der<br />
Vergangenheit. Dafür wären m.E. dann nur noch ca. 8 zentrale Depots<br />
erforderlich. Die Beschaffung und Lagerung sollte sich an der Praxis der<br />
Sanitätsmateriallagerung der Bundeswehr orientieren und ggf. auch mit<br />
ihr gemeinsam organisiert werden.<br />
Im Rahmen der zivil-militärischen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen<br />
sollten – zumindest in der Phase des Aufbaus einer Notfallbevorratung –<br />
auch die Vorräte an Arzneimitteln, Sanitätsmaterial und medizinischem<br />
Gerät der Bundeswehr bei Großschadensereignissen und Katastrophen zur<br />
Verwendung im zivilen Bereich verfügbar sein. Dazu müssen allerdings die<br />
arzneimittelrechtlichen Voraussetzungen für die Verwendung von Arzneimitteln<br />
(ohne Verfalldatum) aus Beständen der Bundeswehr für den notfallmäßigen<br />
Einsatz in Zivil- und Katastrophenschutz geschaffen werden,<br />
damit diese Arzneimittel ggf. auch Patienten ausgehändigt werden können.<br />
Generell wäre über die Aufbauphase hinaus eine Verwendung dieser BW-<br />
Vorräte in Notfällen erstrebenswert.<br />
Die Pharmazeutische Industrie unterhält nur begrenzte Produktionsvorräte<br />
an Fertigarzneimitteln, Medizinprodukten, Rohstoffen und Verpackungsmaterial.<br />
Für große Schadensereignisse könnte ein Teil der Notfallbevorratung<br />
auch mit ausgewählten Pharma-Herstellern als zusätzliche „roll on –<br />
roll of – Vorräte“ vereinbart werden. Diese würden dann permanent umgewälzt,<br />
so daß kein Verfall entsteht. Eine solche Bevorratung müßte auch<br />
nicht gekauft werden; vielmehr wären hier nur die Kosten für Verzinsung<br />
und Lagerhaltung den Herstellern zu vergüten.<br />
In Detmold wurde 1996 eine Apotheke der Bundeswehr aufgelöst. Die dort<br />
vor wenigen Jahren mit Steuermitteln beschafften, modernen und vorbildlichen<br />
Produktionseinrichtungen sind geeignet zur Herstellung von Notfallarzneimitteln,<br />
Antidoten und Infusionslösungen. Die Fachhochschule<br />
Lippe beabsichtigt, in den Räumlichkeiten dieser ehemaligen Bundeswehr-<br />
Apotheke nun einen Studiengang „Pharmatechnik“ einzurichten. Hier<br />
bestünde nun die Möglichkeit, daraus gleichzeitig mit staatlicher Hilfe eine<br />
gemeinnützige Produktionsstätte für Antidote und Notfallarzneimittel für<br />
den Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> zu schaffen. Damit wäre das Problem<br />
der kurzfristigen Bereitstellung von Antidoten in größerer Menge nicht<br />
länger ein so schwieriges Problem.<br />
Bei Großschadenereignissen und Katastrophen werden die Krankenhäuser<br />
durch einen Massenanfall von Patienten und Verletzten organisatorisch in<br />
allen Bereichen erheblich betroffen und bis zur extremen Belastung gefordert.<br />
Je nach Umfang des Geschehens und der Routinebevorratung der<br />
Krankenhäuser sowie der sie versorgenden Apotheken bei dem unerwartet<br />
großen Anfall von Patienten sehr schnell zu Versorgungsengpässen führen.<br />
Selbst Großunglücke, die man noch nicht als Katastrophe bezeichnen kann,<br />
erfordern durch den plötzlichen Massenanfall von Verletzten oder Erkrank-<br />
140
ten von den betroffenen Krankenhäusern eine enorme Leistungssteigerung<br />
bei gleichzeitig eingeschränkten personellen und materiellen Ressourcen.<br />
Aber bereits die notwendigen Vorsorgeplanungen im personellen, materiellen<br />
und organisatorischen Bereich des klinikbetrieblichen Katastrophenschutzes<br />
sind durchweg nicht ausreichend bis mangelhaft. Das gilt auch für<br />
die Krankenhausapotheken und erst recht für die krankenhausversorgenden<br />
Öffentlichen Apotheken, die alle organisatorisch noch nicht auf eine Notfallversorgung<br />
so vorbereitet sind, um bei außergewöhnlichen Ereignissen<br />
problemlos damit fertig zu werden. Dieses großes Defizit muß in allernächster<br />
Zeit beseitigt werden.<br />
In Notfallsituationen von größeren Dimensionen fällt den Krankenhausapotheken<br />
in der jeweils betroffenen Region eine bedeutende Schlüsselposition<br />
in der medizinischen Versorgung zu. Sobald diese Apotheken ihren<br />
Versorgungsauftrag nicht mehr erfüllen können, ist den ärztlichen und<br />
pflegerischen Bemühungen bald ein Ende gesetzt. Dann werden alle<br />
Bemühungen um die rechtzeitige Bergung der Katastrophenopfer und die<br />
Einsatzbereitschaft des Rettungspersonals in Frage gestellt. Denn, wenn<br />
schon wenige Stunden nach dem Unglücksgeschehen eine Materialknappheit<br />
in den Apotheken eintritt, dann können die Therapiemaßnahmen nicht<br />
mehr oder nur unzureichend durchgeführt werden.<br />
Wie ist es nun um die Bevorratung der Krankenhäuser und ihrer Apotheken<br />
für Not- und Katastrophenfälle bestellt, die im Notfall die erste Anforderungswelle<br />
trifft? Zunächst einmal fehlt meist schon entsprechender Lagerraum<br />
für eine Zusatzbevorratung. Weiterhin hemmen enge Budgetvorgaben<br />
und akut besonders die Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen die notwendigen<br />
Vorsorgemaßnahmen. Weder die Kostenträger des Gesundheitswesens<br />
noch die Träger der Krankenhäuser können oder wollen die Notfallbevorratung<br />
finanziell tragen. Eine ordnungsgemäße Versorgung der<br />
Patienten mit Arzneimitteln bei Großunglücken und im Katastrophenfall<br />
gehört aber vor allem bei den Krankenhausapotheke zu den besonderen<br />
Aufgaben. Sie können aber nicht zwangsweise zu höherer Bevorratung verpflichtet<br />
werden, um staatliche Vorsorgedefizite auszugleichen.<br />
Da den Krankenhausapotheken bei Großschadenereignissen und im<br />
Katastrophenfall eine bedeutende Schlüsselstellung zufällt, haben 1996<br />
Krankenhausapotheker ein Handbuch zum „Management der Krankenhausapotheke<br />
bei Großschadenereignissen und im Katastrophenfall“ für<br />
die Krankenhausapotheke als Organisationshilfe zur Verfügung gestellt. Es<br />
soll als Arbeits- und Organisationshilfe der Krankenhausapotheke dienen.<br />
Nur organisatorisch gut vorbereitet kann die Sicherstellung der Versorgung<br />
des Krankenhauses mit Arzneimitteln und ggf. auch mit medizinischem<br />
Sachbedarf in Ausnahmesituationen und damit unter erheblich veränderten,<br />
d.h. erschwerten Rahmenbedingungen letztlich gewährleistet werden.<br />
141
Die „Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle“ ist eine neue Aufgabe im<br />
Spektrum der Klinischen Pharmazie. Sie dient der Sicherstellung der medizinischen<br />
Versorgung bei einem Massenanfall von Patienten bei Epidemien,<br />
Großunglücken und Katastrophen. Sie ist eine notwendige Voraussetzung<br />
für die Wirksamkeit der Katastrophenmedizin, die definitionsgemäß die<br />
simultane Behandlung einer Vielzahl von Patienten unter erschwerten<br />
Bedingungen mit unzureichenden Mitteln und unter erheblichem Zeitdruck<br />
sicherstellen muß. Die „Katastrophenpharmazie“ hat folgende Aufgaben in<br />
der Notfallversorgung:<br />
142<br />
Organisation – Logistik – Bedarfsermittlung – Notfallbevorratung<br />
– notfallmäßige Arzneimittelherstellung.<br />
Klinische Apotheker und Apothekerinnen sind als Spezialisten für die Katastrophenlogistik<br />
im klinisch-pharmazeutischen Bereich unentbehrlich, auch<br />
wenn sie bislang nur selten durch Großschadensfall besonders herausgefordert<br />
worden sind. Die Aufgaben der Notfallversorgung sind im Prinzip auch<br />
primär von Krankenhausapotheken und weniger von Krankenhausversorgenden<br />
Öffentlichen Apotheken zu erfüllen.<br />
Es ist übrigens einmal festzustellen, daß es bis heute noch keine eindeutige<br />
Aufgabenzuweisung für die Apotheken im Katastrophenfall allgemein und<br />
für Apotheker/innen im Katastrophenschutz speziell gibt. Dabei ist doch die<br />
Arzneimittelversorgung nicht nur eine selbstverständliche sondern auch<br />
eine staatlich delegierte Aufgabe an den Apotheker; aber pharmazeutisches<br />
Fachwissen wird im Katastrophenschutz und <strong>Zivilschutz</strong> bislang noch zu<br />
wenig genutzt.<br />
Die Fachaoptheker für Klinische Pharmazie in Deutschen Gesellschaft für<br />
Katastrophenmedizin und im Bundesverband Deutscher Krankenhausapotheker<br />
arbeiten gemeinsam mit den Notfall- und Katastrophenmedizinern an<br />
zukunftsorientierten Strategien des Managements bei Großschadenereignissen.<br />
Zusammenfassung<br />
Weniger die militärischen Konflikte als vielmehr unerwartete Notsituationen<br />
wie Großunglücke und Katastrophen bedrohen immer wieder die<br />
Menschheit und hinterlassen einen Massenanfall von Patienten mit identischen<br />
Krankheitsbildern und Verletzungsmustern. Entsprechend entsteht<br />
unvermittelt ein großer Bedarf an Arzneimitteln, Medizinprodukten und<br />
Sanitätsmaterial. Wir müssen daher für derartige Schadensereignisse gut<br />
organisierte sowie umfangreiche materielle Vorbereitungen treffen. Die Tatsache,<br />
daß wir in der Vergangenheit nur wenig von Großschadensereignissen<br />
oder gar Katastrophen betroffen waren, darf uns nicht in Sicherheit<br />
wiegen und die Vorsorgemaßnahmen abbauen lassen.
Die wirtschaftlich kalkulierte Logistik der Krankenhäuser sichert die breite<br />
Routineversorgung; sie ist bei einem Großschadensfall jedoch schnell überfordert.<br />
Da die Versorgung im Katastrophenfall jeglicher Art von vornherein<br />
die Leistungskapazität der Krankenhäuser und z.Zt. auch des Rettungsund<br />
Sanitätsdienstes übersteigt, sind überregional präventive Maßnahmen<br />
erforderlich. Zur Sicherung der medizinischen Versorgung wäre es zweckmäßig<br />
den Krankenhausapotheken einen Anteil der erforderlichen Vorräte<br />
an Arzneimitteln und medizinischem Sachbedarf als Notfalldepots zuzuordnen.<br />
Für die Bewältigung von Großschadensfällen und Katastrophen<br />
mit einem Massenanfall von Patienten sind allgemein verwertbare Rahmenkonzepte<br />
für die gesamte medizinische Versorgung zu formulieren. Planung<br />
bedeutet Prioritäten in der Organisation für den Ernstfall zu setzen.<br />
Zur Versorgung der Krankenhäuser muß die jeweilige Apotheke eine individuelle<br />
auf die Klinik bezogene Bedarfsermittlung und Notfallbevorratung<br />
konzipieren, um eine möglichst autarke Versorgung der Patienten sowohl<br />
für die erste Zeit nach einem Schadenereignis als auch für Perioden von<br />
Versorgungengpässen sicherstellen. Alles, was nicht im voraus geplant<br />
wird, muß im Notfall durch Improvisation geregelt werden. Der jeweilige<br />
Einzelfall wird zwar immer wieder ein ordentliches Maß an Improvisation<br />
erfordern; mit einem guten Rahmenkonzept kann man diesen Anteil jedoch<br />
auf ein Minimum reduzieren.<br />
Die Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle ist ein neues Aufgabengebiet<br />
der Klinischen Pharmazie mit realen Bezügen zur Notfall- und Katastrophenmedizin.<br />
Sie kann wesentlich dazu beitragen, den medizinischen Versorgungsauftrag<br />
der Krankenhäuser im Großschadensfall sicherzustellen.<br />
Eine ausreichende Bevorratung mit Arzneimitteln für Großschadenereignisse<br />
gibt es zur Zeit nicht mehr; sie muß baldbmöglichst mit zukunftsorientierten<br />
Konzepten und unter Berücksichtigung der finanziellen Machbarkeit<br />
neu konzipiert werden. Wir benötigen ein sinnvolles Prinzip der<br />
dualen Pflichtenverteilung für den Zivil- und Katastrophenschutz mit neuen<br />
Konzeptionen einer umfassenden Notfallvorsorge. Der Bund, die Bundesländer<br />
und die Kommunen müssen gemeinsam die medizinische Bevorratung<br />
für friedenszeitliche Not- und Katastrophenfälle sowie für den Verteidigungsfall<br />
finanzieren. Dadurch würde die bislang einseitig vom Bund<br />
getragene finanzielle Belastung für die <strong>Zivilschutz</strong>bevorratung deutlich<br />
gemindert. Es ist auch wenig sinnvoll, wenn nun jedes Bundesland nun ein<br />
eigenes Modell der medzinischen Notfallbevorratungt entwickelt und<br />
umsetzt. Gemeinsame und koordinierte Beschaffungsmaßnahmen für standardisierte<br />
Vorräte an Arzneimitteln und Sanitätsmaterial können den zur<br />
Notfallvorsorge verpflichteten Institutionen auf Bundes- und Landesebene<br />
enorme Finanzmittel ersparen. Denkbar wäre hier auch eine Kooperation<br />
mit der Bundeswehr.<br />
Die Notwendigkeit Vorsorge zu treffen und Arzneimittel sowie Sanitätsmaterial<br />
vorrätig zu halten, kann nicht nur als Aufgabe den Pharmazeutischen<br />
Herstellern und Großhändlern, Apotheken und Krankenhäusern zugewiesen<br />
143
werden; sie ist nach wie vor eine staatliche Aufgabe im Rahmen des Zivilund<br />
Katastrophenschutzes.<br />
Notfallvorsorge: bedeutet Zusatzbevorratung für außergewöhnliche<br />
Ereignisse<br />
Zusatzbevorratung: kann nicht zusätzlich zum Bedarf für die Regelversorgung<br />
der Bevölkerung ad hoc produziert<br />
und beschafft werden.<br />
Forderung: wir benötigen ausreichende und rechtzeitige<br />
Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung<br />
der Bevölkerung mit Arzneimitteln in Krisensituationen<br />
Wenn wir erst in einer Krise Vorräte anlegen, dann wird es uns genauso<br />
ergehen wie dem Eichhörnchen, das zwangsläufig verhungert, wenn es<br />
erst im Winter bei tiefem Schnee Nüsse sammeln wollte.<br />
Literatur<br />
(1) Ahnefelder, F.W. – Dick, W. – Kilian, J. – Schuster, H.-P.<br />
Notfallmedizin<br />
Springer Verlag, Berlin – Heidelberg (1986)<br />
(2) VBannert, Ch. – Hehenberger, H.<br />
Herstellung von Arzneimitteln im Katastrophenfall<br />
Krankenhauspharmazie 5, 105–107 (1983)<br />
(3) Einberger, C.<br />
Die Aufgabe einer Krankenhausapotheke im Katastrophenfall<br />
Krankenhauspharmazie 7, 296–300 (1983)<br />
(4) Einberger, C.<br />
Katastrophenvorsorge – Vorsorge nicht nur für einen Unglückstag<br />
Deutsche Apotheker Zeitung 31, 1621–1622 (1988)<br />
(5) Einberger, C.<br />
Prävention für Brandkatastrophen – Katastrophenvorsorge und Pharmazie<br />
Deutsche Apotheker Zeitung 25, 1336–1338 (1987)<br />
(6) Einberger, C.<br />
Katastrophenvorsorge für Polytraumatisierte<br />
Deutsche Apotheker Zeitung 34, 1714–1715 (1987)<br />
(7) Heidemanns, H.-A. – Vollhard, H. – Engelhardt, K.P.<br />
Die Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Versorgung mit Arzneimitteln in einem Katastrophenfall<br />
Wehrmedizin und Wehrpharmazie 4, 53–63 (1984)<br />
(8) Heidemanns, H.<br />
Katastrophenfälle � Der Bedarf an Arzneimitteln, Verbandmitteln und medizinischen Hilfsmitteln<br />
Deutsche Apotheker Zeitung 8, 356–358 (1980)<br />
(9) Jansen, H.<br />
Notfalleinsatzplan im Krankenhaus<br />
Krankenhaus Umschau 3, 168–171 (1989)<br />
(10) Rossi, R.<br />
Notfallmedikamente in der Apotheke<br />
Deutsche Apotheker Zeitung 27, 1437–1442 (1989)<br />
144
(11) Schäfer, R.D. – Udelhoven, P. (Red.)<br />
Medizinische Katastrophenhilfe<br />
Band 1 Schriftenreihe der Akademie für ärztliche Fortbildung<br />
Ärztekammer Nordrhein � Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (1982)<br />
(12) Suren, E.G. – Tscherne, H.<br />
Hinweise zur Erstellung eines Katastropheneinsatzplanes für Krankenhäuser<br />
Niedersächsisches Ärzteblatt 17, 612–616 (1980)<br />
(13) Wagner, W.<br />
Katastrophenpharmazie – Aufgaben der Krankenhausapotheke<br />
Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin<br />
Kongreßband „Katastrophenmanagement im Krankenhaus, Malente 1990<br />
(14) Wagner, W.<br />
Notfall- und Katastrophenvorsorge – Aufgaben der Krankenhausapotheke<br />
Krankenhauspharmazie 4, 143–146 (1991)<br />
(15) Wagner, W.<br />
Bevorratung mit Arzneimitteln für Not- und Katastrophenfälle<br />
Notfallvorsorge und Zivile Verteidigung 3, 35–37 (1992)<br />
(16) Wagner, W.<br />
Pharmazie für Not- und Katastrophenfälle – Autarke Versorgung der Patienten sicherstellen!<br />
Krankenhaus Arzt 6, 277–283 (1994)<br />
(17) Wagner, W.<br />
Katastrophenpharmazie<br />
SEG-Magazin 4, 33 (1994)<br />
(18) Kommission „Krankenhausapotheke und Arzneimittelwesen der Deutschen Krankenhausgesellschaft<br />
Arznei- und Verbandmitelliste für Krankenhäuser als Vorhaltung für Not- und Katastrophenfälle<br />
Krankenhauspharmazie 6, 283–285 (1986)<br />
(19) VBundesverband Deutscher Krankenhausapotheker (ADKA) e.V.<br />
Binsack, G. – Einberger, C. – Heidemanns, H.A. – Rothenhäuser, K. – Strehl, E. – Wagner, W. (Redaktion)<br />
Kompendium<br />
Management der Krankenhausapotheke bei Großschadensereignissen und Katastrophen<br />
Eigenverlag<br />
(20) Deutscher Bundestag – 13. Wahlperiode<br />
Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (<strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz –<br />
ZSNeuOG)<br />
Drucksache 13/4980<br />
145
146
Empfehlungen zur Bevorratung von Medikamenten<br />
für den Katastrophenschutz mit <strong>Zivilschutz</strong><br />
B. Domres<br />
Zur Novellierung der <strong>Zivilschutz</strong>gesetzgebung (ZSNeuOG)<br />
Der Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> gehören zu den Aufgaben, die die Bundesrepublik<br />
Deutschland im Rahmen der Daseinsfürsorge für ihre Staatsangehörigen<br />
zu erfüllen hat. Bis zur Novellierung der <strong>Zivilschutz</strong>gesetzgebung<br />
in diesem Jahr war die Aufgabe des Schutzes der Zivilbevölkerung<br />
in bewaffneten Konflikten dem Bund zugeordnet, während der Katastrophenschutz<br />
historisch und nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes<br />
Sache der Länder war.<br />
Die jetzt geltenden Änderungen des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes beinhalten, daß<br />
der gesamte <strong>Zivilschutz</strong> den Ländern übertragen ist.<br />
Dabei werden den Ländern keine einheitlichen Strukturen vorgeschrieben.<br />
Der Bund kann bei Katastrophen und Konflikten, die die Ländergrenzen<br />
überschreiten, lediglich mittels der Notstandsgesetzgebung gemäß den<br />
Artikeln des § 115 GG den Landesregierungen und Landesbehörden Weisungen<br />
erteilen. Damit ist fraglich, ob der Bund noch seine Aufgaben im<br />
<strong>Zivilschutz</strong> erfüllt. Mit dem Ziel, weitere Kosten einzusparen, gibt der Bund<br />
die Bevorratung von Arzneimitteln und Sanitätsmaterial auf, die er zur Versorgung<br />
100 000 Betroffener vorhielt. Die Bevorratung wurde auch nicht an<br />
die Länder weitergegeben.<br />
Erschwerend kommt noch hinzu, daß der Bund auch die 68 teilgeschützten<br />
Hilfskrankenhäuser samt ihrer Vorräte aufgibt.<br />
Bisher unterhielt der Bund 21 voll geschützte Hilfskrankenhäuser mit<br />
15 000 Betten und 68 teil geschützte Hilfskrankenhäuser mit 25 000 Betten.<br />
Weiter vorgehalten werden also noch 15 000 Betten in geschützten Hilfskrankenhäusern,<br />
entsprechend für nur 0,02 % der Bevölkerung. Zum Vergleich<br />
bevorratet die Schweiz Betten für 1,5 % der Bevölkerung.<br />
Diese Situation der Arzneimittelversorgung bei Großschadensereignissen<br />
und Katastrophen veranlaßte die Deutsche Gesellschaft für Katastrophenmedizin<br />
zu einer Resolution.<br />
Weitere Initiativen der <strong>Schutzkommission</strong>, ihr Bericht zur Gefahrenlage<br />
1996 und auch die Initiativen verantwortungsbewußter Apotheker in der<br />
Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin bewirkten schließlich, daß<br />
das Gesetz zur Neuordnung des <strong>Zivilschutz</strong>es (ZSNeuOG) im Vermittlungsausschuß<br />
durch den § 17 geändert wurde: Gemäß diesem Paragraph<br />
darf das Bundesministerium des Innern mit Zustimmung des Bundesrates<br />
eine Bevorratung im Krisenfall anordnen.<br />
147
§ 17<br />
Sanitätsmittelbevorratung<br />
Das Bundesministerium des Innern kann durch Rechtsverordnung<br />
mit Zustimmung des Bundesrates anordnen, daß nach Maßgabe des<br />
Artikels 80a des Grundgesetzes ausreichend Sanitätsmaterial von<br />
Herstellerbetrieben, Großhandlungen sowie Öffentlichen- und Krankenhausapotheken<br />
vorgehalten wird, um den zusätzlichen Bedarf im<br />
Verteidigungsfall sicherzustellen.<br />
Der Bundesrat hat in der Sitzung am 19. 12. 1996 diese Regelung folgendermaßen<br />
begründet:<br />
„Eine ersatzlose Streichung des bisherigen § 14 des <strong>Zivilschutz</strong>gesetzes, der<br />
im Frieden eine Sanitätsbevorratung vorsieht, ist nicht vertretbar, weil die<br />
friedenszeitlichen Vorräte den vermehrten Bedarf in einem Verteidigungsfall<br />
nicht decken können. Nur zusätzlich angelegte Vorräte gewährleisten<br />
dann eine ausreichende Versorgung.<br />
Es genügt, diese Vorräte in einer Krise nach Maßgabe des Artikels 80a GG<br />
anzulegen.“<br />
Als friedensmäßige Vorratsreichweite bei Verbandstoffen wird (nach Angaben<br />
von C. Eilenberger) optimistisch ein Zeitraum von 9–12 Wochen<br />
angenommen, aufgeteilt nach folgenden Zeiträumen:<br />
– bei den Herstellern 4 Wochen<br />
– beim Pharma-Großhandel 3–4 Wochen<br />
– bei den Kliniken 2 Wochen<br />
– bei den Apotheken 2 Wochen<br />
Zur Zeit liegt die Vorratsreichweite für Medikamente bei 1–3 Monate.<br />
Offene Fragen der Medikamentenbevorratung<br />
Aus der Tatsache, daß die für notwendig erachtete Bevorratung von Medikamenten<br />
und Sanitätsmaterial erst im Krisenfall vom Bund angeordnet<br />
werden kann, ergeben sich einige zu lösende Fragen und Aufgaben:<br />
– Reicht die Zeit für die Produktion der Medikamente, wenn damit erst im<br />
Krisenfall begonnen wird? Die Industrie ist von der Zulieferung z.B. von<br />
Rohstoffen aus dem Ausland abhängig. Die Produktionskapazität ist<br />
begrenzt auf eine just in time production.<br />
– Soll das Spektrum der Bevorratung auch die Regelversorgung der Bevölkerung<br />
einschließen? Resourcen, die die Regelversorgung im Krisenfall<br />
bewältigen sollen, fallen häufig infolge zufälliger und beabsichtigter Zerstörung<br />
aus.<br />
148
– Soll die Bevorratung in erster Linie die typischen Schädigungsmuster der<br />
Krisen berücksichtigen? Mechanische, thermische, chemische Verletzungen,<br />
infektions- und strahlenbedingte Schäden?<br />
– Soll die Bevorratung zentral oder dezentral organisiert werden?<br />
– Kann im Sinne der zivilmilitärischen Zusammenarbeit die Bundeswehr<br />
die Lagerung der Vorräte in ihren Depots und Einrichtungen unterstützen?<br />
Das Subsidiaritätsprinzip darf hier nicht dazu dienen, die bewußten Versäumnisse<br />
des Bundes und der Länder zu kompensieren.<br />
– Für wieviele Menschen und für welchen Zeitraum ist die Bevorratung zu<br />
bemessen?<br />
– Aus welchem Budget sind die Vorräte zu finanzieren?<br />
Die Arbeitsgruppe „Katastrophenmedizin, Katastrophenpharmazie,<br />
Krisenmanagement, Humanitäre Hilfe“ der Deutschen Gesellschaft für<br />
Katastrophenmedizin bemüht sich, diese Fragen zu klären und Empfehlungen<br />
für die Bevorratung zu erarbeiten.<br />
Bevorratung, wesentliche Aufgabe der Preparedness Phase<br />
Katastrophen selbst und die Zeit zwischen 2 Katastrophen teilt man in verschiedene<br />
Stadien und Phasen ein. Die Bevorratung fällt als wesentliche<br />
Aufgabe in die Phase Preparedness also der Vorsorge. Allerdings beginnt<br />
die Vorsorge weit vor der Vorhersage oder der Alarmphase einer Katastrophe<br />
oder Krise. Nach heutigem Stand der Wissenschaften ist weder die<br />
Behauptung richtig, man könne Erdbeben vorhersagen, noch die gegenteilige<br />
Meinung, Erdbeben seien nicht vorhersagbar.<br />
Vor allem gelingt es noch nicht, zugleich die exakte Lokalisation des Epizentrums,<br />
das Ausmaß auf der Richterskala und den genauen Zeitpunkt zu<br />
errechnen.<br />
Als gesichert aber gilt, wie ein Seismologe es formulierte, daß „the probability<br />
of occurence of an maior earthquake depends on the magnitude of<br />
the seismic quietness before“. Für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens<br />
eines größeren Erdbebens spricht die große seismologische Ruhe vor solch<br />
einem Ereignis.<br />
149
150
SCHUTZ VOR B-WAFFEN IN DEN HÄNDEN VON<br />
TERRORISTEN<br />
– Möglichkeiten und Grenzen –<br />
T. Sohns<br />
Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />
Neuherbergstr. 11, D-80937 München<br />
Zusammenfassung: Diese Arbeit behandelt mögliche Gefahren für die<br />
Zivilbevölkerung durch biologische (B-)Kampfstoffe in den Händen von<br />
Terroristen („B-Terrorismus“) und gibt Empfehlungen für entsprechende<br />
Schutzmaßnahmen. Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen – so auch<br />
B-Terrorismus – besitzt zwar eine wesentlich geringere Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
als Terrorismus mit konventionellen Waffen, er stellt aber<br />
eine reale Gefahr dar, auf die Deutschland ungenügend vorbereitet ist. Die<br />
<strong>Folge</strong>n von B-Terrorismus können im umgekehrten Verhältnis zur Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
stehen. Es ist daher notwendig, alle Möglichkeiten zur<br />
Prävention von B-Terrorismus zu nutzen und ergänzend dazu die B-Schutzfähigkeit<br />
der zivilen Behörden und Einsatzkräfte zu verbessern.<br />
Dieses Thema fällt zwar nicht in die Zuständigkeit der Streitkräfte, jedoch<br />
sind die verantwortlichen deutschen Behörden auf die B-Schutzexpertise<br />
der Bundeswehr angewiesen, denn nur sie verfügt über hauptamtliche<br />
Experten.<br />
Zum Autor: Oberstarzt Dr. Sohns ist Sanitätsoffizier der Bundeswehr. In den<br />
letzten Jahren hat er sich sowohl mit sanitätsdienstlicher Planung und<br />
Grundsatzarbeit als auch mit Medizinischem ABC-Schutz befaßt. Zur Zeit<br />
ist er stellvertretender Kommandeur der Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />
und Leiter des Bereichs Studien und Wissenschaft. Davor war er in Stabsverwendungen<br />
im Bundesministerium der Verteidigung und beim Supreme<br />
Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) der NATO tätig.<br />
Schlüsselbegriffe: B-Kampfstoff, B-Waffen, Bakterien, Dekontamination,<br />
Epidemie, Pandemie, Quarantäne, Ressourcen, Risiko, Seuche, Terrorismus,<br />
Toxine, Viren<br />
Die in diesem Artikel dargelegten Analysen und Bewertungen geben die<br />
Meinung des Autors wieder und stellen nicht die amtliche Auffassung des<br />
Bundesministeriums der Verteidigung oder der Bundesregierung dar.<br />
1. TERRORISMUS<br />
Terrorismus ist die Anwendung oder Androhung von Gewalt mit der<br />
Absicht, eine Atmosphäre von Furcht und Beunruhigung durch Taten zu<br />
schaffen, die andere zwingen, Handlungen zu begehen, die sie unter anderen<br />
Umständen nicht ausführen würden oder beabsichtigte Handlungen zu<br />
151
unterlassen. Alle terroristischen Akte sind Verbrechen. Viele wären außerdem<br />
Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht, wenn ein Kriegsstatus existierte.<br />
Die Motive aller Terroristen sind politisch, und terroristische Akte<br />
werden generell so ausgeübt, daß größtes öffentliches Aufsehen erreicht<br />
wird. Terroristen können als Einzeltäter agieren oder in Gruppierungen<br />
organisiert sein. In Gegensatz zu anderen Kriminellen bezichtigen sich<br />
Terroristen oft ihrer Taten. Terroristische Akte zielen darauf ab, Wirkungen<br />
über den direkten materiellen Schaden hinaus zu erreichen. 1<br />
Werden in diesem Sinn biologische (B-)Kampfstoffe oder B-Waffen<br />
benutzt, so ist der Tatbestand von B-Terrorismus erfüllt.<br />
B-Waffen (synonym: B-Kampfmittel) bestehen aus B-Kampfstoff und Einsatzmittel.<br />
B-Kampfstoffe sind zu nicht-friedlichen Zwecken produzierte<br />
vermehrungsfähige Mikroorganismen und Gifte biologischen Ursprungs,<br />
die durch ihre Wirkung auf Lebensvorgänge den Tod, eine vorübergehende<br />
Handlungsunfähigkeit oder eine Dauerschädigung herbeiführen können.<br />
Für biologische Kampfstoffe können Erreger von übertragbaren und nichtübertragbaren<br />
Krankheiten und Toxine verwendet werden. 2 B-Kampfstoffe<br />
können bekannte, unbekannte natürlich vorkommende (ggf. mutierte), oder<br />
unbekannte im Labor manipulierte Erreger enthalten.<br />
B-Waffen und -Kampfstoffe sind völkerrechtlich geächtet3 und in Deutschland<br />
durch strafbewehrte Gesetze verboten. 4<br />
Motivation und Vorgehensweise einzelner Terroristengruppen tendierten in<br />
der jüngeren Vergangenheit dahin, möglichst hohe Todesopferzahlen zu<br />
erzielen. Aus US-Statistiken geht hervor, daß in den 1990er Jahren weltweit<br />
die Anzahl terroristischer Anschläge zwar abgenommen hat, die Gesamtzahl<br />
ihrer jährlichen Todesopfer aber dennoch anstieg. 5,6 Das US Department<br />
of State stellte hierzu im April 1999 fest: „Im Jahr 1998 gab es 273<br />
internationale terroristische Anschläge, ein Rückgang gegenüber den 304<br />
Anschlägen im Vorjahr und der niedrigste Jahreswert seit 1971. Die<br />
Gesamtzahl der in terroristischen Anschlägen Getöteten und Verletzten<br />
jedoch war die höchste bisher registrierte: 741 Personen starben, und 5.952<br />
Personen erlitten Verletzungen.“ 7<br />
1 Vgl. US Advisory Panel to Assess Domestic Response Capabilities for Terrorism Involving Weapons of<br />
Mass Destruction: First Annual Report to The President and The Congress, vom 15. Dezember 1999<br />
2 Vgl. T. Sohns, L. Szinicz, E.-J. Finke, M. Abend, D. van Beuningen: Gesundheitsschäden durch ABC-<br />
Kampfmittel und ähnliche Noxen, in Notfallmedizin, hrsg. von Hempelmann, Adams, Sefrin, Thieme<br />
Verlag Stuttgart, New York 1999<br />
3 Übereinkommen über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung bakteriologischer (biologischer)<br />
Waffen und Toxinwaffen sowie über die Vernichtung solcher Waffen vom 10. April 1972<br />
4 Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen (Kriegswaffenkontrollgesetz)<br />
5 Zur Vertiefung vgl. US Advisory Panel (siehe Fußnote 1), Seite 7 ff<br />
6 Vgl. auch G. Neuneck, Terrorismus und Massenvernichtungswaffen – eine neue Symbiose? in Vierteljahresschrift<br />
für Sicherheit und Frieden, Heft 4, 1997, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, Seite<br />
243<br />
7 Patterns of Global Terrorism 1998, Office of the Coordinator for Counterterrorism (Washington, D.C.: US<br />
Department of State Publication 10610, April 1999)<br />
152
Internationale terroristische Anschläge nach Regionen 1993–98 8<br />
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1993–1998<br />
Summe %<br />
Afrika 6 25 10 11 11 21 84 4,07<br />
Asien 37 24 16 11 21 49 158 7,65<br />
Eurasien 5 11 5 24 42 14 101 4,89<br />
Lateinamerika 97 58 92 84 128 110 569 27,54<br />
Mittlerer Osten 100 116 45 45 37 31 374 18,10<br />
Nordamerika 1 0 0 0 13 0 14 0,68<br />
Westeuropa 185 88 272 121 52 48 766 37,08<br />
Gesamt: 431 322 440 296 304 273 2.066 100,00<br />
Anzahl der Opfer nach Regionen 1993–98 9<br />
1993 1994 1995 1996 1997 1998 1993–1998<br />
Summe %<br />
Afrika 7 55 8 80 28 5.379 5.557 28,09<br />
Asien 135 71 5.639 1.507 344 635 8.331 42,11<br />
Eurasien 1 151 29 20 27 12 240 1,21<br />
Lateinamerika 66 329 46 18 11 194 664 3,36<br />
Mittlerer Osten 178 256 445 1 097 480 68 2.524 12,76<br />
Nordamerika 1.006 0 0 0 7 0 1.013 5,12<br />
Westeuropa 117 126 287 503 17 405 1.455 7,35<br />
Gesamt: 1.510 988 6.454 3.225 914 6.693 19.784 100,00<br />
Zu bedenken gilt auch, daß in vielen Anschlägen die kriminelle Energie auf<br />
weit schlimmere <strong>Folge</strong>n ausgerichtet war als der relativ glimpfliche Ausgang<br />
suggeriert, der in die Statistiken eingeht. So wurden z.B. durch die<br />
Autobombe in der Tiefgarage des World Trade Center in New York im<br />
Februar 1993 zwar „nur“ 6 Menschen getötet und ca. 1.000 verletzt, geplant<br />
war aber das Verderben von Zehntausenden von Menschen, 10 die sich in<br />
dem über 100 Stockwerke hohen Gebäude und in seinem Umkreis aufhielten.<br />
Setzt man diese Tendenz zu steigender Letalität mit dem Tabubruch der<br />
Aum-Shinrikyo-Sekte in Verbindung, die als erste terroristische Gruppierung<br />
B- und C-Kampfstoffe einsetzte, um große Zahlen von Menschen zu<br />
8 Quelle: Patterns of Global Terrorism 1998 (siehe Fußnote 7)<br />
9 Quelle: Patterns of Global Terrorism 1998 (siehe Fußnote 7)<br />
10 Quelle: US Advisory Panel (siehe Fußnote 1)<br />
153
töten, so wird die potentielle Gefahr durch Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen11<br />
deutlich.<br />
Zu der kriminellen Energie einzelner terroristischer Gruppierungen kommen<br />
als zusätzliche Gefahrenfaktoren die erweiterten Zugriffsmöglichkeiten<br />
auf Material und Wissen zur Herstellung und für den Einsatz von<br />
Massenvernichtungswaffen. So haben beispielsweise die deutschen Sicherheitsbehörden<br />
seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion jährlich ca.<br />
100 Fälle von illegalem Handel mit Nuklearmaterial registriert. 12 Entsprechende<br />
Vorfälle mit B-Kampfstoffen aus dem Bestand der ehemaligen<br />
Sowjetunion13 sind bisher nicht bekannt geworden, allerdings wären sie<br />
auch wesentlich schwieriger zu entdecken. Bauanleitungen und Fertigungshinweise<br />
für Massenvernichtungswaffen finden sich in der Untergrundliteratur<br />
ebenso wie in öffentlichen Bibliotheken und sind nicht zuletzt im<br />
Internet frei verfügbar. 14 Ein weiterer Gefahrenfaktor entsteht aus der Tatsache,<br />
daß Dual-Use-Technologien die Herstellung und den Einsatz von<br />
B- und C-Kampfstoffen erleichtern. Stetige Verbesserungen in der Biotechnologie<br />
begünstigen die Produktion biologischer Kampfstoffe in kleineren<br />
Anlagen und erhöhen das Risiko der heimlichen Produktion.<br />
2. B-TERRORISMUSRISIKEN<br />
2.1 Risikoabschätzung<br />
Risiken haben eine qualitative und eine quantitative Komponente. Dies<br />
bedeutet in Bezug auf B-Terrorismusrisiken:<br />
– Qualität: Feststellung, welche Terroristen Zugang zu welchen B-Kampfmitteln<br />
haben oder erlangen können.<br />
– Quantität: Intensität eines Risikos als wesentlicher Faktor der Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
eines Anschlags.<br />
Ein B-Terrorismusrisiko besteht, wenn Terroristen über B-Kampfstoffe verfügen<br />
oder in ihren Besitz gelangen können. Die Intensität dieses Risikos ist<br />
von Faktoren abhängig wie z.B. Präzedenzfällen, in denen Terroristen<br />
11 Waffe oder Einrichtung, die dazu bestimmt oder in der Lage ist, durch Freisetzung, Verbreitung oder<br />
Einwirkung von ionisierender Strahlung, Radionukliden, Krankheitserregern, Giften biologischen<br />
Ursprungs, Chemikalien oder ihrer Vorläufer viele Menschen zu töten oder gesundheitlich schwer zu<br />
schädigen.<br />
(modifiziert nach Nunn-Lugar-Domenici Act, USA, 1996)<br />
12 Vgl. T. Sohns, Die Proliferation von Massenvernichtungswaffen: Herausforderungen für Entscheidungsträger,<br />
Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Heft 3, 1999, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-<br />
Baden, Seite 181, „Radiologische Waffen“<br />
13 Nach Angaben von K. Alibek (siehe Fußnote 47): 20 t Pockenviren, 200 t Milzbrandsporen und 200 t<br />
Pesterreger; der Verbleib dieser Bestände ist nicht bekannt<br />
14 Einen Eindruck über die Subkultur destruktiver und krimineller Literatur vermittelt der Artikel von<br />
J. Heepe, ABC-Waffen in Terroristenhand - technische Gefahren, Vierteljahresschrift für Sicherheit und<br />
Frieden, Heft 4, 1997, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden<br />
154
ereits Massenvernichtungswaffen eingesetzt haben, dem Schwierigkeitsgrad<br />
bei der Beschaffung von B-Kampfstoffen, dem Ausmaß unserer Vulnerabilität<br />
und dem potentiellen Nutzen eines solchen Anschlags für die<br />
Terroristen.<br />
Das Risiko wird zur Bedrohung, wenn die Terroristen konkrete Angriffsabsichten<br />
haben. Solche Absichten können sich aus welt- und gesellschaftspolitischen<br />
Konstellationen oder auch aus der persönlichen Situation eines<br />
einzelnen Fanatikers ergeben – Faktoren, auf die im Rahmen dieses Artikels<br />
nicht eingegangen werden kann.<br />
Staaten und Terroristen verursachen, wenn sie B-Waffen besitzen, unterschiedliche<br />
Risiken, denn ihre Interessen und Motive sind verschieden. 15<br />
– Staaten, die sich unter Inkaufnahme aller damit verbundenen Nachteile<br />
dem B-Waffenübereinkommen 16 verweigern, können aus dem Besitz von<br />
B-Waffen eher politischen als militärischen Nutzen ziehen, d.h. solange<br />
sie sie nicht einsetzen nutzen sie ihnen am meisten. Unter diesen Umständen<br />
könnten sie es sogar als nützlich ansehen, wenn übertriebene Nachrichten<br />
über ein von ihnen durchgeführtes geheimes B-Waffenprogramm<br />
in Umlauf sind. Solche Staaten könnten den Besitz von B-Waffen zur<br />
Machtprojektion und zur Abschreckung eines konventionell überlegenen<br />
oder nuklear bewaffneten Gegners anstreben. Ein diktatorisches Regime<br />
könnte versuchen, sein Überleben zu sichern, indem es B-Waffen als<br />
letzte Zuflucht für den Fall vorhält, daß seine Führerschaft bedroht ist.<br />
– Das von B-Waffen in den Händen von Terroristen ausgehende Risiko ist<br />
wesentlich höher, denn sie müssen ihre Fähigkeiten viel unmittelbarer<br />
und dramatischer in Szene setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Gerüchte<br />
über den Besitz von B-Waffen reichen Terroristen nicht aus, um sich eine<br />
Regierung gefügig zu machen. Zum Beweis ihrer Fähigkeiten müßten sie<br />
entweder eine Probe ihres Kampfstoffs hinterlegen oder ihn tatsächlich<br />
einsetzen. Terroristen, die aus ihrer Sicht noch Rechnungen mit Regierungen,<br />
Behörden oder Einrichtungen zu begleichen haben, könnten ihre<br />
B-Waffen als Instrument der Vergeltung benutzen.<br />
Ein wesentlicher Faktor für die Risikoeinschätzung ist die Feststellung, ob<br />
es Einzelpersonen und Gruppierungen mit terroristischen Absichten bisher<br />
jemals gelungen ist, in den Besitz von Erregern zu gelangen, die zur Herstellung<br />
von B-Kampfstoffen geeignet sind. Wenn sie sogar in den Besitz<br />
eines wirksamen Kampfstoffs gelangt sind, ist dies als Intensitätssteigerung<br />
des Risikos zu bewerten. Eine weitere, höhere Risikostufe liegt vor, wenn<br />
sie auch die kriminelle Energie zum Einsatz des Kampfstoffs aufgebracht<br />
15 Vgl. G. S. Pearson, M. I. Chevrier, An Effective Prohibition of Biological Weapons, in J. Lederberg<br />
(Editor), Biological Weapons: Limiting the Threat, Belfer Center for Science and International Affairs,<br />
J. F. Kennedy School of Government, Harvard University, Cambridge, Massachusetts 02138, 1999<br />
16 siehe Fußnote 3<br />
155
haben. Leider hat es bereits auf jedem dieser Risikoniveaus Vorfälle von B-<br />
Terrorismus gegeben, wie folgende Beispiele zeigen:<br />
– Anfang der achtziger Jahre wurde in Paris in einer von der Rote-Armee-<br />
Fraktion (RAF) benutzten Wohnung ein „Heimlabor“ entdeckt, in dem<br />
Clostridium botulinum kultiviert wurde. 17,18 Das aus solchen Kulturen<br />
gewinnbare Botulinumtoxin ist die giftigste bekannte Substanz überhaupt.<br />
19<br />
– In The Dalles, einer Kleinstadt im Nordwesten von Oregon in den USA<br />
kontaminierte die Rajneeshi-Sekte im September 1994 in örtlichen<br />
Restaurants Lebensmittel mit Salmonellen. Insgesamt erkrankten 751<br />
Menschen – fast zehn Prozent der Stadtbevölkerung. Der Grund für den<br />
Ausbruch dieser Krankheit wurde erst nach einem Jahr durch die Aussagen<br />
eines abtrünnigen Sektenmitglieds bekannt. Es gab an, die<br />
Rajneeshi hätten herausfinden wollen, ob sie die Menschen durch die<br />
Verbreitung einer Krankheit davon abhalten könnten, bei den Kommunalwahlen<br />
im November 1994 gegen die Interessen der Sekte zu<br />
stimmen. 20<br />
– 1993 wurde ein US-Extremist bei dem Versuch gefaßt, 130 g Rizin21 über<br />
die Grenze von Alaska nach Kanada zu schmuggeln. Das Toxin sollte als<br />
B-Kampfstoff eingesetzt werden. 22,23 Rizin ist leicht herzustellen, und<br />
die zur Rizin-Produktion erforderlichen Materialien und Kenntnisse sind<br />
frei zugänglich. In den 18 Monaten bis April 1997 hat das NAMRI24 in<br />
den USA sechsmal Rizin in Material nachgewiesen, das von der Polizei<br />
beschlagnahmt worden war. 25<br />
– Daß es sogar möglich sein kann, hochpathogene Krankheitserreger per<br />
Post zu beziehen, beweist ein weiterer Vorfall in den USA. Dort hat 1995<br />
ein wegen extremistischer Aktivitäten aus der US Environmental Protection<br />
Agency entlassener Angestellter unter Nutzung seiner ehemaligen<br />
Identifikationsnummer bei der American Type Culture Collection gefriergetrocknete<br />
Pestbakterien bestellt und auch erhalten. In seiner Wohnung<br />
wurden neben drei Röhrchen mit lyophilisierten Yersinia pestis-Stämmen<br />
auch Handgranatenzünder und diverse Sprengsatzteile beschlagnahmt. 26<br />
17 West German Terrorists Said to Test Bacteria, International Herald Tribune, 8./9. November 1980,<br />
Seite 2<br />
18 R. Purver (Canadian Security Intelligence Service), Chemical and Biological Terrorism: The Threat<br />
According to the Open Literature, als Manuskript gedruckt, Juni 1995<br />
19 1 g Botulinumtoxin ist theoretisch ausreichend, um über 10 Millionen Menschen zu töten<br />
20 T. J. Török et al, A Large Community Outbreak of Salmonellosis Caused by Intentional Contamination<br />
of Restaurant Salad Bars, in: JAMA; 6.8.1997, Bd. 278, Nr. 5, S. 389-395<br />
21 1 g des Toxins Rizin reicht theoretisch aus, um über 1.000 Menschen zu töten<br />
22 J. Kifner, Man is Arrested in a Case Involving Deadly Poison, in: The New York Times, 23.12.1995<br />
23 J. Stephenson, Confronting a Biological Armageddon: Experts Tackle Prospect of Bioterrorism, in:<br />
JAMA, 5/1996 v. 7.8.1996, S. 349-351<br />
24 Naval Medical Research Institute, Bethesda, USA<br />
25 Nach Angaben eines Vertreters des NAMRI am 29.4.1997<br />
26 Health Letter des CDC (Centers for Disease Control), Atlanta, 29.5/5.6.1995, S. 5<br />
156
– Die Aum-Shinrikyo-Sekte hat nicht nur bei den Terroranschlägen in Matsumoto<br />
1994 und Tokio 1995 den C-Kampfstoff Sarin eingesetzt. 27 Sie<br />
hat auch Anthraxsporen28 und Botulinumtoxin ausgebracht, allerdings<br />
ohne daß entsprechende Erkrankungsfälle bekannt geworden (erkannt<br />
worden?) sind. Carus berichtet hierzu in seiner umfassenden Literaturauswertung<br />
über Bioverbrechen und B-Terroranschläge, 29 daß Aum-<br />
Shinrikyo<br />
+ im April 1990 von Fahrzeugen aus Botulinumtoxin gegen das japanische<br />
Parlament in Tokio, die Stadt Yokohama, den US Marinestützpunkt<br />
Yokosuka und den internationalen Flughafen Narita einsetzte,<br />
+ Anfang Juni 1993 von einem Fahrzeug aus in der Innenstadt von Tokio<br />
Botulinumtoxin versprühte, um die geplante Hochzeit des japanischen<br />
Kronprinzen Haruhito abzubrechen,<br />
+ Ende Juni 1993 versuchte, vom Dach eines Aum-eigenen Gebäudes<br />
aus mit einem Sprühgerät Anthraxsporen über Tokio zu verbreiten,<br />
+ im Juli 1993 von einem umgebauten Lastkraftwagen Anthraxsporen<br />
abblies, um das Gebiet um das japanische Parlament im Zentrum von<br />
Tokio zu verseuchen,<br />
+ später im Juli 1993 nochmals von einem umgebauten Lastkraftwagen<br />
aus Anthraxsporen versprühte - diesmal war der Angriff gegen den<br />
Kaiserpalast in Tokio gerichtet,<br />
+ am 15. März 1995 drei zur Freisetzung von Botulinumtoxin präparierte<br />
Aktenkoffer in der Tokioter U-Bahn aufstellte. Scheinbar habe der<br />
Verantwortliche jedoch Skrupel bekommen und das Gift durch eine<br />
ungiftige Substanz ersetzt. Der Fehlschlag dieses Angriffs habe zu der<br />
Entscheidung geführt, daß Aum-Shinrikyo am 20. März 1995 den chemischen<br />
Kampfstoff Sarin in der Tokioter U-Bahn einsetzte.<br />
Diese Vorfälle bedeuten eine neue Dimension des Terrorismus. Jeder Vorfall<br />
überrascht durch seine individuelle Kombination von krimineller Energie,<br />
Ideenreichtum, Abwegigkeit und Unvorhersagbarkeit. Verbrechen dieser<br />
Art sind mit einer großen Vielfalt von Motiven und Szenarien an jedem Ort<br />
der Welt möglich, auch in Deutschland. Als Täter kommt die gesamte<br />
Spannweite vom isolierten Fanatiker bis zur staatlich unterstützten oder<br />
gelenkten Gruppierung in Frage.<br />
27 In Matsumoto wurden 7 Menschen getötet; in Tokio wurden 12 Menschen getötet und 5.500 wurden in<br />
Krankenhäusern registriert<br />
28 Erreger des Milzbrands, das Einatmen der Sporen führt zum tödlichen Lungenmilzbrand; die Sporen sind<br />
sehr umweltresistent und können jahrzehntelang infektionsfähig überleben<br />
29 W. S. Carus, „Bioterrorism and Biocrimes - The Illicit Use of Biological Agents in the 20th Century“,<br />
Center for Counterproliferation Research, National Defense University, August 1998 (March 1999 revision)<br />
157
Eine ausgeprägte Risikoperzeption und ein entsprechendes Programm zum<br />
Schutz der Zivilbevölkerung gegen B-Terrorismus gibt es in den USA. Die<br />
US-Regierung hat Spezialeinheiten der Army und des Marine Corps zur<br />
Hilfeleistung bei ABC-Terrorismus aufgestellt (insgesamt etwa 500 Personen).<br />
Für die Olympischen Spiele 1996 wurden mehrere hundert<br />
Angehörige dieser Spezialeinheiten für den Fall eines Terroranschlags um<br />
Atlanta zusammengezogen. 30 Ein systematisches Ausbildungsprogramm<br />
der US-Streitkräfte für zivile Entscheidungsträger und Einsatzkräfte (Polizei,<br />
Feuerwehr etc.) von 120 US-Großstädten wurde etabliert. 31 Verteidigungsministerium<br />
und Public Health Service haben 262 Millionen US-<br />
Dollar für ein fünfjähriges Bereitschaftsprogramm für innere Sicherheit<br />
erhalten. Die Marine Corps Chemical/Biological Incident Response Force<br />
(CBIRF) wurde der Öffentlichkeit am 30. April 1997 mit einer Übung auf<br />
dem Capitol Hill in Washington vorgestellt. 32<br />
2.2 Besonderheiten von B-Kampfstoffeinsätzen<br />
Mit B-Kampfstoffen können sehr weiträumige Angriffe durchgeführt werden.<br />
Vor einigen Jahrzehnten zeigten Ausbreitungsexperimente mit Mikroorganismen,<br />
daß es bei entsprechender Windlage ohne weiteres möglich ist,<br />
von einem Flugzeug aus ein Gebiet von 100.000 km2 zu verseuchen.<br />
Ein B-Angriff kann verdeckt durchgeführt werden, denn B-Kampfstoffe<br />
sind unsichtbar, geruchs- und geschmacklos. Auch eine Mischung mehrerer<br />
B-Kampfstoffe oder die Kombination mit Radionukliden und C-Kampfstoffen<br />
zu Verschleierungszwecken ist nicht auszuschließen. Aus UNS-<br />
COM33-Kreisen verlautete zum Beispiel, daß Hinweise auf irakische C-<br />
Waffen gefunden wurden, denen B-Kampfstoffe beigemischt waren oder<br />
werden sollten.<br />
Ebenfalls heimtückisch und für den verdeckten Einsatz besonders nutzbar<br />
sind die Mimikry-Eigenschaften von B-Kampfstoffen. Hiermit ist das<br />
Nachahmen natürlich vorkommender Krankheiten gemeint. Ein verdeckter<br />
B-Kampfstoffeinsatz kann erst dann als bewiesen gelten, wenn bei ungewöhnlichen<br />
Erkrankungs- und Todesfällen eine natürliche Ursache ausgeschlossen<br />
werden konnte.<br />
Einige B-Kampfstoffe können Seuchen auslösen. Kein anderes Kampfmittel<br />
kann sich nach seinem Einsatz noch selbst vermehren. Tiere und deren<br />
Ektoparasiten können zum Reservoir bzw. Überträger für die Krankheitserreger<br />
werden und die Erhaltung, Ausbreitung oder Neubildung von<br />
Seuchenherden verursachen.<br />
30 J. Stephenson (Fußnote 23)<br />
31 Jane’s Defense Weekly, 23. April 1997, S. 6; aktualisiert durch die persönliche Mitteilung eines Vertreters<br />
des US HQDA (DASG-HDC), Oktober 1998<br />
32 US Marine Corps, A Certain Force for an Uncertain World, http://www.usmc.mil/ vom 7. Mai 1997<br />
33 United Nations Special Commission<br />
158
2.3 Zugangsmöglichkeiten zu B-Kampfstoffen<br />
Als B-Kampfstoffe eignen sich bösartige und umweltresistente Stämme<br />
gefährlicher Krankheitserreger (Bakterien und Viren). Die meisten von<br />
ihnen kommen unter natürlichen Bedingungen in tierischen Reservoiren<br />
vor.<br />
Auch gefährliche, umweltstabile Gifte biologischen Ursprungs – Toxine –<br />
kommen in Frage: z. B. Botulinumtoxin, das etwa 15.000fach toxischer als<br />
der giftigste chemische Kampfstoff, VX, und 100.000mal giftiger als das<br />
von der Aum-Sekte 1994/95 eingesetzte Sarin ist. 34<br />
Nachfolgende Zusammenstellung 35 zeigt eine Auswahl von Erregern und<br />
Toxinen, die von verschiedenen Nationen für die Herstellung von B-Kampfstoffen<br />
benutzt wurden („Das dreckige Dutzend“) und grundsätzlich auch<br />
für terroristische Aktionen in Frage kommen.<br />
Bakterien Viren Toxine<br />
Bazillus anthracis (Sporen) Variolavirus Clostridium botulinum Toxine<br />
Lungenmilzbrand Pocken Botulismus<br />
Yersinia pestis Venezuelan Equine Rizin<br />
Lungenpest Encephalitis Virus, VEE<br />
Venezolanische equine<br />
Enzephalitis<br />
Rizin-Intoxikation<br />
Francisella tularensis Marburgvirus Staphylokokken-Enterotoxin<br />
Tularämie<br />
Brucella suis, B. melitensis<br />
Brucellosen<br />
Coxiella burnetii<br />
Q-Fieber<br />
Burkholderia mallei /<br />
pseudomallei<br />
Rotz / Melioidose<br />
Marburg-Fieber B (SEB)<br />
SEB-Intoxikation<br />
Die Bevorzugung dieser Krankheitserreger und Toxine für militärische<br />
Zwecke – zu denen sie besonders wirksam als Aerosol 36 eingesetzt würden<br />
– bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß sie auch die erste Wahl für Terroristen<br />
sein müssen. Angst, Schrecken, Verunsicherung, Krankheit und Tod<br />
könnten Terroristen auch mit weniger gefährlichen Einsatzformen und<br />
34 Medical Management of Biological Casualties, Handbook, US Army Medical Research Institute of Infectious<br />
Diseases, Fort Detrick, Maryland, März 1996<br />
35 Quelle: siehe T. Sohns et al. (Fußnote 2), aktualisiert<br />
36 Beim Einatmen des Aerosols werden die Lungen der Opfer mit massiven Keimzahlen belastet. Die<br />
Erkrankung verläuft dadurch sehr heftig und entsprechend der Eintrittspforte als „Lungenform“, die normalerweise<br />
nicht oder nur selten auftritt (z.B. Milzbrand tritt beim Menschen in der Regel als Haut- oder<br />
Darmmilzbrand auf).<br />
159
Agenzien verbreiten, zum Beispiel durch Kontamination von Trinkwasser<br />
und Lebensmitteln mit Salmonellen (Erreger von Salmonellosen, Typhus<br />
und Paratyphus), Shigellen (Ruhrerreger) oder Vibrionen (Choleraerreger).<br />
Auch Agenzien, die für den Menschen ungefährlich sind, jedoch Tiere und<br />
Pflanzen töten oder schädigen, kommen für B-Terrorismus in Betracht. Der<br />
Einsatz solcher B-Kampfstoffe gegen Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie<br />
kann verheerende wirtschaftliche <strong>Folge</strong>n haben und daher ebenfalls<br />
für Terroristen interessant sein.<br />
Die bekannten in Frage kommenden Erreger und Toxine sind in der Ausfuhrliste<br />
zur Außenwirtschaftsverordnung sowie in der Kriegswaffenliste37 aufgeführt.<br />
Eine wesentliche Rolle für die Bewertung des B-Terrorismusrisikos spielt<br />
die Abschätzung der Möglichkeiten potentieller Täter, in den Besitz geeigneter<br />
Erreger und Toxine zu gelangen. Unter Voraussetzung der erforderlichen<br />
Sachkenntnis und Ausstattung ist dies vor allem auf folgenden<br />
Wegen möglich:<br />
– Gewinnung aus einem natürlichen Reservoir oder von erkrankten Menschen,<br />
– Ankauf aus einer mikrobiologischen Stammsammlung,<br />
– Beschaffung aus einem mikrobiologischen <strong>Forschung</strong>s- oder Diagnostiklabor<br />
bzw. einem Krankenhaus,<br />
– Erwerb von einem korrupten Mitarbeiter aus dem B-Waffenrüstungsprogramm<br />
eines Risikostaats,<br />
– Ausrüstung von Terroristen durch einen staatlichen Sponsor.<br />
Nicht auszuschließen ist auch die Möglichkeit, daß virulente Erregerstämme<br />
oder fertige B-Kampfstoffe aus Rüstungsprogrammen instabiler<br />
oder zerfallener Staaten, die B-Waffenentwicklung betreiben oder betrieben<br />
haben, in die Hände von Terroristen gelangen.<br />
Sofern Terroristen nicht Zugriff auf Erreger oder B-Kampfstoffe aus staatlichen<br />
B-Waffenprogrammen haben, müßten sie eine ganze Reihe schwieriger<br />
wissenschaftlicher und technischer Probleme lösen. Vergleichsweise<br />
einfach ist noch der Erwerb der Kenntnisse, Grundstoffe und Ausstattung<br />
zur Herstellung von Rizin. Schwieriger ist die Beschaffung geeigneter<br />
Krankheitserreger. Mit Ausnahme des Pockenerregers kommen sie zwar in<br />
der Natur vor, d. h. in tierischen Reservoiren oder im Boden (z. B. Milzbrandsporen),<br />
dennoch bliebe es aber schwierig, in den Besitz eines besonders<br />
bösartigen und umweltresistenten Stammes für die Kampfstoffproduktion<br />
zu gelangen.<br />
37 Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen vom 22.11.1990,<br />
Bundesgesetzblatt Teil I, Seite 2506–2519<br />
160
Am schwierigsten ist die Beschaffung der oben genannten Viren und die<br />
Produktion von B-Kampfstoffen auf ihrer Basis. Nur sehr wenige hochqualifizierte<br />
Experten sind imstande, solche Substanzen herzustellen. Doch<br />
auch für die Herstellung von bakteriellen B-Kampfstoffen und Toxinen gibt<br />
es Hürden, die nicht einfach zu nehmen sind. So müßten die Terroristen<br />
geeignete natürliche Reservoire finden oder sich illegal eine andere Bezugsquelle<br />
erschließen. Im letzteren Fall benötigten sie neben entsprechendem<br />
Fachwissen entweder selbst Zugang zur Quelle oder Unterstützung durch<br />
kriminelle Verkäufer, Sympathisanten oder staatliche Sponsoren, die<br />
Zugriff auf eine Stammsammlung haben.<br />
Hätten die Täter all diese Hürden bei der Beschaffung eines geeigneten<br />
Erregers überwunden und die technischen Probleme seiner Massenproduktion<br />
gelöst, so müßten sie entscheiden, ob sie ihn direkt aus dem Fermenter<br />
heraus, also in flüssiger Form verwenden wollen. In diesem Fall müßten sie<br />
eine aus militärischer Sicht geringere, aber für terroristische Zwecke ggf.<br />
durchaus hinreichende Effizienz akzeptieren.<br />
Die Alternative wäre der Versuch, den Kampfstoff zu optimieren, d.h. den<br />
Erreger zu trocknen und zu inhalierbarem Staub zu verarbeiten. Dazu müssen<br />
die Mikroorganismen mit einer Schutzschicht versehen werden, damit<br />
sie – ohne abzusterben – in der Luft schwebend weiträumig vom Wind verbreitet<br />
werden können. Glücklicherweise verlangt das Herstellungsverfahren<br />
hochentwickelte biotechnische und aerobiologische Fähigkeiten, denn<br />
allzu leicht können die Erreger bei der Verarbeitung inaktiviert werden oder<br />
als Aerosol eine mangelhafte Stabilität aufweisen. Bisher sind keine Fälle<br />
bekannt geworden, in denen Terroristen diese Optimierungsstufe erreicht<br />
haben. Andererseits kann ihnen in Abhängigkeit vom Genius nur eines einzelnen<br />
Wissenschaftlers oder Technikers allen Schwierigkeiten zum Trotz<br />
dennoch der Durchbruch gelingen.<br />
2.4 Einsatzmittel für B-Kampfstoffe<br />
Einsatzmittel geben ebenso wie Know-how und logistische Fähigkeiten<br />
potentieller Täter Hinweise für die Risikobewertung. Luftfahrzeuge, insbesondere<br />
Agrarflugzeuge mit Sprühvorrichtungen, Drohnen, Land- und Wasserfahrzeuge,<br />
aber auch einfache Pflanzensprühgeräte und Trinkwasserversorgungssysteme<br />
können von Terroristen zur Verbreitung von B-Kampfstoffen<br />
benutzt werden. Zum Beispiel könnte man Aerosolgeneratoren unter<br />
der Plane eines Pkw-Anhängers verstecken und auf diese Weise an fast<br />
jeden Ort bringen. Niemand würde bemerken, wenn z. B. Milzbrandsporen<br />
in die Ansaugrohre der Klimaanlage eines Einkaufszentrums oder Bürogebäudes<br />
geblasen würden. In der darauffolgenden Nacht würden hunderte<br />
oder tausende Menschen in weitem Umkreis eine schnell voranschreitende,<br />
ungewöhnliche Krankheit aufweisen und binnen Tagen unter den Zeichen<br />
von blutigem Husten, akutem Atem- und Herzversagen versterben. Die<br />
behandelnden Ärzte hätten keine Chance, die gemeinsame Ursache der<br />
161
Erkrankungen rasch genug zu erkennen, um die erforderliche, vielleicht<br />
noch lebensrettende Therapie einzuleiten. Auch die Alarmierung der<br />
Gesundheits- und Sicherheitsbehörden käme nicht zeitgerecht. Die Täter<br />
könnten zu diesem Zeitpunkt längst außer Landes sein. Problematisch wäre<br />
auch eine Trinkwasserverseuchung oder -vergiftung etwa durch Staphylokokken-Enterotoxin<br />
B, das hitzestabil ist und auch durch Abkochen nicht<br />
inaktiviert werden kann.<br />
2.5 Potentielle Täter und Motive<br />
Aus welchen Motiven könnten Terroristen versuchen, sich mit biologischen<br />
Kampfmitteln zu bewaffnen? 38 Aus der bisher bekannt gewordenen geringen<br />
Fallzahl lassen sich allgemeingültige Aussagen oder Prognosen nur<br />
eingeschränkt herleiten.<br />
Zu unterscheiden ist zwischen isoliert agierenden Einzeltätern, Gruppen<br />
und Sekten sowie staatlich unterstützten und gelenkten Terroristen. Daß<br />
Einzeltäter und Gruppierungen auch ohne staatliche Sponsoren imstande<br />
sind, in den Besitz von B-Kampfstoffen zu gelangen oder sie zu produzieren,<br />
ist durch Ereignisse in Japan und den USA belegt. 39,40,41 Diese Terroristen<br />
können primär aus folgenden Motiven nach B-Waffen streben: 42<br />
– die Fähigkeit zum Töten möglichst vieler Menschen erlangen, um „die<br />
Feinde zu vernichten,“<br />
– Angst und Schrecken erzeugen, um ein Regierungssystem zu untergraben,<br />
– eine Position erringen, von der aus mit unerreichbarer Stärke verhandelt<br />
werden kann,<br />
– große soziale und wirtschaftliche Wirkung erzielen.<br />
Am ehesten besteht bei fundamentalistischen Gruppierungen, religiösen<br />
Weltuntergangs-Sekten und Gruppen, die von extremen Einzelzielen besessen<br />
sind, die Gefahr, daß sie versuchen, in den Besitz von B-Waffen zu<br />
gelangen. 43<br />
Weitere Gruppierungen, die Zugang zu B-Waffen bekommen könnten, sind<br />
staatlich unterstützte oder gelenkte Terroristen. Aus der offenen Literatur<br />
38 Zu der Frage, warum B-Waffen im Arsenal von Terroristen bisher nur eine geringe Rolle spielen, vgl. R.<br />
Purver, Understanding Past Non-Use of Chemical and Biological Warfare Agents by Terrorists, Vortrag<br />
während der Tagung zum Thema „ChemBio Terrorism: Wave of the Future?“, die vom Chemical and Biological<br />
Arms Control Institute in Washington, D.C., am 29. April 1996 veranstaltet wurde<br />
39 Vgl. W. S. Carus (Fußnote 29)<br />
40 J. P. O’Neill (FBI), Statement, Hearing on Terrorist Use of Nuclear/Biological/Chemical Agents, Permanent<br />
Subcommittee on Investigations, United States Senate, 1. November 1995<br />
41 Vgl. T. J. Török et al. (Fußnote 20)<br />
42 siehe US Advisory Panel (Fußnote 1), Seite 9 ff<br />
43 siehe US Advisory Panel (Fußnote 1), Seite 9 ff<br />
162
ist bekannt, daß etwa ein Dutzend Länder mikrobiologische <strong>Forschung</strong>sund<br />
Entwicklungsaktivitäten betreiben, die nicht in Einklang mit dem B-<br />
Waffenübereinkommen 44 stehen. Aus ihren Arsenalen könnten Terroristen<br />
B-Waffen erhalten.<br />
Proliferationsrisiken: Vermutete B-Waffenprogramme 45<br />
Länder Carus Harris Guardian McGeorge FIS ACDA Gesamt %<br />
(policy (USG (London) Def & FA 1993 1993<br />
paper) Officials)<br />
Libyen + + + + + 5 83<br />
Nordkorea + + + + + 5 83<br />
Irak + + + + + 5 83<br />
Taiwan + + + + 4 67<br />
Syrien + + + + 4 67<br />
Sowjetunion 46,47 + + + + 4 67<br />
Israel + + + + 4 67<br />
Iran + + + + 4 67<br />
China + + + + 4 67<br />
Ägypten + + + 3 50<br />
Vietnam + 1 17<br />
Laos + 1 17<br />
Kuba + 1 17<br />
Bulgarien + 1 17<br />
Indien + 1 17<br />
Zum Teil ist auch bekannt, an welchen Erregern und Toxinen in „Risikostaaten“<br />
gearbeitet wird. Einige dieser Staaten stehen zusätzlich in Verdacht,<br />
den internationalen Terrorismus zu unterstützen. Aus der Staatsangehörigkeit<br />
von Terroristen können sich daher Anhaltspunkte ergeben, zu<br />
welchen B-Kampfstoffen sie Zugang haben könnten. Andererseits würden<br />
diese Staaten aber natürlich sogleich in Verdacht geraten, wenn in einem<br />
terroristischen Anschlag ein B-Kampfstoff angewandt würde, der in ihrem<br />
Arsenal vermutet wird. Dies wäre für sie mit einem erheblichen politischen,<br />
wirtschaftlichen und militärischen Risiko verbunden. Daher dürfte die<br />
44 siehe Fußnote 3<br />
45 Zusammenstellung durch das Office of Technology Assessment (OTA) aus verschiedenen Quellen; In: US<br />
Congress, Office of Technology Assessment, Proliferation of Weapons of Mass Destruction: Assessing of<br />
Risks, OTA-ISC-559 (Washington, DC: US Government Printing Office, August 1993)<br />
46 Vgl. R. Preston, The Bioweaponeers, in: The New Yorker, 02.03.98; http://jya.com/bioweap.htm<br />
47 Vgl. Ken Alibek mit Stephen Handelman, Direktorium 15 - Rußlands Geheimpläne für den biologischen<br />
Krieg, Econ Verlag München-Düsseldorf GmbH 1999 (engl. Originaltitel: Biohazard: The Chilling True<br />
Story of the Largest Covert Biological Weapons Program in the World - Told From Inside by the Man<br />
Who Ran It, Random House Inc., New York, May 1999)<br />
163
Hemmschwelle für eine Ausstattung von Terroristen mit B-Kampfstoffen<br />
allgemein relativ hoch sein.<br />
2.6 Nachahmer und Irreführer<br />
Nicht nur „echte“ B-Terroristen können die Öffentlichkeit in Angst und<br />
Schrecken versetzen. Auch andere Personen können allein mit der Drohung,<br />
biologische Kampfstoffe anzuwenden, eine folgenschwere Verunsicherung<br />
auslösen. Die zuständigen Behörden müssen darauf vorbereitet<br />
sein, in solchen Fällen so schnell wie möglich einen echten B-Terroranschlag<br />
auszuschließen. Dennoch darf es bis zum Zeitpunkt der Identifikation<br />
eines Falles als Irreführung kein „Sicherheitsleck“ geben. Hierzu<br />
bedarf es entsprechender Ausbildung und Ausrüstung, fertiger Einsatzpläne<br />
und der Unterstützung durch exzellente mikrobiologische Laborfähigkeiten.<br />
In den Vereinigten Staaten führt das FBI ständig etwa 50 bis 60 Untersuchungen<br />
in Verbindung mit B-Terrorismus durch. 48 Bei der weit<br />
überwiegenden Zahl der Vorfälle handelt es sich um Nachahmungs- und<br />
Irreführungsdelikte.<br />
Einen Eindruck von den möglichen Auswirkungen eines vorgetäuschten B-<br />
Terroranschlags in einer Großstadt vermittelte ein Vorfall, der am Donnerstag,<br />
dem 25. April 1997, in Washington, D.C., nur wenige hundert Meter<br />
vom Weißen Haus entfernt stattfand. In einem Gebäude der jüdischen<br />
B’nai-B’rith-Organisation traf gegen 11.00 Uhr vormittags ein Brief ein,<br />
aus dem eine rote Flüssigkeit herausrann. Er enthielt eine Petrischale und<br />
eine Mitteilung mit den Worten „Amthrax“ (richtige Schreibweise: Anthrax;<br />
Milzbrand) und einigen Angaben zufolge auch „Yersinia“ (Y. pestis ist der<br />
Erreger der Pest). Die beiden Männer, die den Brief geöffnet hatten, klagten<br />
kurz nach Alarmierung der Polizei über Kopfschmerzen und Kurzatmigkeit.<br />
Das Gebäude mit über 100 Beschäftigten wurde daraufhin unter<br />
Quarantäne gestellt, und die Umgebung – d. h. ein Teil des Zentrums von<br />
Washington – wurde abgesperrt. Vor ihrem Transport in Krankenhäuser<br />
wurden die Opfer dekontaminiert. Dies mußte unter freiem Himmel und<br />
zum Teil bei strömendem Regen improvisiert werden. Es mußte Vorsorge<br />
getroffen werden, daß keine Erreger in die Kanalisation und auf dort lebende<br />
Nager verschleppt würden. Erst gegen 21.00 Uhr wurde von den Behörden<br />
vorläufige Entwarnung gegeben, obwohl die Substanz bis zu diesem<br />
Zeitpunkt noch nicht endgültig identifiziert worden war.<br />
Weitere Beispiele: Einmal mußten 800 Menschen mehrere Stunden lang in<br />
einem Nachtclub unter Quarantäne gestellt werden. In einem anderen Fall<br />
mußten am 24. Dezember 1998 in einem Einkaufszentrum 200 Menschen<br />
48 Nach Angaben von R. Blitzer, Leiter des FBI Domestic Terrorism and Counterterrorism Planning Section,<br />
in ABCNews PrimeTime Live Show, USA, 25 Februar 1998; Für eine schriftliche Aufzeichnung siehe:<br />
http://www.infowar.com/WDM/wmd_030298a_s.html-ssi<br />
164
ihre Kleidung ablegen und sich mit Bleichmittel waschen. 49 Die Klärung<br />
der Frage, ob es sich jeweils um eine echte oder eine leere Drohung handelt,<br />
ist von großer Tragweite und natürlich zeitintensiv und aufwendig.<br />
2.7 Potentielle Anschlagsziele<br />
Schließlich müssen in der Risikobewertung auch potentielle Ziele analysiert<br />
werden. Für terroristische Anschläge eignen sich vor allem Großstädte<br />
(Hauptstädte), Areale von besonderer Bedeutung für Wirtschaft, Verkehr<br />
oder Militär (z. B. Messegelände, Einkaufszentren, Häfen, Flugplätze), Versammlungsstätten<br />
(z. B. Stadthallen, Sportstadien) und künstlich belüftete<br />
Bauten (z. B. Regierungs-, Parlaments- und Gerichtsgebäude und insbesondere<br />
U-Bahnsysteme). 50 Wie Ereignisse aus jüngerer Zeit in den USA<br />
belegen, können auch Einzelpersonen Ziel heimtückischer B-Kampfstoffanschläge<br />
sein. 51 Auch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes<br />
kann durch terroristische Anschläge auf Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie<br />
schwer geschädigt werden.<br />
2.8 Gefahren für die Allgemeinheit<br />
Zur Risikobewertung zählt auch die Analyse möglicher Gefahren für die<br />
Allgemeinheit. B-Kampfstoffe haben sehr unterschiedliche Wirkungen.<br />
Erreger und Gifte können tödliche Krankheiten verursachen, die jedoch –<br />
wie im Falle von Lungenmilzbrand oder Botulismus – nicht ansteckend sein<br />
müssen. Aber es gibt auch Beispiele für B-Kampfstoffe, die übertragbare<br />
Krankheiten verursachen und so Epidemien auslösen können. Diese Gefahr<br />
besteht u. a. bei der Lungenpest und bei Pocken.<br />
Im Fall der Pocken wären aufgrund der mittlerweile geringen Durchimpfungsrate<br />
der Bevölkerung in Verbindung mit dem weltweiten schnellen<br />
Reiseverkehr durchaus größere Seuchenzüge mit hoher Letalität zu befürchten,<br />
sofern nicht sofort Quarantänemaßnahmen und Riegelungsimpfungen<br />
erfolgten. Nur wenige Staaten verfügen noch über Pockenimpfstoff;<br />
Deutschland gehört nicht zu ihnen. Obwohl die Pocken für ausgerottet<br />
gehalten werden, ist es nicht auszuschließen, daß Terroristen Zugriff auf<br />
Variolaviren (Erreger der Pocken) erlangen. 52 Bei diesen Hochrisiko-Erregern<br />
besteht das Risiko einer Pandemie nicht nur beim vorsätzlichen<br />
49 Über diese beiden Fälle wurde in The Lancet Bd. 353, 9. Januar 1999, S. 130 berichtet<br />
50 Vgl. ausf. L. A. Cole, Clouds of Secrecy. The Army’s Germ Warfare Tests over Populated Areas, Totowa,<br />
N.J., 1988; ders., The Eleventh Plague. The Politics of Biological and Chemical Warfare, New York 1997<br />
51 R. Purver (Fußnote 17)<br />
52 Vgl. hierzu als offene Literatur R. Preston, The Demon in the Freezer - How smallpox, a disease officially<br />
eradicated years ago, became the biggest bioterrorist threat we now face, The New Yorker, 12.07.99, Seite<br />
44–61; http://cryptome.org/smallpox-wmd.htm<br />
165
Kampfstoffeinsatz, sondern bereits beim unsachgemäßen Umgang oder<br />
einem Unfall mit dem Virus im Labor.<br />
Andere Erreger, z. B. Q-Fieber- und Brucellosebakterien, würden lediglich<br />
eine Massenerkrankung verursachen, die jedoch zumeist gutartig verläuft<br />
und nur vereinzelt – bei Opfern mit geschwächtem Immunsystem – zum<br />
Tod führt.<br />
Eine Expertenkommission der WHO veröffentlichte 1970 Modellrechnungen,<br />
53 denen zufolge bei einem Sprühangriff mit 50 kg Milzbrandsporen<br />
von einem Flugzeug aus in einer Großstadt mit 500.000 Einwohnern bis zu<br />
95.000 Tote und 125.000 Erkrankte zu erwarten wären. Auch wenn die<br />
damals zugrunde gelegten Modelle für heutige Großstädte nicht mehr voll<br />
anwendbar sein mögen, wären die zu erwartenden Verluste von der Größenordnung<br />
her mit denen eines Atombombeneinsatzes vergleichbar.<br />
3. GEGENMASSNAHMEN BEI EINEM<br />
B-TERRORANSCHLAG<br />
3.1 Prävention<br />
Durch kontinuierliche nachrichtendienstliche Beobachtung, Analyse und<br />
Bewertung der Aktivitäten verdächtiger Personen und Organisationen sowie<br />
der militärischen und zivilen Technologieaktivitäten („dual-use“– Problematik)<br />
von „Risikostaaten“ können die Chancen erhöht werden, daß die Absichten<br />
von B-Terroristen rechtzeitig erkannt, konkrete Hinweise für Fahndungen<br />
gegeben und so terroristische Anschläge verhindert werden können.<br />
Eine enge Zusammenarbeit der Nachrichtendienste untereinander und auch<br />
zwischen Nachrichtendiensten und Kriminalpolizei auf internationaler und<br />
nationaler Ebene ist hierzu notwendig. Die Herausforderung besteht darin,<br />
in großen Informationsmengen verborgene Hinweise auf B-terroristische<br />
Aktivitäten zu erkennen. Die dazu erforderliche Fähigkeit muß durch eine<br />
fundierte Ausbildung erworben und durch ständige Fortbildung erhalten<br />
und vertieft werden. Zur abschließenden Bewertung verdächtiger Beobachtungen<br />
und Steuerung gezielter Ermittlungen ist der Sachverstand von B-<br />
Schutzexperten erforderlich. Wie die meisten Länder hat auch Deutschland<br />
jedoch nur wenige entsprechend ausgebildete Experten. Von Ausnahmen<br />
abgesehen gehören sie der Bundeswehr an, stellen aber auch dort nur eine<br />
sehr kleine Gruppe dar. 54<br />
Auf der Ebene der lokalen Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehren schafft<br />
ebenfalls eine entsprechende Ausbildung die Voraussetzungen, daß verdächtige<br />
Aktivitäten rechtzeitig erkannt und unterbunden werden können.<br />
53 Health Aspects of Chemical and Biological Weapons, WHO, 1970<br />
54 Vgl. T. Sohns (Fußnote 12), Seite 187 „Schutz der Zivilbevölkerung“ und „Kontinuität und Planungssicherheit“<br />
166
Auch eine Öffentlichkeit, die über die Möglichkeit von B-Terrorismus so<br />
informiert ist, daß sie die damit verbundenen Risiken nüchtern wahrnimmt<br />
und aufmerksam ist, kann sachdienliche Hinweise liefern und so zu einer<br />
rechtzeitigen Aufdeckung von Anschlägen beitragen.<br />
3.2 Einsatzleitung<br />
Für die Bewältigung der Krisensituation, die durch Androhung oder Ausübung<br />
eines B-Terroranschlags entsteht, müssen gesetzlich abgesicherte<br />
Alarmpläne in Kraft sein, die die Einrichtung einer Einsatzleitung von<br />
Anfang an auf höchster Ebene vorsehen. Die Einsatzleitung muß klar definierte<br />
Verantwortlichkeiten und Vollmachten haben. Ihr sollten B-Schutzexperten<br />
direkt zugeordnet sein.<br />
Wegen der möglicherweise sehr weiträumigen Ausbreitung von B-Kampfstoffaerosolen<br />
kann – einer radiologischen Gefahrenlage vergleichbar –<br />
ein unverzüglicher Informationsaustausch und eine Zusammenarbeit mit<br />
benachbarten Bundesländern und Nachbarstaaten erforderlich sein.<br />
3.3 Lagebeurteilung<br />
Bei einem angedrohten oder behaupteten Einsatz von B-Kampfstoffen, der<br />
(noch) nicht zu Erkrankungsfällen geführt hat 55 , muß die Einsatzleitung<br />
rasch klären, ob eine wirkliche Gefahrenlage besteht, oder ob es sich nur um<br />
Irreführung handelt. Die Klärung des Sachverhalts und Entscheidung über<br />
<strong>Folge</strong>maßnahmen ist von großer Tragweite. Menschenleben, materielle<br />
Werte und das Vertrauen der Bürger in ihren Staat hängen davon ab.<br />
Im ungünstigeren Fall werden erst Informationen aus Arztpraxen und Krankenhäusern<br />
die frühesten Hinweise auf einen B-Terroranschlag liefern. Aus<br />
dem Zeitpunkt des Beginns und der Anzahl gleichartiger, synchron verlaufender<br />
Erkrankungen, ihren Leitsymptomen und den Ergebnissen von<br />
Labor-Schnelltests lassen sich vorläufige Rückschlüsse auf die Art des<br />
Kampfstoffs ziehen. Durch Befragung der Patienten über ihren Aufenthaltsort<br />
und ihre Aktivitäten zur Zeit der vermutlichen Exposition können Einsatzort,<br />
-art und Ausbreitungszonen des B-Kampfstoffs näherungsweise<br />
ermittelt werden.<br />
So schnell wie möglich muß festgestellt werden, ob es sich um eine übertragbare<br />
und ggf. lebensbedrohliche Krankheit handelt und welche Gebiete<br />
noch oder bereits kontaminiert bzw. gefährdet sind. Die ansässige Bevölkerung<br />
muß gewarnt und eventuell evakuiert bzw. abgesondert werden. Ggf.<br />
sind Dekontaminationsmaßnahmen erforderlich.<br />
55 Die Inkubationszeit von B-Kampfstofferkrankungen liegt bei Stunden bis Tagen; vgl. T. Sohns et al. (Fußnote<br />
2)<br />
167
3.4 Ausbruchsmanagement<br />
Falls die Freisetzung von Erregern gefährlicher übertragbarer Krankheiten<br />
angedroht wurde oder bereits erfolgt ist, muß die Einsatzleitung ein effektives<br />
Ausbruchsmanagement vorbereiten bzw. durchführen. Dazu zählen die<br />
Planung und Steuerung aller notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung<br />
von Epidemien wie z. B. Austeilung von Antibiotika und Durchführung von<br />
Impfaktionen, Absonderung und Versorgung kampfstoffexponierter Personen<br />
sowie Sicherstellung der Behandlung quarantänisierter Patienten. Von<br />
der Rechtzeitigkeit und Qualität des Ausbruchsmanagements hängt es ab, ob<br />
eine Epidemie eingedämmt und weitere Epidemiewellen verhindert werden<br />
können. In der Einsatzleitung müssen hierzu B-Schutzexperten sowie Vertreter<br />
der Gesundheits-, Sicherheits- und Ordnungsbehörden mitwirken.<br />
3.5 Öffentlichkeitsarbeit, Evakuierung, Verkehrslenkung<br />
Die erforderlichen Maßnahmen unterscheiden sich grundsätzlich nicht von<br />
anderen Gefahrensituationen für die Allgemeinheit, in denen ebenfalls eine<br />
weitere Verschärfung der Lage durch einen Panikausbruch vermieden werden<br />
muß. Um Irritationen auszuschließen, sollte die Unterrichtung der<br />
Öffentlichkeit nur durch die Einsatzleitung erfolgen. Für die Formulierung<br />
dieser Informationen ist der Sachverstand von B-Schutzexperten zu nutzen.<br />
Es ist davon auszugehen, daß wesentliche Teile der Bevölkerung versuchen<br />
werden, gefährdete oder kontaminierte Gebiete rasch zu verlassen.<br />
3.6 Objektschutz<br />
Bei einer nicht näher spezifizierten Androhung eines B-Terroranschlags<br />
muß der Objektschutz auf Belüftungssysteme von Gebäuden, in denen sich<br />
viele Personen aufhalten, sowie U-Bahnen und auf die Infrastruktursysteme<br />
der zentralen Wasserversorgung konzentriert werden.<br />
3.7 Spüren von B-Kampfstoffen<br />
Die schnelle Identifizierung kontaminierter Gefahrenbereiche ist für die<br />
Lagebeurteilung und Festlegung des weiteren Vorgehens von großer Bedeutung.<br />
Zu diesem Zweck müssen Spürtrupps die fraglichen Areale auf<br />
Kampfstoffspuren untersuchen.<br />
Von einer zufriedenstellenden technischen Lösung der Kampstoffdetektion<br />
sind wir noch weit entfernt. Ein tragbares automatisches Spürgerät ist nicht<br />
in Sicht. Spüren und Probennahme erfordern den Einsatz hochqualifizierter<br />
Fachkräfte mit geeigneter Schutzausrüstung. Zudem besteht Bedarf an<br />
Untersuchungseinrichtungen, die in der B-Diagnostik erfahren sind und<br />
über Labors der Biosicherheitsstufe L 3 und ggf. L 4 verfügen. Bis erste<br />
168
verläßliche Resultate vorliegen, können mehrere Stunden oder sogar einige<br />
Tage vergehen.<br />
3.8 Markieren, Absperren und Bewachen von Gefahrenbereichen<br />
Erkannte Gefahrenbereiche müssen unverzüglich entsprechend ausgewiesen<br />
und bis auf weiteres abgesperrt werden. Je weniger wir über den eingesetzten<br />
Kampfstoff wissen, desto umfangreicher müssen die Sicherheitsvorkehrungen<br />
sein. Im schlimmsten Fall besteht nicht nur die Notwendigkeit,<br />
kontaminierte Gebiete abzusperren, sondern auch Quarantänebereiche<br />
einzurichten.<br />
Das zum Markieren, Absperren und Bewachen eingesetzte Personal muß<br />
psychisch stabil, auftragsgerecht ausgebildet und ausgerüstet und mit Einzelschutz<br />
(siehe 3.14 Einzelschutz) ausgestattet sein.<br />
3.9 Dekontamination<br />
Je nach Wetterlage und Stabilität des eingesetzten Kampfstoffes kann die<br />
Inaktivierung Stunden oder – wie im Fall von Milzbrandsporen – Jahrzehnte<br />
dauern. Hiervon ist abhängig, ob und mit welchem Aufwand eine<br />
Dekontamination durchzuführen ist. Vorrangig dekontaminiert werden<br />
müssen gesunde Personen, Verletzte und Kranke, Tiere, Lebensmittel,<br />
Trinkwasser, einsatzwichtiges Gerät und Verkehrswege. Tierkadaver und<br />
nicht dekontaminiertes Material müssen sachgerecht entsorgt werden.<br />
Für die wichtigsten B-Terrorismusszenarien müssen im Rahmen der Notfallvorsorge-Planung<br />
geeignete Dekontaminationsverfahren erarbeitet und<br />
die zur Durchführung erforderlichen Kräfte und Mittel eingeplant werden.<br />
Die Streitkräfte können bei der Dekontamination personelle und materielle<br />
Unterstützung leisten.<br />
3.10 Unterstützungsleistungen der Streitkräfte<br />
Je nach Gefahrenlage und Bedarf kann die Bundesregierung oder eine Landesregierung<br />
die Bundeswehr zur Bewältigung der Situation heranziehen.<br />
Die Bundeswehr hält für solche Situationen derzeit jedoch keine besonderen<br />
Kräfte und Mittel bereit. Dennoch sollte das Zusammenwirken ziviler<br />
und militärischer Stellen geübt und praktiziert werden.<br />
3.11 Technische Warnsysteme<br />
Schützen kann sich nur, wer rechtzeitig gewarnt wird. Hierzu werden automatische<br />
Warngeräte benötigt. Leider verfügt die Bundeswehr wie die<br />
Streitkräfte der meisten Länder noch nicht über derartige Geräte. Seit den<br />
169
Enthüllungen über das irakische B-Waffenprogramm arbeiten die Streitkräfte<br />
verschiedener Länder mit Hochdruck an Warngeräten zur automatischen<br />
Detektion von B-Kampfstoffaerosolen. Während das geforderte<br />
Fernortungsgerät auf Laserbasis mit einer Reichweite von ca. 30 km auch in<br />
den kommenden Jahren noch nicht realisierbar sein wird, hat die US-Army<br />
1996 ein Warngerät eingeführt, das permanent Luft ansaugt und sie auf<br />
ihren Gehalt an biologischen Partikeln untersucht. 56,57 Das System heißt<br />
Biological Integrated Detection System (BIDS) und ist so komplex, daß es<br />
auf einem Kleinlastwagen mit Einachsanhänger montiert werden muß. Das<br />
BIDS der ersten Entwicklungsstufe muß von hochqualifizierten Spezialisten<br />
des US Army Chemical Corps bedient werden. Eine Adaption an die<br />
konzeptionellen Rahmenbedingungen von Streitkräften anderer Länder<br />
könnte Schwierigkeiten mit sich bringen. Daher werden die meisten Länder<br />
noch so lange auf US-amerikanische Unterstützung bei der B-Detektion<br />
angewiesen bleiben, bis ihre eigenen Streitkräfte ein entsprechendes System<br />
aus eigener Entwicklung einführen können.<br />
Wir müssen also derzeit hinnehmen, daß wir einen B-Angriff vermutlich<br />
nicht bemerken würden. Erst das plötzliche Auftreten ungewöhnlicher<br />
Massenerkrankungen wäre ein erster konkreter Hinweis.<br />
3.12 Nachweis eines B-Kampfstoffeinsatzes<br />
Bei Auftreten ungewöhnlicher Erkrankungen und Todesfälle sind vor dem<br />
Hintergrund eines B-Terrorismus-Szenarios vor allem zwei Fragen zu<br />
klären: Erstens muß so schnell wie möglich eine Identifizierung des Erregers<br />
oder Toxins erfolgen, damit gezielte Gegenmaßnahmen ergriffen<br />
werden können. Zweitens muß festgestellt werden, ob die aufgetretenen<br />
Erkrankungen und Todesfälle durch einen B-Kampfstoff hervorgerufen wurden<br />
oder ob ihnen eine natürliche Ursache zugrunde liegt. Auch wenn sich<br />
jemand für einen B-Kampfstoffeinsatz verantwortlich erklärt, entbindet dies<br />
die Staatsorgane nicht von der Notwendigkeit einer kritischen Prüfung und<br />
eindeutigen Beweisführung. Die Fähigkeit zur Aufklärung der Ursachen ist<br />
für die Lagebeurteilung und Entscheidungen über das weitere Vorgehen<br />
von ausschlaggebender Bedeutung. Gegebenenfalls wird das Nachweisergebnis<br />
zur Begründung weitreichender politischer oder sogar militärischer<br />
Maßnahmen herangezogen.<br />
Zur Klärung des Sachverhalts ist das Zusammenwirken von Fachleuten insbesondere<br />
aus den Bereichen B-Schutz, Gesundheitswesen, Polizei und<br />
Nachrichtendiensten notwendig. Erste wichtige Indizien für einen Kampfstoffeinsatz<br />
können nach einigen Stunden aus den Krankenhäusern kommen,<br />
wenn die Ärzte dort plötzlich mit großen Zahlen von Patienten kon-<br />
56 Vgl. Biowar, Are We Ready? in: International Defense, März 1995<br />
57 Jane’s Defense Weekly, 3. Juni 1995, S. 24<br />
170
frontiert werden, die alle das gleiche Stadium einer ungewöhnlichen Krankheit<br />
aufweisen. Weitere wesentliche Beiträge zum Nachweis werden später<br />
– nach Tagen oder unter Umständen sogar erst mit monatelanger Verzögerung58<br />
– aus in- und ausländischen Speziallabors kommen, in denen eine<br />
Identifizierung und Differenzierung des Erregers oder des Toxins durchgeführt<br />
wurde. Nachteilig kann sich hier auswirken, daß in Westeuropa für die<br />
Schnelldiagnostik, Identifizierung und Serodiagnostik von z.B. Pest-, Milzbrand-,<br />
Rotz-, Pocken- und Marburgfiebererregern keine validierten Diagnostika<br />
kommerziell verfügbar sind. Solche Diagnostika werden derzeit<br />
lediglich von einigen Untersuchern in Kleinstmengen für den Eigenbedarf<br />
hergestellt.<br />
Zu untersuchen sind Luft-, Wasser-, Boden- und andere Materialproben,<br />
menschliches und tierisches Untersuchungsmaterial einschließlich Leichen,<br />
Tierkörper, Schädlinge und Vektoren. Probennahme und -auswertung erfordern<br />
eine spezielle Ausbildung, Ausrüstung und Infrastruktur (vgl. 3.7<br />
Spüren von B-Kampfstoffen).<br />
Von besonderer Beweiskraft für einen Kampfstoffeinsatz kann der Nachweis<br />
eines Erregerstammes sein, der in der betroffenen Region bisher nicht<br />
aufgetreten oder gentechnisch verändert ist.<br />
3.13 Medizinische Versorgung<br />
Die erfolgreiche Identifizierung und Differenzierung eines Erregers oder<br />
Toxins ist Voraussetzung für eine gezielte Therapie, sofern eine solche überhaupt<br />
möglich ist. Leider müssen wir annehmen, daß die Krankheitsursache<br />
zunächst unbekannt und daher nur eine symptomatische Behandlung möglich<br />
ist. Bei Infektionskrankheiten unbekannter Ursache kommen in erster<br />
Linie Breitbandantibiotika in hoher Dosierung in Betracht. Durch die<br />
gleichzeitig auftretende große Anzahl schwerer Verlaufsformen und den<br />
resultierenden Arzneimittelbedarf wird es bald zu logistischen und infrastrukturellen<br />
Engpässen kommen. Verstärkt werden dürften diese noch<br />
durch die Notwendigkeit von Schutz- und Absonderungsmaßnahmen zur<br />
Verhinderung von Sekundärepidemien, durch Ausfälle beim medizinischen<br />
Personal sowie gegebenenfalls durch panikbedingte Transportprobleme.<br />
Gegen einige der B-relevanten Erreger ist eine Prophylaxe in Form von<br />
Impfungen, Antisera- oder Antibiotikagabe grundsätzlich möglich und<br />
gegebenenfalls zur Verhinderung einer Ausbreitung von Seuchen auch<br />
erforderlich, insbesondere bei den Pocken. Die rechtzeitige Verfügbarkeit<br />
ausreichender Mengen dieser Arzneimittel ist derzeit aber nicht sichergestellt.<br />
58 Vgl. zu den Problemen ausf. Nilesh Parmar, It Was the Plague, Or Was It?, in: India Today, 30.11.1994<br />
171
3.14 Einzelschutz<br />
Die Einzelschutzausstattung besteht aus einer ABC-Schutzmaske und<br />
Schutzbekleidung mit Handschuhen. Einzelschutz ist erforderlich für alle<br />
Kräfte, die in potentiell kontaminierten Zonen eingesetzt werden. Die Bundeswehr<br />
verfügt wie die Streitkräfte vieler anderer Länder über große<br />
Bestände an Einzelschutzausstattung, mit der alle Soldaten ausgestattet<br />
sind. Durch diesen Schutz können sie einen Angriff mit B-Waffen ohne<br />
Gesundheitsstörungen überstehen. Mit Einschränkungen sind Einsätze in<br />
kontaminiertem Gebiet für mehrere Stunden möglich. Auch zivile Kräfte<br />
sind teilweise mit ähnlichen Schutzsystemen ausgestattet.<br />
Für spezielle Aufgaben wie die Dekontamination von Patienten, ihren<br />
Abtransport und ihre weitere medizinische Versorgung sind besondere Einzelschutzausstattungen<br />
erforderlich.<br />
3.15 Sammelschutz<br />
Sammelschutz dient in erster Linie dazu, in kontaminierter Umgebung die<br />
Möglichkeit zur Erholung des Personals oder für Tätigkeiten zu schaffen,<br />
die ein sauberes Milieu erfordern. In einer Einrichtung mit Sammelschutz<br />
können sich mehrere Personen ohne Maske und Schutzbekleidung aufhalten.<br />
Von Interesse kann möglicherweise der „ABC-Sammelschutz, Gruppe,<br />
tragbar“ sein, über den die Bundeswehr verfügt und der leicht zu transportieren<br />
und zu handhaben ist. Er besteht aus einer mit gefilterter Luft aufblasbaren<br />
Hülle von der Größe eines kleinen Zimmers und ist für den<br />
Gebrauch in festen Unterkünften vorgesehen.<br />
3.16 Bestattung der Opfer<br />
Im Fall einer Massenerkrankung oder -vergiftung in einer Großstadt muß<br />
die Kapazität zur Bestattung von täglich mehreren tausend Verstorbenen<br />
geschaffen werden. Notfallvorsorgepläne müssen vorhanden sein, die die<br />
erforderlichen antiepidemischen Sicherheitsvorkehrungen ausweisen.<br />
4. BEWERTUNG DER SITUATION<br />
Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen – so auch B-Terrorismus –<br />
besitzt zwar eine wesentlich geringere Eintrittswahrscheinlichkeit als Terrorismus<br />
mit konventionellen Waffen, er stellt aber eine reale Gefahr dar,<br />
auf die Deutschland ungenügend vorbereitet ist.<br />
Die Rajneeshi-Sekte und die Aum-Shinrikyo-Sekte haben, indem sie B-<br />
Kampfstoffe tatsächlich einsetzten, ein Tabu gebrochen. Daß durch ihre<br />
172
Anschläge keine Menschen zu Tode kamen, mindert ihre Bedeutung als<br />
Präzedenzfälle nicht. Terroristische Zielsetzungen wie das Schaffen einer<br />
Atmosphäre von Furcht und Verunsicherung, lassen sich auch mit mäßig<br />
wirksamen Kampfstoffen erreichen. Eindrucksvoll wird dies durch den<br />
Anschlag der Aum-Shinrikyo am 20. März 1995 mit dem chemischen<br />
Kampfstoff Sarin belegt. Obwohl die theoretische Wirksamkeit von Sarin<br />
bei weitem nicht erreicht wurde und nur 12 Menschen umkamen, erschütterte<br />
dieser Anschlag zutiefst das Bewußtsein des japanischen Volkes, das<br />
bis dahin geglaubt hatte, in einem der sichersten Staaten der Welt zu leben.<br />
Auch trug dieser Anschlag wesentlich dazu bei, daß die USA ihre Ausgaben<br />
für Counterterrorism Programs dramatisch gesteigert haben (1996: 5,7 Mrd<br />
$; 2000: 10 Mrd $ 59,60 ).<br />
Die <strong>Folge</strong>n von B-Terrorismus können im umgekehrten Verhältnis zur Eintrittswahrscheinlichkeit<br />
stehen. Ohne die Prävention zu vernachlässigen,<br />
muß daher die B-Schutzfähigkeit der zivilen Behörden und Einsatzkräfte<br />
für den Fall verbessert werden, daß es zu einem Anschlag kommt.<br />
Die Vulnerabilität unserer hoch zivilisierten und technisierten Welt durch B-<br />
Terrorismus ist groß. Hier bestehen eindeutige konzeptionelle und finanzielle<br />
Defizite. Es gibt jedoch eine Vielzahl sinnvoller und hochwirksamer<br />
Gegenmaßnahmen, für die die entsprechenden Kräfte und Mittel bereitgestellt<br />
werden müssen.<br />
Aus dem Umgang von Terroristen mit Erregern gemeingefährlicher übertragbarer<br />
Krankheiten können Gefahren für Deutschland auch dann hervorgehen,<br />
wenn die Aktivitäten der Täter auf der anderen Seite der Erde stattfinden.<br />
Insbesondere beim Variolavirus, dem Erreger der Pocken, besteht<br />
das Risiko einer Pandemie nicht nur beim vorsätzlichen Kampfstoffeinsatz,<br />
sondern bereits beim unsachgemäßen Umgang oder einem Unfall mit dem<br />
Virus im Labor. Obwohl die Pocken für ausgerottet gehalten werden, ist es<br />
nicht auszuschließen, daß Terroristen Zugriff auf Variolaviren erlangen. 61<br />
Aufgrund der mittlerweile geringen Durchimpfungsrate der Bevölkerung<br />
und des weltweiten schnellen Reiseverkehrs wären im Fall der Pocken<br />
durchaus größere Seuchenzüge mit hoher Letalität zu befürchten, sofern<br />
nicht sofort Quarantänemaßnahmen und Riegelungsimpfungen erfolgen.<br />
Deutschland besitzt jedoch keinen Pockenimpfstoff mehr.<br />
Eine wesentliche Lehre aus den wenigen echten und vielen vorgetäuschten B-<br />
Terrorismusereignissen in den USA ist, daß der Staat fähig sein muß, einen<br />
echten Anschlag rasch auszuschließen und zu entwarnen bzw. gezielte<br />
Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Verunsicherung der Bevölkerung nimmt<br />
59 Quelle: US Advisory Panel (siehe Fußnote 1), Seite 2<br />
60 Zum Vergleich: 10 Mrd $ entsprechen fast der Hälfte des deutschen Verteidigungsetats 2000 (45,3 Mrd<br />
DM)<br />
61 Vgl. R. Preston (Fußnote 52)<br />
173
apide zu, wenn sie bemerkt, daß die staatlichen Organe nicht urteilssicher<br />
und handlungsfähig sind.<br />
Die Analysen und Feststellungen des US Advisory Panel to Assess Domestic<br />
Response Capabilities for Terrorism Involving Weapons of Mass Destruction62<br />
sind grundsätzlich auch für Deutschland von großem Wert. Ein entsprechendes<br />
Ressort-übergreifendes deutsches Gremium sollte untersuchen,<br />
welche der amerikanischen Feststellungen auf Deutschland übertragbar sind<br />
und welche ggf. durch eigene Analysen und Feststellungen ergänzt werden<br />
müssen.<br />
5. VORSCHLÄGE FÜR EIN ANTI-B-TERRORISMUS-<br />
KONZEPT<br />
5.1 Prävention<br />
Mit politischen Mitteln muß zunächst versucht werden, die Ursachen des<br />
Terrorismus zu beseitigen, die Entwicklung, Herstellung und Lagerung von<br />
B-Waffen zu unterbinden und die Proliferation von B-Waffentechnologie<br />
durch Nichtverbreitungs- und Exportkontrollregimes einzudämmen. Fortschritte<br />
könnten durch eine substanzielle Verstärkung des B-Waffenübereinkommens<br />
erzielt werden. Die Nachrichtendienste befreundeter Nationen<br />
müssen bei der weltweiten Verfolgung von verdächtigem Personal und<br />
Material kooperieren. Routinemäßig sollte auch die Untergrundliteratur, 63<br />
sowohl auf Papier als auch im Internet, ausgewertet und nach ihren Autoren<br />
gefahndet werden.<br />
Im Zusammenwirken mit befreundeten Nationen müssen wir die russische<br />
Regierung bei der Konversion der ehemaligen sowjetischen militärischen<br />
B-<strong>Forschung</strong>seinrichtungen unterstützen, deren Mitarbeiter nach Ausbleiben<br />
der Mittel aus dem russischen Verteidigungshaushalt teilweise in<br />
schwierige Situationen geraten sind. Aus der Notlage von Wissenschaftlern<br />
können erhebliche Proliferationsrisiken mit unabsehbaren Konsequenzen<br />
erwachsen. 64,65<br />
Der Zugang zu potentiellen B-Waffenbestandteilen muß auf internationaler<br />
und nationaler Ebene erschwert werden: Erstens kann der Mißbrauch von<br />
biologischen Substanzen und „dual-use“-Geräten durch Exportkontrollmaßnahmen<br />
eingedämmt werden. Solche Materialien und Geräte sollten<br />
nur an Länder geliefert werden, die die Bedingungen des B-Waffenübereinkommens<br />
erfüllen. Zweitens sollten nationale Behörden, die Umgangs-<br />
62 siehe Fußnote 1<br />
63 Vgl. J. Heepe (Fußnote 14)<br />
64 Vgl. R. Preston (Fußnote 46)<br />
65 J. Matloff, Danger from Russia’s Scientists: Selling Weapons Know-How, in: The Christian Science<br />
Monitor, 13.02.98; http://www.csmonitor.com/durable/1998/02/13/intl/intl.4.html<br />
174
oder Exportgenehmigungen für gefährliche Erreger erteilen oder den<br />
Betrieb von Sicherheitslabors genehmigen, Schulungsangebote und regelmäßige<br />
Informationen über militärische und „dual-use“-Technologieaktivitäten<br />
von Risikostaaten und aufgedeckte Fälle von B-Terrorismus erhalten.<br />
Dies gilt auch für Zoll- und Polizeibehörden sowie Industrieverbände<br />
und wissenschaftliche Institute.<br />
Schließlich könnte die Präventivarbeit durch spezielle Ausbildungsprogramme<br />
für Mitarbeiter der Nachrichtendienste und der Kriminalpolizei<br />
verbessert werden. Sie sollten noch enger mit den B-Schutzexperten der<br />
Bundeswehr zusammenarbeiten.<br />
5.2 Schadensbegrenzung<br />
Da auch mit den zuletzt beschriebenen Maßnahmen die Risiken lediglich<br />
verringert, aber nicht ausgeschlossen werden können, müssen zivile Behörden<br />
und die Streitkräfte auf die Gefahrenabwehr im Falle einer Androhung<br />
oder eines Einsatzes von B-Kampfmitteln vor terroristischem Hintergrund<br />
vorbereitet sein. Die Bundeswehr sollte mit der Durchführung eines Ausbildungsprogramms<br />
für Mitarbeiter der Polizei und Feuerwehr und für<br />
Führungspersonal der Strafverfolgungsbehörden, des Gesundheitswesens<br />
sowie von staatlichen und nichtstaatlichen Hilfsorganisationen (z. B. Rotes<br />
Kreuz) beauftragt werden. Hierzu müssen jedoch die notwendigen Ressourcen<br />
bereitgestellt werden.<br />
Studien sollten mit dem Ziel in Auftrag gegeben werden, mögliche B-Terrorismusszenarien<br />
zu analysieren, besonders gefährdete Einrichtungen in<br />
Deutschland zu ermitteln und Ansätze zur Prävention und Bewältigung von<br />
B-Terroranschlägen zu bestimmen.<br />
Die Streitkräfte sollten solche Studien durch den Sachverstand ihrer B-<br />
Schutzexperten und ihre im Rahmen von Studien und Übungen gesammelten<br />
Erfahrungen unterstützen. Zudem entwickelt die Bundeswehr mit Hilfe<br />
von anderen Ländern – vor allem den USA – ein computergestütztes Expertensystem66<br />
für den Medizinischen B-Schutz. 67 Dies könnte für den zivilen<br />
Bedarf weiterentwickelt und verfügbar gemacht werden.<br />
Für die Bewältigung von B-Gefahrenlagen muß ein sinnvolles Zusammenwirken<br />
aller Staatsorgane und ihrer Einsatzmittel sichergestellt werden.<br />
Hierzu müssen sich zivile und militärische Stellen gegenseitig über ihre<br />
66 Das NBC Medical Planning System (NBCMedPlanS) ist ein computergestütztes Expertensystem für die<br />
sanitätsdienstliche Einsatzunterstützung unter ABC-Bedingungen. NBCMedPlanS errechnet für nutzerdefinierte<br />
Szenarien die Anzahl, Art und Schwere der Erkrankungen (Inzidenzmodul von NBCMedPlanS)<br />
sowie die zur Versorgung der Patienten erforderlichen Kräfte und Mittel des Gesundheitswesens (Ressourcenmodul)<br />
67 Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit B-Kampfstoffexponierter; medizinische Beiträge zum<br />
Nachweis von B-Kampfstoffeinsätzen<br />
175
Leistungsfähigkeit informiert halten. Das Zusammenwirken ziviler und<br />
militärischer Kräfte muß gemeinsam geplant, gelehrt und geübt werden.<br />
Ein Konsens für eine Impfpolitik für den Fall einer terroristischen B-Bedrohung<br />
in Deutschland muß gefunden werden. Da gemeingefährliche übertragbare<br />
Krankheiten sich schnell weltweit ausbreiten können, sollte ergänzend<br />
auch ein Übereinkommen im internationalen Rahmen angestrebt<br />
werden. Das Ziel sollte sein, die rechtzeitige Verfügbarkeit arzneimittelrechtlich<br />
zugelassener Impfstoffe in ausreichenden Mengen68 sicherzustellen<br />
und eine gemeinsame Impfpolitik zu vereinbaren.<br />
Viele mit B-Terrorismus und Impfungen assoziierte Probleme sind durchaus<br />
lösbar. Ein möglicher Ansatz wäre die Impfung spezieller Einsatzkräfte in<br />
Verbindung mit einer Impfstoffvorratshaltung auf supranationaler Ebene,<br />
z.B. auf EU-Ebene, für den Katastrophenfall. Außerdem besteht die Aussicht,<br />
daß moderne Impfstoffgenerationen entwickelt werden können, die in<br />
Hinblick auf die Immunogenität noch weitere erhebliche Fortschritte bringen.<br />
Ergänzend zur supranationalen Vorratshaltung von Impfstoffen muß auf<br />
nationaler Basis der schnelle logistische Zugriff auf Desinfektionsmittel,<br />
Diagnostika, Antisera und Antibiotika sichergestellt werden.<br />
Die Regierungen müssen für die spezielle Diagnostik und Therapie gefährlicher<br />
übertragbarer Krankheiten ungeachtet ihrer möglichen Ursache<br />
Grundkapazitäten vorhalten. Gleiches gilt für den Transport hochkontagiöser<br />
Patienten. Während der Pestepidemie in Indien 1994 und der Ebolaepidemie<br />
in Zaire 1995 wurde z. B. in Deutschland auf Seiten des öffentlichen<br />
Gesundheitswesens ein erhebliches Defizit im Management hochkontagiöser<br />
Infektionskrankheiten festgestellt. Der Grundbedarf an Einrichtungen<br />
der Sicherheitsstufen L3 und L4 im Rahmen der Katastrophenvorsorge<br />
muß daher entsprechend dem von der Arbeitsgruppe Seuchenschutz<br />
unter Federführung des RKI erarbeiteten Konzept69 modernisiert und ausgebaut<br />
werden. Die Bundeswehr hat an der Erarbeitung des Konzeptes mitgewirkt.<br />
Auf dem Gebiet des B-Schutzes besteht ferner ein dringlicher <strong>Forschung</strong>sund<br />
Entwicklungsbedarf: Die Ausstattungslücke bei den automatischen<br />
Detektions- und Spürsystemen muß geschlossen, das Spektrum detektierbarer<br />
B-Agenzien erweitert, der dafür notwendige Zeitbedarf verringert und<br />
68 Vgl. hierzu: Steve Sternberg, Bottleneck Keeps Existing Vaccine off the Market, in: Science, Jg. 266 v.<br />
7.10.1994; ferner E. J. Finke et al., List of Vaccines and Immunoglobulins for the Prevention of Health<br />
Disorders by Potential BW-Agents, Sanitätsakademie der Bundeswehr, Bereich Studien und Wissenschaft,<br />
Institut für Mikrobiologie, München, Manuskript zur 3. Med B-Schutz Tagung des BMVg, Oktober<br />
1996<br />
69 R. Fock, A. Wirzt, M. Peters, E.-J. Finke, U. Koch, D. Scholz, M. Niedrig, H. Bußmann, G. Fell, H. Bergmann,<br />
Management und Kontrolle lebensbedrohender hochkontagiöser Infektionskrankheiten. Bundesgesundheitsblatt<br />
Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz, Bd 42 S. 389 ff Springer Verlag Berlin, Heidelberg<br />
1999<br />
176
die Spezifität und Sensitivität der Methoden verbessert werden. Für alle<br />
relevanten B-Kampfstoffe müssen schnell wirksame Prophylaktika, insbesondere<br />
Impfstoffe und therapeutische Konzepte, gefunden werden. Diesem<br />
Bedarf stehen in Deutschland vollkommen unzureichende personelle und<br />
finanzielle Ressourcen gegenüber.<br />
Viele sinnvolle Maßnahmen erfordern jedoch nur einen geringen Aufwand.<br />
Zum Beispiel könnten bei entsprechender Sachkenntnis elementare Erfordernisse<br />
des B-Schutzes durch Baubehörden und Architekten bei der Planung<br />
von Bauvorhaben oder durch Geschäftsleute und Wissenschaftler bei<br />
der Weitergabe potentiell gefährlicher technischer Geräte, Krankheitserreger<br />
und Kenntnisse an Dritte weitgehend kostenneutral umgesetzt<br />
werden.<br />
Über die Gefahren von B-Waffen und ihrer Weiterverbreitung wird in<br />
Deutschland zu wenig geschrieben und gesprochen. Eine angemessene,<br />
nüchterne Risikoperzeption fehlt daher sowohl in der Öffentlichkeit und den<br />
Medien als auch bei den politischen und behördlichen Entscheidungsträgern.<br />
70 Entsprechend gering ist die Unterstützung für Bemühungen um die<br />
Verbesserung des B-Schutzes, die natürlich nicht zum Nulltarif zu haben ist.<br />
Verhängnisvoll an dieser Situation ist, daß die Uninformiertheit von Öffentlichkeit<br />
und Entscheidungsträgern einseitig besteht. Ernsthaft interessierten<br />
Terroristen dagegen sind nicht kontrollierbare Informationen über B-<br />
Kampfstoffe in „schwarzen Kochbüchern“ der Untergrundliteratur und im<br />
Internet zugänglich. 71 Das Argument, durch die Thematisierung der Gefahren<br />
von B-Terrorismus würden entsprechende Aspiranten erst auf Ideen<br />
gebracht, ist nicht (mehr?) richtig.<br />
Durch eine offene und sachliche Informationspolitik über die Gefahren von<br />
B-Waffen und ihrer Weiterverbreitung sowie über die Finanzierung entsprechender<br />
Schutzprogramme ließen sich schon bald deutliche Verbesserungen<br />
erreichen.<br />
70 Vgl. J. D. Douglas jr., Weapons of Mass Destruction – A Biological Weapons Threat Worse Than Saddam,<br />
10.03.98; http://www.infowar.com/WMD/wmd_032698a_j.html-ssi<br />
71 Vgl. J. Heepe (Fußnote 14)<br />
177
178
<strong>Neue</strong>s Konzept zur Zivilverteidigung in Israel<br />
H. Reichenbach<br />
1. Einleitung<br />
Wenn ich über das neue Konzept zur Zivilverteidigung in Israel berichte, so<br />
möchte ich zunächst die Quellen nennen, aus denen ich meine Kenntnisse<br />
zum Thema schöpfte. Im wesentlichen stütze ich mich auf Informationen,<br />
die anläßlich eines Symposiums in Israel im Oktober 1996 vermittelt wurden.<br />
Außerdem konnte ich im Anschluß an jene Tagung an einem Versuch<br />
auf dem Testgelände des Home Front Command teilnehmen – der für Zivilverteidigung<br />
zuständigen israelischen Dienststelle. Bei diesem Versuch<br />
wurde ein 5-geschossiges Wohngebäude der Wirkung einer derart gewählten<br />
Sprengstoffdetonation ausgesetzt, daß zwar keine strukturellen, wohl<br />
aber erhebliche Schäden an einzelnen Wandelementen eintraten.<br />
Zunächst möchte ich der <strong>Schutzkommission</strong> – besonders der Geschäftsführung<br />
– dafür danken, daß ich das<br />
Specialty Symposium on Structures Response<br />
to Impact and Blast<br />
vom 6.–10. Oktober 1996 in Tel Aviv, Israel,<br />
besuchen konnte. Dank gebührt aber auch dem Veranstalter, besonders Prof.<br />
D. Yankelevsky, der mich als Keynote-Speaker eingeladen hatte, sowie<br />
Oberst Sofrin vom Home Front Command, der mir einige Kopien seiner<br />
Viewgraphs zur Verfügung stellte. Zudem hatte ich Gelegenheit in den USA<br />
an dem<br />
8th International Symposium on Interaction of the<br />
Effects of Munition with Structures<br />
vom 21–25 April 1997 in McLean, Virginia,<br />
teilzunehmen, bei dem eine besondere Sitzung den Ergebnissen der vom<br />
Home Front Command durchgeführten Experimente gewidmet war.<br />
2. Zielsetzung der Tagung<br />
Erklärtes Ziel der wissenschaftlichen Tagung in Israel, an der etwa<br />
120 Wissenschaftler teilnahmen und 64 Vorträge gehalten wurden, war es,<br />
in einem international besetzten Gremium über folgende Problemfelder zu<br />
diskutieren:<br />
179
Impakteinwirkungen<br />
Blastbelastung<br />
Erdstoß<br />
Wechselwirkung Boden/Bauwerk<br />
Unterirdische Bauwerke<br />
Materialverhalten bei dynamischer Beanspruchung<br />
Zerstörungsmechanismen<br />
Verhalten urbaner Strukturen gegenüber Blast<br />
Wiederinstandsetzung von Gebäuden<br />
Erprobung von Bauweisen<br />
Meßtechnik<br />
Hier und heute möchte ich aber darauf gar nicht weiter eingehen. Viel interessanter<br />
war – wie sich nämlich erst vor Ort herausstellte – daß die erwähnte<br />
Tagung von den Veranstaltern als willkommene Gelegenheit benutzt<br />
wurde, das neue Konzept der israelischen Zivilverteidigung vorzustellen<br />
und die Neuorientierung der Schutzdoktrin als <strong>Folge</strong> der veränderten<br />
Bedrohung durch die angrenzenden arabischen Staaten zu begründen. Darüber<br />
möchte ich berichten.<br />
3. Bedrohungsanalyse<br />
Ein schlüssiges Konzept jeglicher Zivilverteidigung muß sich selbstverständlich<br />
an der real vorhandenen Bedrohung orientieren. Schon bei der<br />
Grußadresse zur Tagungseröffnung hob das Knesseth-Mitglied, Dr. Sneh,<br />
– ein ehemaliger Armeegeneral und im vorherigen Kabinett Gesundheitsminister<br />
– hervor, daß die israelische Bevölkerung im höchsten Maße<br />
gefährdet sei und nannte folgende Gründe für die enorme Verwundbarkeit<br />
Israels:<br />
– Extrem hohe und rasch wachsende Bevölkerungsdichte in einem schmalen<br />
und langen Streifen an der Mittelmeerküste, etwa zwischen Haifa und<br />
Ascalon.<br />
– Konzentration der Wirtschaft und der Finanzwelt in den Städten Haifa<br />
und Tel Aviv.<br />
– Feindlich gesinntes Umfeld,<br />
– das mit modernen Waffen, u. a. mit weitreichenden Waffenträgern, d. h.<br />
Raketen ausgerüstet ist oder bald sein wird,<br />
– das durch seine Waffensysteme jeden Punkt Israels in kürzester Zeit aus<br />
verschiedenen geographischen Richtungen erreichen kann,<br />
– das in Israel Warnzeiten von nur noch etwa 3 Minuten erlaubt.<br />
180
4. <strong>Zivilschutz</strong>relevante <strong>Folge</strong>rungen<br />
Welche <strong>Folge</strong>rungen ergeben sich aufgrund dieser Bedrohungsanalyse für<br />
die Zivilverteidigung?<br />
Zunächst ist festzustellen, daß in Israel militärische und zivile Verteidigung<br />
keine Gegensätze sind, sondern beide die gemeinsame Aufgabe haben, der<br />
Bevölkerung in jeglicher Situation ein Überleben zu gewährleisten. Daher<br />
ist es nur folgerichtig, daß der <strong>Zivilschutz</strong>, als wesentlicher Teil der Gesamtverteidigung,<br />
dem Verteidigungsminister unterstellt ist – wie übrigens in<br />
den meisten Ländern.<br />
Da sich die Verteidigungsdoktrin der jeweils vorhandenen Bedrohung anzupassen<br />
hat, bleibt nicht aus, daß sie sich im Laufe der Jahre erheblich verändert<br />
hat. Dazu ein kurzer Rückblick.<br />
Genügte in den Anfangsjahren des Staates Israel eine bodengestützte Armee,<br />
die das Eindringen fremder Truppen verhindern und aus dem Stand eine<br />
Gegenoffensive starten konnte, war später, als der Gegner über Angriffsflugzeuge<br />
verfügte, der massive Aufbau eigener Luftstreitkräfte erforderlich.<br />
Israels Ziel war dabei stets, Kampfhandlungen vom eigenen Land fernzuhalten<br />
und in das Gebiet des Gegners zu verlagern. Ursprünglich hatte<br />
Israel eine lange Küstenlinie entlang des Mittelmeers aber eine Landbreite an<br />
der engsten Stelle von nur etwa 16 km. Aus israelischer Sicht war es daher<br />
aus nationalem Sicherheitsinteresse unabdingbar notwendig, Pufferzonen zu<br />
errichten, z.B. durch Besetzung der Westbanks und der Golanhöhen.<br />
Heute, das bedeutet seit Ende des Golfkrieges, ist durch die Aufrüstung arabischer<br />
Staaten mit weitreichenden Raketenwaffen eine völlig neue Lage<br />
entstanden. Diese kann durch die Luftstreitkräfte nicht mehr beherrscht<br />
werden. Dazu sind allenfalls nur noch Antiraketenwaffen in der Lage. Man<br />
bräuchte dafür allerdings eine außerordentlich große Anzahl, was unrealistisch<br />
hohe Kosten verursachen würde.<br />
Neben der kurzen Warnzeit bereitet besondere Sorgen die Fähigkeit des<br />
Irans zum Bau atomarer und anderer Sprengköpfe, sowie die Unterstützung<br />
durch Nordkorea bezüglich weitreichender Waffenträger. Reichweiten von<br />
7 000 km wurden genannt, die ausreichen würden, um Mitteleuropa aus<br />
Ländern zu erreichen, die Israel als seine Gegner betrachtet. (Im übrigen<br />
wurde diese Einschätzung auch durch Hansjörg Geiger, dem Leiter des<br />
BND, in einer Sendung der ARD, „Bonn direkt“, am 2. Februar 1997<br />
bestätigt mit einer Zeitschätzung für die Realisierung von etwa 10 Jahren.<br />
Diese Zeitangabe, z.T. sogar noch kürzer, war auch in Israel zu hören).<br />
Die Doktrin, kriegerische Ereignisse vom eigenen Lande fernzuhalten und<br />
in das Gebiet des Gegners zu verlegen ist nicht mehr haltbar. Vielmehr ist<br />
davon auszugehen, daß Ziele im eigenen Land angegriffen werden, daß<br />
damit das eigene Land zum Kriegsschauplatz wird. Der Zivilverteidigung,<br />
d.h. dem Schutz der Bevölkerung vor Ort kommt daher künftig prioritäre<br />
Bedeutung zu.<br />
181
Waren ursprünglich die Aufwendungen für den unmittelbaren, passiven<br />
Schutz der Bevölkerung recht bescheiden, da man die Doktrin der Vorwärtsverteidigung<br />
hatte und die finanziellen Ressourcen bevorzugt für eine<br />
starke Land- und Luftverteidigung benötigte, ist nunmehr ein drastisches<br />
Umdenken erforderlich. Die heutige Lage gebietet es, für die Zivilverteidigung<br />
zunehmend steigende Mittel bereitzustellen und zwar auf Kosten der<br />
militärischen. Diese Mittel werden vorzugsweise für bauliche Schutz- und<br />
Verstärkungsmaßnahmen eingesetzt.<br />
Der Golfkrieg machte auch noch eine andere Schwachstelle im bisherigen<br />
Schutzkonzept deutlich. Die Hilfs-, Rettungs-, Schutz- und Versorgungsdienste<br />
arbeiteten völlig unkoordiniert. Kompetenzprobleme im Katastrophen-Management<br />
traten in erschreckender Weise zutage. (Hatten wir in<br />
Deutschland vor Jahren nicht auch ähnliche Erfahrungen bei größeren<br />
Katastrophen machen müssen?). Israel hat gehandelt. Um nämlich dieses<br />
Dilemma zu beheben, wurde inzwischen als Teil des neuen Konzepts das<br />
Home Front Command geschaffen, das organisatorisch dem Verteidigungsministerium<br />
untersteht und von einem General befehligt wird. Derzeit<br />
nimmt diese Funktion General Arad wahr, der zuvor Kommandeur der Panzertruppen,<br />
Kommandeur der Luftstreitkräfte und auch schon zuständig für<br />
Ausbildung und Schulung der Streitkräfte war, der also über eine reiche<br />
militärische Erfahrung verfügt. Im Kriegs- und Katastrophenfall sind die an<br />
sich selbständigen Hilfs- und Rettungsdienste unmittelbar dem Home Front<br />
Command unterstellt. Nur dieses allein entscheidet über Art und Einsatz der<br />
jeweils zu treffenden Hilfsmaßnahmen. Dieses Command hat auch die<br />
Aufgabe, die Schutzdoktrin aufgrund der heutigen Bedrohungssituation zu<br />
erarbeiten einschließlich der baulichen Detailmaßnahmen.<br />
5. <strong>Neue</strong>s Schutzkonzept<br />
Um die Änderungen des neuen Schutzkonzepts deutlich zu machen, seien<br />
die Grundsätze und Annahmen der alten Doktrin stichwortartig aufgelistet:<br />
182<br />
Art der Bedrohung ➮ Luftangriffe<br />
Warnzeit ➮ etwa 15 Minuten<br />
Lage der Schutzbunker ➮ in Kellern oder in Gebäudenähe<br />
Schlagwort: CIVILIANS GO DOWN TO THE SHELTERS<br />
Aufenthalt im geschlossenen<br />
Bunker ➮ bis zu 1 Stunde<br />
Ausstattung ➮ Möglichkeiten zur Installation<br />
von Belüftungs- und Filtersystemen<br />
gegen chemische<br />
Angriffe sind vorzusehen.
Im Vergleich zu dem bisherigen, alten Konzept, sei die neue Doktrin und<br />
ihr zugrunde liegende Annahmen in Stichworten genannt:<br />
Art der Bedrohung ➮ Luftangriffe, Boden-Boden<br />
Raketen<br />
Warnzeit ➮ etwa 3 Minuten<br />
Schutzraum ➮ vorgesehen in jeder Wohnung<br />
(protective space) oder jedem Korridor<br />
SCHLAGWORT: THE „PROTECTIVE SPACE“ COMES TO<br />
THE CIVILIANS<br />
Aufenthalt im geschlossenen<br />
schützenden Raum ➮ etwa 3 Stunden<br />
Ausstattung ➮ Möglichkeiten zur Installation<br />
von Lüftungs- und Filtersystemen<br />
gegen chemische<br />
Bedrohung sind vorzusehen,<br />
ebenso Stromanschluß, Notlicht,<br />
TV und Radio.<br />
Überlebensrate ➮ wegen der größeren Zahl der<br />
schützenden Räume und ihrer<br />
räumlichen Verteilung ist die<br />
Überlebensrate die gleiche wie in<br />
den bisherigen höherwertigeren<br />
Schutzbunkern.<br />
Zugänglichkeit ➮ leicht, da der schützende Raum<br />
immer innerhalb des Gebäudes<br />
liegt.<br />
Aufgrund der kurzen Warnzeit ist es der Bevölkerung heute nicht mehr<br />
möglich, Großschutzräume in der Nachbarschaft und auch eigene Kellerräume<br />
in mehrgeschossigen Wohngebäuden rechtzeitig aufzusuchen. Daher<br />
müssen Schutzräume in unmittelbarer Nähe der Arbeits- und Lebensbereiche<br />
der Bevölkerung bereitgestellt werden. (Derartige Gedanken sind<br />
natürlich nicht neu, sie wurden auch früher schon in Deutschland artikuliert.<br />
Ich nenne nur das Stichwort „Überlebensinseln“).<br />
Per Gesetz ist nunmehr in Israel vorgeschrieben, daß jedes Wohnhaus und<br />
jedes Gebäude, das während einer Bedrohung in Nutzung sein könnte (z.B.<br />
Behörden, Schulen, Fabriken) im Innern liegende schützende Räume (protective<br />
space) besitzen muß. Diese Räume sollen Schutz gegen Blast und<br />
Splitter bieten. Wenn auch keineswegs ein Komfortschutz angestrebt wird,<br />
so sollen – aufgrund der klimatischen Bedingungen in Israel – Belüftungseinrichtungen<br />
und möglichst auch Filtersysteme vorhanden sein. Wenn letztere<br />
fehlen, müssen Gasmasken bereit liegen.<br />
183
In Abbildung 1 und 2 sind beispielhaft zwei Grundrisse gezeigt wie sich<br />
diese Räume in die Wohngebäude einfügen. Grundsätzlich stehen diese<br />
Räume zur wohnlichen Nutzung zur Verfügung (z.B. als Schlafraum, als<br />
Hobbyraum u.a.) Alle Schutzräume eines mehrgeschossigen Bauwerks sind<br />
unmittelbar übereinander anzuordnen, so daß ein stabiler Schutzturm<br />
entsteht. Nach neuesten Vorstellungen werden die Umfassungsbauteile<br />
als zweischalige, bewehrte Betonwände von je 25 cm Dicke hergestellt.<br />
Zwischen beiden bleibt ein Luftspalt, um eine direkte Kopplung bei Impaktbelastung,<br />
etwa durch Trümmer, zu vermeiden. Fenster in geschützten<br />
184<br />
Abbildung 1: Protective Space in the Apartement (p.s.a)<br />
Abbildung 2: Protective Space in the Floor (P.S.F.)
Räumen sind erlaubt, es müssen aber Maßnahmen getroffen werden, um<br />
Glas-Splitter zu vermeiden. Dies kann etwa durch Kunststoffolien erreicht<br />
werden. Außerdem müssen im Ernstfall die Fenster durch Stahl-Fensterläden<br />
druckdicht verschlossen werden. Im übrigen sind derartige Bauelemente<br />
wie auch die Drucktüren genormt und können von jedermann im<br />
Baumarkt gekauft und eingebaut werden.<br />
Als Schutz gegen terroristische Aktivitäten, denen zunehmende Bedeutung<br />
beigemessen werden, sollen Gebäude nur über eine Schleuse zu betreten<br />
sein. Die beiden Schleusentüren sind dabei winklig anzuordnen. Verschiedene<br />
konstruktive Lösungen – auch solche für einen nachträglichen Einbau<br />
– wurden vorgestellt, mit z.T. recht ansprechenden architektonischem<br />
Erscheinungsbild. Allenthalben waren auf der Fahrt durch Israel reale Ausführungen<br />
in neuen Siedlungsgebieten zu sehen.<br />
Für den Ausbau von schützenden Räumen in vorhandener Bausubstanz<br />
spielen natürlich Verstärkungsmaßnahmen von tragenden Elementen eine<br />
wichtige Rolle. Als Richtwert für derartige Maßnahmen gilt eine Resistenz<br />
gegen Blastwellen mit Spitzendruck 0,9 bar. Man hat für diese Zwecke<br />
u.a. Holzzementsteine entwickelt, die geringes Gewicht haben, auch von<br />
Laien leicht übereinander gesetzt werden können und so geformt sind, daß<br />
horizontale und vertikale Bewehrungsstäbe leicht eingesetzt werden können,<br />
bevor die Hohlräume mit Mörtel gefüllt werden. Auch faserverstärkte<br />
Klebebänder werden benutzt, um die Wände zu verstärken und eine Fragmentierung<br />
zu vermindern. Durch einfache, vorgesetzte Wände kann die<br />
dynamische Belastung von Schutzräumen durch Blastwellen und auch der<br />
Splitterdurchschlag erheblich gemindert werden. Tragende Stützen und<br />
Säulen können z.B. durch Umbauungen gegen Ansprengungen geschützt<br />
werden. Diese Ideen sind ebenfalls keinesfalls neu, ich möchte nur an<br />
Arbeiten des Fachausschusses I der Kommission in den zurückliegenden<br />
Jahren erinnern. Hier ist ein beachtliches Wissen erarbeitet worden, das in<br />
internationalen Gremien besser eingebracht werden müßte, als es mir bisher<br />
der Fall zu sein scheint.<br />
Bei terroristischen Anschlägen gehen bekanntlich die gefährlichsten Wirkungen<br />
von Glassplittern und fliegenden Trümmern aus. Als ausgezeichnetes<br />
Mittel gegen Verletzungen durch Glassplitter haben sich – neben<br />
Mehrschicht-Fenstern und Klebefolien – Vorhänge aus reißfestem Stoff<br />
erwiesen. Es wurde berichtet, daß ausgezeichnete experimentelle Ergebnisse<br />
selbst dann erzielt wurden, wenn der Spitzenüberdruck der Blastwelle bei<br />
über ein bar lag. Diese Schutzmaßnahme wird tatsächlich auch angewandt.<br />
So wunderte ich mich am ersten Tag beim Einzug in mein Hotel-Zimmer in<br />
Tel Aviv, daß dichte Vorhänge den herrlichen Ausblick auf das Mittelmeer<br />
versperrten und das Zimmer im Dunkeln lag. Der Grund wurde mir dann<br />
schließlich später klar.<br />
Neben dem unmittelbaren Schutz vor Ort, – Sie erinnern sich sicher an das<br />
in unserer Kommission häufig erwähnte Schlagwort: „Schutz kommt vor<br />
185
Retten“ – spielen natürlich auch Rettungsmaßnahmen eine wichtige Rolle.<br />
Es wurde berichtet, daß die Rettungseinheiten inzwischen so organisiert<br />
sind, daß sie in kürzester Zeit am Ort eines Schadensereignisses eintreffen<br />
können, d.h. innerhalb von weniger als 30 Minuten. Dieser Zeitraum wird<br />
für die Versorgung von Verletzten und Vergifteten als ausreichend erachtet.<br />
6. Experimentelle Validierung<br />
Die Empfehlungen im Rahmen des neuen Schutzkonzepts sind nicht nur<br />
theoretisch erarbeitet, sondern wurden (bzw. werden) experimentell nachgeprüft.<br />
Dazu steht dem Home Front Command ein eigener Versuchsplatz<br />
in der Sinai-Wüste in der Nähe der Stadt Eilat zur Verfügung.<br />
In enger Zusammenarbeit zwischen der US Special Weapons Agency (vormals<br />
DNA) und dem israelischen Home Front Command wird ein langfristig<br />
geplantes Programm durchgeführt, bei dem mehrere Objekte in<br />
Originalgröße aus verschiedenen Entfernungen angesprengt werden. Nach<br />
neuesten Angaben sind für 1998 zahlreiche weitere Tests vorgesehen. Es<br />
wäre sicher sinnvoll, wenn BZS, BMBau und auch die <strong>Schutzkommission</strong><br />
durch Beobachter vertreten wäre und unmittelbaren Kontakt halten würden<br />
zu solchen Organisationen, die sich intensiv um den Schutz und Schutzmöglichkeiten<br />
für die Zivilbevölkerung bemühen. Es wäre sicher auch<br />
sinnvoll, wenn der Sachverstand der Kommission bei internationalen<br />
Kooperationen besser zur Geltung gebracht würde.<br />
7. Fazit<br />
Die Notwendigkeit und die Bedeutung einer wirksamen Zivilverteidigung<br />
steht in einem Land wie Israel außer Frage und wird von der Bevölkerung<br />
voll akzeptiert, zumal dort stets mit terroristischen und militärischen Angriffen<br />
gerechnet werden muß. Beeindruckend ist die Zielstrebigkeit und<br />
der Elan, mit dem Probleme der Zivilverteidigung aufgegriffen und konsequent<br />
einer schnellen Lösung zugeführt werden. Wenn das eigene Überleben<br />
unmittelbar bedroht ist, so findet man eben viel schneller innovative<br />
Lösungen, als in langwierigen Kompetenz- und Abstimmungsgesprächen<br />
zwischen verschiedenen zuständigen Behörden. Wenn Angehörige des<br />
Home Front Command über Schutz der Zivilbevölkerung sprechen, so spürt<br />
man deutlich eine von unbedingtem Überlebenswillen geprägte innere Einstellung.<br />
Unwillkürlich stellt man auch Vergleiche an über die Anstrengungen in<br />
Ländern, die sich nicht unmittelbar bedroht fühlen oder eine Bedrohung gar<br />
negieren. Vergleiche dieser Art fallen ziemlich ernüchternd aus. Könnte es<br />
bei den heutigen terroristischen Aktivitäten und den Unruheherden in unserer<br />
unmittelbaren Nachbarschaft nicht doch auch sein, so fragt man sich,<br />
daß unsere Bevölkerung früher oder später, ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt<br />
sein könnte? Ich lasse die Frage im Raume stehen.<br />
186
Die Elektromagnetische Verträglichkeit komplexer<br />
für den <strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />
Jan Luiken ter Haseborg<br />
Einleitung<br />
Die EMV ist allgemein die Fähigkeit einer elektrischen Einrichtung, in<br />
ihrer elektromagnetischen Umgebung zufriedenstellend zu funktionieren,<br />
ohne diese Umgebung, zu der auch andere Einrichtungen gehören können,<br />
unzulässig zu beeinflussen. Die EMV berücksichtigt somit einerseits die<br />
elektromagnetische Störaussendung, d.h. die von elektrischen Einrichtungen<br />
emittierte elektromagnetische Strahlung und andererseits die elektromagnetische<br />
Störfestigkeit dieser Einrichtungen, das bedeutet, die Widerstandsfähigkeit<br />
elektrischer Einrichtungen gegenüber elektromagnetischer<br />
Strahlung. Die Quellen elektromagnetischer Strahlung werden in natürliche<br />
Quellen und Man-made-noise-Quellen eingeteilt. Zu den natürlichen Quellen<br />
gehören u.a. Blitzentladungen (LEMP: lightning electromagnetic<br />
pulse). Die NEMP-Störungen (NEMP: nuclear electromagnetic pulse)<br />
zählen eigentlich nicht zu den natürlichen Störungen, dennoch sollen sie<br />
hier dazu gezählt werden, weil es viele Parallelen zu den Blitzstörungen<br />
gibt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen LEMP- und NEMP-Störungen<br />
besteht jedoch in der erheblich kleineren Anstiegszeit bei den NEMP-<br />
Störungen, die im NEMP-Fall im Nanosekunden- und im LEMP-Fall im<br />
Mikrosekundenbereich liegt. Das bedeutet wesentlich höhere induzierte<br />
Spannungen als dies bei Blitzstörungen der Fall ist. Zu den Man-madenoise-Quellen<br />
gehören alle elektrischen Einrichtungen, die elektromagnetische<br />
Strahlung emittieren. Die Liste dieser Einrichtungen kann beliebig<br />
weit ausgedehnt werden. In der klassischen EMV gehören LEMP- und<br />
NEMP-Störungen nicht zu den typischen EMV-Störungen, da sie sich in<br />
ihren Grenzwerten und Normen teilweise erheblich von denen typischer<br />
EMV-Störungen unterscheiden. LEMP- und NEMP-Störungen sollen im<br />
Rahmen dieser Betrachtungen, bei denen es ganz allgemein um die elektromagnetische<br />
Beeinflussung elektrischer Einrichtungen geht, entsprechend<br />
mitberücksichtigt werden.<br />
EMV auf der Geräteebene und auf der Systemebene<br />
Die Begriffe „Gerät“, „Anlage“, „Einrichtung“ und „System“ sind genormt.<br />
Danach ist ein Gerät eine technische Einrichtung zur Erfüllung einer vorgegebenen<br />
Funktion, die eine Anzahl untergeordneter Einheiten mechanisch<br />
und elektrisch zusammenfaßt, während ein System die Gesamtheit<br />
von zueinander in Beziehung stehenden Geräten (auf einem Geräteträger)<br />
bezeichnet. Der Begriff Einrichtung ist der Sammelbegriff für Betriebsmittel<br />
und Anlage bzw. Gerät und System.<br />
187
Bild 1: Schematische Darstellung eines aus mehreren Systemkomponenten<br />
bestehenden Systems<br />
Um die EMV eines Gerätes oder eines Systems sicherzustellen, muß gelten:<br />
– die Störaussendung (Emission) elektromagnetischer Energie darf bestimmte<br />
in Normen festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten<br />
– die Störfestigkeit darf bestimmte in Normen festgelegte Grenzwerte nicht<br />
unterschreiten bzw. die Störempfindlichkeit darf bestimmte in Normen<br />
festgelegte Grenzwerte nicht überschreiten.<br />
Der Festlegung von Grenzwerten kommt sehr hohe Bedeutung zu, denn<br />
diese legen fest, ob einer elektrischen Einrichtung die „Elektromagnetische<br />
Verträglichkeit“ bescheinigt werden kann bzw., ob und in welchem Umfang<br />
Maßnahmen zur Sicherstellung der EMV durchgeführt werden müssen.<br />
Zur Vermeidung von Handelshemmnissen innerhalb der Europäischen<br />
Union hat der Rat der EU am 3. Mai 1989 zur Angleichung der Rechtsvorschriften<br />
der Mitgliedsstaaten über die Elektromagnetische Verträglichkeit<br />
eine entsprechende Rahmenrichtlinie, die Richtlinie 89/336 EWG erlassen.<br />
Mit dem Erlaß dieser Rahmenrichtlinie wurde die EMV zum Schutzziel<br />
erklärt, dem jede elektrische Einrichtung, die ab dem 1. 1. 1992 innerhalb<br />
der EU in Verkehr gebracht werden bzw. in Betrieb gehen soll, genügen<br />
muß. Die Richtlinie enthält keine technischen Details, sondern nur grobe<br />
Schutzziele. Die Schutzanforderungen sind in Artikel 4 formuliert, während<br />
Artikel 3 etwas für die Hersteller und Betreiber und Artikel 12 etwas über<br />
188
die zugehörigen Termine aussagt. Danach mußten alle Mitgliedsstaaten der<br />
EU erforderliche Vorkehrungen treffen, damit die in Artikel 2 der Rahmenrichtlinie<br />
bezeichneten Geräte nach dem 31. 12. 1991 nur dann in Verkehr<br />
gebracht bzw. in Betrieb genommen werden dürfen, wenn sie – eine einwandfreie<br />
Installierung und Wartung sowie ein vorschriftsmäßiger Betrieb<br />
vorausgesetzt – die in der Richtlinie festgelegten Schutzanforderungen<br />
erfüllen. Die von der EU zugestandene Übergangsfrist, die erforderlich war,<br />
um Nachqualifikationen auslaufender Produktserien zu vermeiden, ist zum<br />
31. 12. 95 abgelaufen. Die Rahmenrichtlinie ist von den einzelnen EU-Mitgliedsländern<br />
in nationales Recht umzusetzen. Die Bundesrepublik<br />
Deutschland hat diese Umsetzung am 9. November 1992 durch Erlaß des<br />
Gesetzes über die Elektromagnetische Verträglichkeit von Geräten (EMVG)<br />
vollzogen. Inzwischen ist das EMVG bereits mit dem Ersten Gesetz zur<br />
Änderung des Gesetzes über die Elektromagnetische Verträglichkeit von<br />
Geräten in der Fassung vom 30. August 1995 ein erstes Mal aktualisiert<br />
worden. Mit der Neufassung des Gesetzes vom 18. 9. 1998 erfüllte der deutsche<br />
Gesetzgeber eine weitere Forderung, die aufgrund einer Kritik durch<br />
die EU-Kommission entstanden ist.<br />
In Deutschland sind Gesetze zur Funkentstörung seit langem bekannt.<br />
Wesentlich neu in diesem Zusammenhang sind im EMV-Gesetz Bestimmungen<br />
über die Störfestigkeit von Geräten, die bisher ausschließlich in der<br />
Verantwortung der Gerätehersteller lagen. Das EMV-Gesetz löst das Hochfrequenzgeräte-<br />
und das Funkstörgesetz ab.<br />
Es stellt sich nun zu Recht die Frage, ob damit nicht grundsätzlich alle Probleme<br />
elektromagnetischer Störbeeinflussung gelöst sind. Ganz allgemein<br />
läßt sich feststellen, daß die EMV von Einzelgeräten (Querschnittsgeräten)<br />
durch die EMV-Gesetzgebung weitestgehend sichergestellt ist. Dieses ist<br />
für aus Einzelgeräten bestehende Systeme in der Regel nicht mehr gegeben.<br />
In dem hier interessierenden Zusammenhang können exemplarisch folgende<br />
für den <strong>Zivilschutz</strong> relevante Systeme genannt werden:<br />
– zentrale Telekommunikationseinrichtungen, z. B. Radio- und Fernsehsender<br />
sowie persönliche Telekommunikationseinrichtungen, z. B. Radiound<br />
Fernsehempfänger, Telefon, Fax und PC<br />
– Telekommunikationseinrichtungen in Verbindung mit Alarmierungssystemen<br />
im Rettungswesen (Feuerwehr, Katastrophenschutz usw.)<br />
– Versorgungseinrichtungen, in erster Linie Krankenhäuser mit ihren vielfältigen<br />
elektronisch-medizinischen Einrichtungen.<br />
Diese genannten Systeme haben gemeinsam, daß sie zum Teil mehr oder<br />
weniger sehr weit ausgedehnt und, das ist insbesondere ein Merkmal<br />
moderner Systeme, untereinander sehr stark vernetzt sind. Ferner bestehen<br />
diese aus unterschiedlichen Querschnittsgeräten sowie Subsystemen, die<br />
einerseits, elektromagnetisch gesehen, sehr empfindliche Komponenten,<br />
z.B. Bildverarbeitungskomponenten, und andererseits energietechnische<br />
189
Komponenten enthalten können. Die energietechnischen Komponenten,<br />
z.B. drehzahlgeregelte elektromotorische Antriebe, unterbrechungsfreie<br />
Stromversorgungen (USV) und Röntgenanlagen, die, elektrotechnisch gesehen,<br />
oftmals aus dem leistungselektronischen oder aus dem hochspannungstechnischen<br />
Bereich stammen, emittieren in der Regel in erheblichem<br />
Umfang sowohl leitungsgebunden als auch über das elektromagnetische<br />
Feld Störenergie, die dann in andere elektrische Einrichtungen insbesondere<br />
in Leitungen einkoppelt.<br />
Zusammenfassend kann ganz allgemein festgestellt werden, daß die<br />
störungsfreie Funktion der angesprochenen komplexen Systeme gefährdet<br />
ist durch:<br />
– interne Störungen, d. h. Störungen, die von Komponenten des eigentlichen<br />
Systems bzw. durch die Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen<br />
Komponenten dieses Systems verursacht werden,<br />
– externe Störungen, das sind Störungen, die von anderen Systemen verursacht<br />
werden und drahtlos, also über das elektromagnetische Feld, und<br />
aufgrund entsprechender Vernetzungen leitungsgebunden in das betrachtete<br />
System eingekoppelt werden,<br />
– eine spezielle Gruppe externer Störungen, nämlich LEMP- und NEMP-<br />
Störungen.<br />
Das Bild 2 zeigt als Beispiel ein rechnergestütztes Einsatzlenkungssystem<br />
für die Alarmierung der Berufsfeuerwehr einer deutschen Großstadt. Es<br />
handelt sich um ein System, das aus unterschiedlichen analogen und digitalen<br />
Komponenten einschließlich umfangreicher Sende- und Empfangsanlagen<br />
besteht. Im einzelnen zählen dazu der Einsatzleitrechner (ELR)<br />
und das an diesen angeschlossene Text- und Datenübertragungssystem<br />
(TUDUS). Das digitale Alarmierungssystem ist über ein Gateway an das<br />
TUDUS angeschlossen. Die Alarmmeldungen werden sowohl leitungsgebunden<br />
als auch drahtlos an die Einsatzkräfte übermittelt. Bei solch einem<br />
System ist es wichtig, daß Alarmmeldungen zuverlässig, reproduzierbar<br />
und „schnell“ übermittelt werden, wobei „schnell“ nach dem heutigen Stand<br />
der Technik bedeutet, daß die Zeitspanne zwischen dem Auslösen des<br />
Alarms und der Benachrichtigung der Einsatzkräfte 60 Sekunden nicht<br />
überschreiten sollte. Es handelt sich hier um ein System, das flächen- bzw.<br />
raummäßig sehr weit ausgedehnt ist. Der Einsatzleitrechner, das TUDUS<br />
und das digitale Alarmierungssystem sind über mehrere Stockwerke eines<br />
Gebäudes verteilt. Dazu kommen die über das gesamte Stadtgebiet verteilten<br />
Sende- und Empfangsanlagen, die teilweise über Kabelverbindungen<br />
mit den Alarmumsetzern und Alarmgebern verbunden sind. Zusätzlich<br />
werden die Mitglieder der an der Peripherie der Großstadt existierenden<br />
Freiwilligen Feuerwehren, nicht in der Feuerwache befindliches Personal<br />
der Berufsfeuerwehr sowie Rettungswagen über sogenannte digitale Meldeempfänger<br />
alarmiert.<br />
190
Bild 2: Konfiguration eines digitalen Alarmierungssystems<br />
Zunächst muß die Netzstruktur des Gesamtsystems so ausgelegt werden,<br />
daß diese maximale Zeit zwischen dem Auslösen des Alarms und der<br />
Benachrichtigung der Einsatzkräfte nicht überschritten wird und diese Zeiten<br />
reproduzierbar eingehalten werden. In einem weiteren Schritt muß<br />
durch eine umfassende EMV-Analyse festgestellt werden, wo die Schwachstellen<br />
für eine elektromagnetische Störbeeinflussung und die möglichen<br />
Einkoppelpunkte bzw. -pfade für elektromagnetische Störsignale liegen. Im<br />
Rahmen dieser Analyse müssen berücksichtigt werden:<br />
– LEMP- und NEMP-Einkopplungen in Leitungen sowie in die Sende- und<br />
Empfangsanlagen dieses Systems,<br />
– die eingebundenen Energieversorgungssysteme (Netzversorgungssysteme<br />
einschließlich der unterbrechungsfreien Stromversorgungseinrichtungen,<br />
USV) für die Speisung der Komponenten des gesamten Systems,<br />
– interne und externe EMV-Störquellen.<br />
191
Ein weiteres Beispiel für komplexe für den <strong>Zivilschutz</strong> relevante Systeme,<br />
deren störungsfreie Funktion durch elektromagnetische Beeinflussung<br />
erheblich eingeschränkt bzw. irreversibel in Mitleidenschaft gezogen wird,<br />
stellen die aus vielen unterschiedlichen elektrischen sowie elektrisch-medizinischen<br />
Komponenten bestehenden Diagnostik- und Therapiesysteme in<br />
Krankenhäusern dar. Dieses Beispiel ist ganz anders gelagert und weist mit<br />
dem vorhergehenden nur wenige gemeinsame Berührungspunkte auf. Die<br />
Gerätemedizin hat heutzutage bereits einen sehr hohen Standard erreicht.<br />
Insbesondere in der Diagnostik gibt es Geräte, die in der Lage sein müssen,<br />
über entsprechende Sensoren sehr empfindliche Signale am Patienten<br />
zuverlässig und reproduzierbar detektieren zu können. In diesem Zusammenhang<br />
müssen z.B. bestimmte Grenzwerte für elektrische und magnetische<br />
Störfeldstärken eingehalten werden.<br />
Bild 3: Konfiguration eines Röntgendiagnostiksystems<br />
Das Bild 3 zeigt ein weit ausgedehntes System einer Röntgendiagnostikanlage<br />
in der Medizin, das ein Beispiel für ein System darstellt, das einerseits<br />
Komponenten enthält, die sehr empfindlich auf leitungsgebundene<br />
sowie gestrahlte elektromagnetische Störungen reagieren und andererseits<br />
192
Komponenten aufweist, die in erheblichem Umfang elektromagnetische<br />
Störenergie emittieren. Die Störenergie erzeugende und emittierende Komponente<br />
ist hier die Röntgenröhre in Verbindung mit der zugehörigen Versorgungs-<br />
und Steuereinheit, während die Bildverarbeitungskomponente<br />
demgegenüber als elektromagnetisch sehr empfindlich einzustufen ist. Der<br />
Grad der erreichten EMV bestimmt u.a. die Qualität der Röntgenbilder auf<br />
den Monitoren. Insbesondere bei der Detektion feinster Strukturen in dem<br />
menschlichen Körpergewebe, für die zwei Röntgenaufnahmen erforderlich<br />
sind, wird eine extrem hohe Bildqualität verlangt. Zu diesem Zweck wird<br />
zunächst die erste Aufnahme erstellt, digitalisiert und abgespeichert. Vor der<br />
zweiten Aufnahme wird ein Kontrastmittel gespritzt, diese Aufnahme wird<br />
ebenfalls digitalisiert und abgespeichert und dann von der ersten subtrahiert.<br />
Nach einer entsprechenden Aufbereitung erfolgt dann die Visualisierung auf<br />
dem Monitor. Die Praxis hat gezeigt, daß z.B. kleinste Störsignale im<br />
Bereich von einigen zehn Mikrovolt am Videoeingang die Bildqualität<br />
erheblich reduzieren, ganz abgesehen von den bei höheren Störpegeln auftretenden<br />
Funktionsstörungen. Diese Störsignale werden einerseits im<br />
System von der Versorgungs- und Steuereinheit für die Röntgenröhre und<br />
andererseits von externen Störern generiert und leitungsgebunden und/oder<br />
gestrahlt in die empfindlichen Bildverarbeitungskomponenten eingekoppelt.<br />
Erschwerend für die Sicherstellung der EMV kommt hinzu, daß die<br />
Strahlendosis von Röntgengeräten in den letzten 10–15 Jahren aus Sicherheitsgründen<br />
um den Faktor 1000 reduziert worden ist, das bedeutet, daß<br />
der Abstand zwischen Nutz- und Störsignal erheblich verkleinert worden<br />
ist. Die EMV eines solchen Systems auf der Systemebene ist für den „worst<br />
case“ nicht ausreichend. Es muß zusätzlich für den Katastrophenfall die<br />
Bedrohung durch:<br />
– den NEMP und<br />
– ein nicht zuverlässig funktionierendes bzw. elektromagnetisch empfindliches<br />
Energieversorgungsnetz<br />
sichergestellt werden. Im Rahmen des NEMP-Schutzes sollte dann auch der<br />
LEMP-Schutz sichergestellt werden.<br />
Dies ist nur ein Beispiel für Systeme in Krankenhäusern und ähnlichen<br />
Einrichtungen, die für den <strong>Zivilschutz</strong> relevant sind und in erheblichem<br />
Umfang Schwachstellen gegenüber elektromagnetischer Beeinflussung<br />
zeigen. Während ohne entsprechende Schutzmaßnahmen Störungen im<br />
Rahmen der üblichen EMV (interne und externe Störungen eingeschlossen)<br />
in der Regel zu reversiblen Systemveränderungen führen können, muß bei<br />
NEMP- und LEMP-Einwirkung darüber hinaus mit Zerstörungen von Bauelementen<br />
und Komponenten gerechnet werden. In Krankenhäusern sind<br />
die Systeme, die sich in der Regel über mehrere Stockwerke eines Gebäudes<br />
erstrecken (z.B. Patientenüberwachungsysteme) über ausgedehnte Leitungssysteme<br />
untereinander stark vernetzt. Diese Vernetzung stellt generell<br />
Schwachpunkte bezüglich der elektromagnetischen Einkopplung dar. Der<br />
193
Grund hierfür ist naheliegend, denn man kann in der Praxis niemals davon<br />
ausgehen, daß alle mehr oder weniger empfindlichen Leitungen über einen<br />
Kabelschirm verfügen und grundsätzlich immer alle Steuer- und Signalleitungen<br />
weit entfernt von Energieversorgungsleitungen verlegt werden, d.h.<br />
es existieren nicht grundsätzlich für die verschiedenen Leitungstypen<br />
getrennte Kabelkanäle bzw. Kabelbahnen, sondern bauseits sind bestimmte<br />
Kabeltrassen vorgegeben, die für alle zu verlegenden Leitungen vorgesehen<br />
sind. Kostengründe und bauseitige Vorgaben gestatten oftmals nur in sehr<br />
begrenztem Umfang die Berücksichtigung EMV-spezifischer Maßnahmen.<br />
Dieses trifft insbesondere bei der Nachrüstung bereits bestehender Anlagen<br />
zu. Das führt dann dazu, daß Telekommunikations- und Datenleitungen<br />
durchaus über längere Strecken parallel zu Energieversorgungs- und Hochspannungsleitungen,<br />
die hier als potentielle Störquellen betrachtet werden<br />
müssen, geführt werden. Dabei sind im Rahmen einer Analyse nicht nur die<br />
von den teilweise stark oberwellenhaltigen Versorgungsströmen erzeugten<br />
Störmagnetfelder zu betrachten, sondern z.B. auch die in die Versorgungsleitungen<br />
eingekoppelten NEMP- und LEMP-Störungen, die dann ebenfalls<br />
in der Nähe der Telekommunikations- und Datenleitungen zusätzliche Störmagnetfelder<br />
erzeugen.<br />
Zusammenfassung – Vorgehensweise bei Vorhaben zur<br />
Sicherstellung der EMV sowie der NEMP- und LEMP-Härte<br />
für den <strong>Zivilschutz</strong> relevanter Systeme<br />
Die Praxis zeigt, daß für Systeme der oben beschriebenen Art die EMV auf<br />
der Systemebene keinesfalls automatisch gegeben ist. Außerdem existieren<br />
ein NEMP- sowie ein LEMP-Schutz im allgemeinen nicht. Um einerseits<br />
bezüglich der Funktionalität wirkungsvolle und andererseits unter Berücksichtigung<br />
des materiellen und kostenmäßigen Aufwandes optimale Schutzmaßnahmen<br />
– sogenannte Intrasystemmaßnahmen – zur Sicherstellung der<br />
EMV sowie der NEMP- und LEMP-Härte entwickeln zu können, ist es<br />
erforderlich, eine umfassende elektromagnetische Analyse des jeweiligen<br />
Systems zu erstellen. Bei dieser Analyse ist zu unterscheiden, ob es sich um<br />
die Konzeption eines neuen, d.h. noch nicht realisierten Systems handelt,<br />
oder ob ein schon bestehendes System, bei dem bisher keine Schutzmaßnahmen<br />
gegen elektromagnetische Beeinflussungen realisiert worden sind,<br />
nachträglich „elektromagnetisch gehärtet“ werden soll. Streng genommen<br />
ist für jedes neue System eine separate Analyse erforderlich. Es sollte dennoch<br />
versucht werden, Analysedaten zu erfassen bzw. zu erstellen, die sich<br />
auf ähnliche Systeme ohne großen Aufwand übertragen lassen. Diese<br />
Vorgehensweise würde auf jeden Fall kostenmindernd wirken. Für die<br />
durchzuführende Analyse ist die folgende Zusammenstellung der Beeinflussungsmodelle<br />
wichtig und hilfreich:<br />
194
Bild 4: Zusammenstellung der Beeinflussungsmodelle 1<br />
Die Kabel und Leitungen in einem System bestimmen dominierend die<br />
elektromagnetische Verträglichkeit eines Systems, da sie in Wechselwirkung<br />
zu ihrer Umgebung treten, d.h. sie erzeugen aufgrund der übertragenen<br />
Nutz- und Störleistungen elektrische und magnetische Felder, und<br />
sie entnehmen Nutz- und Störfeldern Leistungen, die sich in dem System<br />
störend auswirken können. Aus diesem Grunde hat sich für die Praxis<br />
bewährt, die Kabel und Leitungen eines Systems aufgrund ihrer Nutz- und<br />
Störsignale sowie der Empfindlichkeit der angeschlossenen Geräte bestimmten<br />
Kabelkategorien zuzuordnen. Eine Kabelkategorie zeichnet sich<br />
dadurch aus, daß alle Kabel einer Kategorie ungefähr gleiches Störvermögen<br />
oder gleiche Empfindlichkeit besitzen und daher eine gemeinsame<br />
Verlegung in einem Kabelkanal oder in einem Kabelbündel erlaubt ist. Das<br />
Bild 5 zeigt übersichtlich die verschiedenen Kabelkategorien.<br />
1 Gonschorek, EMV, Teubner Verlag, 1992.<br />
195
Bild 5: Kabelkategorien<br />
Die EMV-Systemanalse besteht im allgemeinen bei komplexen Systemen<br />
aus umfangreichen:<br />
– Simulations- und Feldberechnungen<br />
– EMV-Messungen innerhalb des Systems (Messungen von gestrahlten und<br />
leitungsgebundenen Störungen)<br />
Die Bilder 6, 7 und 8 zeigen als Beispiele die Ergebnisse von drei verschiedenen<br />
Rechnersimulationen eines Systems im Rahmen einer EMV-Systemanalyse.<br />
Die verwendeten Algorithmen für diese Simulation basieren auf<br />
der Leitungstheorie. Berechnet und dargestellt sind hier für eine 5 m lange<br />
Leitung, die in einer Höhe von 10 cm parallel zu einer elektrisch leitenden<br />
Ebene verläuft und mit unterschiedlichen Leitungsabschlüssen versehen ist,<br />
die aufgrund eines einfallenden elektromagnetischen Feldes mit einer vorgegebenen<br />
Polarisation und einem definierten Einfallswinkel induzierten<br />
Ströme I 0 am Anfang der Leitung.<br />
196
Bild 6: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am fernen<br />
Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität<br />
C<br />
Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />
� = 0°, Feldstärke: E0 = 200 V/m.<br />
Die Kurven für C = 100 nF und C = 1 �F liegen in a) und b) übereinander.<br />
Das gleiche gilt in Bild a) für C = 0 pF und C = 20 pF.<br />
197
Bild 7: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am fernen<br />
Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität<br />
C<br />
Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />
� = 0°, Feldstärke: E 0 = 200 V/m.<br />
Die Kurven für C = 100 nF und C = 1 �F liegen übereinander.<br />
198
Bild 8: Eingangsstrom für verschiedene kapazitive Abschlüsse am nahen<br />
Ende bestehend aus einem Widerstand R parallel zu einer Kapazität C<br />
Feldeinfall: nur vertikale E-Feldkomponente mit � = 0°, � = 60°,<br />
� = 0°, Feldstärke: E 0 = 200 V/m.<br />
Die Kurven für C = 1 nF und C = 10 nF liegen übereinander.<br />
Nach erfolgter umfassender Analyse konkreter in diesem Fall für den <strong>Zivilschutz</strong><br />
relevanter Systeme können dann die einzelnen sogenannten Intrasystemmaßnahmen<br />
in Form von z. B.<br />
– Massung und Erdung,<br />
– Leitungsführung und Verkabelung,<br />
– Schirmung und Filterung<br />
systematisch und gezielt realisiert werden. Nach Abschluß aller Maßnahmen<br />
ist die Wirksamkeit, soweit möglich und erforderlich,<br />
– meßtechnisch<br />
– durch Rechnersimulationen<br />
nachzuweisen.<br />
199
200
Task-Force für große Chemieunfälle und Brände<br />
Gerhard Matz<br />
Technische Universität Hamburg-Harburg<br />
1. Einleitung, Ausgangssituation<br />
Die Gefahrenabwehr bei Chemieunfällen und großen Bränden hat in den<br />
letzten zehn Jahren einen Schwerpunkt in der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />
dargestellt. <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsarbeiten, initiiert aus der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und als BMI- oder BMBF-<strong>Forschung</strong>svorhaben ausgeführt,<br />
haben im Bereich von Analytik, Ausbreitungsrechnungen, Toxikologie und<br />
Medizin zu einem hohen Stand des Wissens und der Technik geführt. Toxikologische<br />
Studien haben zur Aktualisierung der Einsatz-Toleranz-Wert<br />
Liste geführt, großräumige sowie gebäudebezogene Ausbreitungsmodelle<br />
lassen bei bekannten Quellen die Vorhersage der zeitlichen und räumlichen<br />
Verteilung von gefährlichen Stoffen in der Luft zu.<br />
Zur Erfassung gefährlicher Stoffe bei Chemieunfällen und Bränden, sowohl<br />
für das Monitoring mit einfachen Techniken im Fall des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays<br />
als auch zur Identifizierung mit dem Gaschromatograph-<br />
Massenspektrometer GC/MS und Fernerkundung mittels Fourier-Transform-Infra-Rot-Spektrometrie<br />
FTIR sowie zur Schnellanalyse von Dioxinen<br />
laufen <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben. Sie haben zum Teil<br />
schon zu Ergebnissen geführt, die inzwischen bei den Gefahrenabwehrkräften<br />
eingesetzt werden. Dies betrifft besonders die Schnellanalyse mit<br />
dem mobilen GC/MS, von dem Systeme bereits für Chemieunfälle bei den<br />
Feuerwehren bzw. Umweltämtern eingesetzt werden:<br />
FW Hamburg, Frankfurt, Mannheim<br />
PTU Berlin<br />
LUA Essen, Potsdam<br />
Institut der Feuerwehr Heyrothsberge<br />
Drei Gefahrstoffbekämpfungsschiffe des BMV<br />
GC/MS Systeme im Europäischen Ausland:<br />
Paris, Marseille, Rom, Trieste, Graz, Wien, Brunn, Warschau<br />
Insbesondere in diesen Dienststellen hat die Behandlung von Chemieunfällen<br />
bereits einen hohen Stellenwert, und allgemein steigt das Bedürfnis, sich<br />
nach dem Stand der Technik gegen die Gefährdung durch Chemikalien zu<br />
schützen. Die gerätetechnische Ausstattung der Einsatzkräfte in Deutschland<br />
für den A- und C-Nachweis wird durch die geplante Beschaffung von<br />
zeitgemäßer Technik in Kürze extrem verbessert. Es bleiben jedoch Ge-<br />
201
202<br />
rätetechniken wie die GC/MS oder FTIR, die für den allgemeinen Einsatz<br />
aufgrund der hohen Kosten nicht in Frage kommen, sowie moderne<br />
rechnergestützte Methoden, die nur von Spezialisten bedient werden können.<br />
Und selbst bei optimalem Einsatz von Technik und Personal vor-Ort<br />
bleiben Fragen bei der Bekämpfung von Chemieunfällen, die nur von<br />
Experten gemeinsam beantwortet werden können.<br />
Diese aufwendigen Techniken und die besten Experten im Fall eines großen<br />
Chemieunfalls zu koordinieren und zum Schutz des Personals und der<br />
Bevölkerung zum Einsatz zu bringen, sollte Aufgabe einer neu einzurichtenden<br />
Task-Force Chemieunfall sein. Die möglichen Aufgaben, die Organisationsform,<br />
die Ausstattung und der Weg zur Realisierung sind als folgende<br />
Skizze dargestellt.<br />
2. Aufgabenstellung für Task-Force Chemieunfall<br />
Die Task-Force für Chemieunfälle und große Brände soll mit höchstmöglicher<br />
Expertise und bestmöglicher Ausstattung schnell und unbürokratisch<br />
auch länderüberschreitend Hilfe leisten und die notwendigen Informationen<br />
an die Einsatzkräfte liefern.<br />
<strong>Folge</strong>nde Aufgaben sind zu sehen:<br />
– So schnell wie möglich den Einsatzort erreichen.<br />
– Am Einsatzort schnell feststellen, was und wieviel an schädlichen Stoffen<br />
freigesetzt worden ist.<br />
– Schnell feststellen, wie sich die Stoffe ausbreiten, in welchen Gebieten die<br />
Bevölkerung den Stoffen ausgesetzt wird.<br />
– Mit Informationssystemen, Datenbanken, und Kommunikation ermitteln,<br />
welche Gefahr von den Stoffen ausgeht.<br />
– Eine Expertengruppe für die spezielle Beratung nach einem festgelegten<br />
Einsatzplan berufen. Sie wird über Telekommunikation zu Fragen in den<br />
Bereichen Analytik, Meteorologie, Medizin, Toxikologie antworten, die<br />
das Task-Force Team vor Ort nicht beantworten kann.<br />
Diese Task-Force Chemieunfall besteht aus einem „Vor-Ort-Team“ und<br />
einem „Expertenteam“. Sie wird zunächst in Deutschland mit weitgehend<br />
vorhandenen Mitteln eingerichtet. Sie hat damit eine Vorreiterrolle, die als<br />
erster Schritt zu sehen ist und die Bereitschaft zur Kooperation in Europa<br />
fördern soll, worauf der zweite Schritt die Ausweitung auf Europa zum Ziel<br />
haben kann.<br />
3. Organisationsform und Mitglieder<br />
Die zunächst nationale Task-Force wird vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />
organisiert, und arbeitet mit Unterstützung der FW Hamburg, Frankfurt,
Mannheim, TUHH und anderen. Es bietet sich mittelfristig an, zwei<br />
schnelle Vor-Ort-Teams und ein Expertenteam einzurichten. Die Vor-Ort-<br />
Teams müssen aus besonders qualifiziertem Personal der Berufsfeuerwehren<br />
zusammengesetzt werden, das Expertenteam sollte aus engagierten<br />
Wissenschaftlern und Praktikern bestehen. Die Einsatzzentrale sollte sich<br />
beim Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> befinden, während das Expertenteam<br />
dezentral arbeitet.<br />
Es ist zu prüfen, ob die Organisation ähnlich gestaltet werden kann wie im<br />
Fall der Inspektorenteams, die von der UN zur Zeit in Den Haag aufgestellt<br />
werden. Sie werden mit kompletter analytischer Ausstattung und extremer<br />
Expertise zu Ad-hoc Inspektionen ausgesendet, um weltweit die Überwachung<br />
des Chemiewaffenübereinkommens CWÜ zu gewährleisten.<br />
Im zweiten Schritt ist an die europaweite Zusammenarbeit zu denken. Zu<br />
einigen nationalen Behörden für <strong>Zivilschutz</strong> bestehen aufgrund ähnlicher<br />
analytischer Ausstattung (GC/MS siehe Kap.1) Kontakte wie zu Frankreich,<br />
Holland, Schweden, Italien, Österreich, Tschechien. Beim europäischen<br />
Umwelt-<strong>Forschung</strong>sinstitut Joint Research Centre in Ispra besteht<br />
ebenfalls Interesse an dieser Fragestellung.<br />
4. Ausstattung der Task-Force<br />
4.1. Vor-Ort-Team<br />
Für die am Einsatzort tätige Gruppe ist das folgende Material bereit zu<br />
stellen, das für den Transport per Hubschrauber und für den Einsatz unter<br />
extremer Belastung von Mensch und Gerät optimiert sein muß:<br />
– Monitoring und Analytik:<br />
Gefahrstoff-Detektoren-Arrays, GC/MS-Systeme, FTIR-Fernerkundung,<br />
Geräte zur anorganischen Analytik in Löschwasser<br />
– Schutzbekleidung und Atemschutzausstattung<br />
– Kommunikationsmittel, Datenfernübertragung<br />
– Hubschrauber als Transportmittel<br />
Das Personal in der mobilen Schnelleinsatztruppe, bestehend aus drei Personen,<br />
wird ebenfalls mit dem Hubschrauber zum Einsatzort transportiert.<br />
Es besteht aus einem Einsatzleiter aus dem Feuerwehrdienst, der neben der<br />
Organisation des Einsatzes zuständig ist für die Kommunikation mit der<br />
Expertengruppe, sowie für die Bedienung der Ausbreitungsrechenmodelle<br />
und Datenbanken.<br />
Außerdem gehört ein Chemiker, zuständig für die Analytik, und ein Notfallmediziner<br />
zu dem Team. Über Telekommunikation steht das Vor-Ort-<br />
Team im ständigen Kontakt zur Expertengruppe.<br />
203
204<br />
4.2. Expertengruppe zur Beratung<br />
Mindestens drei ausgewählte, speziell geschulte Experten je Fachgebiet<br />
sind notwendig, um einen „Rund um die Uhr“ Bereitschaftsdienst zu<br />
gewährleisten. Die Verbindung der Experten geschieht mittels Datenfernübertragung<br />
und eventuell über Telekonferenz. Jeder Experte ist im Dienst<br />
und zuhause über einen PC und Telefon erreichbar und nach Absprache<br />
kann ein Bereitschaftsdienst organisiert werden.<br />
Die Expertengruppe kann aufbauend auf der Diskussionsgruppe „Kritizität“<br />
im <strong>Forschung</strong>svorhaben „GC/MS für Chemieunfälle“ zusammengesetzt<br />
werden. Sie muß sich besonders für die folgenden Aufgaben besonders<br />
eignen:<br />
– Analytische und toxikologische Bewertung der Meßergebnisse<br />
– Medizinische Beratung, schnelle erste Ferndiagnose und Vorschläge zur<br />
Sofortbehandlung<br />
– Allgemeine Beratung mit taktischem, soziologischem und psychologischem<br />
Sachverstand<br />
5. Realisierungsvorschlag und Maßnahmen<br />
In einem 1. Schritt sollten zunächst in einer Studie die Möglichkeiten zur<br />
Einrichtung einer Task-Force Chemieunfälle und deren Aufbau, weitgehend<br />
aus vorhandenen Mitteln, untersucht werden. Das Ziel ist, ein funktionsfähiges<br />
System organisatorisch, materiell und personell aufzubauen<br />
und in Planspielen zu demonstrieren.<br />
Im 2. Schritt ist an die Erweiterung auf europäische Basis, d. h. den gemeinsamen<br />
Aufbau einer Euro-Task-Force, zu denken. Diese könnte den europabzw.<br />
in besonderen Fällen weltweiten Einsatz zum Ziel haben. Damit wird<br />
die internationale Hilfe für Staaten, die noch nicht über ein derartiges<br />
System verfügen, durch die Task-Force bei bestehender Organisation mit<br />
relativ geringen Mitteln möglich.<br />
Im 1. Schritt sind die folgenden Teilaufgaben zu lösen:<br />
– Organisationsform erarbeiten<br />
– Vorhandene Mittel und Entwicklungen in Deutschland zusammenfassen:<br />
Analytik, Ausbreitungsmodelle, Expertensysteme, Datenbanken, Informationssysteme<br />
– Ermitteln von geeigneten interessierten Personen, wobei ein Kern von<br />
Personen vorhanden ist<br />
– Möglichkeiten zur Motivation guter Leute und Frage der Bezahlung<br />
– Einweisung aller Mitgleider in<br />
Task-Force-Meßtechniken,<br />
Interpretation der Meßergebnisse, Leistungsfähigkeiten und Grenzen
– Kooperation mit lokalen Kräften, Fachabteilungen, Laboratorien vorbereiten<br />
– Ausbildungsseminare und Planspiele vorbereiten und ausführen<br />
Es ist zu erwarten, daß die Installation dieser Task-Force Chemieunfall<br />
gelingt und das anhand von Beispielen demonstriert werden kann. Sie ist<br />
international einmalig und kann als Vorbild sowohl in Europa als auch weltweit<br />
dienen.<br />
205
206
Läßt sich über Zivil- und Katastrophenschutz mit<br />
dem Bürger ein Dialog führen? Praxisrelevante<br />
Aspekte aus der Krisen- und Kommunikationsforschung<br />
Wolf R. Dombrowsky<br />
Problemstellung<br />
Die sogenannte „Neukonzeption“ des Zivil- und Katastrophenschutzes setzt<br />
nicht nur einen neuen gesetzlichen Rahmen für die Erstellung dieser beiden<br />
öffentlichen Güter, sondern sie macht auch ein Vollzugsprogramm erforderlich,<br />
durch das die daran Mitwirkenden den gesetzlichen Rahmen alltagstauglich<br />
ausfüllen können. Um dies zu erreichen, ist es nicht unüblich,<br />
einen iterativen Ausgestaltungsprozeß in Gang zu setzen, d. h. den gesetzlichen<br />
Rahmen schrittweise im Zuge praktischer Lösungsversuche ausfüllen<br />
zu lassen. Ein solches „Ruling by Doing“ findet sich insbesondere dort, wo<br />
die Erstellung eines Rahmens schneller gelingt als dessen inhaltliche, möglichst<br />
alle Eventualitäten abdeckende Ausfüllung. Die Umsetzung der<br />
„Seveso-Richtlinie“ der EG in nationales Recht und weiter in zugehörige<br />
Ausführungsrichtlinien (z.B. für § 11a BImSchG in der Bundesrepublik)<br />
läßt sich dafür als Beispiel nehmen (vgl. Dombrowsky/Ohlendieck 1992).<br />
Auch die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes dürfte sich in<br />
einem solchen Prozeß des „Ruling by Doing“ vollziehen, wobei jedoch<br />
schon jetzt absehbar ist, daß die Umsetzung in Länderrecht eher die föderale<br />
Binnendifferenzierung vergrößern wird statt ein einheitliches und kompatibles<br />
Gesamtsystem zu bewirken.<br />
Insofern läßt sich vom Vergleich mit der Umsetzung der Seveso-Richtlinie<br />
in nationales Recht lernen. Die dort verankerte Pflicht der Betreiber störfallrelevanter<br />
Anlagen zur Information der Bevölkerung führte anfangs<br />
ebenfalls zu einer extremen Binnendifferenzierung. Ohne inhaltliche<br />
Abstimmung und ohne gemeinsamen Zeitplan stellten Unternehmen bereits<br />
ihre Informationsbroschüren der Öffentlichkeit vor, wodurch andere Betreiber,<br />
die noch kein eigenes Konzept entwickelt hatten, unter Nachfragedruck<br />
gerieten. Erst im Zuge eines koordinierenden „Ruling by Doing“ verständigten<br />
sich der VCI mit den jeweils zuständigen Ministerien der Länder und<br />
des Bundes auf eine Art Musterlösung für alle Betreiber, so daß zumindest<br />
in den Grundzügen ein einheitliches und kompatibles Informationskonzept<br />
entstand (vgl. Becker et.al. 1993).<br />
Lehrreich ist, daß sich das moderne Gesetzgebungsverfahren tatsächlich<br />
immer mehr auf die Setzung von Rahmen konzentriert und die inhaltliche<br />
Ausgestaltung auf „weichere“ Ausführungsbestimmungen verlagert, die<br />
zwischen den „Vollzugsorganen“ und den betroffenen Rechtssubjekten aufgrund<br />
ihrer praktischen Anwendungserfahrungen ausgehandelt werden.<br />
207
Eine solche Verlagerung ist einerseits der zunehmenden Komplexität des<br />
Rechtssystems geschuldet, das durch vorschnelle Detailregelungen leichtfertig<br />
als dysfunktional erscheinen könnte. Sie ist andererseits aber auch<br />
vonnöten, weil die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels zunehmend<br />
schon Regelungen erfordert, bevor Regelmechanismen verfügbar sind. Im<br />
Falle der Seveso-Richtlinie erließ der Gesetzgeber eine generelle Pflicht zur<br />
Information, überließ die Erfüllung klugerweise jedoch denjenigen, die dies<br />
aufgrund ihrer praktischen Kenntnisse und der Erfordernisse vor Ort geeignet<br />
konnten. Grundsätzlich fließt dieser inzwischen unumkehrbaren Verlagerungstendenz<br />
das Problem aus, daß die heterogenen, teils auch divergenten,<br />
konkurrierenden Ansprüche an gesetzliche Regelungen, die im<br />
traditionellen Gesetzgebungsverfahren ihren strukturierenden Einfluß mittels<br />
Anhörungen, Lobbyismus, öffentlicher Artikulation etc. im Vorwege<br />
gewinnen, nunmehr nachgelagert werden und im pessimalen Fall bewirken,<br />
daß die Konflikte, die sonst vor der Fassung einer Gesetzesnorm formuliert<br />
und ausgehandelt werden mußten, dann erst danach wirksam werden können.<br />
Auch hier belegt die Umsetzung der Seveso-Richtlinie in deutsches<br />
Recht die angesprochene Problematik: Bis zum Erlaß von Ausführungsrichtlinien<br />
für den Paragraphen 11a der Störfallverordnung vergingen<br />
mehrere Jahre.<br />
Aus (rechts-)soziologischer Sicht muß die Veränderung des Verfahrens von<br />
einem „Davor“ in ein „Danach“ insofern problematisch erscheinen, weil<br />
dem Gesetzgeber dadurch ein wesentliches Sanktionsmittel entgangen ist:<br />
Nach wie vor besteht die Aufgabe des Gesetzgebers darin, veränderte Handlungsbedingungen<br />
durch neue Verrechtlichung sozial zu befrieden. Darin<br />
letztlich gründet die vorkontraktuelle Akzeptanz des Kontraktuellen, sie<br />
läßt sich über Gesetze als sinnvolles Regularium der allgemein akzeptierten<br />
gesellschaftlichen „Geschäftsgrundlage“ kontraktuell zum Ausdruck bringen.<br />
Auf genau dieser Grundlage wurde vor jeder Modifizierung darum<br />
gerungen, die je eigenen Interessenlagen bestmöglich zu plazieren, d.h. in<br />
die Gesetzgebung einzubringen. Die endgültige Gesetzesfassung erscheint<br />
so als Kompromißformel, als, wenn man so will, „Belohnung“ für ein<br />
erfolgreiches Einigungsverfahren. Findet dagegen das Aushandelungsverfahren<br />
zwischen den beteiligten Interessen nach der Formulierung des<br />
Gesetzes statt, fehlt die Prämie, um deretwillen sich Kompromisse lohnen.<br />
Aus einem Einigungsverfahren wird hinterrücks ein Konfliktprozeß, durch<br />
den das Korrespondenzverhältnis von Gesetz und Ausführungsbestimmung<br />
zerrissen wird und sich zu einem Konkurrenzverhältnis wandelt, in dem die<br />
Ausführungsbestimmungen immer wichtiger werden und dann gegenüber<br />
dem (Rahmen-)Gesetz jene modifizierende Kraft erlangen, die vorher in<br />
dessen Formulierung einflossen.<br />
Zivil- und Katastrophenschutz als Gesetzesausfüllungskonkurrenz<br />
Für die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes gelten diese Überlegungen<br />
in besonderem Maße. Bislang existiert die Neuordnung als gesetz-<br />
208
licher Rahmen. Wesentliche Bestandteile sind in ihrer Aufgabenstellung<br />
noch gar nicht oder noch nicht hinreichend klar konzeptualisiert. Dies gilt<br />
namentlich für die zukünftige Selbstschutzausbildung, die von privaten Trägern,<br />
also von den im Katastrophenschutz mitwirkenden Hilfsorganisationen<br />
übernommen werden soll, ohne daß dafür schon überzeugende Ausbildungsziele,<br />
didaktische Konzepte, oder geeignete Lehrinhalte und Lehrformen<br />
bereitstehen. Dies gilt mehr noch für ein zukünftiges Warnwesen, das<br />
als technische Voraussetzung für die basale Alarmierung vor modernen<br />
industriellen Gefahren aber auch vor veränderten Bedrohungen durch Waffenwirkungen<br />
grundlegend anders gestaltet werden müßte als das inzwischen<br />
überalterte und zu Recht aufgegebene „Luftschutzsirenensystem“.<br />
Dies gilt aber auch für bereits bestehende Rechts-, Organisations-,<br />
Führungs- und Kommunikationsstrukturen. Gerade weil der Bund, aus welchen<br />
Gründen auch immer, keine übergeordnete Zuständigkeit mehr reklamiert,<br />
ergibt sich ein sachliches Defizit bei länder- und staatenübergreifenden<br />
Notlagen, ergeben sich eher Konkurrenzen und Eifersüchteleien, wo es<br />
der Harmonisierung, der Koordination und Kooperation bedürfte. Dies zeigt<br />
sich auf europäischer Ebene, dies zeigt sich anhand der Novellierungen der<br />
Brand- und Katastrophenschutzgesetzgebungen der Länder, dies zeigt sich<br />
an den Positionen des AK V der Innenministerkonferenz, dies zeigt sich an<br />
der beschleunigten Binnendifferenzierung innerhalb der bestehenden Strukturen<br />
(z.B. neue Führungsmodelle; Konkurrenzen um Positionen vor Ort,<br />
z.B. Einsatzleitzentrale und Einsatzleitung), dies zeigt sich bei übergreifenden<br />
Einsätzen (z.B. Fluß-Hochwasser, Auslandshilfe) und mehr noch bei<br />
Hilfsmaßnahmen, die einer ressourcenschonenden Gesamtpolitik, von<br />
Katastrophenschutz über Katastrophensoforthilfe bis hin zur Entwicklungspolitik<br />
dringend bedürften (vgl. Toetzke 1996).<br />
Am eindrücklichsten aber zeigt sich die Problematik anhand der eigentümlichen<br />
Position, die die Bevölkerung im Gefüge des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
einnimmt, oder genauer: nicht einnimmt. Ideel wie nominell<br />
gilt die Bevölkerung als Ziel und Objekt aller Schutzvorkehr, faktisch aber<br />
kommt die Bevölkerung nicht vor. Ganz gleich, welchen Indikator man zur<br />
Abbildung dieser Tatsache heranzieht, die Zahl von Schutzräumen, die Zahl<br />
der in Selbstschutz Ausgebildeten, die Zahl privat verfügbarer Schutzmasken<br />
oder -anzüge, Art und Umfang genereller Notfallkenntnisse (vgl.<br />
Moniac 1979), immer zeigt sich, daß Katastrophen- und weit mehr noch<br />
<strong>Zivilschutz</strong> seit Gründung der Bundesrepublik zum Besitzstand von<br />
Fachressorts und Fachpersonal geworden ist und daß deren Planungen, Vorhaltungen<br />
und Dienstleistungen die Bevölkerung nach Maßgabe fachlicher<br />
Spezialisierung zum immer laienhafteren Adressaten gemacht hat, statt<br />
Agenten und Agenturen dieser Adressaten zu werden und mit sich in Korrespondenz<br />
mit deren Bedürfnissen fortzuentwickeln.<br />
Natürlich ist eine solche Sichtweise im Mannheim’schen Sinne (1980)<br />
„seinsgebunden“, Kind ihrer Zeit, „kundenorientiert“, wie man heute in<br />
Anlehnung an ein betriebswirtschaftlich orientiertes Marketing formulieren<br />
209
würde. Aus dieser Sicht sind hoheitliche Aufgaben in Deutschland noch nie<br />
konstituiert worden. Die Staatsdiener dienen dem Staat, nicht ihren Bürgern.<br />
Karl Otmar Freiherr von Aretin (1967:27) hat diese obrigkeitsstaatliche<br />
Sichtweise anhand der Notstandsrechte herausgearbeitet und im Vergleich<br />
mit der grundlegend anderen angelsächsischen Auffassung als historisch<br />
überkommen kritisiert: Die deutsche Auffassung, so von Aretin, „sieht<br />
im Staat das Primäre. Ihn gilt es zu schützen, wobei die Rechte des Bürgers<br />
in den Hintergrund treten müssen“. Für die zweite, die angelsächsische<br />
Lösung ist dagegen „der Bürger, das Volk, als Träger der Souveränität das<br />
Wichtigste“. Von daher fragt von Aretin (29 f.), was angesichts dieser unterschiedlichen<br />
Auffassungen einerseits die jeweiligen Staatsformen in Notlagen<br />
für ihre Bürger zu leisten vermögen, andererseits aber auch, was die<br />
Bürger für ihre Staaten leisten können und stellt fest: Der Obrigkeitsstaat<br />
traut seinen Bürgern weder zu, sich selbst noch anderen oder gar dem<br />
Gemeinwesen insgesamt helfen zu können. Vielmehr wird befürchtet, daß<br />
die Bürger politisch, moralisch und emotional „aus dem Ruder laufen“,<br />
also Panik, Aufruhr, Kopflosigkeit und Widersetzlichkeit vorherrschen.<br />
Deshalb auch müsse Katastrophenschutz vor allem ein Ordnungsorgan sein.<br />
Der „liberale Staat“ gehe dagegen davon aus, daß sich seine Bürger im Notfall<br />
selbst zu helfen wissen, sie aber auch bereit sind, anderen und dem<br />
Gemeinwesen beizustehen, sofern dafür ein geeigneter und allgemein verfügbarer<br />
Rahmen bereitstehe.<br />
Von Aretins Auffassung wird von den Fakten unterstützt. Sämtliche<br />
europäischen Staaten, allen voran die Schweiz und Skandinavien, stellten<br />
sowohl für den Zivil- wie für den Katastrophenschutz einen geeigneteren<br />
und leichter verfügbaren Rahmen für Hilfe und Selbsthilfe zur Verfügung<br />
als die Bundesrepublik Deutschland. Auch der Ton in Richtung Bürger ist in<br />
diesen Staaten grundlegend anders, während man in Deutschland selbst in<br />
sogenannten Informations- und Aufklärungsschriften, in Merkblättern und<br />
Bekanntmachung einen scheinbar unausrottbaren obrigkeitsstaatlichen Ton<br />
findet: Es wird angeordnet, die Bürger haben zu befolgen, ansonsten wird<br />
mit Sanktionen gedroht (vgl. Dombrowsky 1997). Ein Dialog mit den Bürgern<br />
findet nicht statt, schon gar keine sachbezogene Zusammenarbeit, wie<br />
sie z.B. in den USA verfassungsmäßig verankert ist (local planning committee;<br />
Right to Know Act). Was also Bürger tatsächlich für bedrohlich<br />
halten, wie sie sich davor schützen wollen, welchen Schutz sie vom Staat<br />
erwarten und welchen Teil sie selbst beitragen können und wollen ist gänzlich<br />
unbekannt. Die Befragungen zum Zivil- und Katastrophenschutz waren<br />
in diesem Sinne allesamt ihr Geld nicht wert, weil sie eher vordergründigen<br />
legitimatorischen Interessen dienten, denn dem Stillen eines tatsächlichen<br />
Wissensdurstes.<br />
Hier nun kommen beide Momente zum Schnitt, deswegen ist die „Neukonzeption“<br />
weder neu noch Konzeption: Weil die den Zivil- und Katastrophenschutz<br />
administrierenden Fachpersonale noch immer mehrheitlich von<br />
einer obrigkeitsstaatlichen Sicht auf Bevölkerung kujoniert werden, fehlt<br />
210
der Wissensdurst, um sich über geeignete Fragen einer grundlegend veränderten<br />
Wirklichkeit so annähern zu wollen und zu können, daß aus Staatsdienern<br />
Dienstleister werden, die einen Zivil- und Katastrophenschutz als<br />
nachfragewerte Serviceleistung entwickeln und anbieten. Weil also nach<br />
wie vor Bevölkerung nicht stattfindet, bleibt <strong>Zivilschutz</strong> nach wie vor eine<br />
phantastische Inszenierung. reduziert sich Katastrophenschutz nach wie vor<br />
auf Interventionismus, auch wenn längst empirisch sichtbar geworden ist,<br />
daß ein präventiver Katastrophenschutz auf gesellschaftlichem Niveau<br />
ebenso wirkungsvoll sein könnte wie es der vorbeugende Brandschutz in<br />
seinem Bereich schon ist (dazu Dombrowsky/Brauner 1996).<br />
Weil also Bevölkerung als nachfrageseitige Instanz für Anpassungsleistung<br />
nicht vorkommt, bleibt Zivil- und Katastrophenschutz unter sich. Deshalb<br />
auch findet die Neuordnung in erster Linie als Rebalancement eines aus der<br />
Nachkriegsbalance gerissenen Systems statt. Dabei ist noch unentschieden,<br />
wie Gewinne und Verluste verteilt werden. Empirische Erkenntnisse stehen,<br />
allein aus Zeitgründen, noch aus. Interessant ist aber, daß die erhöhte Binnendifferenzierung<br />
des Systems Katastrophenschutz aus strukturellen Gründen<br />
chaotischer verlaufen muß, als dies beispielsweise bei der Umsetzung<br />
der Seveso-Richtlinie in deutsches Recht verlief Dort hatte ein hoch einflußreicher<br />
Industrieverband die sehr heterogenen Interessenlagen seiner<br />
informationspflichtigen Mitglieder gebündelt und in Form „einstimmigen“<br />
politischen Gewichts gegenüber dem Gesetzgeber vertreten. Die Neuordnung<br />
des Katastrophenschutzes dagegen vollzieht sich bislang ohne eine<br />
solche bündelnde Stimme. Die sechzehn Bundesländer sehen sich sogar in<br />
einer spezifischen Konkurrenz gegenüber dem Rahmenrecht des Bundesgesetzgebers.<br />
Alte Verwundungen scheinen noch immer zu schmerzen; die<br />
alten Länder tragen dem Bund seine „zentralistischen“ Interventionsversuche<br />
nach, der Bund gibt sich enttäuscht über die Kompetenzhuberei der<br />
Länder. <strong>Neue</strong> Wunden kamen hinzu, wenn man die Rangeleien auf europäischem<br />
Niveau betrachtet. Von daher nimmt es nicht Wunder, wenn die Binnendifferenzierung<br />
von allen Beteiligten, auch von den mitwirkenden Organisationen<br />
und Institutionen, zuvörderst dafür genutzt wurde, sich besser zu<br />
plazieren, mögliche Nachteile abzuwehren oder abzuwälzen und absehbare<br />
Vorteile so umfassend wie möglich in den zu erarbeitenden Aufgabenfeldern,<br />
Ausführungsbestimmungen und Richtlinien zu verankern. Es ging<br />
vornehmlich um Budgets, STANs, Kompetenzen und Dominanzen; um ein<br />
neues, ein anderes und besseres Konzept ging es, bis auf wenige Ausnahmen,<br />
nicht.<br />
Zivil- und Katastrophenschutzverdrossenheit<br />
Der Sache nach wäre ein neues Konzept ebenso notwendig wie historisch<br />
geboten. Zu Recht ist die Neuordnung des Zivil- und Katastrophenschutzes<br />
mit der veränderten sicherheitspolitischen Lage in Europa begründet worden.<br />
Tatsächlich aber endete nicht nur eine spezifische militärische, sondern<br />
211
auch eine spezifische ideologische Konfrontation. Und wenn die neue<br />
militärische Lage Grund genug war, den Zivil- und Katastrophenschutz<br />
anzupassen, wäre auch die neue ideologische Lage Grund genug gewesen,<br />
um dessen ideologische Substanz zu überprüfen und einem inzwischen<br />
grundlegend veränderten Denken anzupassen. Es erscheint angemessen,<br />
sich an dieser Stelle der Einsicht zu erinnern, die Professor Hippius anläßlich<br />
der Erweiterung der <strong>Schutzkommission</strong> um den damaligen Ausschuß<br />
VIII vor genau 25 Jahren während der Tagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in Freiburg formulierte:<br />
Die Einsicht liegt auf der Hand, daß alle noch so perfekten Maßnahmen<br />
des Schutzes ... in ihrem Wert stark gemindert werden können, wenn es in<br />
den betroffenen Bevölkerungsgruppen zu einem die Effizienz der äußeren<br />
Schutzmaßnahmen herabsetzenden Fehlverhalten kommt. Zu solchem<br />
Fehlverhalten kommt es immer dann, wenn die betroffenen Bevölkerungsgruppen<br />
unvorbereitet und uninformiert über die Möglichkeiten und<br />
Grenzen der äußeren Schutzmöglichkeiten in Katastrophensituationen<br />
sind.<br />
Aufgrund der Ergebnisse der Risiko-, Krisen- und Kommunikationsforschung,<br />
denen zufolge der enge Konnex von Wahrnehmen, Denken und<br />
Handeln anhand breiten empirischen Materials belegt ist, läßt sich Hippius’<br />
Einsicht durchaus auch auf die Wirksamkeit ideologischer Einflüsse erweitern:<br />
Dann liegt die Einsicht auf der Hand, daß alle noch so perfekten<br />
Schutzmaßnahmen in ihrem Wert stark gemindert werden können, wenn in<br />
der Bevölkerung ein Denken fortbesteht, das diesen Wert nicht erkennen<br />
läßt. Zu einer solchen Fehlwahrnehmung kommt es immer dann, wenn die<br />
Bevölkerung unvorbereitet und uniformiert ist und ein Dialog weder über<br />
Möglichkeiten und Grenzen, noch über Sinn und Nutzen äußerer Schutzmöglichkeiten<br />
geführt wird. Zudem ließe sich von den Erkenntnissen der<br />
Krisen- und Kommunikationsforschung lernen, daß Motivationskrisen vor<br />
allem Identifikationskrisen sind. Wer sich nicht einbezogen oder sogar ausgegrenzt<br />
fühlt, der wendet sich innerlich ab, „kündigt“ seine „Mitgliedschaft“<br />
auf. Dies gilt im betrieblichen Bereich, als „innere Kündigung“, dies<br />
gilt aber auch für den staatsbürgerlichen Bereich, als Desinteresse und Politikverdrossenheit.<br />
Die Enquete-Kommission des 9. Deutschen Bundestages über „Jugendprotest<br />
im demokratischen Staat“ liest sich wie ein Weißbuch zu solcher Verdrossenheit:<br />
„Das Gefühl der Ohnmacht, der Hoffnungslosigkeit, aber auch<br />
der Wut, die Verweigerung der Mitarbeit in Parteien oder der Ausstieg aus<br />
unserer Gesellschaft prägen weite Teile der Protestbewegung. Viele Jugendliche<br />
glauben, daß Politiker mit Höchstgeschwindigkeit eine Sackgasse<br />
befahren, deren Ende längst in Sicht ist“ (Jugendprotest… 1983:111). Demgegenüber<br />
wird „Politik auf Dauer nur dann Vertrauen gewinnen können,<br />
wenn sie auch für die nachfolgenden Generationen Gestaltungsspielräume<br />
läßt (126). Politik muß Perspektiven für die Gestaltung der Zukunft aufweisen“<br />
(111). Was für die „Seelenlage“ der Jugend formuliert wurde, gilt<br />
212
für staatsbürgerliches Engagement generell (vgl. Clausen/Dombrowsky<br />
1990; Ruhrmann/Kohring 1996). In keinem Punkte sind sich die verschiedenen,<br />
darüber forschenden Disziplinen so einig, wie in diesem: Akzeptanz<br />
findet der Staat bei seinen Bürgern nur noch dort, wo sie sich als Bürger<br />
akzeptiert fühlen. Das historische obrigkeitsstaatliche Ungleichgewicht ist<br />
längst einer Austauschwertigkeit gewichen, bei der sich der Staat um seine<br />
Bürger bemühen muß. Auch darin kommt Modernisierung zum Ausdruck,<br />
daß die in alle Lebensbereiche vordringende Rechenhaftigkeit Montarisierungskalküle<br />
in Anschlag bringt, die den Bürger fragen lassen, was sie für<br />
ihre Leistungen zurückbekommen. Auch zu diesen Problemen liegen inzwischen<br />
breite <strong>Forschung</strong>sergebnisse vor, die <strong>Schutzkommission</strong> hat sich<br />
daran beteiligt (vgl. Dombrowsky 1992). Worum es zu gehen hätte, wäre,<br />
diese Einsichten in ein <strong>Forschung</strong>sprogramm umzusetzen, das den Dialog<br />
mit dem Bürger aufnimmt, seine Ansichten, Bedürfnisse aber auch Beiträge<br />
für das Gemeinwesen erfragt, systematisiert und für eine Neukonzeption<br />
von Zivil- und Katastrophenschutz fruchtbar macht, die diesen Namen verdient.<br />
Ansatz für einen Dialog über einen zukünftigen Zivil- und<br />
Katastrophenschutz<br />
In Deutschland leisten mehr als zwölf Millionen Menschen in mehr als<br />
400 000 Gemeinschaften und Organisationen jährlich über 2,8 Mrd. Stunden<br />
ehrenamtliche Arbeit. Die Wertschöpfung ihres Engagements beträgt<br />
(je nach Ansatz; hier: 15 DM/Std.) rund 42 Mrd. DM. Müßte die Gesellschaft<br />
diesen Betrag in Mark und Pfennig aufbringen, müßte jeder Bürger<br />
zusätzlich 525 DM pro Jahr (bei 80 Mio.) bezahlen. Aber es geht nicht nur<br />
um ein barwertes Engagement. Wie in jedem Unternehmen, das große Vorteile<br />
aus den <strong>Neue</strong>rungsvorschlägen seiner Mitarbeiter bezieht, bringen<br />
fachlich engagierte Bürger in all diesen Ehrenämtern Ideen und Verbesserungsvorschläge<br />
ein, die unser Gemeinwesen kostenlos stärken und es sozial,<br />
menschlich und sachlich voranbringen. Die Vorstellung, daß sich Zivilund<br />
Katastrophenschutz in dem erschöpfen könnte, was die damit Befaßten<br />
dazu entwickelt haben, ist schlicht borniert, zugleich aber auch eine Kränkung<br />
und Abweisung jener Bürger, die sich, in welcher Form auch immer,<br />
Mühe gegeben haben. Auch hier gilt: Wer dieses Mühen aus fachlicher<br />
Überheblichkeit oder menschlicher Unfähigkeit nicht erkennt, erkennt<br />
einem Menschen seine bürgerliche Beteiligung ab. Auch hier zeigt die Krisen-<br />
und Kommunikationsforschung, daß insbesondere derartige Kränkungen<br />
besonders dauerhaft und schmerzlich sind. Von daher stünde es einem<br />
bürgerbezogenen Zivil- und Katastrophenschutz gut zu Gesicht, wenn diejenigen,<br />
für die er wirksam sein soll, die ihn aber zugleich auch tragen sollen,<br />
endlich ihre ureigene Kompetenz für Notstände konzeptualisieren.<br />
In einem ersten Schritt sollte einmal erfaßt werden, wo, trotz allen Lamentierens<br />
über Werteverfall und „Ego-Gesellschaft“, bürgerliche Tugenden<br />
213
nach wie vor und immer wieder von neuem zum Ausdruck kommen (A). In<br />
einem zweiten Schritt sollten diese Potentiale daraufhin analysiert werden,<br />
welchen Bedürfnissen sie entsprechen, welchen Anschauungen und Wahrnehmungen<br />
(auch Risikowahrnehmungen) sie aufruhen, welche Bewertungen<br />
eingehen und welche Bereitschaften sie einschließen, dafür Leistungen<br />
zu erbringen (B). In einem dritten Schritt sollten die Handlungsdeterminanten<br />
untersucht werden, um erfahren zu können, unter welchen Bedingungen<br />
Menschen aktiv und prosozial agieren (C). Und in einem letzten Schritt<br />
schließlich sollten Maßnahmen und Strategien entwickelt werden, die für<br />
den Bürger eine Serviceleistung darstellen, also in einem angebotsorientierten<br />
Ansatz vom Nutzen für den Bürger ausgehen (D). Auch dafür gibt es<br />
bereits empirische Untersuchungen, die zeigen, wie die Akzeptanz öffentlicher<br />
Güter getestet und evaluiert werden kann (vgl. Becker et al. 1993).<br />
A) Erfassen von Selbsthilfepotentialen „moderner“ Art<br />
– Sozialdienstagentur<br />
– Kranken- u. Babysitting<br />
– Neighborhood Watch<br />
– U-Bahn-Patrouille (Berlin)<br />
– Nachbarschaftshilfe (Blumengießen, Briefkasten leeren, Mülltonnen rausstellen)<br />
– Tauschbörsen<br />
– Mitnutzungszentralen<br />
B) Analyse moderner Selbsthilfepotentiale<br />
– auf welche Bedrohung wird reagiert<br />
– wie werden die Bedrohungen wahrgenommen („Staat versagt“, Defizit,<br />
Isolation)<br />
– wie werden die Bedrohungen bewertet<br />
– welche emotionale Zuordnung findet statt<br />
– welche Lösungen werden erträumt (mehr Polizei, starker Staat)<br />
– wie sind die konkreten Lösungen entstanden<br />
– wieviel ist man bereit, selbst zu tun?<br />
– welche Risiken werden überhaupt wahrgenommen?<br />
– wie werden Risiken hierarchisiert?<br />
– welche bedrohlichen Ereignisse führen überhaupt zu Reaktionen/Maßnahmen?<br />
C) Handlungsdeterminanten (Hindernisse und Beförderungen)<br />
– wie wird die Kluft zwischen Mißstand und Nichtreagieren erklärt?<br />
– welche persönlichen Determinanten<br />
– welche strukturellen Determinanten lassen sich für Nicht-Handeln/<br />
Handeln identifizieren?<br />
214
D) Maßnahmen und Strategien<br />
– Therapeutisches Intervall und 1. Glied der Rettungskette aufwerten und<br />
planbar gestalten<br />
– Vulnerabilität und Schutzvermögen schulen (vgl. Norwegen)<br />
– Initiativplan (Selbstschutz-„Tupper-Party“: Nachbarn einladen)<br />
– „Offertüre“ (Ouvertüre durch positive Offerte): eine Anleitung zum sozialen<br />
Nachahmen:<br />
– Schutzfibel<br />
– Selbstschutzerziehung (analog: Brandschutzerziehung, einschl. Massenkomm<br />
à la „7. Sinn“)<br />
– Initiativplan „Umbrella“: Eine Initiative für eine integrative Rahmengesetzgebung,<br />
die vom Gesundheitsschutz, Unfallschutz, Arbeitsschutz,<br />
Umweltschutz, Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong> alle Schutzleistungen des<br />
Staates für seine Bürger so zu einer Gemeinschaftsaufgabe staatlicher<br />
Daseinsvorsorge zusammenführt, daß daraus ein Sicherheitsgewinn, aber<br />
auch materieller Gewinn durch Vereinfachung und Rationalisierung entstehen<br />
kann.<br />
Literatur<br />
Becker, J./Dombrowsky, W. R./Goetzke, I./Herger, P./Kast, J./Ohlendieck, L.: Erarbeitung von Alarm- und<br />
Gefahrenabwehrplänen und Umfang der Information der Bevölkerung in der Nachbarschaft störfallrelevanter<br />
Anlagen. Texte 43/93, hrsg. v. Umweltbundesamt Berlin, Berlin: UBA 1993<br />
Clausen, Lars & Dombrowsky, W. R.: Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik bei Großunfällen und<br />
Katastrophen. <strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 1, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1990<br />
Dombrowsky, Wolf R.: Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophenschutz. Ein Planungszellenverfahren.<br />
<strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 10, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1992<br />
Dombrowsky, W. R.: Zum Teufel mit dem Bindestrich. Zur Begründung der Katastrophen(-)Soziologie in<br />
Deutschland durch Lars Clausen, in: Dombrowsky, W. R. & Pascro, U. (Hg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe.<br />
Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen. Wiesbaden: Westdt. Vlg. 1995: 108–122<br />
Dombrowsky, W. R. & Brauner, C.: Defizite der Katastrophenvorsorge in Industriegesellschaften am Beispiel<br />
Deutschlands. Untersuchungen und Empfehlungen zu methodischen und inhaltlichen Grundsatzfragen.<br />
Gutachten im Auftrag des Deutschen IDNDR-Komitees für Katastrophenvorbeugung e.V. (Langfassung).<br />
Deutsche IDNDR-Reihe Nr. 3b, Bonn: IDNDR 1996<br />
Dombrowsky, W. R. & Ohlendieck, Lutz: Survey on the state of implementation of die EEC Directive<br />
82/501/EEC, Article 8, in the Federal Republic of Germany: Information to the public likely to be affected<br />
by major accident hazards of certain industrial activities. Study prepared for European Commission Joint<br />
Research Centre, Ispra, Italy. Kiel: KFS 1992<br />
Einstellungen zu aktuellen Fragen der Innenpolitik 1989 – Katastrophen- und <strong>Zivilschutz</strong>, IPOS-Studie im<br />
Auftrag des BMI<br />
Hippius, H.: Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> in Freiburg/Br. Am 12./13. Mai 1972<br />
Jugenprotest im demokratischen Staat II, Schlußbericht 1983 der Enquete-Kommission des 9. Deutschen<br />
Bundestages, Zur Sache 1/1983, Speyer: Deutscher Bundestag, Presse- und Informationszentrum Referat<br />
Öffentlichkeitsarbeit 1983<br />
215
Mannheim, K.: Eine soziologische Theorie der Kultur und ihrer Erkennbarkeit, in: Ders.: Strukturen des<br />
Denkens, hrsg. v. D. Kettler u.a., Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980: 255–322<br />
Moniac, R.: Der <strong>Zivilschutz</strong> in der öffentlichen Meinung. Zivilverteidigung 4/1979: 35–42<br />
Ruhrmann, G. & Kohring, M.: Staatliche Risikokommunikation bei Katastrophen. Informationspolitik und<br />
Akzeptanz. <strong>Zivilschutz</strong>forschung <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong> Bd. 27, Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern, hrsg. vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong>. Bonn: BZS 1996<br />
Toetzke, C.: Entwicklungsorientierte Nothilfe des BMZ, Notfallvorsorge 3/1996: 9–11<br />
216
Die Erstellung von Datenbasen als Entscheidungshilfe<br />
für die Regierung, eine Aufgabe für die <strong>Schutzkommission</strong>?<br />
Georg Gerber<br />
Einleitung<br />
Die folgenden Ausführungen sind als Diskussionsgrundlage gedacht und<br />
keinesfalls ein ausgearbeiteter Vorschlag. Daher möchte ich im obigen Teil<br />
insbesondere das Fragezeichen betonen und Sie um Ihre Meinung darüber<br />
bitten, zum Ersten, ob eine solche Datenbasis der <strong>Schutzkommission</strong> helfen<br />
kann, sich den veränderten Gegebenheiten anzupassen und so besser ihre<br />
Aufgabe zur Beratung der Entscheidungsträger und der Öffentlichkeit<br />
wahrzunehmen und zum Zweiten, ob Sie glauben, dass die <strong>Schutzkommission</strong><br />
in der Lage ist, eine solche Datenbasis aufzubauen. Die Details der<br />
Datenbasis, die ich nur zu Illustration der Möglichkeiten erwähnen werden,<br />
sollten wir erst später diskutieren.<br />
Während der 30 Jahre, die ich der <strong>Schutzkommission</strong> angehört habe, haben<br />
sich ihr Wesen und ihre Ziele grundlegend verändert. Früher konnten wir<br />
unser Augenmerk auf wissenschaftliche <strong>Forschung</strong> lenken, die in irgendeiner<br />
Weise dem Schutz der Bevölkerung bei Katastrophen dienen sollte.<br />
Heute müssen wir zeigen, dass wir als Wissenschaftler in der Lage sind,<br />
wissenschaftliche Gesichtspunkte beim Katastrophenschutz im Widerstreit<br />
politischer Interessen zu Gehör zu bringen.<br />
Gefahren durch Katastrophensituationen sind heute genau so aktuell wie<br />
früher, aber ihre Einschätzung durch Politiker und die Öffentlichkeit haben<br />
sich gewandelt. Ich glaube, dass der Gefahrenbericht, den die <strong>Schutzkommission</strong><br />
erstellt hat, diesem neuen Bild ausgezeichnet entspricht. Dieser<br />
Bericht hat jedoch seine Grenzen. Er ist eine Momentaufnahme unserer<br />
gegenwärtigen Situation. Er enthält zu wenig detaillierte Informationen für<br />
die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit im Katastrophenfall, und, ich<br />
fürchte, er enthält vielleicht mehr Informationen als beschäftigte Politiker<br />
Zeit für eine sorgfältige Lektüre aufwenden wollen.<br />
Mein Vorschlag ist daher diesen Gefahrenbericht zu einer Datenbasis<br />
weiterzuentwickeln, der je nach Bedarf allgemeine Gesichtspunkte wie Einzelheiten<br />
entnommen werden können und die stets auf dem neuesten Stand<br />
gehalten werden sollte. Zwei Gründe haben mich auf diesen naheliegenden<br />
Gedanken gebracht. Einmal habe ich, zusammen mit amerikanischen und<br />
japanischen Kollegen eine Datenbasis über Informationen an strahlenbiologischen<br />
Tierversuchen entwickelt, über die ich an dieser Stelle bereits<br />
berichtet habe. Zum anderen hatte ich in den letzten Jahren, insbesondere<br />
bei einem Besuch in Japan im letzten Herbst, die Gelegenheit zur Diskus-<br />
217
sion mit den japanischen Kollegen, die eine Datenbasis über die Wirkung<br />
kleiner Strahlendosen entwickeln.<br />
Diese Datenbasis, die zum Teil noch in der Planung ist, hat ein doppeltes<br />
Ziel, einmal die Öffentlichkeit über die Wirkungen und Risiken von Strahlen<br />
zu informieren, zum anderen den Wissenschaftlern die Abschätzung der<br />
Risiken geringer Strahlendosis zu erleichtern. Diese Informationen sollen<br />
zum Teil auch über das Internet angeboten werden.<br />
Inhalt der Datenbasis<br />
Eine von der <strong>Schutzkommission</strong> zu entwickelnde Datenbasis sollte deren<br />
Aufgaben widerspiegeln. Hier sehe ich die folgenden Problemkreise, die im<br />
wesentlichen denen des Gefahrenberichts entsprechen:<br />
Gefahren bei katastrophalen Ereignissen (chemisch, radiologisch, mikrobiologisch…),<br />
ihre Kurz- und Langzeitrisiken für die Bevölkerung und<br />
die Einsatzkräfte;<br />
Situationen, bei denen solche Gefahren auftreten können (Naturkatastrophen,<br />
industrielle Katastrophen, Krieg, Terror);<br />
Vorbeugemassnahmen: gegenwärtiger Stand, Engpässe und Bedarf (medizinische<br />
Versorgung, Wasser, Lebensmittel, Energie, Transport, Einsatzkräfte);<br />
Gegenmassnahmen bei spezifischen Katastrophen;<br />
Personen (auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene), die in<br />
der Lage sind, die Verantwortlichen in spezifischen Situationen zu beraten<br />
und die Öffentlichkeit zu informieren;<br />
Literatur: eine Auswahl der wichtigsten Arbeiten zum Problem.<br />
Die Datenbasis sollte so konstruiert sein, dass sie auf die Fragen Antwort<br />
geben kann, die von Politikern und der Öffentlichkeit an die <strong>Schutzkommission</strong><br />
gestellt werden könnten. Beispiele für solche Fragen könnten sein:<br />
– Welches sind die Risiken einer bestimmten Situation (Beispiel Transportunfall<br />
mit Freisetzung von Radioaktivität aus aufgearbeiteten Brennelementen)?<br />
– Wie verhält sich das toxische Material in der Umwelt?<br />
– Wie groß ist die Toxizität des freigesetzten Materials und die Symptome<br />
bei Inhalation, Aufnahme mit der Nahrung… für die Bevölkerung und für<br />
die Einsatzkräfte?<br />
– Welche Vorbeugemassnahmen und Gegenmassnahmen stehen für eine<br />
bestimmte Situation zur Verfügung?<br />
– Welche Personen für eine Information von Politikern oder der Öffentlichkeit<br />
am Fernsehen oder auf lokaler Ebene herangezogen werden?<br />
– Wo findet man Literatur zu den entsprechenden Problemen?<br />
218
Sollten wir uns entscheiden, eine solche Datenbasis zu entwickeln, wird es<br />
eine erste Aufgabe sein, einen solchen möglichst vollständigen Fragenkatalog<br />
aufzustellen.<br />
Die Struktur der Datenbasis<br />
Die verschiedenen Informationen werden in Form von Tafeln gespeichert,<br />
die als relationelle Datenbasis miteinander verbunden sind. Die Datenbasis<br />
könnte mittels eines kommerziellen Programmes (ACCESS) realisiert<br />
werden.<br />
Jeder der erwähnten Problemkreise besteht aus einer Reihe von Tafeln, die<br />
über Indices und eventuelle Hilfstafeln miteinander verknüpft sind. Verschiedene<br />
Suchprogramme ermöglichen eine Antwort auf die verschiedenen<br />
Fragen. Zudem können Optimierungsprogramme an die Datenbasis angeschlossen,<br />
die als Entscheidungshilfe unter Auswertung realer Informationen<br />
Vorschläge für optimale Strategien entwickeln in ähnlicher Weise, wie<br />
dies auch für radiologische Unfälle bereits durchgeführt wird.<br />
Planung und Durchführung<br />
Sollte die <strong>Schutzkommission</strong> sich für die Entwicklung einer solchen Datenbasis<br />
entscheiden, könnte ich mir folgendes Vorgehen vorstellen:<br />
Zunächst sollte eine kleine Gruppe (6–10 Personen) aus den verschiedenen<br />
Komitees die Vorarbeiten in Gang bringen<br />
a) Diskussion, ob eine solche Datenbasis sinnvoll und möglich ist;<br />
b) Aufstellung einer Frageliste über mögliche Anwendungen;<br />
c) Entscheidung, ob eine solche Datenbasis entwickelt werden soll;<br />
d) Entscheidung über das zu verwendete Programm;<br />
e) Planung der Struktur der Datenbasis;<br />
f) Prüfung des Plans an einem Teilgebiet des Katastrophenschutzes;<br />
g) Befragung der Mitglieder der <strong>Schutzkommission</strong> über spezifische<br />
Informationen;<br />
h) Einbringen der Daten.<br />
Die Kosten einer solchen Datenbasis halten sich meiner Ansicht nach in<br />
Grenzen. Benötigt werden Gelder für Hardware und Software, das meiste<br />
davon im ersten Jahr, Treffen und Reisen, das Sekretariat und evtl. teilzeitliche<br />
Einstellung eines jungen Informatikers. Die vollständige Entwicklung<br />
einer solchen Datenbasis wird sicherlich etwa 5 Jahre in Anspruch nehmen.<br />
Ein zentraler Teil der Datenbasis könnte in etwa 3 Jahren operationell sein.<br />
219
Zum Abschluss meiner Bemerkungen möchte ich noch einmal betonen,<br />
dass diese Ideen allein zur Diskussion in den Raum gestellt sind. Sie sind<br />
sicherlich noch nicht genug ausgereift, um in den Details diskutiert zu<br />
werden.<br />
220
Der Einsatztoleranzwert als Instrument der raschen<br />
Gefahrenbewertung am Brandort und beim Gefahrstoffeinsatz*<br />
Klaus Buff und Helmut Greim<br />
Einleitung<br />
Feuer, Rauch und Hitze sind spektakuläre Erscheinungen von Großbränden<br />
und markieren deutliche, für jedermann wahrnehmbare Gefahren (Bild 1).<br />
Weniger auffällig, aber deswegen nicht minder gefährlich sind die eher<br />
unsichtbaren Begleiterscheinungen in Gestalt gasförmiger Brandprodukte.<br />
Toxische Brandgase gefährden die Gesundheit von Einsatzkräften und der<br />
Bevölkerung. Das Wissen der Einsatzleitung über Art und Umfang auftretender<br />
toxischer Brandprodukte reicht aber oft nicht aus, um daraus<br />
entstehende gesundheitliche Gefahren richtig einschätzen und dementsprechend<br />
angemessene Schutzmaßnahmen treffen zu können. Diese<br />
Problematik kennzeichnet gleichermaßen Großbrände und Einsätze mit<br />
gefährlichen Stoffen.<br />
Dieses Problem aufgreifend hat die „Vereinigung zur Förderung des Deutschen<br />
Brandschutzes“ (vfdb) einen Richtlinienentwurf zum Schutz der Einsatzkräfte<br />
und der Bevölkerung vor der Einwirkung toxischer Schadstoffe<br />
entworfen und zur Diskussion gestellt (1). In dem Entwurf „10/01“ wurden<br />
26 Einzelstoffe als gasförmige Schadstoffe benannt. Vorkommen, Häufigkeit<br />
und Toxizität, nicht zuletzt auch praktische Aspekte wie die Möglichkeit<br />
der schnellen Erfassung mit Prüfröhrchen bestimmen die Auswahl der<br />
Stoffe. Die akute inhalative Toxizität dieser Stoffe wurde in Faktendatenbanken<br />
recherchiert. Aus den Daten wurden unter der Annahme einer ungeschützten<br />
vierstündigen Exposition gesunder Feuerwehrleute „Einsatztoleranzwerte“<br />
abgeleitet (1). – Eine vergleichende Übersicht der damaligen<br />
Einsatztoleranzwerte mit anderen nationalen und internationalen Grenzund<br />
Richtwerten gibt Uelpenich (2).<br />
Die Einsatztoleranzwerte waren als vorläufige Richtwerte konzipiert und<br />
primär für Einsatzkräfte ohne Atemschutz gedacht worden. In späteren<br />
Überarbeitungen des Richtlinienentwurfs sollte auch der Schutz der gesunden<br />
Bevölkerung vor toxischen Gefahren durch den Einsatztoleranzwert mit<br />
abgedeckt sein. Der Entwicklung der letzten Jahre entsprechend vertritt das<br />
Referat 10 der vfdb derzeit den Standpunkt, den Schadensfall „Brand“ aus<br />
dem Entwurf der Richtlinie zu entfernen und die „10/01“ ausschließlich für<br />
den Gefahrguteinsatz neu zu konzipieren. In jedem Fall aber bedurften die<br />
vorgeschlagenen Einsatztoleranzwerte noch einer eingehenden toxikolo-<br />
* Das Projekt wurde vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> (BZS) gefördert.<br />
221
gischen Überprüfung und Begründung. Diese ist jetzt von den Verfassern<br />
vorgenommen und in einem Abschlußbericht an das BZS dokumentiert<br />
worden (3).<br />
Toxikologische Ableitung der Einsatztoleranzwerte<br />
In einer umfassenden Literaturrecherche wurden die wissenschaftlichen<br />
Publikationen über die akute Toxizität von insgesamt 34 Schadstoffen<br />
gesammelt und toxikologisch bewertet. Langzeitwirkungen wie Gentoxizität<br />
oder Kanzerogenität spielten nur eine untergeordnete Rolle. Schwerpunkte<br />
der Literaturauswertung waren Erfahrungen mit kontrolliert-exponierten<br />
Personen und Berichte aus klinischen Beobachtungen, in zweiter<br />
Linie ergänzt durch die Ergebnisse von Tierversuchen. Im einzelnen sind<br />
folgende Bewertungskriterien hervorzuheben:<br />
– Resorpitonsgrad nach Inhalation (evtl. auch nach Hautkontakt),<br />
– Entstehung und Verteilung der Stoffe im Körper (einschließlich evtl.<br />
Anreicherungen),<br />
– Stoffwechselprodukte und deren Verteilung,<br />
– Zielorgane (Konzentrationen am Wirkort, „innere Exposition“),<br />
– Verweilzeit im Körper und Ausscheidung,<br />
– Wirkmechanismen der Toxizität von Ausgangssubstanz und Stoffwechselprodukten,<br />
– Schwellenwerte toxischer Effekte,<br />
– akute systemische Toxizität und lokale Reizwirkungen,<br />
– toxikologische Begründung anderer Grenz- und Richtwerte (MAK, BAT<br />
u. a.).<br />
Auf der Basis dieser Unterlagen und unter Berücksichtigung weiterer<br />
jeweils stoffspezifischer Eigenschaften und Wirkungen nach akuter Inhalation<br />
wurden für 34 Stoffe die Einsatztoleranzwerte abgeleitet. Sie sind in<br />
Tabelle 1 aufgelistet.<br />
Tabelle 1: Einsatztoleranzwerte für eine Expositionsdauer von<br />
4 Stunden<br />
Stoff Einsatztoleranzwert (ppm)<br />
Aceton 500<br />
Acrolein 0,2<br />
Acrylnitril 20<br />
Ammoniak 50<br />
Benzol 20<br />
Carbonylchlorid (Phosgen) 0,1<br />
Chlor 1<br />
222
Chlorbenzol 100<br />
Chlorcyan 0,3<br />
Chlorwasserstoff 5<br />
Cyanwasserstoff (Blausäure) 5<br />
Essigsäure 20<br />
Ethanol 3 000<br />
Fluorwasserstoff (Flußsäure) 5<br />
Formaldehyd 1<br />
n-Hexan 200<br />
Hydrazin 1<br />
Kohlendioxid 10 000<br />
Kohlendisulfid (Schwefelkohlenstoff) 10<br />
Kohlenmonoxid 100<br />
Methanol 500<br />
Phosphin (Phosphorwasserstoff) 0,5<br />
Schwefeldioxid 1<br />
Schwefelwasserstoff 10<br />
Stickstoffdioxid 1<br />
Styrol 40<br />
Tetrachlorethan 100<br />
Toluol 100<br />
Toluylendiisocyanate (TDI) 0,02<br />
1,1,1-Trichlorethan 300<br />
1,1,2-Trichlorethan 25<br />
Trichlorethen 100<br />
Vinylchlorid 100<br />
Interpretation der Einsatztoleranzwerte<br />
Die Einsatztoleranzwerte entsprechen den Konzentrationen der einzelnen<br />
Schadstoffe, bei denen alle Personen ohne Atemschutz und einer Expositionszeit<br />
bis zu vier Stunden keine gesundheitliche Gefährdung erfahren.<br />
Folglich gelten die Werte gleichermaßen für Einsatzkräfte und Bevölkerung,<br />
Kinder und alte Menschen, gesunde und kranke Personen; sie können<br />
für jeden Zeitraum unter vier Stunden Anwendung finden. In bezug auf die<br />
Konzentrationshöhe sind sie ohne Reserve „nach oben“ konzipiert worden.<br />
Es gibt also keinen noch anzurechnenden „Sicherheitsfaktor“. Das gilt<br />
besonders für Reizstoffe, die auch bei einer Exposition im Bereich der Einsatztoleranzwerte<br />
milde, jedoch vorübergehende und toxisch irrelevante<br />
Beeinträchtigungen hervorrufen können (Beispiel: Chlor).<br />
Bei drei Stoffen, nämlich Cyanwasserstoff, Schwefeldioxid und Stickstoffdioxid,<br />
liegen die Einsatztolerenzwerte deutlich unterhalb der Maximalkonzentration<br />
am Arbeitsplatz (MAK). Die MAK Werte vieler Einzelstoffe<br />
sind durch ausführliche toxikologische Begründungen der Arbeitsplatztoxi-<br />
223
zität gestützt. Die Begründungen werden, dem Stand der Kenntnis folgend,<br />
von Zeit zu Zeit überarbeitet. <strong>Neue</strong> wissenschaftliche Ergebnisse können<br />
eine Überprüfung der MAK Einstufung und der Expositionswerte rechtfertigen.<br />
Häufig resultieren aus diesem Verfahren neue, meist tiefere MAK<br />
Werte. Eine Überprüfung der toxikologischen Einstufung der drei erwähnten<br />
Stoffe, mit dem voraussichtlichen Ergebnis einer Korrektur „nach<br />
unten“ ist von der Kommission bereits in Arbeit gegeben worden.<br />
Die Einsatztoleranzwerte geben einen ersten Anhaltspunkt für die akute<br />
Toxizität der Einzelstoffe. Mögliche Kombinationswirkungen wurden bei<br />
der Ableitung der Werte nicht berücksichtigt. Die Auswertung der wissenschaftlichen<br />
Literatur hat zudem gezeigt, daß eindeutige, auf die gleichzeitige<br />
Inhalation von Stoffen zurückzuführende verstärkt toxische Wirkung<br />
nur bei hohen, im Bereich der Wirkungsschwelle liegenden Konzentrationen<br />
zu erwarten sind. Bei Einhaltung der von uns abgeleiteten Einsatztoleranzwerte<br />
ist dies nicht der Fall. Überlegungen über toxische Wirkungen<br />
infolge gleichzeitiger Expositionen mit mehreren Brandgasen können also<br />
für die unmittelbare Einsatzpraxis außer Betracht bleiben. Der Einfluß physikalischer<br />
Wirkungen wie Brandhitze auf die inhalative Toxizität konnte<br />
mangels experimenteller Anhaltspunkte bei der Bewertung der Einsatztolerenzwerte<br />
nicht berücksichtigt werden. Gleiches gilt auch für die Bewertung<br />
der Einzelgase in Anwesenheit von Rauchgaspartikeln.<br />
Identifizierung toxisch relevanter Brandgase<br />
Für die Einsatzpraxis der Feuerwehr ist es wichtig, die zu treffenden<br />
Schutzmaßnahmen auf die wirklich toxisch relevanten Bestandteile von<br />
Brandgasgemischen abzustimmen. Daher wurden Literaturangaben über<br />
Vorkommen und Konzentrationen von Schadstoffen bei Gebäude- und<br />
Wohnungsbränden in unmittelbarer Brandnähe sowie Ergebnisse mit simulierten<br />
Bränden gesammelt, um durch Vergleich mit den Einsatztoleranzwerten<br />
ein Maß für die toxikologische Relevanz der einzelnen Stoffe zu<br />
definieren (3). Informationen über Zusammensetzung und Konzentration<br />
von Verbrennungsprodukten sind in den Tabellen 2 und 3 enthalten.<br />
Tabelle 2: Vergleich der bei Gebäude- und Wohnungsbränden gemessenen<br />
Brandgase mit den Einsatztoleranzwerten<br />
Brandgas Häufigkeit des Konzentration Einsatztoleranzwert<br />
Auftretens (%) (ppm) (ppm)<br />
Aceton 15–50 500<br />
Acrolein 50 0,3–15 0,2<br />
Benzol 85 bis 250 20<br />
Chlorbenzol 25 nachgewiesen 100<br />
Chlorwasserstoff 9–53 1–280 5<br />
Cyanwasserstoff 12–75 5–75 5<br />
Ethanol 25 nachgewiesen 3 000<br />
224
Fluorwasserstoff 34 bis 7,5 5<br />
Formaldehyd 30–100 bis 15 1<br />
n-Hexan 30 nachgewiesen 200<br />
Kohlendioxid 100 bis 50 000 10 000<br />
Kohlenmonoxid 100 bis 7 500 100<br />
Schwefeldioxid 15–50 0,2–41 1<br />
Stickstoffdioxid 9–17 10 1<br />
Styrol 5–80 bis 25 40<br />
Tetrachlorethan 5–60 bis 0,14 100<br />
Toluol 80 15–25 100<br />
1,1,1-Trichlorethan nachgewiesen 300<br />
1,1,2-Trichlorethan nachgewiesen 25<br />
Trichlorethen 40 0,2 100<br />
* Tabelle und Literatur aus (3), gekürzt.<br />
Die Tabelle 2 zeigt, daß bei Gebäude- und Wohnungsbränden die Konzentration<br />
vieler Stoffe den Einsatztoleranzwert schon in geringer Entfernung<br />
vom Brandherd nicht mehr erreichen, andere aber diesen Wert deutlich<br />
überschreiten können. Chlorwasserstoff, Cyanwasserstoff, Formaldehyd<br />
und Kohlenmonoxid werden häufig nachgewiesen, die hohen Konzentrationen<br />
am Brandort verleihen diesen Stoffen die größte toxikologische<br />
Bedeutung. In Sonderfällen wurden auch Acrolein, Schwefeldioxid und<br />
Stickstoffdioxid in höheren Konzentrationen am Brandort gemessen, wobei<br />
in diesen Literaturbeispielen die hohen Werte eher als „Ausreißer“ anzusehen<br />
sind. Für größere Distanzen vom Brandort, etwa in 50–100 m Entfernung,<br />
ist abzusehen, daß infolge des Ausbreitungsverhaltens der Stoffe in<br />
der Luft die Konzentrationen aller Brandgase unter den jeweiligen Einsatztolerenzwert<br />
verdünnt werden. Die bei realen Bränden erhaltenen Ergebnisse<br />
sind durch Beispiele simulierter Raumbrände mit sortiertem Mobiliar<br />
in Tabelle 3 ergänzt.<br />
Tabelle3 Vergleich der bei simulierten Raumbränden gemessenen<br />
Brandgase mit den Einsatztoleranzwerten<br />
Brandgas Konzentration (ppm) Einsatztoleranzwert (ppm)<br />
Acrolein 10–36 0,2<br />
Chlorwasserstoff 7–260 5<br />
Cyanwasserstoff bis 2 000 5<br />
Essigsäure nachgewiesen 20<br />
Fluorwasserstoff 0,2–3 1<br />
Kohlendioxid bis 250 000 10 000<br />
Kohlenmonoxid bis 200 000 100<br />
Schwefeldioxid 7–200 1<br />
Stickstoffdioxid 15–164 1<br />
* Tabelle und Literatur aus (3), gekürzt.<br />
225
Bei Bränden von Gebäuden, die nur wenige Materialgruppen eingelagert<br />
haben, wie Chemikalien- und Düngemittellager, Silos, Lager von Polstermöbeln,<br />
kunststoffverarbeitende Betriebe u.ä., können im Brandfall zu den<br />
bereits genannten 4 Brandgasen zusätzlich weitere Gase in sehr hoher Konzentration<br />
entstehen, denen dann toxische Relevanz zuerkannt werden muß.<br />
Beispiele dafür sind Acrolein aus Baumwolle, Ammoniak aus Düngemitteln,<br />
Fluorwasserstoff, Schwefel- und Stickstoffoxid aus den entsprechenden<br />
F-, S- und N-haltigen Kunststoffen sowie Toluylendiisocyanate (TDI)<br />
aus Schaumstoffmaterialien.<br />
Praktische Anwendung<br />
Die Einsatztoleranzwerte sollen es dem Einsatzleiter ermöglichen, akute<br />
gesundheitliche Bedrohungen durch toxische Brandgase rasch abzuschätzen.<br />
Der Anwendungsbereich erstreckt sich auf alle Menschen ohne Atemschutzausrüstung.<br />
Ihre Verwendung erübrigt den Zugriff auf andere Grenzoder<br />
Richtwerte, wie sie die MAK, die „Biologisch-medizinischen Arbeitsplatz-Toleranzwerte“<br />
(BAT), die „Emergency Response Planning Guidelines“<br />
(ERPG) u.ä. darstellen. Das bedeutet für den Einsatzleiter eine stark<br />
vereinfachte Entscheidungsfindung: der Vergleich der einlaufenden Daten<br />
aus analytischen Messungen der Schadgaskonzentrationen mit den Einsatztoleranzwerten<br />
erlaubt vor Ort eine Ja/Nein Antwort auf die Frage nach der<br />
potentiellen Gesundheitsgefährdung. Bleiben die gemessenen Konzentrationen<br />
der Schadgase unterhalb der Einsatztolerenzwerte, so braucht der<br />
Einsatzleiter keine besonderen Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung<br />
zu treffen. Steigt die Konzentration einer toxischen Komponente in kurzer<br />
Zeit (beispielsweise bei mehreren Messungen innerhalb von einigen<br />
Minuten) klar über den Einsatztoleranzwert, dann muß der Einsatzleiter<br />
eingreifen und geeignete Maßnahmen zum Schutz der betroffenen Menschen<br />
einleiten.<br />
Aus den verfügbaren Informationen ergibt sich als Konsequenz für den<br />
praktischen Einsatz bei Großbränden und Gefahrguteinsätzen:<br />
– im allgemeinen Fall von Gebäude- und Raumbränden sowie bei unbekanntem<br />
Brandgut genügt für eine erste Gefährdungsabschätzung die<br />
Messung von 4 Brandgasen, denen die größte toxikologische Bedeutung<br />
zukommt:<br />
Chlorwasserstoff<br />
Cyanwasserstoff<br />
Formaldehyd<br />
Kohlenmonoxid<br />
– bei Bränden von speziellem Brandgut sind zusätzliche Schadstoffe zu<br />
erwarten. Beispiele sind:<br />
226
Acrolein bei Baumwollvorräten,<br />
Ammoniak bei Kunststoff- und Düngemittellagern,<br />
Fluorwasserstoff bei Lagern mit PTFE Kunststoffen,<br />
Schwefeldioxid bei Lagern von Wolle,<br />
Stickstoffdioxid bei Zelluloid und vielen Kunststoffen,<br />
Toluylendiisocyanate (TDI) bei Polstermöbeln mit Polyurethan-<br />
Schaumstoffen.<br />
– bei Gefahrguteinsätzen finden die Einsatztoleranzwerte der jeweiligen<br />
Stoffe ihre Anwendung.<br />
Nachweis und Messung der angegebenen Brandgase ist derzeit in der Praxis<br />
ausnahmslos mit Prüfröhrchen möglich. Auf Meßgenauigkeit und Problematik<br />
beim Meßeinsatz soll an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen<br />
werden.<br />
Zusammenfassung und Ausblick<br />
Die Einsatztoleranzwerte sind ein Maß der akuten Inhalationstoxizität 34<br />
ausgewählter Schadstoffe unter den Rahmenbedingungen des vfdb Richtlinienentwurfs<br />
10/01. Sie können in Beziehung gesetzt werden zu den in der<br />
Realität gemessenen Stoffen und deren Konzentrationen. Dabei zeigt es<br />
sich, daß es im allgemeinen Brandfall genügt, als Grundlage einer schnellen<br />
Gefährdungsabschätzung nur die Entwicklung von vier Stoffen zu<br />
verfolgen. Dies sind Chlorwasserstoff, Cyanwasserstoff, Formaldehyd und<br />
Kohlenmonoxid. Bei Gefahrguteinsätzen oder Bränden großer Mengen von<br />
einheitlichem Material ist mit hohen Konzentrationen weiterer stoffspezifischer<br />
Verbrennungsprodukte zu rechnen, die mit ihren Einsatztolerenzwerten<br />
die Abschätzung toxischer Gefahren unterstützen können.<br />
Das vorgestellte Verfahren beruht auf der Toxikologie ausgewählter Einzelstoffe.<br />
Die chemische Analytik ist jedoch in der Lage, eine große Zahl vorwiegend<br />
organischer Rauchgasbestandteile zu erfassen (4). Die meisten<br />
davon sind noch nicht toxikologisch bewertet. Diese analytischen Informationen<br />
für eine rasche, aber fundierte Beurteilung toxischer Gefahren bei<br />
Bränden nutzbar zu machen ist dringend erforderlich. Bis dahin dürfte<br />
eine Abschätzung der gesundheitlichen Gefährdung der bei Bränden und<br />
Gefahrgutunfällen betroffenen Bevölkerung auf der Basis der Einsatztoleranzwerte<br />
eine solide Grundlage bieten.<br />
Die toxikologisch begründeten Einsatztoleranzwerte sollen Eingang in die<br />
nun anstehende Neubearbeitung der vfdb Richtlinie 10/01 finden. Das<br />
Referat 10 beabsichtigt, die neuen Werte darin zu verankern. Der inzwischen<br />
gegenüber der ursprünglichen Fassung erweiterte Anwendungsbereich<br />
(Einbeziehung aller Gruppen der Bevölkerung) und die Besonderheit<br />
des zeitlichen Rahmens einer vierstündigen Exposition legen eine neue<br />
Bezeichnung der Richtwerte nahe, so z.B. als „4-h-Toleranzwert“.<br />
227
Literatur<br />
(1) Entwurf „Richtlinie zur Bewertung von Schadstoffkonzentrationen im Feuerwehreinsatz“, vfdb-Richtlinie<br />
10/01, Fassung September 1993.<br />
(2) Uelpenich, G.: Grenzwerte und Richtwerte: Werte ohne Grenzen? Brandschutz/Deutsche Feuerwehr-<br />
Zeitung/47, 570–574, 1993.<br />
(3) Buff, K. und Greim, H.: Entwicklung von Verfahren zur Abschätzung von gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von<br />
Großbränden. <strong>Forschung</strong>svorhaben 4b/92 des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong>, Bonn, Juni 1995.<br />
(4) Matz, G., Harder, A., Rechenbach, P.: Spürtrupp unter Vollschutzanzug zur Probenahme vor! Meßtrupp<br />
zum Einsatz fertig. Brandschutz/Deutsche Feuerwehr-Zeitung 47, 207–214, 1993.<br />
228
Sensorik für sicherheitsrelevante Anwendungen<br />
D. Kohl und A. Schwarz, H. Petig, J. Kelleter, O. Kiesewetter<br />
Zunächst waren es die Bedürfnisse des Kohlebergbaus, die zuerst zu Prüfvorschriften<br />
des Landesoberbergamtes NRW führten, um die Schutzfunktion<br />
von Gassensoren sicherzustellen. Dabei ging es zum einen um den<br />
Schutz vor Explosionen brennbarer Gase, insbesondere von Methan. Zum<br />
anderen ging es um den Schutz vor toxischen Gasen wie zum Beispiel CO,<br />
um den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Der Einsatz<br />
von Gassensoren in anderen Industriebereichen folgt dieser Zweiteilung.<br />
Die sogenannten Ex-Schutzsensoren fanden Anwendung in der Überwachung<br />
von Trocknungsanlagen, Tanklagern und Deponiegasen, bei der<br />
Lecksuche an Pipelines und in vielen anderen Bereichen. Häufig wird hier<br />
der Bereich bis zur unteren Explosionsgrenze, einige Prozent des betreffenden<br />
Gases in Luft überwacht, in selteneren Fällen ist auch der Bereich oberhalb<br />
der oberen Explosionsgrenze von Interesse. Sensoren für toxische Gase<br />
werden in der Halbleiterproduktion, in Chemieanlagen und in vielen weiteren<br />
gewerblichen Betrieben eingesetzt.<br />
Die deutschen Aufsichtsbehörden berücksichtigen bei der Beurteilung der<br />
Ex-Schutzmaßnahmen eines Anlagenbetreibers die Explosionsschutz-<br />
Richtlinien und die Unfallverhütungsvorschrift „Gase“ des Hauptverbandes<br />
der gewerblichen Berufsgenossenschaften. Die Gaswarneinrichtungen müssen<br />
dabei Anforderungen an ihre Bauweise erfüllen, deren Einhaltung durch<br />
eine von den Berufsgenossenschaften anerkannte Prüfstelle bescheinigt<br />
wird. Für die Geräte zur Messung toxischer Gase existiert das Merkblatt<br />
T 017 der Berufsgenossenschaft Chemie, das die Prüfung von Schwefelwasserstoff-Warngeräten<br />
festlegt. CO-Warnanlagen können gemäß der<br />
Garagenverordnung (Richtlinie VDI 2053) und CO 2 -Meßgeräte gemäß<br />
einem Merkblatt (noch nicht in endgültiger Form fertiggestellt) des deutschen<br />
Ausschusses für Getränkeschankanlagen geprüft werden. Für andere<br />
toxische Gase ist das Merkblatt T 017 anwendbar, wenn die Anforderungen<br />
sinngemäß, z.B. entsprechend den MAK-Werten, angepasst werden. Zur<br />
Gewährleistung des freien Warenaustausches innerhalb der Europäischen<br />
Gemeinschaft ist im Frühjahr 1996 die Richtlinie 94/9/EG in Kraft getreten,<br />
die unter anderem die Anforderungen an Geräte mit einer Meßfunktion<br />
für den Explosionsschutz enthält. Nach dem 30. 6. 2003 dürfen nur noch<br />
Geräte verkauft werden, die der EG-Richtlinie entsprechen. Eine entsprechende<br />
EG-Richtlinie für toxische Gase ist in Vorbereitung. Die genannten<br />
Regeln unterscheiden entweder gar nicht nach Einsatzbereichen oder nur<br />
zwischen zwei Einsatzbereichen: Gruppe I „Steinkohlebergbau“ und Gruppe<br />
II „Sonstige Industrie“. Auch geprüfte Geräte dürfen von den Anlagenbetreibern<br />
nur eingesetzt werden, nachdem der Betreiber zusätzlich die<br />
Eignung für den vorgesehenen Zweck geprüft hat. Ein Einsatzbereich von<br />
CO-Sensoren, die Brandfrüherkennung im Steinkohlebergbau ist durch eine<br />
229
spezielle Richtlinie des Landesbergamtes NRW abgedeckt. Hier wird neben<br />
einer einsatzspezifischen Baumusterprüfung auch eine begleitende Untertageerprobung<br />
gefordert. Für Gasmeßgeräte zum Einsatz auf Deponien hat<br />
die Berufsgenossenschaft Chemie im Merkblatt T 022 Zusatzanforderungen<br />
definiert, die eingehalten werden müssen. Anforderungen an komplexe Gaswarnsysteme<br />
können nicht wie bei Einzelgeräten durch die Formulierung<br />
von Mindestanforderungen sinnvoll festgelegt werden. Daher werden diese<br />
Systeme zur Bewertung in Module zerlegt, die dann nach einheitlichen Verfahren<br />
behandelt werden. Dazu sind europäische Richtlinien in Vorbereitung.<br />
Im Explosionsschutz hat sich ein Konzept durchgesetzt, das auf einem<br />
Patent beruht, das von der Health and Safety Executive, einem Bergbausicherheits-Institut<br />
in Sheffield, angemeldet wurde. Mehrere, auch deutsche<br />
Firmen, nahmen eine Lizenz und fertigten den sogenannten Pellistor<br />
(andere Bezeichnung: Wärmetönungssensor, mikrokalorimetrischer Sensor).<br />
Der Name rührt von der englischen Bezeichnung „pellet“ für Kügelchen<br />
her. Katalytisch aktives Material in Form eines Kügelchens von 2 mm<br />
Durchmesser wird durch eine innen liegende Heizspirale aus sehr dünnem<br />
Plastikdraht auf etwa 600°C aufgeheizt. Durch Überwachung des Platindraht-Wiederstandes<br />
wird die Temperatur konstant gehalten. Die anwesenden<br />
brennbaren Gase werden auf den inneren Oberflächen des porösen<br />
Katalysatormaterials mit dem Luftsauerstoff verbrannt. Die dabei abgegebene<br />
Wärmemenge, sie wird durch Verringerung der elektrischen Heizleistung<br />
kompensiert, ist ein Maß für die Konzentration der brennbaren<br />
Gase. Der Gaszutritt wird durch Diffusion begrenzt, so daß die Katalysatoraktivität<br />
stark abfallen kann, ohne die Nachweisempfindlichkeit wesentlich<br />
zu verringern.<br />
Toxische Gase, Konzentrationen im Bereich einiger ppm, werden derzeit<br />
überwiegend mit amperometrisch arbeitenden elektrochemischen Zellen<br />
nachgewiesen. So reagiert CO an einer Edelmetallelektrode mit Wasser zu<br />
CO2 , der verbleibende Wasserstoff wird als Ion durch einen wässrigen Elektrolyten<br />
transportiert. Der Ionenstrom wird als Meßsignal genutzt. Auch<br />
hier wird der Gaszutritt durch Diffusion begrenzt, und wie beim Pellistor<br />
der Einfluß der katalytischen Aktivität auf das Meßsignal stark abgeschwächt.<br />
Für stationäre Geräte und hochwertige Handgeräte werden<br />
zunehmend auch Infrarotabsorptionszellen eingesetzt.<br />
Aus der <strong>Forschung</strong> und Entwicklung der letzten Jahre stehen Gassensoren<br />
und Auswertemöglichkeiten bereit, die in Deutschland noch keinen Eingang<br />
in kommerzielle Geräte gefunden haben. In wissenschaftlichen Veröffentlichungen<br />
über neue Gassensoren werden deren gassensitive Eigenschaften<br />
in der Regel im Labor gemessen. Dabei ist es noch immer die Ausnahme,<br />
wenn man Angaben über die Reproduzierbarkeit des Herstellungsverfahrens<br />
und Langzeittests zur Stabilität der Kennlinien findet. Auch Querempfindlichkeiten<br />
werden nur selten im Bezug auf eine konkrete Anwendungsumgebung<br />
bestimmt. Im folgenden sollen die Gassensorarten, die im wissen-<br />
230
schaftlichen Bereich bereits häufig untersucht wurden, jedoch in Deutschland<br />
zur Sicherstellung von Schutzfunktionen noch nicht oder nur in seltenen Ausnahmefällen<br />
eingesetzt werden, als neue Sensoren bezeichnet werden:<br />
Halbleiter-Schichtsensoren<br />
Die Funktion beruht auf einer Adsorption und in vielen Fällen auf einer<br />
nachfolgenden Reaktion der nachzuweisende Gase auf der Oberfläche.<br />
Dabei werden an der Oberfläche Elektronen freigesetzt oder gebunden, die<br />
den Leitwert ändern. Solche Sensoren auf SnO 2 -Basis werden zu Preisen<br />
von unter 10 DM in Japan seit 1968 von Figaro und New Cosmos und ab<br />
1970 auch von weiteren Firmen (Matushita, Toshiba, Hitachi, . . .) in Stückzahlen<br />
von einigen Millionen pro Jahr hergestellt und dort für zwei Aufgaben<br />
eingesetzt.<br />
Methansensoren dienen zur Ex-Schutz-Überwachung, weil Lecks in Gasversorgungsleitungen<br />
dort wegen der leichteren Bauweise der Häuser und<br />
der größeren Häufigkeit von Erdbeben ein erhebliches Gefahrenpotential<br />
darstellen. 1975 führte das „Consumer Center“ des japanischen Ministeriums<br />
für internationalen Handel und Industrie aufgrund von Klagen aus der<br />
Bevölkerung einen Test mit allen im Handel erhältlichen Halbleiter-Schichtsensor-Methanwarngeräten<br />
durch. Ein großer Anteil der angebotenen Geräte<br />
löste bei Angebot einer Methankonzentration der unteren Explosionsgrenze<br />
nicht aus. Darüber wurde ausführlich in der Presse berichtet und die<br />
Regierung veranlasste die Hersteller zu umfassenden Qualitätskontrollen.<br />
Dazu gehörten eine mehrmonatige überwachte Voralterung der Sensoren,<br />
Messungen bei variierender Luftfeuchtigkeit, verschiedene Ein/Aus-Zyklen<br />
und Angebote sehr hoher Gaskonzentrationen. Die Entwicklungsbemühungen<br />
des Herstellers Figaro (90 % Markanteil) konzentrierten sich darauf,<br />
einen unbeaufsichtigten Betrieb der Geräte von 5 Jahren ohne Austausch<br />
des Sensorelements sicherzustellen. Selektivität und eine präzise eingehaltene<br />
Nachweisempfindlichkeit waren ausdrücklich nicht die primären<br />
Entwicklungsziele. 1986 wurde in Japan ein Gesetz erlassen, das Gasverteilerfirmen<br />
den Einbau von Gaswarngeräten beim Endkunden vorschreibt.<br />
Gasexplosionen wurden von Regierungsseite statistisch ausgewertet, der<br />
Einsatz der Gaswarngeräte (mit Halbleiter-Schichtsensoren) wurde positiv<br />
bewertet [1].<br />
Kohlenmonoxidsensoren finden in den japanischen Küchen Verwendung.<br />
Dort wird in der Regel über Gasflammen gekocht. Da die Küchen sehr<br />
klein sind und oft weniger als 2 qm Grundfläche aufweisen, sinkt beim<br />
Zubereiten einer größeren Mahlzeit der Sauerstoffgehalt auf 18 % oder<br />
weniger ab. An den Kochstellen entsteht bei einem Sauerstoffmangel soviel<br />
CO, daß Konzentrationen erreicht werden, die zum Tode führen können. Bei<br />
den größeren Küchen in Deutschland ist die Gefahr nicht so hoch, jedoch<br />
kommt es in Badezimmern mit Gasthermen in Deutschland jedes Jahr zu<br />
einigen Todesfällen.<br />
231
In Deutschland sind preisgünstige Gaswarngeräte für den Freizeitmarkt<br />
(Sensoren in Motorbooten und beim Camping für die Methan/Butan-Gasbehälter<br />
und für CO) mit Halbleiter-Schichtsensoren aus japanischer oder<br />
europäischer Produktion erhältlich, die jedoch bisher nicht für die Anforderungen<br />
der EG-Richtlinie qualifiziert wurden.<br />
Gassensitive Feldeffekt-Transistoren<br />
Dieser Gassensor basiert auf einem üblichen Feldeffekttransistor, bei dem<br />
der Strom von einer Feldelektrode gesteuert wird, die Ladungsträger influenziert.<br />
Dieses Bauelement wird gassensitiv, wenn man als Feldelektrode<br />
eine dünne Schicht von Palladium oder Platin verwendet, die in Kontakt mit<br />
der Umgebung steht, das Bauelement also nicht in der üblichen Weise verkapselt.<br />
Bei Arbeitstemperaturen von 100 bis 200 °C können Wasserstoff<br />
und wasserstoffhaltige Moleküle (z.B. Ethylen) auf der Oberfläche dissoziieren,<br />
Wasserstoffatome bzw. -ionen diffundieren durch die Feldelektrode<br />
und ändern durch Influenz den Leitwert des Transistors. Diese Sensoren<br />
werden seit etwa 2 Jahren in geringen Stückzahlen zur Überwachung von<br />
stillen Entladungen in Transformatoren eingesetzt.<br />
Massensensitive Sensoren<br />
Quarzschwinger oder Oberflächenwellenbauelemente werden mit einem<br />
Polymer oder Oxid beschichtet, das die anwesende Gase bei Temperaturen<br />
bis zu etwa 100 °C reversibel adorbiert. Die dadurch verursachte Massenzunahmen<br />
setzt die Eigenschwingungsfrequenz herab, die als Meßsignal<br />
dient. Dämpfe mit niedrigem Siedepunkt werden von diesem Sensortyp<br />
bevorzugt adsorbiert. Sie sind deswegen ein Kandidat für den Nachweis von<br />
Lösungsmitteln mit höherem Molekulargewicht im Personenschutzbereich<br />
[2].<br />
Seit 1996 ist ein erster deutscher Hersteller für Halbleiter-Schichtsensorenn,<br />
die Firma UST in Geraberg, mit einem Qualitätsmanagementsystem nach<br />
ISO 9001 zertifiziert. Bereits seit September 1995 ist das Fraunhofer Institut<br />
IMS in Duisburg, das die erwähnten gassensitiven Feldeffekt-Transistoren<br />
und Halbleiter-Schichtsensoren auf mikrostrukturierten Silizium-<br />
Membransubstraten in kleineren Stückzahlen herstellt, nach ISO 9001 zertifiziert.<br />
Es gibt Bedarfsfälle, in denen der gemeinsame Einsatz von konventionellen<br />
und neuen Gassensoren sinnvoll ist. Dazu gehört die Überwachung von<br />
Kryobehältern für Wasserstofftanks. In der Umgebung werden klassische<br />
Ex-Schutz-Sensoren eingesetzt, um Konzentrationen in Prozent der unteren<br />
Explosionsgrenze zu ermitteln. Zur Lecksuche ist dieser Typ zu unempfindlich,<br />
hier bieten sich spezielle Halbleiter-Schichtsensoren an, die für die<br />
Schwelbranderkennung entwickelt wurden. Damit kann 1 ppm H 2 rasch<br />
232
und selektiv erkannt werden. Innerhalb der üblichen Superisolierung des<br />
Tanks, muß im Vakuum gemessen werden. Die beiden erstgenannten Sensorarten<br />
benötigen zu ihrer Funktion die Anwesenheit von Sauerstoff und<br />
können deswegen im Vakuum nicht betrieben werden. Hier ist ein gassensitiver<br />
Feldeffektsensor geeignet, der 10-7 Pascal (10-9 Torr) H2 in einem<br />
Vakuumbehälter nachweisen kann. Von den genannten drei Sensorarten ist<br />
bisher nur der erste in Geräten mit der Bescheinigung einer anerkannten<br />
Prüfstelle erhältlich. Für die beiden anderen ist bisher erst das Stadium<br />
einer Herstellung nach ISO 9001 erreicht. Massensensitive Sensoren werden<br />
bislang noch nicht nach ISO 9001 hergestellt.<br />
In den vergangenen zehn Jahren sind eine Vielzahl von Ideen und Konzepten<br />
für „künstliche Nasen“ vorgestellt worden. In einer künstlichen Nase<br />
werden die Signale mehrerer Sensoren miteinander verrechnet. Jeder Einzelsensor<br />
ist auf mehrere der anwesenden Gase in unterschiedlichem Maße<br />
empfindlich. Bei geeigneter Auswahl der Sensoren lassen sich die Konzentrationen<br />
einzelner Gaskomponenten berechnen. Überwiegend werden<br />
dabei Sensoren gleichen Typs miteinander kombiniert. Häufig wurden hier<br />
die neuen Sensoren in „künstlichen Nasen“ eingesetzt, um „fingerprints“<br />
von Gerüchen wieder zu erkennen. Einige dieser kommerziell angebotenen<br />
künstlichen Nasen für den Laborbereich verwenden zur „Aroma“-Erkennung<br />
als sensitive Schichten Polymere, deren Leitfähigkeitsänderung [3]<br />
oder deren Massenzunahme ausgenutzt werden [4].<br />
Außerhalb des Laborbereiches wird in industrieller Umgebung bisher erst<br />
ein Multisensorsystem eingesetzt, das seit mehr als drei Jahren zur Erkennung<br />
von Schwelbränden in verschiedenen Kohlekraftwerken dient. Das<br />
System wurde von den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken in<br />
Essen, dem Institut für Angewandte Physik der Universität Gießen und der<br />
Firma UST in Geraberg gemeinsam entwickelt. Es wird von der Firma<br />
Siemens vertrieben und ist mit Halbleiter-Schichtsensoren der Firma UST<br />
ausgerüstet. Untersuchungen im Brandlabor des VdS (Verband der Sachversicherer<br />
in Köln, umbenannt seit 1997 in Gesamtverband der Deutschen<br />
Versicherungswirtschaft), der Prüfungsinstitution für Brandmelder, haben<br />
ergeben, daß das Gerät alle Testbrände, zu deren Detektion optische Melder<br />
und Ionisationsmelder eingesetzt werden, erkennt. Eine vollständige Geräteprüfung<br />
ist dort jedoch noch nicht erfolgt, weil diese im Kraftwerksbereich<br />
nicht erforderlich ist.<br />
Schwelbranderkennung mit Gassensoren<br />
Automatische Branderkennung über den Nachweis von Aerosolen oder<br />
Infrarot-Strahlung ist mit kommerziellen Meldern möglich. Diese sind<br />
jedoch gegenüber Schwelbränden relativ unempfindlich. Gasförmige Produkte<br />
einer unvollständigen Verbrennung sind neben CO 2 und H 2 O, die<br />
auch bei vollständiger Verbrennung anfallen, teiloxidierte Produkte wie<br />
CO, gesättigte und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, Alkohole, organische<br />
233
Säuren und Aldehyde. Daneben entstehen H2 und bei offenen Feuern auch<br />
NOx . Gassensoren für diese Gase und Dämpfe beruhen auf unterschiedlichen<br />
Prinzipien, eine Zusammenstellung finden sich in Referenz [5].<br />
Eletrochemische Zellen für CO mit Nachweisempfindlichkeiten bis herab<br />
zu 1 ppm werden häufig im Arbeitsschutz eingesetzt und sind auch für<br />
die Branderkennung geeignet, wenn die Gefahr von Fehlalarmen nicht im<br />
Vordergrund steht (seit vielen Jahren im Kohlebergbau).<br />
Halbleiter-Gassensoren erreichen vergleichbare Empfindlichkeiten, sind<br />
weniger empfindlich gegen rauhe Umgebungsbedingungen, weisen jedoch<br />
eine Drift des Nullpunktes auf.<br />
Beide Sensorarten ändern ihre Nachweisempfindlichkeit im Laufe ihrer<br />
Betriebsdauer. Deswegen können neuronale Netze nicht ohne Kenntnis des<br />
Alterungsverhaltens für Sensorsysteme eingesetzt werden, die längere Zeit<br />
ohne Nachkalibrierung auskommen müssen.<br />
Beim Entwurf eines Gassensorsystems für Schwelbrände in einer Bekohlungsanlage<br />
lagen diese Kenntnisse noch nicht vor. Eine weitere Erschwernis<br />
für den Einsatz neuronaler Netze wurde bei den ersten experimentellen<br />
Untersuchungen mit elektrochemischen Zellen in der Anlage offenbar. Fig. 2<br />
zeigt die Signale eines CO- und eines H2-Sensors während eines Schwelbrandexperiments.<br />
Durch Fluktuationen der Gasströmung im Raum entstehen<br />
erhebliche Signalschwankungen. In den Strömungsfahnen werden die<br />
Schwelgase gemeinsam transportiert und erreichen die Sensoren in Zeiten,<br />
innerhalb derer sich Diffusionseffekte noch nicht stark bemerkbar machen.<br />
Signalauswertung<br />
Die Signalauswertung erfolgt für elektrochemische Zellen und Halbleitergassensoren<br />
im wesentlichen in gleicher Weise. Wegen der hohen Staubbelastung<br />
wurden für den praktischen Einsatz Halbleiter-Gassensoren auf der<br />
Basis von Zinndioxid verwendet, die den Staub ohne Schädigung auf ihrer<br />
Oberfläche bei Betriebstemperaturen von etwa 300 °C verbrennen können.<br />
Figur 1 zeigt das Blockschaltbild der Gassensormeldeeinheit GSME. Die<br />
Leitwerte Gj der verwendeten drei Sensorelemente für H2 (j=1), CO (j=2)<br />
und für Lösungsmittel und NOX (j = 3) werden alle 30 sec bestimmt. Ein<br />
Maß für die Gaskonzentration ist die relative Änderung des Leitwertes<br />
bezogen auf den Wert G0 in Abwesenheit des Zielgases.<br />
Der Wert von G O ändert sich durch Alterung und auch durch die Anwesenheit<br />
von Hintergrundgasen (z.B. Feuchte). Deswegen wird der Mittelwert<br />
der letzten 6 Stunden als „gleitender Nullpunkt“ verwendet. Im Programm<br />
wird dies durch eine rekursive Formel mit einer Zeitkonstanten � von 6<br />
Stunden realisiert.<br />
234
G�(ti) = (1-a)*G�(ti-1) + a*G(ti)<br />
mit a = exp {-(ti-ti-1/�}.<br />
Die Signale, G/GO , für den H2-Sensor S1 und für den Lösungsmittelsensor<br />
S3 werden in dieser Weise bestimmt.<br />
Der CO-Halbleitersensor, in dessen Poren sich wegen der niedrigeren<br />
Betriebstemperatur (100 bis 150 °C) Wasser anreichert, muß alle 8 Stunden<br />
zur Regeneration für eine Minute auf 280 °C geheizt werden. Nach der<br />
Regeneration ist das Signal s2 des CO-Sensors zu niedrig und wird durch<br />
einen additiven Term, der exponentiell mit der Zeit abnimmt, korrigiert:<br />
S2 = s2 + exp {-ta/�CO}*(Sm1-Sm2),<br />
ta, Zeit seit der letzten Regeneration<br />
�CO�15 min bei 120 °C (�CO hängt von der Temperatur ab)<br />
Sm1, Sm2,<br />
Signale vor und nach der Regeneration<br />
Die Signale S1 und S2 werden benutzt, um ein Verhältnis S1 /S2 zu berechnen,<br />
das eine monotone Funktion des Konzentrationsverhältnisses [H2 /[CO]<br />
ist. Das untere Teilbild in Fig. 8 zeigt diesen Quotienten.<br />
S1 /S2 wächst im wesentlichen mit der Kerntemperatur des Schwelbrandes.<br />
Das Überschreiten eines Mindestwertes ist ein Hinweis auf die Existenz<br />
eines Schwelbrandes.<br />
S2 > S2 min·<br />
Das Verhältnis der [H 2 ]/[CO]-Emission eines Schwelbrandes fällt in ein<br />
bestimmtes Intervall (0,1 bis 0,5), deswegen muß auch das Verhältnis der<br />
Sensorsignale S 1 /S 2 in ein entsprechendes Intervall fallen.<br />
(S1/S2 )min < S1/S2
kungen beider Gase am Ort des Melders zueinander proportional sein. Dies<br />
kann man in die nachfolgenden Bedingungen (3) und (4) fassen.<br />
236<br />
fmin < (_S1�fm/S2�fm) < fmax<br />
mit fmin = (_S1�fm/_S2�fm)min, fmax = (_S1�fm/_S2�fm)max<br />
mit_S1�fm = {n-1 ��(S1(ti) - S1�fm)�2} 1 �2<br />
S1�fm, Mittelwert von S1 über ein Zeitinterval �fm<br />
von der Größenordnung zwischen zwei Fluktuationsmaxima<br />
(�fm = 5 min wurde hier gewählt)<br />
und<br />
� summiert über das Zeitinterval �fm<br />
_S2�fm > (_S2�fm)min (4)<br />
Bedingung (4) stellt das Äquivalent zu Bedingung (1) dar.<br />
Ein Alarm wird abgegeben, wenn die Bedingungen (1) und (2) oder wenn<br />
die Bedingungen (3) und (4) erfüllt sind. Die Bedingungen (1) und (2)<br />
kommen in Räumen ohne Luftbewegung zum Tragen. Die Bedingungen (3)<br />
und (4) sind in Räumen mit erheblichen Luftbewegungen, z.B. in der<br />
Bekohlungsanlage, maßgeblich.<br />
Da in einem Schwelbrand das Verhältnis S1 /S2 mit wachsender Kerntemperatur<br />
zunimmt und die Kerntemperatur in der Regel mit fortschreitender<br />
Zeit wächst, ist es sinnvoll, den Wert (S1 /S2 ) min in Bedingung (2) und den<br />
Wert fmin in Bedingung (3) abzusenken, wenn die nachfolgenden Bedingungen<br />
(5) und (6) über eine Stunde hinweg erfüllt sind.<br />
d(S1/S2)dt > {d(S1/S2)dt}min<br />
d(_S1�fm/_S2�fm)dt > {d(_S1�fm/_S2�fm)/dt}min<br />
Damit können auch sehr weit entfernte oder sehr kleine Schwelbrände<br />
durch die indirekte Beobachtung der Zunahme der Kerntemperatur zur<br />
Anzeige gebracht werden.<br />
Unterdrückung von Fehlalarmen<br />
Bei Reparaturarbeiten können die Konzentrationen von Lösungsmitteldämpfen<br />
weit höher (einige 100 ppm) sein als die Konzentrationen der<br />
Gase vom Schwelbrand, CO und H 2 (2 bis 100 ppm). Hohe Konzentrationen<br />
der Lösungsmittel rufen über die Querempfindlichkeiten sowohl auf<br />
dem CO als auch auf dem H 2 Sensor Signale hervor. Bei Reparaturarbeiten<br />
an den Transportbändern werden z.B. chlorierte Lösungsmittel verwendet,<br />
C 2 HC1 3 bei der kalten Vulkanisation und C 2 H 3 C1 3 bei der heißen Vulkani-<br />
(3)<br />
(5)<br />
(6)
sation. Zwei zusätzliche Bedingungen deaktivieren die Alarmgabe während<br />
der Reparaturzeit. Hierzu wird das Signal des Sensors S 3 herangezogen, der<br />
besonders empfindlich auf Lösungsmittel reagiert.<br />
(S3/S1)min > (S3/S1)min<br />
S3/S2 > (S3/S2)min<br />
mit (S3/S1)min � 1 und (S3/S2)min � 1<br />
Für die Fluktuationen gelten entsprechende Bedingungen.<br />
Aus den relativen Empfindlichkeiten der Sensoren S1 , S2 , S3 ist zu erkennen,<br />
daß auch Benzin und Ethanol keinen Fehlalarm auslösen:<br />
Lösungsmittel S1 [H2 ] S2 [CO] S3 [Lösungsmittel]<br />
Schwelbrand hoch hoch mittel<br />
CKW mittel niedrig hoch<br />
Ethanol mittel mittel hoch<br />
Benzin mittel mittel hoch<br />
Es soll noch bemerkt werden, daß offene Feuer durch einen Sensor für NOx erkennbar gemacht werden können. Dies war in der Bekohlung nicht erforderlich.<br />
Um alle Testbrände des VdS-Labors (Verband der Sachversicherer,<br />
Köln) erkennen zu können, wurde der Lösungsmittelsensor S3 so modifiziert,<br />
daß er eine Querempfindlichkeit für NOx aufweist. Lösungsmitteldämpfe<br />
und in geringerem Maße CO erzeugen eine Leitwerterhöhung,<br />
NOx verringert den Leitwert. Fig. 3 zeigt das Signal des Sensors S3 , aufgetragen<br />
über dem Signal des Wasserstoffsensors. Es ist gut zu erkennen, daß<br />
nur das mit offener Flamme brennende Petrolbenzin erhebliche Mengen<br />
von NOx erzeugt.<br />
Erprobung der Bekohlungsanlage<br />
Zur Erprobung wurde eine flache Pfanne mit 60 cm x 80 cm Kantenlänge<br />
verwendet, die 2 cm hoch mit Braunkohle bedeckt war. Zur Entzündung des<br />
Schwelbrandes wurde ein kleines Stück glühendes Eisen vorübergehend in<br />
der Mitte der Pfanne auf die Kohleschicht gedrückt. Fig. 4 zeigt die verschwelte<br />
Fläche in Abhängigkeit von der Zeit zusammen mit dem Quotienten<br />
der H 2 /CO Konzentration. Die H 2 -Konzentration steigt erst an, wenn die<br />
Mindesttemperatur für die katalytische Zersetzung des Wasserdampfes von<br />
der Kohle erreicht ist. Deswegen beginnt der Anstieg des H 2 -Signals und<br />
damit des Quotienten erst eine halbe Stunde nach dem Anstieg des CO-Signals.<br />
Wenn die verschwelte Fläche 0,5 m 2 erreicht hat, werden etwa 400 °C<br />
(7)<br />
(8)<br />
237
Kerntemperatur in der Kohle gemessen. Beide Melder erreichen S 1 /S 2 -Verhältnisse<br />
von eins. Schaltete man einen Alarm bei S 1 /S 2 = 0,5, so wird der<br />
Alarmzustand eines Melders in 5 m Abstand nach einer Stunde, der eines<br />
Melders in 30 m Abstand nach eineinhalb Stunden erreicht.<br />
Literatur<br />
[1] A. Chiba, Development of the TGS gas sensor, S.1–18 in Chemical Sensor Technologyn, Vol. 4, Kodansha,<br />
Tokio, Editor S. Yamachuchi, 1992.<br />
[2] G. Fischerauer, A. Mauder, R. Müller, Acoustic Wave Devices (SAW and BAW) S. 134–180 in Sensors,<br />
Vol. 8, Edts H. Meixner and R. Jones, VCH Weinheim, 1995.<br />
[3] Z. B. AromaScan pic, Elektra way, Crewe, UK CW1 1WZ.<br />
[4] Z. B. SAM von Daimler-Benz Aerospace RST Rostock Raumfahrt und Umweltschutz GmbH, Richard-<br />
Wagner-Str. 31, 18119 Warnemünde, sam@rst-rostock.de.<br />
[5] C. D. Kohl und M. Vornehm, Sensorik für toxische Gase und Dämpfe, GIT Laborpraxis 4/94.<br />
238
Bild 1: Die Temperatur der Sensoren wird geregelt. Der CO-Sensor wird<br />
durch die Ausheizsteuerung im Abstand von mehreren Stunden kurz hochgeheizt.<br />
Der Sensorkopf mit einem EPROM, das die Kalibrationswerte des<br />
Herstellers (UST GmbH) enthält, ist steckbar ausgeführt. Die Ausgabe-<br />
Baugruppe (entweder für Siemens-Pulsmeldesystem oder für M-Bus) befindet<br />
sich ebenfalls auf einem Stecksockel.<br />
239
Bild 2: Zeitlicher Verlauf der CO- und der H2-Konzentration während<br />
eines Schwelbrandexperiments. Die Signalquotienten sind ebenfalls angegeben.<br />
240
Bild 3: Signal des Sensors S3 für Lösungsmittel und NOx, aufgetragen<br />
über dem Signal des Wasserstoffsensors. Es ist gut zu erkennen, daß nur das<br />
mit offener Flamme brennende Petrolbenzin erhebliche Mengen von Produktx<br />
erzeugt, die den Leitwert von S3 verringern.<br />
241
Bild 4: Der Quotient der H 2 - und der CO-Konzentration zeigt einen ähnlichen<br />
zeitlichen Verlauf wie die glimmende Fläche einer Braunkohlestaubschicht<br />
in einem Schwelbrandexperiment.<br />
242
Gefahrstoff-Detektoren-Array GDA für Gefahrstoffe<br />
nach ETW-Liste und Kampfstoffe<br />
Gerhard Matz<br />
1. Einleitung<br />
In den letzten zehn Jahren haben wir uns in der <strong>Schutzkommission</strong> mit den<br />
Gefahren, die von Chemikalien bei Unfällen und Bränden ausgehen können,<br />
beschäftigt und besonders die Möglichkeiten zu der meßtechnischen<br />
Erfassung von Gefahrstoffen untersucht. Ergebnis war, daß grundsätzlich<br />
zwei unterschiedliche Klassen von Meßtechniken erforderlich und auch<br />
realisierbar sind, und zwar<br />
1. ein tragbares und einfach bedienbares Gefahrstoff-Detektoren-Array,<br />
kurz GDA, und<br />
2. ein komplexeres GC/MS-Analysesystem, das Gefahrstoffe identifizieren<br />
und quantitativ bestimmen kann.<br />
Beide Techniken sind in <strong>Forschung</strong>svorhaben an der TU Hamburg-Harburg<br />
zusammen mit Feuerwehren und der Industrie in den letzten fünf Jahren so<br />
weit gediehen, daß sie jetzt einsetzbar sind. Das GC/MS-System wird<br />
bereits von mehreren Feuerwehren betrieben, während die ersten vier Prototypen<br />
des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays, über das hier berichtet werden<br />
soll, zur Zeit in der Erprobung sind. Das Thema Gefahrstoff-Detektion ist<br />
zur Zeit besonders relevant, da Beschaffungsmaßnahmen zur Ausstattung<br />
der Schutzkräfte anstehen, die sich am neuesten Stand der Technik und<br />
Kenntnis orientieren müssen.<br />
In einem <strong>Forschung</strong>svorhaben über die Entwicklung eines Gefahrstoff-<br />
Sensorenarrays an der TUHH haben wir uns zunächst auf Halbleitersensoren,<br />
Elektrochemische Zellen, einen Photoionisationsdetektor und einen<br />
Nichtdispersiven-Infrarot-Detektor beschränkt. Das besonders interessante<br />
Ionen-Moblitäts-Spektrometer ist zunächst nicht weiter berücksichtigt<br />
worden, hat sich seit mehreren Jahren jedoch im militärischen Bereich bei<br />
der Kampfstoffdetektion bewährt. Aufgrund des Detektionsprinzips werden<br />
besonders gut elektronegative oder -positive Substanzen detektiert,<br />
die aufgrund ihrer Polarität für den Menschen besonders gefährlich sind.<br />
Zur Ionisation der zu detektierenden Gase wird eine radioaktive Quelle<br />
eingesetzt.<br />
Besonders im Hinblick auf die Notwendigkeit, auch chemische Kampfstoffe<br />
detektieren zu können, haben wir Ende der 80er Jahre das Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />
untersucht und im BZS getestet. Wegen der radioaktiven<br />
Quelle erschien ein Einsatz im zivilen Bereich aufgrund der bislang<br />
erforderlichen Strahlenschutzauflagen als nicht realistisch.<br />
243
Erst als 1994 von der Leipziger Firma Bruker-Saxonia Analytik ein Ionen-<br />
Mobilitäts-Spektrometer mit Membraneinlaß und einem geschlossenen<br />
internen Kreislauf fertiggestellt wurde, das nach PTB-Prüfung von Feuerwehrleuten<br />
ohne Strahlenschutzausbildung betrieben werden kann, ist das<br />
IMS als wichtige Komponente in die Überlegungen zum GDA aufgenommen<br />
und im letzten Jahr integriert worden.<br />
2. Meßaufgabe<br />
Das Gefahrstoff-Detektoren-Array soll kontinuierlich arbeiten, beim Einsatz<br />
am Körper getragen oder während der Fahrt im Spürfahrzeug, und so<br />
nachweisstark sein, daß möglichst alle Gefahrstoffe bei der Konzentration<br />
detektiert werden können, die als gefährlich festgelegt worden ist.<br />
– Stoffpalette, ETW und prinzipiell geeignete Detektortechnik<br />
Für den Feuerwehreinsatz bei Chemieunfällen sind dies die 33 relevanten<br />
Substanzen mit Einsatztoleranzwerten (ETWA (s. Tabelle 1), die aufgrund<br />
der Unfallhäufigkeit und Toxizität in Deutschland festgelegt wurden. In<br />
den USA existiert mit den Emergency-Response-Planning-Guidelines 2<br />
(ERPG 2) eine andere Stoffliste mit 32 Stoffen, von denen nur ein Drittel in<br />
der ETW-Liste aufgezählt ist.<br />
Außerdem sollen chemische Kampfstoffe, die bei Terroranschlägen oder<br />
militärischen Auseinandersetzungen freigesetzt werden können, detektiert<br />
werden. Sie sollen hier jedoch nicht weiter betrachtet werde. Das Ionen-<br />
Mobilitäts-Spektrometer als Hauptkomponente des GDA ist nach militärischen<br />
Gesichtspunkten spezifiziert, geprüft und für den Kampfstoffnachweis<br />
geeignet.<br />
Tabelle 1: Bei Unfällen relevante Gefahrstoffe mit Einsatztoleranzwerten<br />
und die zur Detektion geeigneten Sensoren: IMS = Ionen-Mobilitäts-Spektrometer,<br />
PID = Photo-Ionisations-Detektor, HL = Halbleitergassensor,<br />
EZ = Elektrochemische Zelle, IR = Infrarot-Absorptions-<br />
Photometer).<br />
Substanz Einsatztoleranzwert [ppm] geeignete Sensoren<br />
Aceton 500 IMS, PID, HL<br />
Acrolein 0,2 HL, 0,5 ppm<br />
Acrylnitril 20 IMS, HL<br />
Ammoniak 50 IMS, HL, EZ<br />
Benzol 20 PID, HL<br />
Blausäure 5 IMS, EZ<br />
Chlor 1 IMS, EZ<br />
244
Chlorbenzol 100 PID, HL<br />
Chlorcyan 0,3 IMS<br />
Dimethylhydrazin 1 IMS<br />
Essigsäure 20 IMS, HL<br />
Ethanol 3 000 IMS, PID, HL<br />
Fluorwasserstoff 5 (IMS), EZ<br />
Formaldehyd 1 nur höhere Konzentr.<br />
Kohlendioxid 10 000 IR<br />
Kohlenmonoxid 100 HL, EZ<br />
Methanol 500 IMS, HL<br />
n-Hexan 200 PID, HL<br />
Phosgen 0,1 EZ<br />
Phosphin 0,5 EZ<br />
Salzsäure 5 IMS, EZ<br />
Schwefeldioxid 1 IMS, EZ<br />
Schwefelkohlenstoff 10 IMS<br />
Schwefelwasserstoff 10 IMS, EZ<br />
Stickstoffdioxid 1 IMS<br />
Styrol 40 IMS, PID, HL<br />
Tetrachlorethen 100 IMS, HL<br />
Toluol 100 PID, HL<br />
Toluoldiisocyanat 0,02 IMS<br />
Trichlorethan, 1,1,1- 300 IMS<br />
Trichlorethan, 1,1,2- 25 IMS<br />
Trichlorethen 100 IMS, PID<br />
Vinylchlorid 100 PID, HL, EZ<br />
Die Liste der ETW zeigt, daß die Stoffe aus sehr unterschiedlichen Stoffklassen<br />
kommen und ETWA-Werte über einen sehr großen Konzentrationsbereich<br />
von 0,02 bis zu einigen 1 000 pm besitzen. Der Nachweis über<br />
einen derartig weiten dynamischen Bereich kann nur mit mehreren unterschiedlichen<br />
Detektionstechniken erfolgen, und die zunächst prinzipiell<br />
geeigneten Techniken sind in Tab. 1 aufgeführt. Auf den direkten Nachweis<br />
von Kohlendioxid, der nur mit einem relativ aufwendigen IR-Gerät möglich<br />
ist, wird im GDA verzichtet, alle anderen Gefahrstoffe mit ETW sollten<br />
meßbar sein.<br />
– Detektion und Falschalarm<br />
Oberstes Ziel bei der Auswahl der Einzelkomponenten des GDA ist gewesen,<br />
daß bei Auftreten eines jeden Stoffes der ETW-Liste bei dessen ETW-<br />
Konzentration ein Signal erzeugt wird, d.h. möglichst kein Stoff sog. negativ<br />
falsch gemessen wird. Sehr sicher läßt sich auf diese Weise der Zustand<br />
reine Luft nachweisen.<br />
Auf der anderen Seite ist aber zu erwarten, daß eine ganze Reihe von Substanzen,<br />
die keinen ETW-Wert haben und nicht toxisch sind, aufgrund ihrer<br />
245
Querempfindlichkeit zu den Sensoren ein Signal erzeugen, das zur sog.<br />
positiv falschen Aussage führt. Dies gilt besonders, wenn nicht bekannt ist,<br />
um welchen Stoff es sich handelt und keine korrigierende Aussage über<br />
mögliche Querempfindlichkeit getroffen werden kann. Diese Falschaussage<br />
bewirkt jedoch lediglich, daß eine Maßnahme mit zu hoher Sicherheit<br />
wie z.B. Warnung der Bevölkerung oder Anlegen von Schutzkleidung eingeleitet<br />
wird. Die Interpretation der Meßergebnisse, als Muster aller Sensoren<br />
des GDA, soll in der nächsten Zeit aufgrund der Erfahrungen optimiert<br />
werden mit dem Ziel, positiv falsche Aussagen, d.h. Fehlwarnungen, zu<br />
minimieren.<br />
– Meßstrategien<br />
Mit dem GDA lassen sich zwei Aufgaben lösen, und zwar<br />
1. das Monitoring, d.h. das kontinuierliche Messen der Umgebungsluft<br />
und<br />
2. das Spüren, d.h. das manuelle Aufspüren von Quellen und Leckagen.<br />
Beim Monitoring wird das Gerät kontinuierlich und meistens unbeaufsichtigt<br />
betrieben, entweder im Spürfahrzeug im Stand oder abgesetzt vom<br />
Fahrzeug, um z.B. die Einsatzkräfte oder den Bereitstellungsraum zu<br />
sichern, oder während der Fahrt, um nicht kontaminiertes Gebiet zu kontrollieren<br />
und auftretende Kontamination zu detektieren. Die Meßdaten<br />
können auf den Fahrzeugrechner übertragen und weiterverarbeitet werden.<br />
Zum Spüren wird das Gerät am Mann getragen und im Freien oder in<br />
Gebäuden in den Bereich der erwarteten Quelle herangebracht. Dabei wird<br />
über das einfache Display die vorhandene Konzentration angezeigt und die<br />
Quelle aufgespürt.<br />
3. Gerätetest zur Ermittlung der notwendigen Komponenten<br />
In Zusammenarbeit mit der Firma Bruker Saxonia wurden für die ETW-<br />
Substanzen Messungen mit einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer, einem<br />
Photo-Ionisatios-Detektor (Lampenenergie = 10,6 eV) und einem Sensorenarray<br />
mit HL, EZ und IR-Detektoren durchgeführt. Der Vergleich zwischen<br />
dem IMS und dem PID, als den beiden wichtigsten Komponenten, ist<br />
in der Abbildung 1 dargestellt.<br />
Der Abbildung 1 ist zu entnehmen, daß mit einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />
mit 22 dieser Substanzen die meisten Stoffe beim Einsatztoleranzwert<br />
nachweisbar sind. Von den mit dem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer nicht<br />
nachweisbaren Substanzen können Benzol, Chlorbenzol, n-Hexan, Toluol<br />
und Vinylchlorid mit dem Photo-Ionisations-Detektor detektiert werden.<br />
246
Abbildung 1: Detektierbarkeit der Substanzen mit Einsatztoleranzwert,<br />
Vergleich zwischen Ionen-Mobilitäts-Spektrometer und<br />
Photo-Ionisations-Detektor<br />
Abbildung 2: Signale des Sensorenarryas für Phosgen und Phosphin, die<br />
Signale der Halbleitergassensoren sind als relativer Leitwert<br />
G/G 0 und die Signale der elektrochemischen Zellen als Strom<br />
in nA angegeben.<br />
Die in Abbildung 2 dargestellten Messungen von Phosgen und Phosphin mit<br />
dem Sensorenarray zeigen, daß diese mit dem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />
und dem Photo-Ionisations-Detektor nicht ausreichend empfindlich<br />
nachweisbaren Stoffe durch die elektrochemische Phosgen-Zelle der Firma<br />
Sensoric detektiert werden.<br />
247
Kohlenmonoxid kann mit Halbleitergassensoren detektiert werden. Der<br />
Halbleitergassensor GGS 2000 der Firma Umweltsensortechnik erzeugt<br />
z.B. bei einer Kohlenmonoxidkonzentration von 100 ppm ein Signal<br />
G/G 0 =5. Mit einer Kombination dieser vier unterschiedlichen Detektionsmechanismen<br />
sind daher über 90 % der in Tabelle 1 aufgeführten Substanzen<br />
beim Einsatztoleranzwert nachweisbar.<br />
4. Aufbau des Gefahrstoff-Dektektoren-Arrays<br />
Nach diesen Voruntersuchungen wurde in Zusammenarbeit mit der Firma<br />
Bruker-Saxonia Analytik GmbH das in Abb. 3 schematisch dargestellte<br />
Gefahrstoff-Detektoren-Array entwickelt. Es besteht aus einem Ionen-Mobilitäts-Spektrometer,<br />
einem Photo-Ionisations-Detektor, einer elektrochemischen<br />
Zelle (Phosgen-Zelle, Sensoric COCL23E1) und zwei Halbleitergassensoren.<br />
Dem sehr nachweisstarken Ionen-Mobilitäts-Spektrometer wurde<br />
die im Kapitel 4.1 beschriebene Verdünnungseinrichtung vorgeschaltet. Sie<br />
dient als Meßbereichserweiterung um den Faktor 100 und dazu, die Kontamination<br />
des IMS durch zu hohe Schadstoffkonzentrationen zu verhindern.<br />
In einem zweiten Gasweg sind die beiden Halbleitergassensoren, die elektrochemische<br />
Zelle und der Photo-Ionisations-Detektor angeordnet. Bei den<br />
Halbleitergassensoren wird die Betriebstemperatur elektronisch stabilisiert.<br />
Abbildung 3: Schematischer Aufbau des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays.<br />
248
4.1 Verdünnung des Probengases bei hohen<br />
Schadstoffkonzentrationen<br />
Der dynamische Bereich des Ionen-Mobilitäts-Spektrometers beträgt ca.<br />
zwei Dekaden, die Nachweisgrenze ist von der Substanz abhängig und liegt<br />
zwischen ca. 10 ppb und 10 ppm. Bei höheren Schadstoffkonzentrationen<br />
befindet sich das Gerät in der Sättigung, so daß die tatsächliche Konzentration<br />
nicht mehr ermittelt werden kann. Außerdem ist bei einer Beladung mit<br />
zu hohen Schadstoffkonzentrationen das Ionen-Mobilitäts-Spektrometer<br />
vorübergehend nicht meßbereit, bis die zu hohen Konzentrationen aus der<br />
Meßkammer gespült sind.<br />
Deshalb ist die in Abb. 3 im linken Bereich dargestellte manuell schaltbare<br />
Verdünnungseinrichtung integriert worden, bei der nur ein Teil des Probengases<br />
direkt eingelassen wird. Der Rest wird durch Aktivkohle gefiltert. Das<br />
Verdünnungsverhältnis kann dabei durch Umschaltventile und Restriktionskapillaren<br />
zwischen unverdünnt und 1:10 und 1:100 eingestellt werden.<br />
Aufgrund der extremen Nachweisstärke, die für Kampfstoffe erforderlich<br />
ist, ist das IMS im Labortest besonders bei der Messung von Ammoniak<br />
regelmäßig in die Sättigung getrieben worden. Das hat zum zeitweiligen<br />
Ausfall des Gerätes geführt und die Einsatzbarkeit im Feuerwehreinsatz in<br />
Zweifel gestellt. Allein durch diese Verdünnungseinheit bzw. Meßbereichserweiterung<br />
ist es möglich, das IMS auch für die Detektion von Industriechemikalien<br />
bei höheren Konzentrationen einzusetzen.<br />
– <strong>Neue</strong> Meßstrategie<br />
Die Verdünnungseinheit erlaubt den Einsatz des GDA und besonders des<br />
IMS bei allen Meßaufgaben, die in Kap. 2 beschrieben sind. Zum Monitoring<br />
in unbekannter Umgebung ist die Verdünnung zunächst auf 1:100 einzustellen<br />
und einige Sekunden zu warten, bis ein Meßsignal erscheint. Die<br />
Ansprechzeit des GDA ist abhängig von der Substanz und der gewählten<br />
Verdünnung und beträgt 1 bis ca. 10 Sekunden. Wenn kein Signal erscheint,<br />
kann nach dieser Zeit die Verdünnung schrittweise reduziert und bei Stellung<br />
1:1 die maximale Nachweisstärke des IMS genutzt werden.<br />
Mit dieser schrittweisen Erhöhung der Nachweisstärke kann auch die Leckagensuche<br />
z.B. an undichten Chemiakalienfässern oder Tankwagen durchgeführt<br />
werden. Damit ist sichergestellt, daß das IMS nicht für längere Zeit<br />
gespült werden muß und damit für weitere Messungen ausfällt, weil eventuell<br />
Gas mit zu hoher Konzentration eingesogen wurde.<br />
4.2 Realisierung des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays<br />
Im Dezember 1996 wurden dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> die ersten vier<br />
Prototypen des Gefahrstoff-Detektoren-Arrays übergeben. Die Signale der<br />
249
vier nach unterschiedlichen physikalischen Prinzipien arbeitenden Sensoren<br />
werden bei diesem Gerät noch unverknüpft in einem Balkendiagramm dargestellt.<br />
Vom Ionen-Mobilitäts-Spektrometer werden die Ionensignale vor<br />
(Kanal A,B) und hinter (Kanal C,D) dem Reaktantionenpeak jeweils für<br />
positive (A,C) und negative (B,D) Ionen aufsummiert. Man erhält dadurch<br />
vier Signale, die als Balken links auf einem LCD-Display erscheinen. Die<br />
Leitwertänderung der beiden Halbleitergassensoren (E,F) sowie der Strom<br />
der elektrochemischen Zelle (G) und der Ionenstrom des Photo-Ionisations-<br />
Detektors (H) werden als weitere vier Balken dargestellt (s. Abb. 4).<br />
Abbildung 4: Balkendarstellung auf dem LCD-Display des GDA, z.B. für<br />
Phosgen.<br />
Diese Signale sowie die Ionen-Mobilitäts-Spektren können an einen Personal-Computer<br />
übergeben und dort weiter verarbeitet werden. Meß- und<br />
Anzeigestrategien in Zusammenwirken mit anderen Komponenten des<br />
Spürfahrzeugs werden zur Zeit entwickelt.<br />
5. Gerätetest<br />
In den Labors des BZS, der TUHH und bei Bruker-Saxonia finden Gerätetests<br />
statt, in denen die Detektierbarkeit der ETW-Stoffe, Zuverlässigkeit<br />
der Geräte und mögliche Meßstrategien untersucht werden. Diese Untersuchungen<br />
laufen sehr erfolgreich. Die Geräte erweisen sich als zuverlässig<br />
und sind in der Lage, alle Stoffe der ETW-Liste nachzuweisen. Im Test festgestellte<br />
kleine Mängel in der Konstruktion der Prototypen, z.B. falscher<br />
Gasfluß durch die Elektrochemische Zelle und die Anordnung der Halbleitergassensoren,<br />
werden kontinuierlich beseitigt.<br />
6. Weiteres Vorgehen<br />
Es ist davon auszugehen, daß im Herbst 97 ein einführungsreifes und analytisch<br />
geprüftes Gefahrstoff-Detektoren-Array zur Verfügung steht. Dieses<br />
sollte in einer größeren Stückzahl beschafft werden und mit den ersten<br />
250
Spürfahrzeugen im Feld, d.h. bei den Feuerwehren erprobt werden. Es gibt<br />
international kein vergleichbares Gerät, so daß die Chancen für die Vermarktung<br />
dieses Systems auch international gut sein sollten.<br />
Hinsichtlich der weiteren Optimierung des Gerätes sollte besonders die<br />
Interpretation der Meßergebnisse mit Hilfe der Mustererkennung weiterentwickelt<br />
werden. Dies wird allgemein zur erhöhten Sicherheit der Anzeige<br />
führen und, in bekannter Umgebung mit erwarteten Substanzen, zur<br />
Identifizierung und besseren Quantifizierung der Substanzen.<br />
251
252
Vorträge ’99<br />
253
254
Eröffnung der 48. Jahrestagung<br />
Arthur Scharmann<br />
Liebe Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />
ich begrüße Sie recht herzlich zur Mitgliederversammlung im 48. Jahr des<br />
Bestehens der <strong>Schutzkommission</strong> und danke Ihnen, dass Sie unserer Einladung<br />
in das schöne Freiburg erneut gefolgt sind. Der Tatsache, dass wir eine<br />
Mitgliederversammlung und keine Jahrestagung veranstalten, mögen Sie<br />
entnehmen, dass wir noch immer nicht über dem Berge sind in der Frage der<br />
Zukunft der Kommission. Ich bin aber nach den gestrigen Gesprächen im<br />
Inneren Ausschuß sicher, dass wir am heutigen Nachmittag einen großen<br />
Schritt nach vorne machen werden.<br />
Lassen Sie uns zunächst ganz herzlich Herrn Ministerialdirektor Rosen und<br />
Herrn Ministerialrat Dr. Ammermüller vom Bundesinnenministerium in<br />
unserem Kreise begrüßen. Herr Ministerialdirektor Rosen ist der für Fragen<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es zuständige Abteilungsleiter. Wir hatten ja bereits vor der<br />
Mitgliederversammlung und der Sitzung des Inneren Ausschusses am<br />
gestrigen Tag Gelegenheit Sie, lieber Herr Rosen, und Ihre Vorstellungen<br />
über den <strong>Zivilschutz</strong> und die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> kennen zu lernen.<br />
Wir freuen uns, dass Sie es trotz des zur Zeit sicherlich nicht einfachen<br />
dienstlichen Umzugs von Bonn nach Berlin auf sich genommen haben, persönlich<br />
den Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong> Ihre Vorstellungen über die<br />
Inhalte und die Perspektiven der zukünftigen Arbeit vorzustellen. Wir hoffen<br />
auf eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit.<br />
An Sie, Herr Dr. Ammermüller, möchte ich die herzliche Bitte richten, dass<br />
Sie fortführen, was Ihr Vorgänger im Amt, Herr Wittschen, praktiziert hat:<br />
ein auf gegenseitigem Vertrauen aufbauendes, der Sache dienendes Zusammenwirken<br />
im Interesse der Klärung von Sachfragen zur Verbesserung des<br />
Schutzes und der Rettung von Menschen in Not. Herr Wittschen hat zum<br />
Ende des vergangenen Jahres andere Aufgaben im Ministerium übernommen.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> wünscht ihm für diese neuen Aufgaben von<br />
Herzen alles Gute.<br />
Vom Bundesministerium für Gesundheit begrüße ich den Leiter des Dienstsitzes<br />
Berlin Herrn Dr. Welz. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, engagiert<br />
und konstruktiv in medizinisch orientierten Beratungsgremien der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> mitzuarbeiten.<br />
Aus dem BMBau begrüße ich den langjährigen Betreuer des Ausschusses I<br />
der <strong>Schutzkommission</strong>, Herrn Bong, und vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />
Herrn Präsidenten Schuch und seine Mitarbeiter.<br />
Gerne hätte ich an dieser Stelle Herrn Ministerialdirigent Dr. Klingshirn in<br />
unserem Kreis begrüßt. Herr Dr. Klingshirn hatte in den letzten Jahren die<br />
255
Funktion eines ständigen Vertreters des Arbeitskreises V der Arbeitsgemeinschaft<br />
der Innenminister der Länder fungiert und in dieser Funktion<br />
eine wichtige Mittlerrolle zwischen dem Bund und den Ländern ausgefüllt.<br />
Herr Dr. Klingshirn wurde in der vergangenen Woche in den Ruhestand entlassen.<br />
Ich hoffe sehr, dass der AK V einen geeignete Nachfolger findet, der<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> als Ansprechpartner zur Verfügung steht.<br />
Bevor ich in meiner Begrüßung fortfahre, möchte ich einige Anmerkungen<br />
zur gegenwärtigen Lage in Europa machen.<br />
Von meinem Freund Lars Clausen habe ich gelernt, dass es in unserer<br />
gegenwärtigen Welt weder Krieg noch Frieden gibt, dafür aber alle dazwischen<br />
liegenden Konfliktformen. Es herrscht Krieg in Europa, wenige Stunden<br />
von hier, ein nicht erklärter Krieg, aber dennoch ohne Zweifel ein<br />
Krieg. Für viele ist dies unfassbar.<br />
Der Krieg hat zwei Gesichter: zum einen ist er gekennzeichnet von chirurgisch<br />
präzise geführten Schlägen gegen militärische und zivile Schaltzentren,<br />
die offenbar nur vergleichsweise geringe physische Schäden bei der<br />
Zivilbevölkerung zur <strong>Folge</strong> haben. Dieser Teil des Kriegs ist sicherlich<br />
auch zu einem hohen Maße ein Medienkrieg. Man sieht, täglich aktualisiert,<br />
brennende Ölraffinerien und Chemieanlagen und zerstörte Infrastruktur.<br />
Das andere Gesicht des Kriegs ist gekennzeichnet durch die systematische<br />
Vertreibung einer ganzen Bevölkerung mit all dem unbeschreibbaren<br />
Flüchtlingselend. Auch dies wird zu besten Fernsehsendezeiten in täglich<br />
aktualisierter Brutalität einem millionenfachen Publikum gezeigt.<br />
Wenn es je einer Begründung für die Notwendigkeit des <strong>Zivilschutz</strong>es<br />
bedurft hätte, die traurige Realität der letzten Wochen hätten diese in nicht<br />
wegzudiskutierender Weise geliefert. Der Krieg dauert an. Ich hoffe nicht<br />
mehr lange. Denn jeder Tag bringt für die Zivilbevölkerung weitere Entbehrungen<br />
und Qualen.<br />
Es ist sicherlich noch zu früh, um abschließend beurteilen zu können, welche<br />
<strong>Folge</strong>rungen die Nato und die Bundesregierung aus diesem Krieg auch<br />
in Fragen des <strong>Zivilschutz</strong>es ziehen werden. Ich bin aber sicher, dass die<br />
gewonnenen Erkenntnisse und Erfahrungen gründlich aufgearbeitet werden<br />
müssen, um dem staatlichen Auftrag zum Schutze der Bevölkerung gerecht<br />
zu werden. Eine solche Aufarbeitung könnte auch Gegenstand der Beratungen<br />
in der <strong>Schutzkommission</strong> in den kommenden Jahren sein.<br />
Lassen Sie mich zurück kommen zur heutigen Mitgliederversammlung. Im<br />
Februar 1997 habe ich den Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong> an den<br />
damaligen Staatssekretär Prof. Schelter übergeben. Der Bericht erntete, wie<br />
Sie alle wissen, viel Lob und Anerkennung. Die <strong>Schutzkommission</strong> hat zur<br />
gleichen Zeit dem BMI auf eigenem Wunsch aus den vielfältigen Empfehlungen<br />
des Berichts eine große Zahl von Themen benannt, die eine besonders<br />
hohe Priorität besitzen. Unsere Erwartungshaltung an das Ministerium<br />
hinsichtlich der praktischen Umsetzung des Berichts war groß. Die zunächst<br />
256
etwas zögerlich angelaufene Bearbeitung der vorgeschlagenen Themen ist<br />
inzwischen in Gange gekommen.<br />
Ich bin der Meinung, dass sich eine Orientierung der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in die Zukunft auch an dem Willen und der Fähigkeit der Politik<br />
orientieren muss, die prioritären Fragestellungen anzugehen und abzuarbeiten.<br />
Aus diesem Grund wollen wir uns vor der Mitgliederversammlung<br />
am heutigen Nachmittag über den Stand der Arbeiten an einigen wichtigen<br />
Sachthemen orientieren lassen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass diese<br />
Themen nur Einzelaspekte im großen Spektrum der Themen des Gefahrenberichts<br />
sind. Dennoch zeigen sie, dass von Seiten des Bundesinnenministeriums<br />
mit großem Ernst und zielgerichtet an diesen zentralen Problemen<br />
gearbeitet wird.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> ist nicht untätig geblieben im zurückliegenden Jahr.<br />
Der Schwerpunkt der Beratungsaktivitäten lag im Bereich Medizin. Wir<br />
werden hierüber einen Bericht erhalten. Daneben war die <strong>Schutzkommission</strong><br />
bei der Definition neuer <strong>Forschung</strong>svorhaben, der Begleitung laufender<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben sowie bei der Beurteilung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />
aktiv. Sie werden hierüber heute morgen beispielhaft über zwei laufende<br />
Vorhaben informiert werden. Ich danke allen, die sich für diese Tätigkeit im<br />
Verborgenen zur Verfügung gestellt haben, denn ohne eine fachliche Begleitung<br />
in allen Phasen solcher Vorhaben lässt sich der <strong>Forschung</strong>sbetrieb<br />
nicht bewerkstelligen.<br />
Eine Aktivität, die heute nicht weiter zur Sprache kommen wird, möchte ich<br />
doch noch kurz erwähnen. Sie alle kennen die Bundesanstalt Technisches<br />
Hilfswerk als Organisation, die – in einem hohen Maße auf ehrenamtlicher<br />
Basis – humanitäre Hilfe in praktisch allen Krisengebieten der Welt leistet.<br />
Die Veränderungen in unserem Lande und die Privatisierung von großen<br />
Staatsbetrieben wie der Deutschen Bahn, der Bundespost und der Telekom<br />
haben dazu geführt, dass die Bereitschaft dieser Firmen zur Freistellung von<br />
Mitarbeitern zur Ausbildung als THW-Helfer zunehmend zurückgeht. Diese<br />
Entwicklung birgt mittelfristig große Gefahren für den Ausbildungsstand<br />
und damit die Schlagkraft der Organisation. Der Einsatz neuer Medien kann<br />
hier zumindest in den Bereichen, in denen reines Wissen vermittelt wird,<br />
Abhilfe schaffen. Diesen Weg möchte die Bundesanstalt THW gehen. In<br />
einer kleinen Arbeitsgruppe der <strong>Schutzkommission</strong> wurde in Zusammenarbeit<br />
mit dem THW ein entsprechendes Konzept erarbeitet, das die stufenweise<br />
Einführung neuer Medien in den Schulungsalltag vorsieht. Das Konzept<br />
soll in den kommenden Jahren eingeführt werden.<br />
Die Tätigkeit kleiner Arbeitsgruppen mit Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und unter Hinzuziehung externer Fachleute zur Beratung spezieller,<br />
wohldefinierter Fragestellung hat sich in den letzten Jahren sehr bewährt.<br />
Diese Arbeitsweise besitzt bei der Neukonzeption der Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong>,<br />
über die wir heute Nachmittag sprechen werden, eine wichtige<br />
Rolle.<br />
257
Ich danke allen Mitgliedern und Gästen, die sich bereit erklärt haben, durch<br />
entsprechende Beiträge die Tagung zu bereichern. Ich erhoffe mir und der<br />
<strong>Schutzkommission</strong>, dass Sie uns auch in Zukunft zur Verfügung stehen<br />
werden. Mein besondere Dank gilt Herrn Dr. Weidringer von der Bayerischen<br />
Landesärztekammer, der aufgrund beruflicher Verpflichtungen leider<br />
heute nicht unter uns sein kann. Dr. Weidringer hat mit hohem persönlichen<br />
Engagement und ganz in der Tradition der <strong>Schutzkommission</strong> unentgeltlich<br />
die Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen der Effizienzsteigerung der<br />
medizinischen Versorgung der Bevölkerung geleitet und zusammen mit seinem<br />
Mentor, Prof. Ernst Rebentisch, wesentlich dazu beigetragen, dass die<br />
Arbeitsgruppe bereits nach etwa einem Jahr ihre Arbeit mit der Erstellung<br />
eines umfassenden Abschlussberichts abschließen konnte. Die wesentlichen<br />
Aussagen des Abschlußssberichts werden gleich anschließend von<br />
Ernst Rebentisch vorgestellt werden. Eingeflossen in die Arbeit der Gruppe<br />
sind die Erkenntnisse, die Herr Dr. Hüls als Leitender Notarzt bei der<br />
Bewältigung des ICE Unglücks in Eschede gemacht hat. Ich freue mich,<br />
Herr Dr. Hüls, dass Sie uns heute über Ihre Erfahrungen und Erkenntnisse<br />
informieren werden. Mit dem Abschlußbericht, den die <strong>Schutzkommission</strong><br />
noch vor der Sommerpause an die Hausleitung des Bundesinnenministeriums<br />
übergeben wird, wird die Arbeit der Gruppe zwar abgeschlossen. Dies<br />
bedeutet aber nicht, das alle Sachfragen geklärt sind. Die Arbeitsgruppe<br />
bereitet vielmehr gegenwärtig einen Katalog vor, der den dringendsten<br />
Beratungs- und <strong>Forschung</strong>sbedarf aufzeigt.<br />
Unabhängig von der weiteren Verfolgung dieser Fragen ist bereits jetzt klar,<br />
dass der im vergangenen Jahr erfolgte 5. Nachdruck des „Leitfadens für<br />
Katastrophenmedizin“, der wie seine Vorgänger innerhalb kurzer Zeit vergriffen<br />
war, neu aufgelegt werden muss. Hierzu wird sich noch vor der<br />
Sommerpause eine neue Arbeitsgruppe aus Mitgliedern der <strong>Schutzkommission</strong><br />
und externen Fachleuten etablieren. Ich hoffe, dass die Arbeiten bis<br />
zur Jahrestagung im kommenden Jahr abgeschlossen werden können.<br />
Neben den medizinischen Fragestellungen werden wir heute über zwei zentrale<br />
Themen informiert werden, die in der Vergangenheit immer wieder<br />
Gegenstand der Beratungen in der <strong>Schutzkommission</strong> waren, nämlich der<br />
Frage<br />
– der Warnung der Bevölkerung nach Aufgabe des bundesweiten Sirenennetzes<br />
und<br />
– der Ermittlung des Gefahrenpotentials in unserem Lande in Form eines<br />
Schutzdatenatlasses.<br />
Obwohl es sich in beiden Fällen um laufende Vorhaben handelt, erschien es<br />
mir doch wichtig, dass die <strong>Schutzkommission</strong> von Ihnen, Herr Dr. Held und<br />
Dr. Herr Dombrowski über den gegenwärtige Stand der Arbeiten in den beiden<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben unterrichtet wird.<br />
258
Meine Damen und Herren, Organisation und Koordination ist zwar nicht<br />
alles, sie kann aber gerade in Notfallsituationen über Gelingen und Scheitern<br />
staatlichen Handelns mit entscheiden. Im Gefahrenbericht haben wir<br />
dazu ausgeführt:<br />
„Die Rahmenbedingung für die Planung und Durchführung von Maßnahmen<br />
zum Schutze der Bevölkerung gegen die Gefahren bei Großkatastrophen<br />
und im Verteidigungsfall haben sich mit dem Wandel der allgemeinen<br />
sicherheitspolitischen Lage, der Öffnung der Gesellschaft in einem vereinigten<br />
Europa, der technologisch bedingten Veränderungen der Gesellschaft<br />
und der Zunahme des Terrorismus in den letzten Jahren grundlegend verändert.<br />
Auch aufgrund der von Seiten des BMI angestrebten und z.T. bereits<br />
umgesetzten Regelungen zur Neuorientierung im <strong>Zivilschutz</strong> sind in vielen<br />
Bereichen grundlegend neue Schutzkonzepte erforderlich geworden. Dies<br />
gilt insbesondere für die angestrebten Veränderungen der Aufgabenerledigung<br />
durch den Bund und die Länder, die nach Meinung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in Zukunft eine „verstärkte Koordinationsaufgabe für den Bund zur<br />
<strong>Folge</strong> hat.“<br />
Ich freue mich, dass sich das Bundesinnenministerium der Aufgabe der<br />
Koordination auf der Ebene des Bundes verstärkt widmen will und möchte<br />
auch in diesem Kreis Ihnen, Herr Rosen versichern, dass die <strong>Schutzkommission</strong><br />
Ihnen und dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> bei diesem Unterfangen<br />
gerne mit fachlichem Rat zur Seite stehen wird. Ich bin Herrn Dr. Miska<br />
vom Innenministerium in Mainz sehr dankbar, dass er uns aus seiner Erfahrung<br />
aus internationalen Übungen der OECD/NEA die praktischen Notwendigkeiten<br />
für eine solche Koordinierende Stelle auf der Ebene des Bundes<br />
und den internationale Stand unserer nationalen Vorkehrungen darstellen<br />
wird.<br />
Am Ende meiner Begrüßung möchte ich unserer (Mini)Geschäftstelle mit<br />
Frau Seifert und Herrn Prof. Weiss herzlich für die Ausrichtung der Mitgliederversammlung<br />
hier in Freiburg danken. Wir fühlen uns nicht nur hier<br />
in Freiburg stets hervorragend von Ihnen betreut.<br />
259
260
Zum Gedenken an Otto Haxel<br />
Arthur Scharmann<br />
Am 26. Februar 1998 starb unser Altmitglied Otto Haxel, emeritierter Professor<br />
für Physik an der Universität Heidelberg. Mit ihm hat die <strong>Schutzkommission</strong><br />
den letzten ihrer Gründer verloren, der über knapp fünf Dekaden<br />
lang bis zu seinem Tode die Kommission entscheidend mitgeformt<br />
und ihren Stil mitbestimmt hat.<br />
Otto Haxel wurde am 2. April 1909 in Neu Ulm geboren. Er verlor früh seinen<br />
Vater, der als Offizier im ersten Weltkrieg an den <strong>Folge</strong>n schwerer Verwundungen<br />
starb. Als Schüler gehörte seine ganze Leidenschaft der Radiotechnik.<br />
So war es nicht verwunderlich, dass er, nach einem halbjährigen<br />
Industriepraktikum, wie es damals an den Technischen Hochschulen üblich<br />
war, ein Ingenieur-Studium in München begann. Insbesondere die Physik-<br />
Vorlesungen des Physikers Jonathan Zenneck waren für den jungen Haxel<br />
eine Offenbarung. So beschloss er, zum Fach „Technische Physik“ zu wechseln.<br />
Als Haxel sein sehr gutes Vordiplom-Zeugnis seiner Mutter zeigte, war<br />
diese entsetzt: Was ist Physik, und gibt es in diesem Fach berufliche Chancen?<br />
Damals führte der einzige gesicherte Berufsweg für einen Physiker zur<br />
Position eines Gymnasiallehrers. Haxel ging also zum Münchner Kultusministerium,<br />
das ihn aber ablehnte, da er sein Abitur nicht in Bayern, sondern<br />
im württembergischen Ulm gemacht hatte. In Neu-Ulm gab es damals<br />
keine Schule mit Abiturabschluss. Also ging Otto Haxel nach Stuttgart,<br />
wurde in der ihm vertrauten Mundart im württembergischen Ministerium<br />
empfangen und erhielt die Antwort, dass einer Etablierung in Württemberg<br />
nichts im Wege stände. Auf Rat von Zenneck ging Otto Haxel zu Geiger<br />
nach Tübingen. Ich habe das hier nur deshalb geschildert, weil es zeigt, wie<br />
die Entscheidung eines formalistischen Ministerialbeamten (ohne es zu wissen),<br />
den Lebensweg eines jungen Mannes entscheidend – und hier zum<br />
Guten – bestimmen kann. In Tübingen kam Haxel zur Kernphysik. Geiger<br />
war einige Jahre bei dem berühmten Rutherford in Manchester, dem<br />
Weltzentrum der damaligen Kernphysik, gewesen und hatte selbst Entscheidendes<br />
geleistet. Damit kam er an eine der ersten Adressen des sich<br />
schnell entwickelnden neuen Gebiets in Europa. Hier in Tübingen bei Geiger<br />
und Gerthsen hatte er die beste Einführung, die man sich denken konnte.<br />
1936 ging er mit Geiger als Oberassistent an die TH Berlin und habilitierte<br />
sich dort 1937.<br />
Nach dem Krieg fand Otto Haxel eine neue Wirkungsstätte am MPI für<br />
Physik in Göttingen, war Dozent und seit 1949 apl. Professor an der dortigen<br />
Universität. Hier in Göttingen setzte er seine kernphysikalischen Untersuchungen<br />
fort und begann mit Experimenten zur Höhenstrahlung. Gleichzeitig<br />
versuchte er, die sogenannten „Magischen Zahlen“, Zahlen, die<br />
besonders stabile Atomkerne im Periodensystem der Elemente und ihre<br />
261
vielfältigen Isotopen markieren, durch kritische Durchleuchtung physikalischer<br />
Eigenschaften zu erklären. Das führte dann, als sich der Theoretiker<br />
Jensen dieses Problems annahm, zu einer der großen „Standardarbeiten“ der<br />
Physik unseres Jahrhunderts: H.D.J. Jensen, O. Haxel und H. Suess: „Das<br />
Schalenmodell des Atomkerns“ (1951).<br />
1951 erhielt Haxel einen Ruf an die Universität Heidelberg, baute hier das<br />
II. Physikalische Institut auf mit einem breiten Spektrum aus allen Bereichen<br />
der energiereichen Strahlung einschließlich der atmosphärischen<br />
Radioaktivität und der radioaktiven Altersbestimmung. Das breit gefächerte<br />
Spektrum seiner Interessen führte zur Gründung eines Instituts für<br />
Umweltphysik, an dessen Arbeiten Haxel bis zu seinem Tode teilnahm.<br />
Haxel war ein begeisterter, begeisternder Lehrer, er hat vielen durch seine<br />
menschlich herzliche Art und Hilfsbereitschaft geholfen. Er war Mitglied<br />
der Deutschen Atomkommission und Hauptinitiator bei der Gründung des<br />
<strong>Forschung</strong>szentrums Karlsruhe, das er von 1970 bis 1975 als wissenschaftlicher<br />
Geschäftsführer leitete. Er war 1957 einer der 18 Unterzeichner des<br />
„Göttinger Manifests“ gegen die Bewaffnung der Bundeswehr mit kerntechnischen<br />
Waffen, allerdings aus ökologischen Gründen auch ein Verfechter<br />
der Kernenergie.<br />
Otto Haxel wurde vielfältig geehrt: Er war Mitglied der Deutschen Akademie<br />
der Naturforscher Leopoldina zu Halle, Mitglied der Heidelberger Akademie<br />
und deren Präsident (1978–1982), Ehrendoktor der TU Karlsruhe<br />
sowie Träger des Otto-Hahn-Preises der Stadt Frankfurt und der Großen<br />
Universitätsmedaille der Universität Heidelberg. Für seine Verdienste für<br />
unsere <strong>Schutzkommission</strong> wurde ihm das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens<br />
der Bundesrepublik Deutschland verliehen.<br />
Die <strong>Schutzkommission</strong> hat eines ihrer verdienstvollsten Mitglieder, ich<br />
selbst einen väterlichen Freund verloren. Die <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern trauert um Otto Haxel in dankbarer Erinnerung.<br />
262
Zum Gedenken an Reinhold Reiter<br />
Arthur Scharmann<br />
Am 24. September 1998 starb Dr. Reinhold Reiter, Garmisch-Partenkirchen.<br />
Seit Ende der 70er Jahre war er als ständiger Gast Mitglied der<br />
<strong>Schutzkommission</strong>. Als international anerkannter Experte hat er bei uns<br />
das Gebiet der „Ausbreitung von radioaktivem Material im nicht ebenen<br />
Gelände“ bearbeitet und betreut.<br />
Dr. Reiter wurde am 17. November 1920 in München geboren. Er war von<br />
Herkunft und Lebenshaltung ein typischer Vertreter seiner bayerischen<br />
Heimat, die er so sehr liebte. Schon während der Schulzeit beschäftigte er<br />
sich mit Röntgenstrahlenexperimenten und legte die Ergebnisse in drei Protokollbänden<br />
nieder. Im März 1939 bestand er das Abitur, wurde zum<br />
Arbeitsdienst eingezogen und ist bei Kriegsausbruch Soldat der Luftwaffe.<br />
Aufgrund eines Gutachtens des weltberühmten theoretischen Physikers der<br />
Universität München, Geheimrat Sommerfeld, wird er Technischer Leiter<br />
der Röntgenstation des Sanitätsreviers des Fliegerhorsts Neubiberg und<br />
kurze Zeit später Technischer Assistent am neugegründeten „Institut für<br />
Luftfahrtmedizin“ in München.<br />
Nach Kriegsende entwickelte er eine Elektrokunsthand, baut Messgeräte für<br />
die Radioaktivität und beginnt sich mit der Wetterabhängigkeit des Menschen<br />
zu befassen. Nach der Währungsreform erfolgt das Studium der Physik<br />
an der Universität und der TH München, das er 1953 mit einer Doktorarbeit<br />
über „Messung der Halbwertszeit des spontanen Urankernzerfalls“ bei<br />
Professor Gerlach abschließt. Schon während der Studienzeit wendet er sich<br />
über das Problem „Wetter und Mensch“ der Luft-Elektrizität zu. Dazu richtet<br />
er im väterlichen Haus ein Observatorium für atmosphärische Elektrizität<br />
ein. Externe Registrierstationen entstehen in Oberstdorf und am Nebelhorn,<br />
in Fürstenfeldbruck, in Bad Reichenhall und auf dem Predigtstuhl.<br />
Nach der Promotion interessiert sich der US Air Force für die Untersuchungen.<br />
Im Rahmen eines Vertrages mit diesem neuen Partner wird in den<br />
Räumen eines ehemaligen Schafstalles eine Wohnung und ein 5 m–Labor in<br />
Farchant bei München eingerichtet mit einer ganzen Reihe von Messstationen<br />
zwischen Zugspitze und Farchant. 1964 erscheint sein erstes Buch über<br />
Elektrizität, Radioaktivität und Aerosole, heute noch ein wichtiger „Klassiker“<br />
auf diesem Gebiet.<br />
1962 erfolgt die Übernahme der „Physikalisch-Bioklimatischen <strong>Forschung</strong>sstelle“<br />
durch die Fraunhofer-Gesellschaft als Institut für „Atmosphärische<br />
Umweltforschung“ mit Reinhold Reiter als Leiter. Noch vor dem<br />
Umzug in den Neubau 1973 wurde von ihm ein völlig neuer Schritt unternommen:<br />
der Einbau von Messgeräten in die Gondeln der Zugspitz-Seilbahn.<br />
Mit dem Institutneubau entstand ein Startplatz für große Radioson-<br />
263
den, und es entstanden atmosphärische Fernerkundungsmethoden zur Erfassung<br />
von Aerosol-Konzentrationsprofilen mit Hilfe von Lasern bis zu einer<br />
Höhe von 35 km. Als Reinhold Reiter 1985 in den Ruhestand tritt, kann sein<br />
Institut auf mehr als 30 Jahre erfolgreicher, international anerkannter <strong>Forschung</strong><br />
zurückblicken.<br />
Auch im Ruhestand bleibt Reiter aktiv: Er gründet ein kleines Privatinstitut<br />
„Consulting Bureau Reiter“ (COR) mit einer kleinen Messstation auf dem<br />
Wank zur Registrierung der luftelektrischen Parameter und – nach und nach<br />
– zur Messung der kosmischen Strahlung. Es schließt sich der Kreis. 1992<br />
beendet er sein letztes Buch: „Phenomena in Atmospheric and Environmental<br />
Electricity“. 350 Veröffentlichungen und drei Bücher zeugen von<br />
einem erfolgreichen wissenschaftlichen Leben.<br />
Im Januar 1993 erleidet er einen schweren Sturz, von dem er sich nie mehr<br />
ganz erholt hat. In den frühen Stunden des 24.09.1998, im Schlaf, hört sein<br />
Herz auf zu schlagen. Die <strong>Schutzkommission</strong> verliert mit Dr. Reinhold Reiter<br />
einen anerkannten Wissenschaftler und einen liebenswerten Menschen.<br />
264
Grußworte des Bundesministers des Innern<br />
Klaus-Henning Rosen<br />
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,<br />
sehr geehrte Mitglieder und Gäste der <strong>Schutzkommission</strong><br />
Erlauben Sie mir, mich Ihnen als der im Dezember vergangenen Jahres mit<br />
der Leitung der Abteilung 0 betraute Mitarbeiter des BMI vorzustellen, die<br />
sich u.a. im Referat 0 4, das durch Herrn Dr. Ammermüller vertreten ist, mit<br />
dem Zivil- und Katastrophenschutz zu befassen hat.<br />
Lassen Sie mich aber, bevor ich Ihnen Gedanken zu Ihrer künftigen Arbeit<br />
vorstelle, Ihnen die Grüße von Herrn Minister Otto Schily und die besten<br />
Wünsche für Ihre Arbeit übermitteln. Er vertraut darauf, Ihr weit gefächertes<br />
Fachwissen auch zukünftig intensiv nutzen zu können und wünscht der<br />
Tagung in diesem Sinne einen erfolgreichen Verlauf. Sein Interesse an Ihrer<br />
Arbeit steht in nichts dem seiner Vorgänger nach. Auch ich möchte Ihnen<br />
herzlich dafür danken, dass Sie uns Ihren Sachverstand schon so lange<br />
Jahre hindurch engagiert und konstruktiv zur Verfügung stellen. Nicht nur<br />
die Vertretung der weit gespannten Wissenschaftsbereiche, die die Kommission<br />
abdeckt, ist außergewöhnlich, sondern auch ihre Tradition der<br />
Ehrenamtlichkeit. Sie dokumentiert das große Interesse der Mitglieder an<br />
der Weiterentwicklung des Zivil- und Katastrophenschutzes und den Reiz<br />
der Arbeit in der <strong>Schutzkommission</strong> selbst.<br />
Einige Hinweise zu meinem Werdegang:<br />
Lassen Sie mich sodann ein Wort zu meinem persönlichen Zugang zu den<br />
Themen anfügen, mit denen Sie sich befassen. Bei der Übernahme meines<br />
Amtes fand ich das Neukonzept für den <strong>Zivilschutz</strong> vor. In den Gesprächen<br />
mit den Mitarbeitern und den beteiligten Akteuren – ich nenne: THW, BZS,<br />
Länder, DST, aber auch IDNDR und die Hilfsorganisationen – wurde mir<br />
deutlich: das neue <strong>Zivilschutz</strong>konzept vom Anfang der 90er Jahre als soches<br />
ist richtig. Dennoch meine ich, es bedarf, nachdem das darauf fußende neue<br />
<strong>Zivilschutz</strong>gesetz seit gut zwei Jahren in Kraft ist, des kritischen Nachdenkens,<br />
und zwar gemeinsam mit den Beteiligten, an welchen Stellen die<br />
Zusammenarbeit intensiviert bzw. verändert werden sollte.<br />
Mein Eindruck hinsichtlich des <strong>Zivilschutz</strong>konzepts ist: man sollte nicht der<br />
Fehleinschätzung verfallen, mit der Neuordnung der Institutionen sei es<br />
getan. Im Gegenteil, dann beginnt die eigentliche Arbeit. Es mag sich im<br />
übrigen die militärisch definierte Gefahrenlage verändert haben; die Gefahrenlage<br />
im Zivilbereich hat sich keineswegs entspannt, im Gegenteil, es gilt,<br />
sich auf neuartige Bedrohungen einzustellen.<br />
Das führt mich zu meiner ersten Begegnung mit Ihrer Arbeit, was ich Ihnen<br />
nicht vorenthalten will. Zu den Informationen, die man mir gegeben hatte,<br />
265
um mich auf meine neuen Tätigkeitsfelder einzustimmen, gehörte das Gutachten<br />
der <strong>Schutzkommission</strong>. Ich verhehle nicht, der Name dieser Kommission<br />
sagte mir nichts. Gleichwohl faszinierte mich an dem Bericht die<br />
Dichte der Darstellung, die systematische Aufarbeitung von Risikolagen,<br />
die wissenschaftliche Präzision; mich überzeugte aber auch die Deutlichkeit<br />
der kritischen Hinweise auf Defizite bei der Vorbereitung der Gesellschaft<br />
auf diese neuartigen Gefahrenlagen.<br />
Der Bericht war, wie mir gesagt wurde, als Darstellung des <strong>Forschung</strong>sbedarfs<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> gedacht. Ich verstand ihn aber eher oder auch<br />
als deutliche Mahnung an die Politik, dem Adressaten des Berichts, sich<br />
intensiver mit diesen Gefahren zu beschäftigen. Um so mehr war ich über<br />
die Information verblüfft, mit diesem Bericht sei bisher nicht viel, genaugenommen:<br />
nichts, geschehen.<br />
Ich kann Ihre und die Enttäuschung Ihres geschätzten Vorsitzenden verstehen,<br />
zumal Sie zum einen Ihrem Auftrag gemäß gehandelt, zum anderen auf<br />
diesen Bericht sehr viel Arbeit verwandt hatten. Das Gespräch gestern und<br />
heute sollte deshalb auch dazu dienen, beim Nachdenken über die künftige<br />
Zusammenarbeit des BMI mit der <strong>Schutzkommission</strong> die Frage nicht zu<br />
vergessen, wie die Bundesregierung mit dem Bericht umgehen sollte.<br />
Die Erwähnung des Berichts der <strong>Schutzkommission</strong> ist der richtige Zeitpunkt,<br />
Ihnen, Herr Prof. Dr. Scharmann für die umsichtige und zielstrebige<br />
Leitung der Geschicke der <strong>Schutzkommission</strong> zu danken; ich füge hinzu, dass<br />
Sie es immer noch tun und bereit sind, dies auch fortzusetzen, bis eine endgültige<br />
Form für die Arbeit der Institution gefunden worden ist. Es wäre mir<br />
eine Beruhigung und eine große Freude, wenn ein deutlicher Schritt in Richtung<br />
einer Konsolidierung der Arbeitsgrundlagen heute getan werden könnte.<br />
Ich bitte Sie, Herr Prof. Scharmann, aber auch Sie alle, meine Herren, auch<br />
weiterhin der Sache die Treue zu halten. Dass Ihr Sachverstand weiterhin<br />
vonnöten ist, steht ganz außer Frage. In einer Welt, deren Länder immer<br />
mehr zusammenrücken und deren Anforderungen und Probleme deshalb<br />
immer globaler werden, kann auf eine weit gespannte interdisziplinäre wissenschaftliche<br />
Begleitung des Zivil- und Katastrophenschutzes nicht verzichtet<br />
werden. Auch der Krieg um den Kosovo, dem die Bundesrepublik<br />
Deutschland als NATO-Mitglied nicht ausweichen konnte und bei dem<br />
gleichzeitig viele deutsche Hilfsorganisationen versuchen, vor Ort Hilfe zu<br />
spenden, macht deutlich, wie sehr und in wie weit gefächerten Bereichen<br />
zum Schutz der Bevölkerung detaillierte wissenschaftliche Erkenntnisse<br />
benötigt werden und entwickelt werden müssen. Vorsorge und Schutz der<br />
Bevölkerung ist eine Aufgabe, deren Wichtigkeit im Rahmen der möglichen<br />
denkbaren Gefährdungslagen in unserer technisierten Welt noch zunehmen<br />
wird. Die <strong>Schutzkommission</strong> muss weiterhin bestehen bleiben. Ihre Funktion<br />
kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.<br />
Überlegungen, für die <strong>Schutzkommission</strong> einen neuen Rahmen zu finden,<br />
bedeuten keine Abqualifizierung deren Arbeit. Meine Erwartungen an diese<br />
266
eiden Tage sollen deshalb auch nicht als Ausdruck mangelnder Zufriedenheit<br />
mit Ihrer Arbeit missverstanden werden. Aber überall, wo Menschen<br />
zusammenarbeiten, gibt es gelegentlich Anlässe, kritisch zurückzublicken,<br />
um von daher um so unbefangener sich auf Künftiges einzustellen. Bezogen<br />
auf die <strong>Schutzkommission</strong> ist es eine Bestätigung dafür, dass es sich um<br />
eine lebendige, bewegliche Institution handelt, die in der Lage sein wird,<br />
ihren Kurs auch auf neue Gegebenheiten auszurichten.<br />
Wenn die Kommission am 8. Januar 2001 50 Jahre alt wird, soll sie dem reichen<br />
Erfahrungsschatz, den eine langjährige Begegnung mit den Aufgaben<br />
der Politik im Zivil- und Katastrophenschutz mit sich bringt, auch eine Frische<br />
ausstrahlen, die dem Beginn eines neuen Jahrtausends angemessen ist.<br />
Die Bundesregierung mißt Ihrer Arbeit auch deshalb einen hohen Stellenwert<br />
bei, weil sie sich in das Nachdenken darüber einfügt, wie im Zuge der<br />
Neuordnung der künftigen Staatsaufgaben das Verhältnis zwischen Staat<br />
und Gesellschaft neu bestimmt werden soll. Das Leitbild vom aktivierenden<br />
Staat, das sich diese Regierung gegeben hat, geht von einer deutlicheren<br />
Einbeziehung gesellschaftlicher Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft<br />
bei der Erledigung von Aufgaben für die Allgemeinheit aus. Die Mitglieder<br />
der <strong>Schutzkommission</strong> entsprechen mit ihrer freiwilligen Selbstverpflichtung,<br />
die sie mit Ihrem Beitritt zu dieser Kommission eingegangen<br />
sind, in idealer Weise diesem Leitbild. Sie dürfen also überzeugt sein, das<br />
BMI, der Bundesminister des Innern wird um so mehr auch künftig auf Sie<br />
bauen.<br />
Als Voraussetzung für eine Neubestimmung unserer Zusammenarbeit<br />
sehe ich einmal die Neuorientierung Ihrer Arbeit und eventuelle interne<br />
Restrukturierungen an. Zum zweiten aber sollte versucht werden, neue<br />
Kontakte zu finden, den Sachverstand zu verbreitern, vor allem aber junge<br />
Wissenschaftler als Nachwuchs in die Arbeit der Kommission einzubinden<br />
und dauerhaft für eine Mitarbeit zu gewinnen. Ohne sie hätte die Kommission<br />
keine Zukunft und wäre deshalb auch heute schon für die Politik nur<br />
noch begrenzt von Interesse. Da die <strong>Schutzkommission</strong> fast so alt ist wie die<br />
Bundesrepublik und über alle Wahlperioden hinweg erfolgreich gearbeitet<br />
hat, scheint mir dieses Szenario abwegig zu sein. Ich verkenne jedoch nicht<br />
die Schwierigkeit, heutzutage aufstrebende, karrierebewußte junge Wissenschaftler<br />
für die Arbeit in einem ehrenamtlich arbeitenden Gremium zu<br />
begeistern. Es ist mir ein Anliegen, alles zu tun, was Ihre Aufgabe erleichtern<br />
könnte und eine für alle annehmbare Lösung zu finden. <strong>Forschung</strong>smittel<br />
kann der Bund schon seit einigen Jahren nicht mehr einsetzen. Die<br />
Hintergründe kennen Sie alle. Die in der EU und im GATT geltenden Vergabeprinzipien<br />
verbieten diesen Weg.<br />
Von zentraler Bedeutung bei der Gewinnung von Nachwuchs ist aber –<br />
unabhängig von einer finanziellen Regelung – sicherlich das Vorbild und<br />
Engagement anerkannter Autoritäten, die, wie Sie, sich dieser Kommission<br />
zur Verfügung stellen. Ich bitte Sie, Ihren Einfluss zu nutzen, um den Nach-<br />
267
wuchswissenschaftlern die Arbeit an einem nicht unbedingt populären<br />
Thema aus Ihrer Sicht mit Ihren Erfahrungen und dem, was Sie davon<br />
reflektieren, nahezubringen. Ich bin zuversichtlich, die Arbeit bleibt deshalb<br />
interessant, da ein großer Anreiz in ihr selbst liegt. Und auf diese Weise<br />
habe ich das gestrige Gespräch mit besonderer Spannung geführt, denn<br />
Überlegungen zu Neuordnungen, wie sie diesmal im Zentrum dieser Veranstaltung<br />
stehen, sind immer spannend. Im Idealfall setzen sie – trotz oder<br />
gerade wegen des Zündstoffs, den die Überlegungen zu neuen Konzeptionen<br />
häufig bergen – kreative Kräfte frei, die zu zukunftsweisenden und<br />
erfolgversprechenden neuen Ansätzen führen. Nach dem positiven Verlauf<br />
unserer gestrigen Gespräche gehe ich davon aus, dies gilt auch für die heutige<br />
Tagung.<br />
Gestatten Sie mir einige Gedanken zu den langfristigen Perspektiven der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> und ihren künftigen Aufgabenschwerpunkten auf der<br />
Grundlage des neuen <strong>Zivilschutz</strong>rechts. Ich nenne hierzu fünf Punkte:<br />
1) Die <strong>Schutzkommission</strong> sollte nach Auffassung der Bundesregierung<br />
auch weiterhin <strong>Zivilschutz</strong>forschung betreiben, dies aber grundsätzlich<br />
mit einem verstärkten Blick auf <strong>Folge</strong>rungen für Schutz und Vorsorge bei<br />
Gefährdungslagen im Frieden.<br />
2) Ein weiterer Schwerpunkt wird in der Beratung der Bundesregierung<br />
liegen, neben der eher anwendungsorientierten langfristigen Konsultation<br />
sollten auch die Möglichkeiten für eine mehr kurzfristige Politikberatung<br />
geprüft und genutzt werden.<br />
3) Die Zusammenarbeit mit den Bundesländern wird enger werden müssen.<br />
4) Die Vernetzung der Informationssysteme sollte intensiviert werden.<br />
5) Eine verstärkte internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit ist<br />
geboten.<br />
Lassen Sie mich im folgenden darlegen, was ich im einzelnen mit diesen<br />
Hinweisen meine:<br />
Zu 1) Die Aufgabe der <strong>Schutzkommission</strong> ist seit ihrer Gründung im Jahre<br />
1951 die Beratung der Bundesregierung in wissenschaftlichen Fragen des<br />
<strong>Zivilschutz</strong>es.<br />
Da die veränderte außenpolitische Sicherheitslage auch zu geänderten<br />
Gefährdungslagen geführt hat, hat sich auch die Zielrichtung dieser Aufgabenstellung<br />
verlagert. Dies hat sich niedergeschlagen in der Neukonzeption<br />
des <strong>Zivilschutz</strong>es. Die prinzipiell strenge Trennung zwischen Zivil- und<br />
Katastrophenschutz hat sich gelockert. Es gewinnt der Schutz der Bevölkerung<br />
im Friedensfall an Gewicht, der sich auf Gefährdungen richtet, die eine<br />
Bedrohung für die Allgemeinheit bedeuten und die regional nicht mehr zu<br />
bewältigen sind. Es spielt beispielsweise keine Rolle, ob ein Atomkraftwerk<br />
im Krieg zerstört wird oder ob eine Verstrahlung wegen eines Reaktorunfalls<br />
zu befürchten ist. Unter wissenschaftlichem Aspekt ist eine angeblich<br />
aus der Verfassung abgeleitete Unterscheidung zwischen Zivil- und Kata-<br />
268
strophenschutz nicht mehr haltbar. Thema ist der Schutz der Zivilbevölkerung<br />
bei Großkatastrophen jeglicher Art. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse<br />
kommen sowohl dem Zivil- als auch dem Katastrophenschutz zugute.<br />
Die <strong>Forschung</strong> kann deshalb, von ganz spezifischen Ausnahmen abgesehen,<br />
von den weitgehend identischen Schadenslagen ausgehen und darf sich<br />
nicht den Blick durch die Schadensursachen künstlich verengen lassen.<br />
Um seine grundgesetzlich verankerten Pflichten zum Schutz der Bevölkerung<br />
wahrzunehmen, muss der Gesamtstaat eine möglichst einheitliche und<br />
zukunftsorientierte Vorsorgepolitik betreiben. Diesem Ziel dient auch die<br />
<strong>Zivilschutz</strong>forschung, die sich an einem gesamtheitlichen Ansatz orientieren<br />
muss. Es ist dann Sache der Politik, wie sie deren Ergebnisse in dem<br />
vom Grundgesetz gezogenen Zuständigkeitsrahmen zwischen Bund und<br />
Ländern umsetzt.<br />
Unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen verbleibt somit für<br />
die <strong>Forschung</strong> ein breites Betätigungsfeld. So bedeutet Effektivierung auch<br />
die Nutzung moderner Technik, neuester Erkenntnisse und das Erkennen<br />
und Verfolgen erfolgversprechender Entwicklungen für Zwecke des Bevölkerungsschutzes.<br />
Der <strong>Forschung</strong> zur Entwicklung von planerischen Konzepten,<br />
Strategien, Verfahren, Schutzsystemen sowie zur Gefahrenerfassung<br />
und Schadensbekämpfung bei Großkatastrophen kommt deshalb<br />
besondere Bedeutung zu. Wissenschaftliche Beratung und anwendungsorientierte<br />
<strong>Forschung</strong> sind als innovative Komponente planerischer und<br />
tatsächlicher Maßnahmen erforderlich, damit die verschiedenen verantwortlichen<br />
Stellen den vielfältigen Gefahren- und Gefährdungssituationen<br />
effizient begegnen und in Maßnahmen aufeinander abstimmen können.<br />
Es besteht deshalb auch in Zukunft Bedarf für ein interdisziplinäres wissenschaftliches<br />
Beratungsgremium, das – fachübergreifend – fundamentale<br />
Risiken für die Gesellschaft untersucht und Strategien zu ihrer Bewältigung<br />
vorschlägt. Dementsprechend soll die <strong>Schutzkommission</strong> laufend bei<br />
der <strong>Forschung</strong>splanung eingebunden und bei der Bewertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen<br />
gutachterlich beteiligt werden.<br />
Zu 2) Im Zentrum der Tätigkeit der <strong>Schutzkommission</strong> soll in Zukunft<br />
auch die wissenschaftliche Beratung der Bundesregierung stehen. Das<br />
gilt einmal langfristig und vorsorgend bei der <strong>Forschung</strong>splanung, bei der<br />
Formulierung und Steuerung von <strong>Forschung</strong>svorhaben und der Begutachtung<br />
und Bewertung von <strong>Forschung</strong>sergebnissen. Dabei kann bei Ereignissen<br />
von hoher politischer Brisanz verstärkt die Stellungnahme zur kurzfristigen<br />
Politikberatung gefragt sein. In letzter Zeit wurde diese Aufgabe<br />
zunehmend wahrgenommen, etwa durch den Gefahrenbericht, auf den ich<br />
eingangs eingegangen bin, aber auch durch die Stellungnahme zum weiteren<br />
Verfahren in bezug auf den – inzwischen aufgegebenen – Ausweichsitz<br />
der Verfassungsorgane des Bundes in Marienthal. Die von der <strong>Schutzkommission</strong><br />
in den letzten Jahren eingerichteten Arbeitsgruppen haben<br />
hervorragende Ergebnisse erzielt. Beispielhaft ist die Arbeitsgruppe „Effi-<br />
269
zienzsteigerung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung“ anzuführen.<br />
Der Handlungsbedarf im Hinblick auf <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsaktivitäten<br />
ist erheblich. Dementsprechend groß ist die Anzahl der uns unterbreiteten<br />
Themenvorschläge für <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben,<br />
etwa 40, mit unterschiedlichem Konkretisierungsgrad. Eine kurzfristige<br />
Realisierung all dieser Vorschläge ist mit den zur Verfügung stehenden<br />
Finanzmitteln, wie Sie verstehen werden, nicht möglich.<br />
Ich begrüße die Überlegungen, die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> unter<br />
pragmatischen Gesichtspunkten neu zu ordnen und auf die drei Schwerpunktbereiche<br />
– medizinische Versorgung,<br />
– Entscheidungshilfen für Maßnahmen des Zivil- und Katastrophen<br />
schutzes,<br />
– Technik im Zivil- und Katastrophenschutz,<br />
zu konzentrieren. Damit dürften zum einen wohl alle Bereiche mit vordringlichem<br />
Handlungsbedarf abgedeckt sein. Zum anderen erscheint mir<br />
eine derartige Schwerpunktbildung durchaus geeignet, um die Partner in<br />
einem integrierten föderal konzipierten Hilfeleistungssystem zur Vorsorge<br />
und Abwehr von Gefahren und Katastrophen jedweder Ursache in fachwissenschaftlicher,<br />
anwendungsorientierter Hinsicht angemessen unterstützen<br />
zu können.<br />
Es könnte sich empfehlen, für diese Beratung eine flexiblere, auf aktuelle<br />
Notwendigkeiten bezogene Struktur zu finden, etwa mit Hilfe kleiner<br />
Arbeitsgruppen unter Beteiligung der zuständigen Ressorts der Bundesregierung.<br />
Über die Beteiligung von Ländervertretern oder weiterem Sachverstand<br />
bzw. Kooperationspartnern sollte jeweils aktuell entschieden werden.<br />
Zu 3) Dass die Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei der allgemeinen<br />
Gefahrenabwehr künftig noch enger gestaltet werden muss, hat seinen<br />
Niederschlag bereits im <strong>Zivilschutz</strong>neuordnungsgesetz gefunden: Es führte<br />
zur Abschaffung von Sonderstrukturen des Bundes im Katastrophenschutz<br />
und zur Integration von Maßnahmen des Bundes in den friedensmäßigen<br />
Katastrophenschutz der Länder. Dem Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> obliegt<br />
nunmehr die Aufgabenstellung für technisch-wissenschaftliche <strong>Forschung</strong><br />
„im Benehmen mit den Ländern“. Das bedeutet, über das bisherige Verfahren<br />
hinaus, das die Mitarbeit von Ländervertretern in den projektbegleitenden<br />
Arbeitsgruppen und die Information über die Ergebnisse der abgeschlossenen<br />
<strong>Forschung</strong>svorhaben vorsah, künftig eine Information und Beteiligung der<br />
Länder bereits in der Planungsphase. Den Ländern werden neu angemeldete<br />
<strong>Forschung</strong>sthemen zur Stellungnahme zugeleitet; sie erhalten die Zwischenberichte<br />
und den Abschlussbericht der <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />
Seit Oktober 1997 gibt es im Arbeitskreis V der IMK einen ständigen<br />
Ansprechpartner der Länder für die <strong>Schutzkommission</strong>, der in dieser Funk-<br />
270
tion zu den Jahrestagungen der <strong>Schutzkommission</strong> und zu wichtigen Beratungen<br />
eingeladen wird. Das war Herr Ministerialdirigent Dr. Klingshirn aus<br />
dem Bayrischen Staatsministerium des Innern. Er konnte Ihrer Einladung<br />
diesmal nicht mehr <strong>Folge</strong> leisten, weil er in der vergangenen Woche in den<br />
Ruhestand verabschiedet wurde. Ich kann Ihnen aber aus den Gesprächen<br />
mit den Mitgliedern des Arbeitskreises V in der vergangenen Woche sagen:<br />
Sie dürfen weiter von einem hohen Interesse der Länder an der <strong>Schutzkommission</strong><br />
ausgehen. Ich bin gebeten worden, auf der nächsten Sitzung des AK<br />
V im Herbst über die Neuorganisation der <strong>Schutzkommission</strong> zu berichten.<br />
Ich begrüße die Schaffung einer solchen Schnittstelle sehr. Sie vereinfacht<br />
die Abstimmung zwischen Bund und Ländern erheblich und optimiert<br />
dadurch die Koordinierung der <strong>Forschung</strong>svorhaben.<br />
Der Sachverstand der <strong>Schutzkommission</strong> muss als integrativer Bestandteil<br />
der Bemühungen von Bund und Ländern für verbesserte Vorsorge und wirksameren<br />
Schutz der Bevölkerung vor Gefahren und Katastrophen jedweder<br />
Ursache verstärkt auch den Ländern angeboten (und von ihnen in Anspruch<br />
genommen) werden. Der Zielsetzung eines möglichst breit gefächerten praktischen<br />
Nutzens sollten auch einschlägige <strong>Forschung</strong>svorhaben dienen. In<br />
dem Maße, in dem die <strong>Schutzkommission</strong> ihren wissenschaftlichen Sachverstand<br />
im Wege der Beratung auch für Themen im Zuständigkeitsbereich der<br />
Länder einsetzt, hätte sie eine weitere Perspektive. Im Bereich der Gefahrenprävention<br />
und -abwehr könnte ihr ein noch höherer Stellenwert zuwachsen.<br />
Ich rege in diesem Zusammenhang an, zu überdenken, ob nicht auch die<br />
Kommunen in die Arbeit der <strong>Schutzkommission</strong> eingebunden werden sollten,<br />
um auch deren spezielle Wünsche an den Bevölkerungsschutz aufnehmen<br />
zu können. Ich weiß, der Deutsche Städtetag als Repräsentant der<br />
großen Kommunen würde eine solche Anregung mit großem Interesse aufnehmen.<br />
Man sollte auch daran denken, als Verantwortliche für die Region<br />
die im Deutschen Landkreistag organisierten Kreise anzusprechen. Aus<br />
meiner Sicht wäre eine Zusammenarbeit für alle Seiten von großem Nutzen.<br />
Zu 4) Ganz praktisch ergäbe sich für die <strong>Schutzkommission</strong> eine zusätzliche<br />
neue Aufgabe bei der Zusammenarbeit mit der Koordinierungsstelle<br />
für großflächige Gefahrenlagen, für die ich hier werben möchte. Diese<br />
Koordinierungsstelle ist seit einem Jahr als ständige Einrichtung Bestandteil<br />
des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong>. Sie befasst sich mit der Erfassung und der<br />
Erschließung von Ressourcen und Hilfsmitten zur Krisenbewältigung, der<br />
Beobachtung und Abschätzung von Risikoentwicklungen, der Erarbeitung<br />
von Verfahren im Krisenmanagement, der Vorbereitung von Maßnahmen<br />
zur sachgerechten Information der Öffentlichkeit in Krisenlagen sowie der<br />
Initiierung von ressortübergreifenden <strong>Forschung</strong>s- und Entwicklungsvorhaben.<br />
Schwachstellen und Defizite sollen aufgedeckt und ausgemerzt werden,<br />
damit Fällen wie der gestrandeten „Pallas“ in der Nordsee, dem ICE-<br />
Unfall in Eschede oder der Katastrophe im Mont-Blanc-Tunnel effektiver<br />
begegnet werden kann.<br />
271
Der Beratungsbedarf durch die Wissenschaft ist hier groß, damit Prophylaxe<br />
und Bekämpfung zweckmäßig und umfassend ausfallen können. Der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> als Beratungsgremium des Bundesministeriums des<br />
Innern kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Ich<br />
würde es begrüßen, wenn die thematische Gewichtung der Arbeit der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> auch hier einen Schwerpunkt finden könnte. Eine Realisierungsmöglichkeit<br />
wäre die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe<br />
mit BZS und THW, auch mit Vertretern der Länder.<br />
Es sollte des weiteren geprüft werden, welche Informationen die <strong>Schutzkommission</strong><br />
zu einem einzurichtenden Informationssystem beim THW/BZS<br />
beisteuern kann. Diese Stelle sollte der Vernetzung vorhandener Datenbanken<br />
und Informationssysteme, also etwa der Leitstellen bzw. den Lagezentren<br />
der Innenministerien der Länder oder der Koordinierungsstelle für<br />
großflächige Gefahrenlagen, dienen. Ziel ist es, im Katastrophenfall besser<br />
und schneller als bisher Rettungsgerät und Sachverstand an den Ort der<br />
Katastrophe zu steuern. Zu diesen Systemen würde auch eine für Ihre Arbeit<br />
bedeutungsvolle Initiative beim Geoforschungszentrum Potsdam gehören,<br />
die sich gezielt der Erforschung von Naturkatastrophen widmen will.<br />
Zu 5) Eine solche Initiative würde auch den Zugang zur internationalen<br />
Kooperation erleichtern, bei der die <strong>Schutzkommission</strong> nach meinem Eindruck<br />
künftig intensiver tätig werden könnte. Eine verstärkte Präsenz auf<br />
der internationalen Bühne würde ich unterstützen. Ich denke dabei an einen<br />
Erfahrungsaustausch mit den Experten wissenschaftlicher Gremien internationaler<br />
Organisationen. Von einer solchen Zusammenarbeit würde nicht<br />
nur die <strong>Schutzkommission</strong>, sondern auch das internationale Gremium profitieren.<br />
Ich bin der Überzeugung, dass die <strong>Schutzkommission</strong> dort einiges<br />
anzubieten hat. So befasst sich der Gefahrenbericht der <strong>Schutzkommission</strong><br />
u.a. mit der potentiellen Gefährdung der Bevölkerung im Falle einer Freisetzung<br />
von chemischen und biologischen Kampfstoffen sowie einer radioaktiven<br />
Verseuchung aufgrund des Einsatzes von Kernwaffen. Die Abhandlungen<br />
schließen die <strong>Folge</strong>n aufgrund terroristischer oder katastrophenartiger<br />
Vorfälle ein.<br />
Ein aktuelles Projekt der NATO, die sogenannte WMD (Weapons of Mass<br />
Destruction)-Initiative, befasst sich mit den <strong>Folge</strong>n des potentiellen Einsatzes<br />
von Massenvernichtungswaffen durch Terroristen und entsprechenden<br />
Vorsorgemaßnahmen. Der Ausschuss, der sich zu diesem Zweck im NATO-<br />
Hauptquartier gebildet hat (Senior Defense Group on Proliferation – DGP),<br />
arbeitet wegen des kausalen zivilen Zusammenhanges mit dem Oberausschuß<br />
für zivile Notfallplanung (SCEPC) zusammen. Im Rahmen dieser<br />
WMD-Initiative wird z. Zt. geprüft, wie und in welchem Umfang die Allianz<br />
im Falle eines chemischen, biologischen aber auch nuklearen Einsatzes<br />
mit ihren Möglichkeiten zur Abschwächung der <strong>Folge</strong>n in dem betroffenen<br />
Land beitragen kann. Dies erfordert seitens der Nationen eine sorgfältige<br />
Vorbereitung insofern, als diese ihre vorhandenen Strukturen im ABC-<br />
Bereich überprüfen müssen.<br />
272
Dies ist mit Sicherheit nicht der einzige Bereich, in dem die <strong>Schutzkommission</strong><br />
bereits bahnbrechende Arbeiten anbieten kann. Auch in der<br />
Europäischen Union ist das Bedürfnis nach mehr Zusammenarbeit bei<br />
großflächiger Gefahrenbekämpfung gewachsen. Derzeit wird an einem<br />
zweiten Aktionsprogramm gearbeitet.<br />
Diese Hinweise sollen als Ermutigung an die <strong>Schutzkommission</strong> dienen, ihr<br />
Fachwissen noch mehr nach außen zu tragen, um das Profil der <strong>Schutzkommission</strong><br />
deutlicher zutage treten zu lassen und ihre Attraktivität und<br />
ihren Bekanntheitsgrad noch zu erhöhen. Ich bin sicher, dass eine solche<br />
Initiative zusätzlich junge Wissenschaftler anziehen könnte. Das Bundesministerium<br />
des Innern will gern dazu beitragen, wo nötig, Verbindungen zu<br />
knüpfen.<br />
Lassen Sie mich einige Gedanken zur internen Neuordnung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
anfügen:<br />
Ich freue mich, dass zwischen der <strong>Schutzkommission</strong> und dem BMI<br />
grundsätzliche Einigkeit besteht, die interne Aufbauorganisation der<br />
<strong>Schutzkommission</strong> zu straffen, um dem interdisziplinären Beratungsauftrag<br />
noch besser gerecht werden zu können. Sie soll sich auf die wichtigsten<br />
Sachthemen im Zivil- und Katastrophenschutz konzentrieren und damit die<br />
Arbeit möglichst noch effektiver machen, als sie bisher ist. Zunehmend<br />
wichtig wird auch eine erhöhte Flexibilität. Andererseits sind die begrenzten<br />
finanziellen Ressourcen zu berücksichtigen.<br />
Ich könnte mir eine Kerngruppe von vielleicht 20 Mitgliedern vorstellen,<br />
um die herum sich ein weiterer Kreis von Wissenschaftlern gruppiert, die<br />
ihr Fachwissen bei Bedarf weiterhin der <strong>Schutzkommission</strong> zukommen lassen<br />
und sie in ihrer Tätigkeit unterstützen. Wichtig ist für mich eine Regelung,<br />
die die Mitglieder, die nicht zur Kerngruppe zählen, nicht ausschließt.<br />
Sie sollten sich – trotz ihrer weniger zentralen Stellung – trotzdem den<br />
Anliegen der <strong>Schutzkommission</strong> weiter aufgeschlossen und in ihrem Fachwissen<br />
gefragt wissen.<br />
Der interdisziplinäre Charakter der Institution muss trotz der Verkleinerung<br />
erhalten bleiben, so dass jedenfalls die drei zentralen Beratungsthemen, die<br />
als wichtig für die Arbeit der Kommission definiert wurden, in der erforderlichen<br />
fachlichen Breite abgedeckt werden.<br />
Ob zur Erfüllung aktueller Beratungsaufträge ad hoc-Arbeitsgruppen gebildet<br />
werden oder ob regelmäßig tagende Fachgruppen der fachlichen<br />
Schwerpunktbereiche den Anforderungen, die an die <strong>Schutzkommission</strong><br />
gestellt werden, besser genügen, können Sie sicher am besten intern entscheiden.<br />
Der Innere Ausschuss als kommissionsinternes Koordinierungsgremium<br />
hat sich nach meiner Auffassung bewährt. Ich würde für seine Beibehaltung<br />
plädieren.<br />
Ein letztes Wort zu den Finanzen: Der gesetzliche Auftrag der <strong>Schutzkommission</strong><br />
ist 1989 auf eine beratende Funktion festgeschrieben worden. Das<br />
273
edeutet, dass die <strong>Schutzkommission</strong> oder ihre Mitglieder vom Bund keine<br />
eigenen <strong>Forschung</strong>smittel erhalten können – es sei denn, sie stellen sich<br />
dem Wettbewerb bei Ausschreibungen von <strong>Forschung</strong>svorhaben nach den<br />
allgemeinen Vergabevorschriften. Die <strong>Schutzkommission</strong> definiert sich als<br />
ehrenamtliches Gremium. Das bedeutet, dass ihre Mitglieder über die üblichen<br />
Spesen hinaus kein Honorar für ihre Beratungsleistung erhalten.<br />
Anbieten kann ich Ihnen eine Lösung, die der nachgebildet ist, die sich<br />
bereits seit 1993 für die jetzt beim BMU bestehende – ebenfalls ehrenamtlich<br />
arbeitende – „Strahlenschutzkommission“ bewährt hat. Dort wird bei<br />
besonders umfangreichen Beratungsleistungen – also in Einzelfällen – eine<br />
Aufwandsentschädigung gezahlt, wenn dies vom Ministerium anerkannt<br />
wurde. Ich bitte Sie, dieses Angebot zu prüfen. Ich versichere Ihnen, dass<br />
dem Bund haushaltsrechtich keine Ausnahmen vom Wettbewerbsprinzip<br />
und den vergaberechtlichen Vorschriften möglich sind. Die Zeit, in der über<br />
<strong>Forschung</strong>smittel in anderer als diese Weise verfügt werden konnte, ist leider<br />
vorbei. Die vorgeschlagene Lösung ist kein „Königsweg“, aber ein vernünftiger<br />
Kompromiss, der insbesondere auch – wie bereits erwähnt – den<br />
Interessen junger Wissenschaftler gerecht zu werden versucht.<br />
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die <strong>Schutzkommission</strong> hat eine<br />
erfolgreiche Vergangenheit aufzuweisen. Sie wird, davon bin ich überzeugt,<br />
auch eine erfolgreiche Zukunft haben, wenn es uns gemeinsam gelingt, ihre<br />
Organisation und ihre fachlichen Schwerpunkte an den praktischen Erfordernissen<br />
der Politik effektiv und rational auszurichten. Ich freue mich auf<br />
eine intensive Zusammenarbeit mit Ihnen.<br />
274
Die ICE-Katastrophe von Eschede<br />
Fakten – Erfahrungen – Konsequenzen<br />
Ewald Hüls<br />
1. Einleitung<br />
Das ICE-Unglück in Eschede am 3. 6. 98 war das bisher größte Unfallereignis<br />
im Landkreis Celle und gleichzeitig das schwerste Zugunglück in der<br />
Geschichte der Deutschen Bundesbahn. Es offenbarte nicht nur dem Rettungsdienst,<br />
sondern auch allen übrigen an dem Rettungseinsatz beteiligten<br />
Organisationen eine Schadenslage von bis dahin unbekannter Dimension.<br />
2. Fakten<br />
2.1 Unfallereignis<br />
Am Mittwoch, den 3. 6. 1998 befindet sich der ICE 884 „Wilhelm Conrad<br />
Röntgen“ auf der Fahrt von München nach Hamburg. Er verlässt um<br />
10:33 Uhr den Hauptbahnhof Hannover, um seine Fahrt über Celle, Uelzen,<br />
Lüneburg nach Hamburg Altona fortzusetzen. Der Intercity-Express 884,<br />
ein ICE der ersten Generation, ist insgesamt 358 m lang bei einem Gewicht<br />
von 850 t und hat maximal 759 Sitzplätze.<br />
Um 10:59 Uhr entgleist der ICE an einer Weiche in Höhe des südlichen<br />
Ortsbeginns von Eschede. Nach bisher vorläufigen veröffentlichten<br />
Erkenntnissen der eingesetzten Untersuchungskommission – die staatsanwaltschaftlichen<br />
Ermittlungen zur Erforschung der Unfallursache dauern<br />
noch immer an – werden durch den dritten sich quer stellenden Reisewagen<br />
die Pfeiler der ca. 300 m hinter der Weiche befindlichen 40 m langen die<br />
Bahngleise überspannenden Straßenbrücke weggerissen und diese dadurch<br />
zum Einsturz gebracht. Der vordere Triebkopf wird dabei vom restlichen<br />
Zug abgetrennt und kommt ohne zu entgleisen ca. 2 km hinter dem Bahnhof<br />
Eschede unbeschädigt zum Stillstand. Die Reisewagen 1–3 entgleisen und<br />
kommen etwa 350 m hinter der Brücke im Gleisbett zum Stehen, nachdem<br />
der hintere Teil des dritten Wagen gegen einen Oberleitungsmasten prallt.<br />
Durch den Aufprall von Brückenteilen auf den 5. Reisewagen wird der vierte<br />
Wagen hoch gedrückt, rutscht quer zum Gleisbett in einen angrenzenden<br />
kleinen Wald, wobei er sich überschlägt. Die hintere Hälfte des 5. Wagens<br />
wird durch herabstürzende Brückenteile vollständig begraben, der vordere<br />
Teil reißt ab und kommt ca. 100 m hinter der Brücke zum Stehen. Der sechste<br />
Reisewagen stellt sich quer vor die zusammenstürzende Brücke, die folgenden<br />
sechs Reisewagen werden durch den hinteren Triebkopf zollstockartig<br />
zusammengedrückt und zum Teil über die Brückentrümmer hinauskatapultiert.<br />
275
2.2 Alarmierung<br />
Die Rettungsleitstelle wird am 3. 6. 98 um 11:02 Uhr durch die Polizei über<br />
ein Zugunglück in Eschede informiert: „Zug entgleist, mehrere Verletzte“.<br />
Die seinerzeit als Einmann-Leitstelle betriebene Rettungsleitstelle des<br />
Landkreis Celle – angesiedelt beim Deutschen Roten Kreuz – erteilt auf<br />
Grund dieser Meldung den Einsatzauftrag an fünf Rettungstransportwagen<br />
(RTW), ein Notarzteinsatzwagen (NEF) und drei Krankentransportwagen<br />
(KTW) sowie an die Rettungshubschrauber Christoph 4 und Christoph 19,<br />
wobei sich ersterer noch im Einsatz befindet. Für den originären Rettungsdienst<br />
im Landkreis selbst – zuständig für eine Fläche von 1 544,84 km2 und<br />
einer Einwohnerzahl von 180 605 bleiben ein RTW und ein KTW verfügbar<br />
– diese werden im weiteren Verlauf auch für diese Aufgabe benötigt.<br />
Nach wenigen Minuten befindet sich der RTW der Rettungswache Eschede<br />
bereits am Unfallort und setzt die erste Lagemeldung an die Rettungsleitstelle<br />
ab:<br />
„Kompletter ICE verunglückt, völlig zerstört, Wagen ineinander verkeilt.“<br />
Die Leitstelle löst daraufhin Großalarm aus, insbesondere werden die Nachbarleitstellen<br />
um Hilfe ersucht, die ihrerseits sowohl Primärrettungsmittel<br />
als auch Schnelle-Einsatz-Gruppen (SEG) an die Unfallstelle entsenden.<br />
Die Rettungsleitstelle Celle informiert darüber hinaus den Landkreis und<br />
verstärkt sich selbst personell.<br />
2.3 Lage<br />
Um 11:14 Uhr ist das Notarzteinsatzfahrzeug am Einsatzort, um 11:19 Uhr<br />
der Ärztliche Leiter Rettungsdienst – letzterer nimmt in dieser Funktion für<br />
den Landkreis Celle die Aufgabe des Leitenden Notarztes (LNA) wahr. Zu<br />
diesem Zeitpunkt befindet sich ebenfalls der technische Einsatzleiter der<br />
Feuerwehr (Kreisbrandmeister/KBM), die ersten freiwilligen Ortsfeuerwehren,<br />
drei Rettungshubschrauber und diverse Rettungsdiensteinheiten<br />
vor Ort. Der Zustrom weiterer Einsatzkräfte hält unvermindert an. Bei<br />
trockenem und warmen Wetter erreichen die Einsatzkräfte die Unfallstelle<br />
direkt von allen Seiten, sowohl über befestigte als auch unbefestigte<br />
Zufahrtswege. Die Luftrettungsmittel können auf einem großen freien Feld<br />
direkt neben der Unfallstelle landen und haben somit auch direkten Zugang<br />
zum Einsatzgeschehen.<br />
Der Leitende Notarzt erfährt nach Kontaktaufnahme mit dem ersten vor Ort<br />
befindlichem Notarzt, dass ein Gesamtüberblick über die Schadenslage<br />
noch nicht vorliegt und dass bei unbekannter Auslastung des Zuges schätzungsweise<br />
mit 40 Schwerverletzten und einer unbekannten Anzahl von<br />
Toten zu rechnen sei. Der LNA nimmt daraufhin Kontakt mit dem technischen<br />
Einsatzleiter der Feuerwehr auf. Notwendiges Bergungsgerät ist hier<br />
bereits schon angefordert und befindet sich auf dem Weg zur Schadenstelle.<br />
Nach Mitteilung der DB-AG sind die Zugoberleitungen seit 11:09 Uhr<br />
276
abgeschaltet. Die Unfallstelle mit einer Ausdehnung von 40 m x 600 m<br />
zeigt mehrere Einsatzschwerpunkte im Bereich der Brücke und der entgleisten<br />
Zugreisewagen, die Schadenslage selbst ist statisch.<br />
2.4 Einsatztaktik und Verlauf<br />
Zum Aufbau von Führungsstrukturen an der Unfallstelle werden in gemeinsamer<br />
Absprache zwischen technischem Einsatzleiter und LNA die ersten<br />
taktischen Entscheidungen getroffen, als Führungsmittel dient zunächst der<br />
direkt an der Einsatzstelle positionierte Einsatzleitwagen der Feuerwehr.<br />
Durch die eingestürzte Brücke wird die Unfallstelle topographisch in zwei<br />
Abschnitte geteilt, wobei ein ungehinderter Zugang von einem in den anderen<br />
Teil direkt nicht besteht.<br />
Aufgrund dieser Gegebenheit erfolgt die Aufteilung der Schadensstelle<br />
auch aus taktischen Gesichtspunkten in einen Ost- und Westabschnitt. Die<br />
Einrichtung von Verletztensammelstellen und Verbandsplätzen wird für<br />
jeden Abschnitt gesondert bestimmt. Im Ostteil liegt der Unfallbrücke direkt<br />
benachbart eine Industriehalle. Diese wird als Schwerverletztensammelstelle<br />
aquiriert und sukzessive personell und materiell ausgestattet.<br />
Die Kommunikation ist bereits in der Anfangsphase nachhaltig durch Überlastung<br />
der Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS)-<br />
Frequenzen und der Mobilfunknetze gestört. Um diesen Mangel auszugleichen,<br />
werden aus den heranrückenden Rettungsdiensteinheiten ein Meldetrupp<br />
organisiert, deren Aufgabe in der Verbreitung der getroffenen Entscheidungen<br />
vor Ort und Lageerkundung mit Rückmeldung an den LNA<br />
besteht. Über diesen Weg wird der vorläufig verhängte Transportstopp und<br />
die Entscheidung, Schwerstverletzte über den Luftweg nur von einem Landeplatz<br />
hinter der Industriehalle Ost auszufliegen, verbreitet.<br />
Für den Ost- und Westabschnitt bestimmt der LNA je einen erfahrenen und<br />
als Leitenden Notarzt ausgebildeten ärztlichen Abschnittsleiter. Diese sollen<br />
selbstständig unter den festgelegten Vorgaben (ggf. auch unter Bildung weiterer<br />
Unterabschnitte) mit den bereits vor Ort befindlichen und weiterhin<br />
zugeführten Bergungs- und Rettungsdienstkräften den Unfallbereich abarbeiten.<br />
Das persönliche „sich Kennen“, erhöht die Akzeptanz des LNA und<br />
erleichtert die Führungsaufgaben nachhaltig. Die Zusammenarbeit ist kollegial<br />
und kooperativ. An der Unfallstelle eintreffende Rettungsdienste und<br />
Sanitätskräfte werden den gebildeten Abschnitten direkt zugewiesen, soweit<br />
sie sich anmelden, wobei Einheiten nicht getrennt werden.<br />
Darüber hinaus strömt auch weiterhin eine nicht unerhebliche Anzahl von<br />
„selbstalarmierten“ Einsatzkräften unangemeldet ins Einsatzgeschehen,<br />
wodurch es zum Teil unmöglich wird, einen aktuellen Einsatzstatus zu<br />
gewinnen. Die Mehrfachkennzeichnung von „Leitenden Notärzten“<br />
(Rückenschilder an Einsatzkleidung bei fehlender Funktion nicht entfernt)<br />
ist irritierend für Einsatzkräfte insbesondere der fremden Hilfsorganisationen<br />
vor Ort.<br />
277
Innerhalb von zwei Stunden sind etwa 40 Notärzte vor Ort, die Behandlung<br />
der Verletzten erfolgt dementsprechend annähernd individualmedizinisch –<br />
eine Triage im üblichen Sinne ist dadurch nicht erforderlich. Bereits nach<br />
60 Minuten beginnt ein koordinierter Abtransport von Patienten, nach<br />
100 Minuten ein genereller Abtransport bei zwischenzeitlich ausreichenden<br />
Transportkapazitäten.<br />
Die Kommunikation zwischen den zivilen und militärischen Luftrettungsmitteln<br />
ist primär nicht möglich. Der LNA bittet die Bundeswehr, diesen<br />
Mangel- und Gefährdungszustand zu beseitigen. Mit Hilfe eines „On scene<br />
coordinator“ (Hubschrauber über der Schadensstelle) und dem Einsatz der<br />
SAR-(Bundeswehr) Leitstelle in Münster wird die Kommunikation hergestellt<br />
und außerdem eine Luftraumsperrung 5NM rund um das Einsatzgebiet<br />
mit Inaktivierung eines benachbart liegenden Truppenübungsschießplatzes<br />
sichergestellt, wodurch ein geordneter An- und Abflug der eingesetzten<br />
Hubschrauber erst möglich wird.<br />
Gegen 13:20 Uhr sind alle Schwerverletzten auf dem Weg in die versorgenden<br />
Kliniken, bereits um 13:45 Uhr ist kein behandlungsbedürftiger<br />
Patient mehr an den Verletztensammelstellen, wobei einschränkend die<br />
sechs Zugreisewagen im Bereich der eingestürzten Brücke noch nicht<br />
zugänglich sind und durchsucht werden können. Aufgrund dieser Entwicklung<br />
werden sukzessive die Primärrettungsmittel aus dem Einsatzgeschehen<br />
abgezogen und ihren originären Aufgaben wieder zugeführt – dies gilt auch<br />
für die primären Luftrettungsmittel.<br />
Die als Sichtungsstelle nicht mehr benötigte Halle Ost wird im weiteren<br />
Verlauf zur zentralen Leichensammelstelle bestimmt – an der Verbringung<br />
der zwischenzeitlich in Zelten aufgebahrten Leichen beteiligen sich Kräfte<br />
der Bundeswehr und des technischen Hilfswerkes. Umfang der Identifikation<br />
vor Ort und Transport der Leichen zum gerichts-pathologischen Institut<br />
der medizinischen Hochschule in Hannover (MHH) wird in Absprache<br />
mit der MHH, der Kriminalpolizei Celle und dem Bundeskriminalamt im<br />
Hintergrund geregelt.<br />
Um 14:30 Uhr ist die Technische Einsatzleitung (TEL) installiert und<br />
betriebsbereit. Der Aufbau erfolgte aus Platzgründen (Unterbringung aller<br />
beteiligter Organisationen) und zur Entlastung der An- und Abfahrtwege zur<br />
eigentlichen Unfallstelle etwa 1,2 km vom zentralen Unfallgeschehen entfernt<br />
mitten im Ortskern Eschede. Um 14:41 Uhr erreicht der Tunnelrettungszug<br />
der DB-AG mit Ärzten und Sanitätspersonal den Einsatzort – der Zug selbst<br />
kommt im weiteren Verlauf jedoch nicht zum Einsatz. Um 14:45 Uhr wird<br />
nach zeitraubender Bergung die letzte verletzte Person mit einem Rettungshubschrauber<br />
abtransportiert. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Zustrom von<br />
Rettungs- und Sanitätsdiensten auf eine Stärke von ca. 450 Personen mit fast<br />
80 Fahrzeugen angestiegen, etwa 80 Ärzte vor Ort und über 38 Fluggeräte im<br />
Einsatz – zum Teil als freiwillige Helfer, insbesondere aber auch ohne Anforderung<br />
und Anmeldung über die Leitstelle oder örtliche Einsatzleitung.<br />
278
2.5 Erste Ergebnisse<br />
In dieser ersten Phase werden 87 Patienten geborgen und medizinisch erstversorgt.<br />
Davon sind 69 Patienten schwerverletzt und zum Teil vital gefährdet,<br />
38 weitere Patienten bedürfen der stationären Behandlung. Mittels Rettungshubschrauber<br />
werden 27, über den bodengebundenen Rettungsdienst<br />
60 Patienten transportiert (38 % unter ärztlicher Begleitung) und an insgesamt<br />
23 Kliniken – die jeweiligen Verletzungsmuster berücksichtigend –<br />
über einen Radius von ca. 250 km verteilt und damit eine Überlastung insbesondere<br />
der naheliegenden Kliniken vermieden. Die Zahl der Toten ist bis<br />
auf 65 angestiegen.<br />
Der zwischenzeitlich abgearbeitete Abschnitt West wird in Absprache mit<br />
dem technischen Leiter aufgelöst, der Abschnitt Brücke damit zum zentralen<br />
Einsatzschwerpunkt.<br />
Um 15:00 Uhr erfolgt die Führungsübernahme durch die eingerichtete technische<br />
Einsatzleitung (TEL) – hier erfolgt die erste Einsatzbesprechung<br />
gegen 15:30 Uhr. Alle an der Rettungs- und Bergungsaktion beteiligten<br />
Organisationen unterstellen sich dieser Einsatzleitung, die Zusammenarbeit<br />
ist sachlich und konstruktiv. Mit Arbeitsaufnahme der TEL sind die Funkprobleme<br />
vor Ort durch Rückgriff auf ein eigenes Funk- bzw. Kabelnetz für<br />
die Einsatzkräfte beseitigt, Zuständigkeiten und Ansprechpartner für Aufträge<br />
und Probleme jeder Art geregelt.<br />
Wesentlich für den weiteren Verlauf wird eine gemeinsam gefasste Grundsatzentscheidung:<br />
Fortsetzung der Rettungs- und Bergungsarbeiten bis zur vollständigen<br />
Aufarbeitung der gesamten Schadensstelle unter dem Gesichtspunkt<br />
möglicher Bergung von noch Überlebenden und vollständigem Auffinden<br />
sämtlicher Unfallopfer.<br />
2.6 Kräfteansatz: Lageabhängige Anpassung<br />
Das stückweise Abtragen der Brückenteile gestaltet sich äußerst schwierig,<br />
trotz der inzwischen vor Ort befindlichen und eingesetzten Schwerlastkräne.<br />
Der Einsatzauftrag des Rettungsdienstes bleibt weiterhin bestehen, da<br />
zum einen mit dem Auffinden weiterer Unfallopfer in den bis dahin nicht<br />
zugänglichen Zugreisewagen gerechnet werden muss und zum anderen ein<br />
Gefährdungspotential für die Einsatzkräfte durch die Unfallstelle selbst, die<br />
Arbeit mit schwerem Gerät und bei Nacht fortgeführt wird. Die Stärke der<br />
Einsatzkräfte wird den neuen Verhältnissen angepasst und auf fünf RTW<br />
mit Besatzung und je einem Notarzt sowie einem Ambulanzhubschrauber<br />
und einer nachtflugtauglichen SAR-Maschine der Bundeswehr und zwei<br />
KTWs reduziert. Für den Brückenbereich wird ein ärztlicher Abschnittsleiter<br />
bestimmt, weiterhin die ärztliche Betreuung der eintreffenden Angehörigen<br />
von Unfallopfern sichergestellt. Die Ablösung der Rettungsdienstkräfte<br />
im Schichtwechsel von 12 h wird an den Sanitätsdienst delegiert – Pro-<br />
279
leme ergeben sich hier nicht. Zum Auffinden sämtlicher Leichenteile werden<br />
sowohl die Zugabteile als auch die Umgebung mehrfach mit einer Rettungshundestaffel<br />
abgesucht.<br />
Letztendlich dauern die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen bis zum Samstag,<br />
den 6. 6. 98 um 06:42 Uhr.<br />
2.7 Ergebnis der Rettungs- und Bergungsmaßnahmen<br />
Bis zu diesem Zeitpunkt verändert sich die Zahl der Überlebenden nicht.<br />
Vor Ort werden 96 Tote sowie 176 Leichenteile geborgen. Über diesen Zeitraum<br />
finden regelmäßige Einsatzbesprechungen der technische Einsatzleitung<br />
statt, auftauchende Fragen und Probleme (Medien, Pressekonferenzen<br />
und psychologische Betreuung der Helfer vor Ort, etc.) werden in gemeinsamen<br />
Absprachen geregelt, wobei wesentliche Maßnahmen für den Rettungsdienst<br />
nicht mehr anfallen. Von den Einsatzkräften wurden letztlich<br />
drei Personen beim Einsatz verletzt und mussten sich einer stationären<br />
Behandlung unterziehen.<br />
In den Kliniken versterben im weiteren Verlauf 5 Patienten an den <strong>Folge</strong>n<br />
ihrer Verletzungen – damit fordert die ICE-Katastrophe von Eschede<br />
101 Menschenleben.<br />
Unter Berücksichtigung der ambulant behandelten Personen und noch nach<br />
Tagen eingehender Verletztenmeldungen (hier auch ausschließlich psychischer<br />
Natur) erhöhte sich die Zahl der Verletzten auf insgesamt 108 Personen.<br />
Die tatsächliche Zahl der Zugpassagiere zum Zeitpunkt des Unfalles<br />
bleibt offen.<br />
3. Erfahrungen und Konsequenzen<br />
3.1 Kräfteansatz<br />
Der reibungslose Ablauf der Bergungs- und Rettungsaktion war insbesondere<br />
auf die außerordentlich gute Zusammenarbeit aller beteiligten Organisationen<br />
zurückzuführen und darauf, dass diese binnen kurzer Zeit und in<br />
unerwarteter Stärke vor Ort waren und dort ihre Arbeit professionell durchgeführt<br />
haben. Besondere Beachtung verdient dabei die Gegenüberstellung:<br />
hauptamtlicher Rettungsdienst – ehrenamtlicher Sanitätsdienst.<br />
In der ersten Phase war der Rettungsdienst mit insgesamt 91 Kräften<br />
(43 Not-ärzte, 47 Rettungsassistenten) vor Ort. Eingesetzt waren 22 Kfz<br />
(3 NEF, 11 RTW, 8 KTW) sowie 8 (Primär-)Rettungshubschrauber und<br />
5 Ambulanzhubschrauber. Dagegen war der Sanitätsdienst mit 423 Kräften<br />
(darunter 16 Ärzte) und 102 Kfz vertreten (16 RTW, 26 KTW, 8 KTW 4 Tragen,<br />
28 MTW, 24 Sonstige Kfz ) einschließlich der taktischen Einheiten von<br />
10 SEGn, 2 Rettungshundestaffeln und 2 Einsatzzügen.<br />
280
3.2 Schnell-Einsatz-Gruppen (SEGn)<br />
Die SEG’n sind zum Teil personell und materiell so gut ausgerüstet und<br />
besetzt, dass sie die Rettungsdiensteinheiten RTW/NAW ohne Qualitätsverluste<br />
auslösen können. Die frei werdenden Einheiten stehen damit ihren<br />
originären Aufgaben wieder zur Verfügung. Bei zeitlich protrahierten Schadenslagen<br />
ist dies ein wesentlicher taktischer Faktor insbesondere dort, wo<br />
aus Kostengründen die Rettungsmitteldichte ohnehin auf eine marginale<br />
Besetzung reduziert ist.<br />
In Eschede konnte der Kräfteansatz des hauptamtlichen Rettungsdienstes<br />
bereits nach 3 Stunden deutlich reduziert werden und verblieb letztlich ab<br />
Phase II (3. 6. 98/15:00 Uhr) bis zur Einstellung der Rettungsdienstmaßnahmen<br />
mit lediglich 3 Kräften und 2 Fahrzeugen vor Ort. Die ausgesprochen<br />
schnelle Präsenz des Rettungs- und Sanitätsdienstes in hoher Dimension<br />
ermöglichte eine annähernd individualmedizinische Versorgung der<br />
Unfallopfer – eine bessere präklinische Versorgung gibt es nicht – und<br />
gewährleistete darüber hinaus deren schnellen und zielgerichteten Transport<br />
in die Kliniken.<br />
3.3 Katastrophenfall<br />
Die Einstufung des Unglücks als Katastrophe durch den Hauptverwaltungsbeamten<br />
(HVB) des Landkreises Celle hat diese Entwicklung vor Ort<br />
entscheidend mit beeinflusst und für die notwendigen Rahmenbedingungen<br />
zur adäquaten Abwicklung der Schadenslage gesorgt. Hierzu zählt u.a. die<br />
Einbindung der Bundeswehr mit ihren Möglichkeiten (Bereitstellung und<br />
Einsatz von Luftrettungsmitteln 1. und 2. Grades, Großraumtransportmaschinen,<br />
Sanitätseinheiten, Bergungspanzer, etc.), der Einsatz des Technischen<br />
Hilfswerkes und der Einsatz privater Anbieter von speziellem technischen<br />
Bergungsgerät (Schwerlastkräne, Hammerkran, etc.) welches in den<br />
benötigten Größenordnungen weder bei den Berufsfeuerwehren noch bei<br />
anderen Institutionen zur Gefahrenabwehr vorgehalten wird.<br />
3.4 Luftrettung<br />
Die Einsatzbedingungen für die Luftrettung waren optimal. Nur bei derart<br />
guten Sichtbedingungen war die Zusammenführung der Maschinen bei der<br />
außergewöhnlich hohen Anzahl an der Unfallstelle – abgesehen von den<br />
vorhandenen Landeflächen – überhaupt möglich. Koordiniert am Ort durch<br />
eine Relaismaschine der Bundeswehr und geführt durch die SAR-Leitstelle<br />
Münster konnte das Gefährdungspotential durch die LFZ selbst auf ein<br />
Minimum reduziert werden. Die Umsetzung der Luftraumsperrung am<br />
Unfallort, die Inaktivierung der in der Nähe befindlichen Luftraumsperrgebiete<br />
über den militärischen Schießplätzen – Vorbedingung für einen<br />
gefahrlosen und koordinierten An- und Abflug der eingesetzten Luftfahrzeuge<br />
– und letztlich Gewährleistung der Funk-Kommunikation zwischen<br />
281
Militär- und Zivilmaschinen (unterschiedliche Funkfrequenzen) kann letztlich<br />
nur durch eine solche Leitstelle sicher erfolgen.<br />
Die Einsetzbarkeit der zur Verfügung gestellten LFZ ist abhängig von der<br />
jeweiligen Ausstattung (Nachtflugtauglichkeit, Größe, Gewicht, medizinisches<br />
Equipement) – dies erklärt, warum nicht alle zur Verfügung gestellten<br />
LFZ zum Einsatz kamen bzw. andere mehrfach eingesetzt wurden.<br />
Die Verfügbarkeit von Luftrettungsmitteln überhaupt ist in jedem Fall ein<br />
unschätzbarer Vorteil. Durch das vorhandene Aufgebot in Eschede war ein<br />
schneller Transport besonders der schwerverletzten Patienten in auch entfernt<br />
liegende Spezialkliniken möglich. Dieser Umstand verhinderte zum<br />
einen eine mögliche Überlastung der nahegelegenen Krankenhäuser und<br />
garantierte den Patienten ohne Zeitverlust die Zuführung zu speziellen<br />
Behandlungszentren. Bei den gegeben Verletzungsmustern (schwere Schädel-,<br />
Brust- und Bauchverletzungen) war dies für einige Patienten lebensrettend.<br />
Taktisch eingesetzt wurden die Hubschrauber neben der Luftrettung u.a. zur<br />
schnellen Heranführung von Personal und Material.<br />
3.5 Einsatzleitung vor Ort (TEL)<br />
Die Einrichtung einer Technischen Einsatzleitung mit entsprechender funkfernmeldetechnischer<br />
Ausrüstung und eines entsprechend dimensionierten<br />
Einsatzfahrzeuges (Bus), in dem alle beteiligten Organisationen mit ihrem<br />
Leiter vertreten sind, ist für eine logistische Führung bei Großschadenslagen<br />
unabdingbar. Sie fördert die koordinierte Zusammenarbeit, das Kennenlernen<br />
aller am Schadensort maßgeblichen Personen und vermittelt nach<br />
außen durch einheitlichen Sachstand und gemeinsames konstruktives Handeln<br />
Professionalität.<br />
Nachteile: Kosten/Zeitbedarf (2–3 h), bis einsatzfähig installiert!<br />
Im Hinblick auf denkbare zukünftige Unfälle und Großschadenslagen mit<br />
durchaus schlechteren äußeren Bedingungen muss insbesondere über ein<br />
überregionales Konzept unter Berücksichtigung der verfügbaren materiellen<br />
und personellen Ressourcen unter dem Diktat des finanziell Machbaren<br />
nachgedacht werden. Übungen der Führungskräfte sollten regelmäßig<br />
durchgeführt werden, so dass allen Beteiligten verinnerlicht ist, wer die einzelnen<br />
Partner sein können, was sie leisten und insbesondere unter welchen<br />
Strukturen sie arbeiten. Ein Lösungsansatz zur Kostenminimierung könnte<br />
beispielsweise darin bestehen, dass mehrere benachbarte Landkreise sich<br />
die Finanzierung einer derart ausgelegten TEL teilen und dabei zusätzlich<br />
auf vorhandene professionelle logistische Strukturen (wie sie bereits bei<br />
Berufsfeuerwehren zu finden sind) zurückgreifen.<br />
3.6 Rückwärtige Bedingungen<br />
Die eingerichteten und vorhandenen Strukturen haben sich unter den Bedingungen<br />
des Unfalles von Eschede bewährt – dies gilt ausdrücklich auch für<br />
die logistische Führung im Hintergrund (Katastrophenplan im Kranken-<br />
282
haus, schnelle Verfügbarkeit von weiteren Notärzten aus den Kliniken in der<br />
ersten Phase und der Bereitstellung von BTM-pflichtigen Analgetika, Notfallmedikamenten,<br />
Infusionslösungen sowie Verbandsmaterial in ausreichender<br />
Größenordnung aus der Klinikapotheke des Allgemeinen Krankenhauses<br />
in Celle).<br />
Dazu gehören auch die Arbeit des rückwärtigen Katastrophenstabes im<br />
Kreishaus und die Arbeit der Samtgemeindedirektion in Eschede, die u.a.<br />
den schnellen Zugriff auf innerörtliche Gebäude ermöglicht haben und für<br />
Versorgungsstrukturen Sorge trugen.<br />
3.7 Probleme<br />
Die Erfahrungen aus der Bewältigung einer solchen Schadenslage verdeutlichen<br />
jedem Beteiligten auch die Schwachstellen in den vorhandenen<br />
Strukturen und Abläufen der eigenen Organisation sowie in der Zusammenarbeit<br />
mit den übrigen Kräften. Bei näherem Hinsehen und dem Studium<br />
anderer Schadenslagen wird deutlich, dass diese Probleme nicht neu<br />
sind und bereits bei anderen (Groß-) Schadenslagen in gleicher oder ähnlicher<br />
Form bestanden haben.<br />
Im Einzelnen:<br />
3.7.1 Kommunikation<br />
BOS-Funk für Rettungsdienst und Feuerwehr waren ebenso wie die privaten<br />
Netze (D1, D2 und C-Netz) in der ersten Phase völlig überlastet und standen<br />
nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung. Dieses Problem betraf alle<br />
vor Ort befindlichen Gruppen in gleicher Weise – die Kommunikation war<br />
nachhaltig sowohl zu den eigenen Verbänden als auch zu anderen Organisationen<br />
vor Ort und nach „außen“ gestört. Im Rettungsdienst wurde dies<br />
durch eingesetzte „Melder“ zum Teil ausgeglichen. Das Problem wurde<br />
jedoch grundsätzlich erst durch die Installierung der TEL beseitigt, die vor<br />
Ort auf ihr eigenes ausgelegtes Feld-Kabelnetz zurückgreifen konnte.<br />
Möglicherweise könnten hier zukünftig zusätzlich eingerichtete Funkkanäle<br />
und lizensiert/autorisiert frei geschaltete Netzkapazitäten Abhilfe schaffen.<br />
Eine weitere mögliche Alternative könnten Satelliten-Funktelefone oder<br />
auch Mehrfrequenzhandys bestückt mit einer ausländischen Telefonkarte<br />
(z.B.: Schweiz, Dänemark mit automatischem Zugriff auf alle deutschen<br />
Netze) sein.<br />
Grundsätzlich sollten jedoch zwei getrennte Funkkanäle – einer für die Heranführung<br />
von Rettungs- und Bergungsmannschaften und ein zweiter für<br />
die Einweisung am Unfallort neben den sonst benutzen Rettungsdienstkanälen<br />
verfügbar sein. Dies wird im Luftverkehr an Flughäfen seit Jahren<br />
mit Erfolg durch Tower (Verkehr in der Luft) und Bodenkontrolle (Verkehr<br />
am Boden) demonstriert.<br />
283
Eine Besonderheit im Funkverkehr offenbarte sich zudem bei der Luftrettung<br />
– die Militärmaschinen sind nicht mit BOS-Funk ausgerüstet und können<br />
dementsprechend mit zivilen Maschinen nicht direkt kommunizieren.<br />
Wie bereits ausgeführt wurde dies Problem durch die SAR-Leitstelle Münster<br />
in Kooperation mit dem eingesetzten Relais-Hubschrauber vor Ort im<br />
Fall Eschede geregelt. Derzeit besitzen ausschließlich die Hubschrauber<br />
des BGS beide Funksysteme – dies war vor Ort nicht bekannt.<br />
3.7.2 Führung im Rettungsdienst<br />
Erkundung der Einsatzstelle, primär selbstständiges Handeln bei der Erstversorgung<br />
von Unfallopfern, routinierte Zusammenarbeit mit Notärzten<br />
und Feuerwehr sowie der Transport der Verletzten in die ausgewählten Kliniken<br />
kennzeichnen alltägliche Handlungsalgorithmen im Rettungsdienst.<br />
Selbständige Kontaktaufnahme zu fremden Führungsstrukturen, Verzahnung<br />
mit dem Sanitätsdienst des Katastrophenschutzes bei Großschadenslagen<br />
erfordert hingegen ein Umdenken und Abweichen von verinnerlichten<br />
Verhaltensmustern.<br />
Der Rettungsdienst – im Gegensatz zu anderen Organisationen nicht hierarchisch<br />
strukturiert – lässt sich mangels klarer bundeseinheitlicher Vorgaben<br />
logistisch ungleich schwerer in einer Katastrophensituation führen, als<br />
dies bei anderen Einheiten (Bundeswehr, Polizei und Bundesgrenzschutz)<br />
der Fall ist. Einsatz auf Anforderung, tätig werden nur bei Auftrag vor Ort,<br />
Anmeldung, Abmeldung und Disziplin hinsichtlich erteilter Anweisungen<br />
an der Schadenstelle (Abrücken) gleichbedeutend mit der<br />
Unterstellung unter eine fremde Führung sind Grundvoraussetzungen, dass<br />
eine Einheit logistisch überhaupt geführt werden kann. Ausbildungskonzepte<br />
im Rettungsdienst sehen diese Anforderungen nicht vor, an entsprechenden<br />
Übungen (z.B.: gemeinsam mit den Katastrophenschutzverbänden)<br />
mangelt es entsprechend – Abhilfe sollte möglich sein.<br />
3.7.3 System „Leitender Notarzt“/Kennzeichnung<br />
Logistik und Führung vor Ort sind unabdingbare Voraussetzungen zur<br />
Bewältigung einer Großschadenslage, insbesondere bei Zeitverläufen<br />
größer 6–8 Stunden. Dies gilt insbesondere auch für den Rettungsdienst.<br />
Die Notwendigkeit der Vorhaltung eines LNA hat sich auch am Beispiel<br />
Eschede dahingehend bestätigt. Eine adäquate Ausrüstung mit notwendigen<br />
Führungsmitteln ist selbstredend – ebenso wie der diesbezügliche Verweis<br />
auf das Niedersächsische Rettungsdienstgesetz.<br />
Die logistisch zu bewältigenden Aufgaben des LNA vor Ort sind vielfältig:<br />
Einrichtung von Verletztensammelstellen, Verbandsplätzen für schwer und<br />
leicht verletzte Personen, Organisation des koordinierten Abtransportes mittels<br />
luft- und bodengebundener Rettungsmittel, koordinierter Einsatz des<br />
medizinischen Personals und Organisation des Kräfteansatzes entsprechend<br />
der jeweiligen Schadenslage, sowie die Nachführung von medizinischen<br />
284
Versorgungsgütern und Ansprechpartner vor Ort zu sein, zählen mit zu den<br />
wichtigsten Aufgaben eines leitenden Notarztes.<br />
Voraussetzung für ein effektives Funktionieren dieses Systems ist in jedem<br />
Fall eine geeignete personelle und materielle Ausstattung, die den Verhältnissen<br />
im Zuständigkeitsgebiet angepasst sein muss. Dazu gehören ein eigenes<br />
Leitfahrzeug für den Rettungsdienst (im Fall Eschede von einer SEG-<br />
Einheit aquiriert) ebenso wie die Unterstützung durch einen „Organisationsleiter<br />
Rettungsdienst“ (ORGL), der den LNA bei seinen organisatorischen<br />
Aufgaben unterstützt bzw. diese umsetzt. Permanente Verfügbarkeit,<br />
Ablösung bei zeitlich protrahierten Schadensverläufen und Ausfall aus<br />
diversen Gründen bedingen die Einrichtung einer LNA-Gruppe. Die eigenen<br />
Defizite wurden am Beispiel Eschede erkannt und entsprechende Konsequenzen<br />
bereits gezogen.<br />
Im Gegensatz zur Polizei, Bundesgrenzschutz und Bundeswehr aber auch<br />
den in Kliniken arbeitenden Ärzten, denen allen gemein eine hierarchische<br />
(Führungs-)Struktur ist, arbeitet der Rettungsdienst wie bereits oben angesprochen<br />
ohne derart vorgegebene Führungsstrukturen – er kennt sie nicht<br />
(Ausbildungsdefizit). Darüber hinaus finden sich an einer Großschadensstelle<br />
viele fremde Arzte und Rettungsdienste, wobei die jeweilige Qualifikation<br />
des einzelnen unklar bleibt.<br />
Um hier eine Akzeptanz des zuständigen Leitenden Notarztes zu sichern,<br />
bedarf es grundsätzlich:<br />
– der Kenntnis von Führungsstrukturen bei Großschadenslagen (Ausbildung/<br />
Übungen)<br />
– einer bundeseinheitlichen Regelung der Funktion und Zuständigkeit des<br />
LNA<br />
– einer bundeseinheitlichen Kennzeichnung des LNA.<br />
Bundeseinheitlich auch deshalb, weil zukünftig überregionale Konzepte<br />
eine Kostenreduktion im Rettungsdienst bewirken sollen – also gegenseitige<br />
Hilfe auch über Landesgrenzen hinaus zur Regel wird. Ein Polizeibeamter<br />
wird als solcher in jedem Bundesland erkannt! Fehlende oder auch<br />
Mehrfachkennzeichnungen von gleichen Funktionen – wie in Eschede insbesondere<br />
am Beispiel der LNA-Kennzeichnung – sollten zukünftig der<br />
Vergangenheit angehören.<br />
3.7.4 Kennzeichnung am Einsatzort<br />
Kennzeichnung der übrigen Arzte ist ein weiteres Problem und soll an dieser<br />
Stelle nicht unerwähnt bleiben. Unterschiedliche und zum Teil unbekannte<br />
Qualifikation der „fremden Notärzte“ vor Ort schränken den gezielten<br />
Einsatz mitunter ein – dies kann nicht nur theoretisch, sondern durchaus<br />
auch praktisch zu einem Qualitätsverlust in der präklinischen Versorgung<br />
führen. Möglicherweise hilft auch hier eine Kennzeichnung weiter, wie wir<br />
sie aus anderen Bereichen (z.B. Bundeswehr) kennen.<br />
285
Kennzeichnung im Allgemeinen bezieht sich auch auf regelhaft anzutreffende<br />
Funktionsorte (Verletztensammelstellen, Einsatzleitung, Betreuung,<br />
etc.) – insbesondere bei unübersichtlichen Schadensstellen könnten hier<br />
beispielsweise farbig codierte Ballons nützlich sein. Sie signalisieren in<br />
jedem Fall und jedem vorhandene Strukturen am Einsatzort, die sonst möglicherweise<br />
nicht erkannt werden!<br />
3.7.5 Dokumentation<br />
Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, wurde die Dokumentation beim<br />
Einsatz in Eschede – bedingt durch die individualmedizinischen Abläufe –<br />
eher sekundär behandelt und durchgeführt. Verletztenkarten (Muster DRK)<br />
wurden lediglich vom Rettungsdienst des Landkreises Celle vorgehalten<br />
und nur sporadisch benutzt. Andere Organisationen hatten zur Dokumentation<br />
keinerlei Unterlagen mitgebracht. Im Nachhinein recherchiert, wurden<br />
die sonst üblichen Rettungsdienstprotokolle – offensichtlich bedingt<br />
durch die besondere Situation – zum Teil nicht oder nur unvollständig ausgefüllt.<br />
Dieser Mangel wurde durch die Ermittlungsarbeit der Polizei und des BGS<br />
behoben. Dazu wurden alle Krankenhäuser in Norddeutschland von Beamten<br />
der in der Nähe befindlichen Polizeistationen aufgesucht und nach Patienten<br />
befragt, die sich im Zusammenhang mit dem Zugunfall vorgestellt<br />
hatten bzw. eingewiesen worden waren. Zusätzlich wurde allen Vermisstenmeldungen<br />
nachgegangen und mit den Aufzeichnungen – soweit sie vor<br />
Ort erstellt werden konnten – abgeglichen.<br />
Nach unseren Erfahrungen muss die Dokumentation am Unfallort neu überdacht<br />
werden und sollte konzeptionell bundeseinheitlich geregelt sein. Das<br />
Ausfüllen der Verletztenkarten ist zeitraubend, oft unvollständig und uneinheitlich,<br />
hinsichtlich des Informationsgewinn vor Ort eine aktuelle Übersicht<br />
zu behalten im Ergebnis ungeeignet. Schadenslagen, die einen schnellen<br />
Abtransport von Verletzten ermöglichen – heute die Regel in unseren<br />
Breiten – brauchen ein angemessenes System auch der Dokumentation – im<br />
Zeitalter der EDV und Kommunikationstechnik sind hier sicher effizientere<br />
Lösungen denkbar.<br />
Vorstellbar wären Armbändchen mit einer landeseinheitliche (?) Telefon-<br />
Nummer bedruckt, die jedem Unfallbeteiligten umgebunden werden, der –<br />
falls unverletzt – diese Nummer selbst anruft (Dokumentationspflicht)<br />
oder bei Transport in eine Praxis oder Klinik diese Pflicht dem behandelnden<br />
Arzt obliegt. Diese Bändchen könnten landesweit an den Rettungsdienst<br />
und Feuerwehren ausgegeben werden, ständen damit immer zur<br />
Verfügung und sind von jedem leicht anzubringen. Die zu wählende Nummer<br />
könnte an einen Anrufbeantworter weiter geschaltet sein – damit 24 h<br />
besetzt ohne Personalkosten – und stets aktiv. Im Falle einer Großschadenslage<br />
sollte dieser Anrufbeantworter dann personell besetzt werden,<br />
die Vorlaufzeit ist variabel. Damit würde zeitnah eine vollständige und zen-<br />
286
trale Dokumentation erreicht, die Identifizierungsarbeit der Polizei vereinfacht<br />
und eine zeitaufwendige Arbeit von der Unfallstelle in einen Bereich<br />
verlagert, wo Kommunikationssysteme und EDV sinnvoll und effektiv<br />
eingesetzt werden können.<br />
Behandlungsdaten von leichtverletzten Patienten (Maßnahmen, Medikamente<br />
am Unfallort, etc.) können dem transportierenden Rettungsdienstpersonal<br />
mitgeteilt werden (soweit überhaupt von Bedeutung) – bei<br />
Schwerverletzten wird in der Regel Arztbegleitung erforderlich sein, dieser<br />
wird seinen Patienten ohnehin an die behandelnden Kollegen in der Klinik<br />
„übergeben“.<br />
Dies sind lediglich Ansätze zur Veränderung der Dokumentationsstrategie –<br />
Einzelheiten und Umsetzung müssten selbstverständlich auf Vor- und Nachteile<br />
hin überprüft und diskutiert werden. Die jetzige Lösung ist jedenfalls<br />
unbefriedigend und wird den rettungsdienstlichen Bedingungen in unserem<br />
Land nicht gerecht.<br />
3.7.6 Versorgungsstrategie<br />
Angesichts des massiven Aufgebotes von Rettungs- und Sanitätskräften hat<br />
es Engpässe hinsichtlich der Versorgung mit Medikamenten, Verbandsmaterial<br />
und Transportkapazitäten zu keinem Zeitpunkt gegeben. Allein das<br />
nach DIN-Norm vorgehaltene Material auf den RTW, KTW und RHS hätte<br />
zur Versorgung aller Patienten vollständig ausgereicht. Hinzu kam das<br />
nachgeforderte Material aus den Kliniken und die zusätzlichen „Material-<br />
Einheiten“, die zu einer Großschadenslage von routinierten Rettungsteams<br />
gleich im ersten Ansatz zusätzlich mitgeführt wurden.<br />
Punktuell entstand der Eindruck eines Mangels vorübergehend jedoch dort,<br />
wo Verbandsplätze einzurichten waren. Hier muss dem Umstand Rechnung<br />
getragen werden, dass die Einrichtung Zeit benötigt und nicht wie in der<br />
Klinik ein Behandlungsraum eröffnet wird, in dem bereits alles vorhanden<br />
und installiert ist.<br />
Ein besonderes Problem stellt damit immer die Deklaration einer Schwerverletztensammelstelle<br />
dar – hier muss primär ein möglicher Versorgungsengpass<br />
kalkuliert werden, besonders im Hinblick auf mögliche Beatmungsoptionen.<br />
Letztlich ist eine länger dauernde Beatmung am Unfallort<br />
nur in den Rettungswagen mit den entsprechenden Sauerstoffvorräten möglich<br />
– BTM-pflichtige Narkosemittel sollten nicht das Problem sein!<br />
Vorausplanend muss in jedem Fall – ungünstige Verhältnisse unterstellt –<br />
bekannt sein, von wo welches Material in welcher Größenordnung jederzeit<br />
verfügbar und abgeholt werden kann. Eine Vorhaltung von medizinischen<br />
Materialien ist in den Katastrophenplänen nicht mehr vorgesehen und wird<br />
von den (Krankenhaus-)Apotheken aus Kostengründen in der Regel auch<br />
nicht vorgehalten – damit besteht hier genereller Organisationsbedarf.<br />
287
3.7.7 Öffentlichkeitsarbeit<br />
Als unverzichtbar hat sich die Einrichtung eines Pressestabes (integriert in der<br />
Technischen Einsatzleitung als Stabsfunktion) erwiesen. Dadurch konnte in<br />
adäquater Form zum einen dem erheblichen öffentlichen Interesse Rechnung<br />
getragen werden und zum anderen einer Behinderung der Rettungs- und Bergungsarbeiten<br />
vor Ort durch „Kanalisation“ vorgebeugt werden.<br />
Die Medien haben verstanden, durch eine zurückhaltende, taktvolle, jedoch<br />
inhaltlich kompetente Berichterstattung der Öffentlichkeit die vor Ort geleisteten<br />
Anstrengungen zur Bewältigung dieser Katastrophe zu übermitteln –<br />
die weltweite Resonanz darauf hat dieser Katastrophe eine besondere Qualität<br />
im positiven Sinn nachhaltig verliehen.<br />
3.7.8 Psychologische Betreuung/Notfallseelsorge<br />
Die Arbeit der Rettungs- und Sanitätsdienste wurde durch Notfallseelsorger<br />
und Psychologen am Unfallort von Beginn an unterstützt. In dieser außergewöhnlich<br />
belastenden Situation Unfallverletzte und auch Angehörige von<br />
Unfallopfern in den Händen professioneller Helfer zu wissen bzw. an diese<br />
direkt verweisen zu können, entlastete die Lage vor Ort außerordentlich –<br />
eine Hilfe in dieser Qualität hätten die Betreuungsdienste auch nicht zu leisten<br />
vermocht.<br />
Erstmalig zeigte sich für die eingesetzten Kräfte, dass sie selbst diese Hilfe<br />
benötigten, und zwar sowohl bereits vor Ort als auch insbesondere nach<br />
dem Einsatz. Die eingerichtete Koordinierungsstelle für die Einsatznachsorge<br />
wurde dementsprechend angenommen und frequentiert. Die häufig<br />
gestellte Frage, ob die Einsatzkräfte möglicherweise zu jung und unerfahren<br />
für diesen belastenden Einsatz gewesen seien, ist – ohne der Auswertung<br />
der Psychologen vorweg zugreifen – durch die jetzt vorliegenden Erfahrungen<br />
mit einem klaren Nein zu beantworten. Vielmehr hat sich herausgestellt,<br />
dass durchaus auch die Einsätze im täglichen Rettungsdienst zu gleichen<br />
Belastungen der Einsatzkräfte führen, wobei sich hier weder altersabhängige<br />
noch tätigkeitsspezifische Unterschiede (hauptberuflich/ehrenamtlich)<br />
zeigen und eine Aufarbeitung der belastenden Einsätze generell erfolgen<br />
sollte. Damit ist ein sog. Debriefing oder zumindest ein sog. Defusing<br />
(gemeinsames Gespräch unter am Einsatz beteiligter und im „Defusin“<br />
geschulter Kollegen) als integraler Bestandteil des Rettungseinsatzes aufzufassen<br />
und sollte entsprechend implementiert werden.<br />
4. Fazit<br />
Die Akzeptanz fremder professioneller Hilfe und diese ohne Verzögerung<br />
einzusetzen, die kooperative Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung<br />
aller beteiligter Kräfte vor Ort, gepaart mit Eigeninitiative und Improvisation<br />
waren ein entscheidender Schlüssel zum Erfolg der Rettungsaktion<br />
in Eschede.<br />
288
Die hier niedergelegten Erfahrungen sind und können kein Rezept zur<br />
Bewältigung zukünftiger Schadenslagen sein. Sie können jedoch als Anregung<br />
verstanden werden, bestehende Einrichtungen und Systeme zu optimieren.<br />
Damit dienen sie dem gemeinsamen Ziel, vorbereitet zu sein – eine<br />
Verpflichtung gegenüber den uns auch zukünftig anvertrauten Patienten.<br />
289
290
Ergebnisse der Arbeitsgruppe zur Beratung von Fragen<br />
der Effizienzsteigerung der medizinischen Versorgung<br />
der Bevölkerung in Not- und Gefahrenlagen<br />
Ernst Rebentisch<br />
1. Einleitung<br />
In Vertretung des Leiters unserer Arbeitsgruppe, meines ehemaligen Mitarbeiters<br />
Dr. Weidringer, stelle ich Ihnen die Ergebnisse der Untersuchung<br />
von Möglichkeiten zur Verbesserung der medizinischen Hilfeleistung bei<br />
größeren Schadensereignissen und Katastrophen vor. Diese Untersuchung<br />
war im „Gefahrenbericht“ der <strong>Schutzkommission</strong> vom Oktober 1996 als<br />
dringlich bezeichnet worden, zumal sie in einem Verteidigungsfall auch<br />
deutliche Auswirkungen auf die notfallmedizinische Versorgung der Zivilbevölkerung<br />
haben wird.<br />
Unter beratender Mitwirkung von Vertretern der Bundesministerien des<br />
Innern und für Gesundheit, des Bundesamtes für <strong>Zivilschutz</strong> und des<br />
Arbeitskreises V der Innenminister der Länder untersuchten notfall- und<br />
katastrophenmedizinisch erfahrene Ärzte die mit der Hilfeleistung für Opfer<br />
von Großschäden und Katastrophen zusammenhängenden Gegebenheiten.<br />
Dazu werteten sie alle Gesetze und die diesen zugehörigen Verwaltungsvorschriften,<br />
Richtlinien und Hinweise des Bundes und der Länder aus, die<br />
sich mit dem <strong>Zivilschutz</strong>, dem Katastrophenschutz und dem Rettungsdienst<br />
befassen. Ergänzend wurden die Krankenhausgesetze, die Gesetze über den<br />
öffentlichen Gesundheitsdienst, die Heilberufe und die Gesundheitsfachberufe<br />
sowie die Ausbildungs- und sonstigen Grundsätze der freiwilligen<br />
Hilfsorganisationen hinsichtlich ihrer Bedeutung für die notfall- und die<br />
katastrophenmedizinische Hilfeleitstung überprüft. Im einzelnen untersuchte<br />
die Arbeitsgruppe die derzeit in den Bundesländern üblichen rettungsdienstlichen<br />
Verfahren sowie die Vorstellungen über die Mitwirkung<br />
des Gesundheitswesens bei der Vorbereitung und Durchführung des Katastrophenschutzes.<br />
Darüber hinaus bezog sie die bei dem Großschadensereignis<br />
von Eschede gewonnenen Erfahrungen in ihre Ermittlungen und <strong>Folge</strong>rungen<br />
ein.<br />
2. Ausgangslage<br />
Die dem seit 1951 wiederbelebten Zivil- und Katastrophenschutz dienenden<br />
Verfahren für die sanitätsdienstliche Erstehilfeleistung werden durchaus<br />
anerkannt. Die Intensiv- und die Notfallmedizin haben jedoch in den letzten<br />
Jahrzehnten weitaus bessere Fähigkeiten zur Rettung und Erhaltung akut<br />
bedrohten Lebens einzelner oder auch mehrerer Menschen entwickelt.<br />
291
Diese gaben nicht nur in Deutschland den Anstoß zur Entwicklung kurzfristig<br />
verfügbarer, sehr effektiver Rettungssysteme. In unserem Land steht der<br />
durch Notärzte verstärkte gesetzliche Rettungsdienst bei jeglichem Schadensereignis<br />
binnen Minutenfrist zur Verfügung. Durch den Einsatz Leitender<br />
Notärzte ist es darüber hinaus seit Jahren vielerorts gewährleistet, dass<br />
notfallmedizinisch wirkungsvolle Hilfe auch bei der Bewältigung eines<br />
größeren Schadensereignisses mit einem Massenfall an Verletzten geleistet<br />
werden kann. Solche Fälle bilden den Übergang zur Katastrophenmedizin,<br />
die – immer abgestützt auf notfallmedizinische Verfahren – zu erfolgreicher<br />
Abwehr von Großschäden und Katastrophen auf einer im voraus geplanten,<br />
vorbereiteten und einheitlich geleiteten Organisation basiert.<br />
Die Arbeitsgruppe sah ihre Aufgabe darin, aus ärztlicher Sicht zu untersuchen,<br />
ob die derzeit geltenden Pläne und Vorbereitungen zur Hilfeleistung<br />
für verletzte oder anderweitig geschädigte Menschen bei einer Katastrophe<br />
noch den in der Bundesrepublik gegebenen medizinisch-personellen, medizinisch-organisatorischen<br />
und medizinisch-technischen Möglichkeiten zu<br />
kurzfristiger und qualifizierter Hilfe für Schadensopfer genügt. Sie berücksichtigte<br />
auch den Anspruch der Bevölkerung auf bestmögliche notfallmedizinische<br />
Hilfe in Gefahrensituationen, wie dies bereits im Alltag durch<br />
den Rettungsdienst, die Krankenhäuser und die niedergelassenen Ärzte<br />
gewährleistet ist.<br />
3. Bestandsaufnahme und Bewertung<br />
Die Bestandsaufnahme ergab, dass es von der Gesetzgebung bis hin zu den<br />
Verfahrensgrundsätzen der notfall- und katastrophenmedizinischen Hilfeleistung<br />
vor Ort einen großen Nachholbedarf gibt. Dabei zeigte sich auch,<br />
dass eine Reihe nicht mehr zeitgemäßer Vorstellungen ihrer Überwindung<br />
harrt.<br />
Die Katastrophenschutz- und die Rettungsdienstgesetze der Bundesländer<br />
sind zwar weitgehend einheitlich gegliedert, doch weichen die jeweiligen<br />
Inhalte von Land zu Land vielfach von einander ab. Dies trifft auch bei den<br />
in manche Katastrophenschutzgesetze später eingefügten Paragraphen über<br />
die Aufgabe des Gesundheitswesen zu. Infolgedessen sind keine allgemeingültigen<br />
Feststellungen zu den Gesetzen möglich. In einigen Bundesländern<br />
sind die bisherigen Katastrophenschutzgesetze durch „Gesetze über<br />
den Brandschutz, die Allgemeine Hilfe und den Katastrophenschutz“ ersetzt<br />
worden. Bestimmungen über die notfall- und katastrophenmedizinische<br />
Hilfe sind in letzteren, selbst in denen jüngsten Datums weniger berücksichtigt<br />
als in manchen reinen Katastrophenschutzgesetzen. Einzelne Katastrophenschutzgesetze<br />
enthalten zwar einige Bestimmungen, die manchem<br />
aktuellen Anspruch qualifizierter notfallmedizinischer Hilfeleistung bei<br />
Großschadensfällen und Katastrophen gerecht werden könnten, die Mehrzahl<br />
allerdings nicht. Günstiger sieht es in ergänzenden Richtlinien und<br />
292
Hinweisen einiger Länder aus. Sie leiden aber unter ihrer geringeren Verbindlichkeit<br />
im Vergleich zu Gesetzen und Verwaltungsvorschriften.<br />
Insgesamt kommt das Interesse an qualifizierter medizinischer Katastrophenhilfe<br />
in den Regelungen der neuen Bundesländer häufiger zum Ausdruck,<br />
am eindeutigsten jedoch in Berlin, Hamburg und Brandenburg. Im<br />
Gegensatz dazu fällt in Katastrophenschutzgesetzen mehrerer alter Bundesländer<br />
die anhaltende Nichtbeachtung qualifizierter medizinischer Hilfemöglichkeiten<br />
auf. Ähnlich unzulänglich ist die Berücksichtigung katastrophenmedizinischer<br />
Belange in den Krankenhausgesetzen und den<br />
Gesetzen über den öffentlichen Gesundheitsdienst. Schließlich ist zum<br />
Nachteil für den <strong>Zivilschutz</strong> und für die Abwehr von Katastrophen, die<br />
mehrere Bundesländer unmittelbar und zu gleicher Zeit heimsuchten, festzustellen,<br />
dass die zum Teil bis in Einzelbegriffe hineinreichenden unterschiedlichen<br />
Auffassungen und Formulierungen der Länder die notwendige<br />
Kooperation in Gefahrenlagen erheblich erschweren können.<br />
Die Arbeitsgruppe der <strong>Schutzkommission</strong> hält es – ihren noch vorzutragenden<br />
Empfehlungen vorausgreifend – im Interesse der Katastrophenschutzbehörden,<br />
der oft aus entfernten Regionen hinzugezogenen Hilfskräfte<br />
sowie der potentiellen Schadensopfer für sinnvoll, eine bundesweite<br />
Annäherung oder gar Standardisierung der gesetzlichen und Verfahrensregeln<br />
herbeizuführen. Sie sieht sich hier in Übereinstimmung mit der von<br />
den privaten Hilfsorganisationen getragenen „Ständigen Konferenz für<br />
Katastrophenvorsorge und Katastrophenschutz“.<br />
Einige Punkte, die bei der Auswertung der Gesetze aus ärztlicher Sicht<br />
besonders auffielen, waren:<br />
1. Überwiegend sind in den Katastrophenschutzgesetzen trotz des in ihren<br />
einleitenden Paragraphen betonten Vorranges von Leben und Gesundheit<br />
bei der Schadensabwehr in den nachfolgenden Paragraphen die gesundheitsdienstlichen<br />
Belange nur unzureichend, einseitig oder gar nicht<br />
berücksichtigt.<br />
2. Der gesetzliche Rettungsdienst findet nur in der Hälfte der den Katastrophenschutz<br />
und die Allgemeine Hilfe betreffenden Gesetze eine<br />
Erwähnung. Umgekehrt enthalten die wenigsten Rettungsdienstgesetze<br />
einen eindeutigen Hinweis auf die Mitwirkung des Rettungsdienstes bei<br />
der Katastrophenabwehr und -bekämpfung, geschweige denn bei der<br />
Vorbereitung des Katastrophenschutzes. In mehreren Rettungsdienstgesetzen<br />
ist die Mitwirkung des Rettungsdienstes bei Schadensereignissen<br />
sogar ausdrücklich auf solche unterhalb der Katastrophenschwelle<br />
beschränkt.<br />
3. Viele Katastrophenschutzgesetze enthalten keinen Hinweis auf die<br />
Pflicht der im Krankenhausfinanzierungsplan geförderten Krankenhäuser,<br />
im Katastrophenschutz mitzuwirken und sich demgemäß vorzubereiten.<br />
Gleiche Lücken finden sich auch in der Mehrzahl der Krankenhaus-Gesetze<br />
der Länder.<br />
293
4. Dem Anliegen des Schutzes von Leben und Gesundheit wenig dienlich<br />
ist die Nichterwähnung der besonderen Aufgaben des öffentlichen<br />
Gesundheitsdienstes in neun der sechzehn Landes-Katastrophenschutzgesetze.<br />
Ebensowenig aussagekräftig sind in dieser Hinsicht viele Gesetze<br />
über den öffentlichen Gesundheitsdienst.<br />
5. Die Analyse der Gesetze über die Heilberufe und die Gesundheitsfachberufe<br />
sowie des Umfanges des für den Katastrophenschutz heranziehbaren<br />
und beruflich qualifizierten Personals ergab, dass zur Hilfe für<br />
Opfer von Schadensereignissen ein größeres Potential zur Verfügung<br />
steht, als dies nach dem Wortlaut vieler Gesetze vorgesehen ist.<br />
Die Arbeitsgruppe hat sich ausnahmslos mit dem Komplex der bestmöglichen<br />
medizinischen Hilfe bei Schadensereignissen aller Art sowie dem letztlich<br />
daraus resultierenden Nutzen für den <strong>Zivilschutz</strong> befasst. Ihr Interesse richtete<br />
sich auf die Einbindung des ärztlichen Sachverstandes in die Planung, Vorbereitung<br />
und Durchführung von Schutz- und Abwehrmaßnahmen, als Voraussetzung<br />
dafür, dass die Ärzte in beruflich vertretbarer Weise ihrer gesetzlichen<br />
Pflicht genügen können, Leben und Gesundheit zu bewahren und zu<br />
retten. Dies ist zu hochrangig, als dass man es dem Zufall überlassen darf.<br />
Mit den Aufgaben der Behörden und der der Leitung der Katastrophenabwehr<br />
dienenden Stäbe auf den verschiedenen Ebenen hat sich die Arbeitsgruppe<br />
nur insoweit befasst, als sie sich auf die Durchführung, Leitung und<br />
Koordinierung der medizinischen Hilfe und den Einsatz weiterer Hilfskräfte<br />
auswirken können. Die inzwischen weitgehend einheitlich geregelte<br />
Betrauung Leitender Feuerwehrbeamter mit der Leitung der Technischen<br />
bzw. Örtlichen Einsatzleitungen (TEL/ÖEL) wird begrüßt, da dies die Kontinuität<br />
der im Alltagsgeschehen bewährten Zusammenarbeit mit dem Rettungsdienst<br />
sichert.<br />
Die Arbeitsgruppe geht allerdings auf der Grundlage der ärztlichen Berufsgesetze<br />
und des grundsätzlichen Anspruchs der Bevölkerung auf bestmögliche<br />
Hilfeleistung davon aus, dass die Leitung der am Schadensort und<br />
innerhalb des medizinischen Rettungs-, Behandlungs- und Transportnetzes<br />
zu erfüllenden Aufgaben ausschließlich in der Hand qualifizierter Ärzte liegen<br />
muss. Um dies sicherzustellen, muß ärztlicher Sachverstand auf allen<br />
Ebenen nicht nur im Einsatz zur Geltung kommen, sondern auch bei der<br />
Planung und Vorbereitung der Katastrophenabwehr sowie bei Übungen.<br />
4. Empfehlungen<br />
In diesem Sinne formulierte die Arbeitsgruppe ihre Empfehlungen, von<br />
denen aus Zeitgründen nur die wesentlichsten dargelegt und begründet werden<br />
sollen:<br />
1. Dem Beispiel des Hamburger Katastrophenschutzgesetzes folgend sollte<br />
dem tatsächlichen Ablauf katastrophenmedizinischer Hilfeleistung<br />
294
entsprechend in allen diesbezüglichen Gesetzen klargestellt werden,<br />
dass die qualifizierte Hilfeleistung dem Rettungsdienst obliegt und die<br />
zur Bekämpfung einer Katastrophe verfügbaren freiwilligen Hilfskräfte<br />
ihn bei Bedarf lediglich verstärken sollen.<br />
Begründung:<br />
Schwerverletzte und lebensbedrohte Menschen müssen zur Sicherung<br />
ihres Überlebens in den ersten Minuten gerettet, notfallmedizinisch versorgt<br />
und möglichst bald klinischer Behandlung zugeführt werden. Dieser<br />
Forderung kann nur der in Minutenfrist vor Ort eintreffende Rettungsdienst<br />
genügen, der zugleich auch die organisatorische Grundlage<br />
für den weiteren Hilfeansatz zu schaffen hat. Es ist daher nicht mehr<br />
nachzuvollziehen, dass Katastrophenschutzgesetze den Hilfsorganisationen<br />
allein und uneingeschränkt die Aufgabe der Hilfeleistung<br />
am Schadensort zuweisen. Verständlicherweise können ihre Einheiten<br />
erst nach geraumer Zeit am Schadensort eintreffen, wo jedoch<br />
bereits qualifizierte und organisierte Hilfe unter notärztlicher Leitung<br />
geleistet wird. Ihrer Struktur und Leistungsfähigkeit gemäß können sie<br />
diese nicht ersetzen, sondern lediglich verstärken. Diese auf organisatorischen<br />
und medizinischen Erfahrungen im akuten Geschehen gegründete<br />
Feststellung soll keinesfalls den Wert der Hilfsorganisationen<br />
schmälern. Sie behalten ihren Wert als unterstützendes und bei längerfristig<br />
notwendiger Schadensbekämpfung, möglicherweise auch tragendes<br />
Element.<br />
2. Im Interesse der medizinischen Hilfeleistung wird es als sinnvoll empfunden,<br />
dem in Nordrhein-Westfalen durch das „Gesetz über den Feuerschutz<br />
und die Hilfeleistung“ vom 10. Februar 1998 zum Ausdruck<br />
kommenden Verzicht auf die Abgrenzung zwischen Schadensereignis<br />
jeden Umfangs und Katastrophe zu folgen.<br />
Begründung:<br />
Katastrophen und Großschadensereignisse treten vor allem in Mitteleuropa<br />
nur sehr selten sogleich in ihrem vollen Umfang und Ausmaß in<br />
Erscheinung. Sie entwickeln sich dynamisch und lassen erst nach und<br />
nach erkennen, welche Bekämpfungsmaßnahmen und behördlichen<br />
Leitungsmaßnahmen ergriffen werden müssen.<br />
Die erste Schadensmeldung ruft Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst<br />
zum Ort des Geschehens. Neben der Einleitung erster Hilfemaßnahmen<br />
obliegt ihnen vor allem die Einschätzung der Art, Ausdehnung und Wirkung<br />
des Ereignisses sowie möglicher <strong>Folge</strong>gefahren. Ihren Feststellungen<br />
folgend haben sie die nächst erforderlichen Maßnahmen bis hin<br />
zur Alarmierung der Behörde zu ergreifen. Diese zieht je nach Gefahrenlage<br />
und Abwehrbedarf weitere Kräfte und Mittel heran. Inzwischen<br />
muss jedoch am Schadensort die Organisation für die weitere Hilfeleistung<br />
geschaffen werden, in die je nach Bedarf Verstärkungskräfte verzugslos<br />
eingegliedert werden können. Ein solches, der jeweiligen Situa-<br />
295
tion angepasstes, gleitendes Verfahren verhindert Reibungsverluste,<br />
wahrt die Übersicht und erleichtert Leitungsentscheidungen.<br />
3. In die Katastrophenschutz- und diesbezüglichen weiteren Gesetze sollte<br />
die nur in einigen Bereichen gesicherte Mitwirkung von Ärzten des<br />
öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Planung und Vorbereitung von<br />
Abwehrmaßnahmen, bei ihrer Durchführung zumindest im Fall infrastrukturgefährdender<br />
Schadensereignisse verpflichtend aufgenommen<br />
werden. Das Gleiche sollte auch in den Gesetzen über den öffentlichen<br />
Gesundheitsdienst zum Ausdruck kommen.<br />
Begründung:<br />
Die allgemeine gesetzliche Bestimmung, dass unter anderem alle<br />
Behörden und Dienststellen des Staates, der Landkreise, Bezirke und<br />
Gemeinden – also auch der öffentliche Gesundheitsdienst – zur Mitwirkung<br />
im Katastrophenschutz verpflichtet sind, wird den der Sicherung<br />
des Überlebens und der Gesunderhaltung der Bevölkerung dienenden<br />
Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes nicht gerecht.<br />
Diese Feststellung bezieht sich nicht nur auf die fachlich eigenständige<br />
Aufgabe der Erfassung, Vorbeugung und Abwehr übertragbarer Krankheiten<br />
und Seuchen, obwohl letztere längerfristigen Katastrophen<br />
gleichkommen. Vielmehr ist jedes, zu Zerstörungen der Infrastruktur<br />
des betroffenen Raumes führende Schadensereignis mit der Gefahr<br />
erheblicher Auswirkungen auf die Bevölkerung, insbesondere auf vielfältigen<br />
Grundbedingungen der Hygiene, der Ver- und Entsorgung verbunden.<br />
Da deren Erkennung und Verhinderung zu den Kernaufgaben<br />
des öffentlichen Gesundheitsdienstes gehört, bedarf es seiner gesicherten<br />
Mitwirkung bei der Planung und Vorbereitung der Katastrophenabwehr.<br />
Seiner unmittelbaren Beteiligung bedarf es zumindest bei Schadensereignissen,<br />
in deren <strong>Folge</strong> übertragbare Krankheiten drohen, die<br />
sowohl die räumlich unmittelbar betroffene, als auch die weiter entfernt<br />
lebende Bevölkerung gefährden.<br />
4. In allen Katastrophenschutzgesetzen sollte der Bedeutung der medizinischen<br />
Hilfe für Schadensopfer deutlicher Rechnung als bisher getragen<br />
werden. Es genügt nicht, lediglich die katastrophenmedizinische Fortbildungspflicht<br />
der Ärzte und der Angehörigen der Gesundheitsfachberufe<br />
sowie Melde- und Erfassungspflichten anzuordnen. Darüber hinaus sollte<br />
dem längst angewandten Verfahren folgend der primäre Einsatz des<br />
gesetzlichen Rettungsdienstes sowie die Verantwortung der Leitenden<br />
Notärzte für den medizinischen Bereich und die Beratung der Technischen<br />
Einsatzleiter eindeutig festgelegt werden. Verwaltungsvorschriften,<br />
Richtlinien usw. sollten in den der Praxis der medizinischen Schadensbekämpfung<br />
üblichen Stand gebracht oder alsbald erlassen werden.<br />
Begründung:<br />
Dem in den Paragraphen 1 postulierten Vorrang der Rettung von Leben<br />
und Gesundheit vor anderen Maßnahmen folgend gilt es, zu Schaden<br />
gekommenen, vor allem schwerstbetroffenen und vom Tode bedrohten<br />
296
Menschen, innerhalb kürzester Zeit bestmögliche Hilfe zu leisten. Die<br />
Ärzteschaft ist in erster Linie dazu verpflichtet und bereit. Gleiches gilt<br />
für das berufliche Personal im Rettungsdienst, in den Krankenhäusern<br />
und Arztpraxen.<br />
Voraussetzung für ihr Tätigwerden ist jedoch, dass ihnen auch gesetzlich<br />
die entsprechenden Aufgaben zugewiesen werden. Klare Bestimmungen<br />
verhindern Unklarheiten, laienhafte Vorstellungen und Versagen<br />
der Hilfe.<br />
5. In der Mehrzahl der Bundesländer sind Leitende Notärzte für rettungsdienstliche<br />
Leitungs- und Koordinationsaufgaben bei größeren Schäden<br />
ausgebildet. Sie sollten auch in den Katastrophenschutz gesetzlich eingebunden<br />
werden, da ihre Fähigkeiten gerade hier unentbehrlich sind.<br />
Ihre konsequente Beteiligung an den Planungs- und Vorbereitungsarbeiten<br />
der unteren Katastrophenschutzbehörden und ihre Beauftragung<br />
mit der Leitung der notfallmedizinischen Hilfe sowie der ärztlichen<br />
Beratung des Technischen Einsatzleiters schafft die besten Voraussetzungen<br />
für die Rettung von Leben und Gesundheit bei Katastrophen und<br />
Großschadensereignissen.<br />
Begründung:<br />
Im Vergleich zum Alltagsgeschehen und auch zu einem Unfall mit zahlreichen<br />
Verletzten bedarf es bei Katastrophen und Großschadensereignissen<br />
in weit höherem Maße der Koordination und der ärztlichen Leitung<br />
der gesamten medizinischen Hilfe.<br />
Dieser Aufgabe ist nur ein örtlich und fachlich erfahrener Arzt gewachsen,<br />
der zugleich auch den notwendigen Überblick über die Gesamtplanung,<br />
die Leistungsfähigkeit der verfügbaren Rettungsdienstkräfte und<br />
der Krankenhäuser sowie über den Stand der Vorbereitungen hat. Er hat<br />
die medizinischen Belange in die Planungen und Vorbereitungen der<br />
Katastrophenabwehr einzubringen, mit dem Behördenleiter sowie den<br />
Vertretern der Polizei, Feuerwehr und Technischen Dienste seine Einsatz-<br />
und Organisationsvorstellungen abzustimmen sowie Wünsche auf<br />
technische und Versorgungs-Unterstützung vorzutragen.<br />
6. In den Dienstanweisungen der Rettungsleitstellen muss trotz ihres, in<br />
mehreren Gesetzen bestimmten Auftrages, im Katastrophenfall als<br />
Führungsmittel des Katastrophenschutzleiters zu wirken, festgeschrieben<br />
werden, dass sie<br />
1. ihre reguläre Aufgabe der Steuerung des Rettungs- und Krankentransportes<br />
auch für die von der Katastrophe nicht betroffene Bevölkerung<br />
fortzuführen haben,<br />
2. die kontinuierliche Erfassung der freien Betten- und Behandlungskapazitäten<br />
unverändert bzw. beim Anfall vieler Verletzter in verstärktem<br />
Maße beizubehalten haben und<br />
3. die Ergebnisse dieser Erfassung mit Vorrang und laufend dem Leitenden<br />
Notarzt am Schadensort übermitteln müssen, sie aber auch – in<br />
297
Abstimmung mit dem Leitenden Notarzt – für dringliche Fälle außerhalb<br />
der Katastrophenabwehr nutzen sollen.<br />
Begründung:<br />
Die vielfach mit den Leitstellen der Feuerwehr zu Zentralen bzw. Integrierten<br />
Leitstellen zusammengefassten Rettungsleitstellen sollen laut<br />
der Mehrzahl der Katastrophenschutzgesetze von der „Feststellung des<br />
Katastrophenfalles“ an dem Leiter des Katastrophenschutzes als<br />
Führungsmittel unterstehen. Der Gefahr, dass eine Rettungsleitstelle<br />
damit zur Einschränkung ihrer regulären Aufgaben gezwungen wird, ist<br />
groß. Dem muss jedoch im Interesse der gesamten medizinischen Hilfe<br />
innerhalb und außerhalb des Schadensereignisses unter allen Umständen<br />
verhindert werden. Ihre eigentliche Aufgabe darf nicht mit der Feststellung<br />
des Katastrophenfalles enden.<br />
Der Gefahr, dass dies mancherorts nicht so gesehen werden könnte, ist<br />
nur durch eindeutige Dienstanweisungen vorzubeugen.<br />
7. Aufgabe des Leitenden Notarztes als Verantwortlicher für die medizinische<br />
Hilfeleistung ist auch die Beratung der Technischen Einsatzleitung<br />
in allen Fragen, die seinen Aufgabenbereich berühren. Im Gegenzug<br />
bedarf er der Information durch den Leiter der TEL über alle Maßnahmen,<br />
die seine Entscheidungen in medizinischen Bereichen beeinflussen<br />
können.<br />
Bei Schadenslagen besonderer Art, die im betroffenen Raum zu einem<br />
Ansatz der Hilfe von verschiedenen Seiten zwingen, sollte vorsorglich<br />
die Heranziehung eines Leitenden Notarztes zur Katastrophenschutzleitung<br />
vorgesehen werden. Dieser muss die Tätigkeit der an die verschiedenen<br />
Einsatzpläne gebundenen Leitenden Notärzte koordinieren und<br />
vor allem die Verletztentransporte so steuern, dass Überschneidungen<br />
und Fehltransporte vermieden werden.<br />
Begründung:<br />
Es bedarf ständiger gegenseitiger Abstimmung zwischen dem Technischen<br />
Einsatzleiter und dem Leitenden Notarzt, aber auch mit den Verantwortlichen<br />
anderer Fachdienste. Der Leitende Notarzt als Mitglied<br />
der Technischen Einsatzleitung muss seinen Platz allerdings in erster<br />
Linie im Zentrum der medizinischen Hilfe, d. h. an dem Sichtungs- und<br />
Verbandsplatz, haben. Ist damit seine räumliche Trennung von der TEL<br />
unvermeidlich, muss ein von ihm beauftragter Notarzt in der TEL die<br />
ärztlichen Belange wahren.<br />
298<br />
Großräumige Katastrophen oder nur von mehreren Seiten zugängige<br />
Schadensorte, z. B. Tunnels, zwingen zur Einrichtung mehrerer Technischer<br />
Einsatzleitungen und noch häufiger von mehreren medizinischen<br />
Behandlungs- und Sammelplätzen unter jeweils einem Leitenden Notarzt.<br />
In solchen Fällen bedarf es einer übergeordneten Koordination zur<br />
Verhinderung ernsthafter Störung des Abtransportes der Schadensopfer
in die Krankenhäuser und Spezialkliniken sowie zur Regelung der<br />
medizinischen Bedarfsdeckung an den verschiedenen Behandlungsplätzen.<br />
Sie wird am zweckmäßigsten von einem katastrophenmedizinisch<br />
erfahrenen Arzt wahrgenommen, der in den oberhalb der Technischen<br />
Einsatzleitungen verantwortlichen Leitungsstab einbezogen werden<br />
sollte.<br />
8. Der für den Einsatz des Rettungsdienstes bei größeren Schadensereignissen<br />
verantwortliche Leitende Notarzt hat entsprechenden Regelungen<br />
zufolge gegenüber allen Mitwirkenden Weisungsbefugnis. Einer<br />
gleichartigen, generell verbindlichen Regelung bedarf es noch dringlicher<br />
für die medizinische Katastrophenhilfe.<br />
Dieser Weisungsbefugnis müssen alle im Verantwortungsbereich des<br />
Leitenden Notarztes tätigen Ärzte, Rettungsassistenten und -sanitäter<br />
sowie auch die freiwilligen Helfer unterliegen, unabhängig davon, ob es<br />
sich um Einzelpersonen oder um Angehörige einer Organisation handelt.<br />
Begründung:<br />
Jeder notfall- und katastrophenmedizinischen Erfordernissen folgende<br />
Einsatz zwingt zu einer klaren und stets überschaubaren Ordnung und<br />
zu abgestimmtem Zusammenwirken alle verfügbaren Kräfte. Nur so<br />
besteht die Gewähr, dass die Hilfebedürftigen gerettet, zügig gesammelt,<br />
erfasst, gesichtet, notfallmedizinisch versorgt und in geeigneter<br />
Weise der endgültigen Behandlung zugeführt werden. Planung und Vorbereitung<br />
der Katastrophenabwehr müssen diese Voraussetzungen<br />
schaffen und dürfen abweichende und dem Ziel abträgliche Interessen<br />
nicht zur Geltung kommen lassen.<br />
Im Einsatz wird die Aufgabenzuweisung an alle im Bereich der medizinischen<br />
Hilfeleistung Mitwirkenden allein von dem Bedarf an bestimmten<br />
Leistungen und den Fähigkeiten des einzelnen bestimmt. So muss<br />
der einer Sanitätseinheit angehörende Arzt bei gegebener Eignung zur<br />
Verstärkung zum Sichtungsplatz herangezogen, ein freiwillig mitwirkender<br />
niedergelassener Arzt mit der Behandlung Verletzter betraut, ein<br />
Mitglied einer Hilfsorganisation als Melder oder zur Unterstützung<br />
eines Rettungsassistenten eingeteilt oder ein Rettungsassistent mit der<br />
Beobachtung und Betreuung nicht transportfähiger Schadensopfer<br />
beauftragt werden können. Die Einfügung einer geschlossenen Einheit<br />
in den Rahmen der Hilfeleistung ist nur gerechtfertigt, wenn der Leitende<br />
Arzt ihr eine umschriebene Aufgabe übertragen kann, z. B. das<br />
Sammeln Leichtverletzter zur Sichtung und Erstbehandlung, das Hinaustragen<br />
oder -führen bereits versammelter, erstversorgter Verletzter<br />
aus dem Schadensgebiet oder das Beladen von Krankentransportfahrzeugen.<br />
9. Einige Rettungsdienstgesetze und Richtlinien zur Bewältigung eines<br />
Massenanfalls von Verletzten sehen den Einsatz eines erfahrenen Ret-<br />
299
300<br />
tungsassistenten als „Organisatorischer Leiter“ vor. Dieses Verfahren ist<br />
für die medizinische Hilfe bei Katastrophen von erheblicher Bedeutung<br />
und sollte deshalb verbindlich eingeführt werden.<br />
Allerdings bedürfen die bisherigen Regelungen einer entscheidenden<br />
Änderung, denn nur eine von ihnen sieht den „Organisatorischen Leiter“<br />
dem Leitenden Notarzt nachgeordnet, andere sehen ihn gleichberechtigt<br />
neben diesem, wieder andere sehen ihn gar vor dem Leitenden Notarzt.<br />
Das ärztliche Berufsrecht und die Verantwortung des Leitenden Notarztes<br />
für die medizinisch zuverlässige Hilfeleistung lassen es keinesfalls<br />
zu, dass ein Nichtarzt innerhalb des geordneten, von ärztlichen Erfordernissen<br />
bestimmten Handelns Aufgaben ohne Übereinstimmung mit<br />
dem Leitenden Notarzt übernimmt oder diesem gar Aufträge erteilt.<br />
Es ist daher im Interesse geordneter Hilfeleistung erforderlich, den bei<br />
einem Massenanfall von Verletzten und noch mehr bei der medizinischen<br />
Katastrophenhilfe zweifellos benötigten organisatorischen Leiter<br />
dem Leitenden Notarzt als ersten nicht ärztlichen Assistenten zu unterstellen<br />
und ihm darüber hinaus einen oder mehrere Helfer für allgemeine<br />
Aufträge zuzuweisen.<br />
Begründung:<br />
Es besteht kein Grund, die Einplanung erfahrener Rettungsassistenten<br />
als organisatorische Leiter abzulehnen, da es tatsächlich im Ablauf der<br />
Hilfe bei größeren Schadensereignisssen und Katastrophen zur Entlastung<br />
des Leitenden Arztes eine große Anzahl unterstützender Aufgaben<br />
gibt. Solche erwarten den organisatorischen Leiter z.B. bei der Einrichtung<br />
einer Sammelstelle und des Verbandplatzes oder der Vorbereitung<br />
des Hubschrauberlandeplatzes oder der Verbindungsaufnahme mit der<br />
Polizei zur Freihaltung der Zu- und Abtransportwege. Weiter hat er die<br />
Fernmeldeverbindungen zur Technischen Einsatzleitung und vor allem<br />
zur Rettungsleitstelle aufrechtzuerhalten, für die Zuführung von Verpflegung<br />
für die Helfer und Verletzten zu sorgen und Ruheplätze für<br />
ermüdete Helfer einzurichten. Er hat die Bereithaltung ausreichender<br />
Transportmittel zu überwachen, Verstärkungskräfte und -mittel in Empfang<br />
zu nehmen und Neugierige zurückzuhalten.<br />
Aber ohne das Einverständnis des Leitenden Notarztes ist er nicht<br />
berechtigt, Beurteilungen über die medizinische Lage abzugeben, eintreffende<br />
Verstärkungen einzusetzen, Transportentscheidungen zu treffen,<br />
Meldungen und Informationen abzugeben oder andere, dem Leitenden<br />
Notarzt obliegende Maßnahme zu ergreifen oder in die Wege zu<br />
leiten. Andernfalls kommt es sehr schnell zu nachhaltiger Störung des<br />
geordneten Ablaufes der Hilfeleistung, die sich nur zum Schaden der<br />
hilfebedürftigen Menschen auswirkt.<br />
10. Die Arbeitsgruppe schlägt vor, Verfassungsjuristen mit der Klärung von<br />
Unstimmigkeiten bei der Bewertung und Berechtigung der im Zivil-
schutzgesetz, in den Katastrophenschutz- und einigen Feuerwehrgesetzen<br />
enthaltenen Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und körperliche<br />
Unversehrtheit zu befassen.<br />
Begründung:<br />
Die der Arbeitsgruppe angehörenden Ärzte zweifeln am Sinn und an der<br />
Berechtigung, das im Grundgesetz Art. 2 (2) gewährte Grundrecht auf<br />
Leben und körperliche Unversehrtheit gesetzlich einzuschränken. Im<br />
Gegensatz dazu halten sie es für berechtigt und häufig notwendig, im<br />
Interesse der umfassenden Schadensbekämpfung die gesetzlichen Einschränkungen<br />
der Freiheit der Person, der Freizügigkeit, der Freiheit des<br />
Berufes und der Unverletzlichkeit der Wohnung in Kauf nehmen zu<br />
müssen.<br />
Die Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und körperliche Unversehrtheit<br />
widerspricht nicht nur dem ethischen Verständnis des Arztes,<br />
gesundheitlich Geschädigten oder Bedrohten in jeder Situation, selbst<br />
unter Gefährdung der eigenen Sicherheit, nach bestem Vermögen zu<br />
helfen. Sie steht auch nicht in Einklang mit der Aufgabe des Staates<br />
bestmögliche Vorkehrungen zu Abwendung gesundheitlicher Gefahren<br />
für alle Bürgen zu treffen sowie dem in den Paragraphen 1 der Katastrophenschutzgesetze<br />
zum Ausdruck gebrachten Willen, dem Leben<br />
und der Gesundheit der Menschen den Vorrang einzuräumen.<br />
Die von juristischer Seite vorgetragene Erläuterung, dass sich die Einschränkung<br />
dieses Grundrechtes nur auf die Helfer und nicht auf Betroffene<br />
beziehe, ist nirgends dokumentiert. Sie ist auch nicht verständlich,<br />
da der Gesetzgeber sich bei der Schadenshilfe nicht nur auf dienstliche<br />
und freiwillige Helfer abstützt, sondern von jedermann, selbst von Schadensopfern,<br />
erwartet, dass er sein Bestes zur Abwendung von Gefahren<br />
und Verhinderung von Schäden leistet.<br />
Schon im Alltag und nach menschlichem Selbstverständnis hat die beste<br />
medizinische Hilfe irgendwo ihre Grenze, aber sie wird stets nach<br />
bestem Wissen und Vermögen geleistet. Es wäre fatal, wollte der<br />
Gesetzgeber mit der Einschränkung des Grundrechtes auf Leben und<br />
körperliche Unversehrtheit den Staat von jeglicher Haftung freistellen<br />
oder die Hilfe für Schadensopfer tatsächlich auf niedrigster Stufe halten.<br />
Eine verfassungsrechtliche Klarstellung liegt im Interesse der Allgemeinheit.<br />
5. Materialfragen<br />
Der Abschluss des Vortrages sei dem bedeutsamen Gebiet der Materialfragen<br />
für die medizinische Hilfe im Zivil- und Katastrophenschutz gewidmet,<br />
ohne jedoch konkrete Vorschläge vortragen zu können. Zunächst sei festgestellt,<br />
dass medizinisches Handeln über Wissen, Können und Erfahrung<br />
301
hinaus der Verfügbarkeit von Arznei- und Verbandmitteln sowie medizinischen<br />
Klein- und Großgerätes bedarf. Hinzu kommt ein Bedarf an Transportmitteln<br />
und einer Vielfalt anderen Materials, z. B. für die Unterbringung<br />
der medizinischen Einrichtung im weitesten Sinne und für die wirtschaftliche<br />
Versorgung.<br />
Die Zahl der Hersteller und Vertreiber dieser Materialien ist in der Bundesrepublik<br />
höher als in vielen anderen Ländern, ihre Produkte werden weltweit<br />
exportiert. Der Markt bestimmt jedoch Art und Umfang der Produktion<br />
bis in Einzelheiten. Deshalb bedarf es der Prüfung, ob die Industrie und<br />
der Handel überhaupt in der Lage sein können, innerhalb kürzester Zeit den<br />
Bedarf an lebensrettenden Arzneimitteln, Infusionslösungen und notfallmedizinischen<br />
Materialien an jedem beliebigen Schadensort zu decken.<br />
Bisher ist nur ein einziger Hersteller bekannt, der dies für seine Produkte als<br />
sichergestellt bezeichnet.<br />
Die Apothekenbetriebsordnung schreibt den Apotheken die ständige Bevorratung<br />
eines Wochenbedarfs an Arzneimitteln bestimmter Gruppen sowie<br />
auch Verband- und medizinischen Kleinmaterials vor. Hinzu kommen<br />
geringe Mengen an Seren. Bei der Bevorratung der Arznei- und Verbandmittel<br />
orientieren sich die Apotheken allerdings am Bedarf ihrer Kunden<br />
und den Verschreibungsgewohnheiten der Ärzte. Dabei überwiegen Arzneimittel<br />
zur Behandlung chronischer Krankheiten. Ein akut eintretender,<br />
größerer Bedarf an notfallmedizinisch dringendst gebrauchten Mitteln läßt<br />
sich damit nach Aussage von Apothekern keinesfalls decken. Dies widerlegt<br />
auch die, wohl merkantilen Vorstellungen entsprungene gegenteilige Mitteilung<br />
einer Apothekerkammer an eine Landesregierung.<br />
Erfahrungsgemäß sind medizinische Hilfsmittel wie Schienen, Berge- und<br />
Transportgeräte sowie Unterkunfts- und Wirtschaftsmaterial in größerem<br />
Umfang vorhanden, aber eine Erfassung ist infolge weiter Streuung derselben<br />
bisher nicht gelungen. Sich jedoch auf die Erfahrung zu verlassen und<br />
zu glauben, dass dieses Material im Bedarfsfall schnell verfügbar sei, ist<br />
gefährlich!<br />
Die Arbeitsgruppe sah sich in der ihr vorgegebenen Zeit noch nicht zu einer<br />
konkreten Stellungnahme berechtigt. Sie ist sich bewusst, dass perfektionistische<br />
Vorstellungen, wie sie von einigen Seiten vertreten werden, nicht nur<br />
wegen der hohen Beschaffungs- und Lagerungskosten sowie begrenzter<br />
Haltbarkeit, sondern auch wegen fehlender Nutzung abzulehnen sind.<br />
Zugleich aber ist sie der einhelligen Meinung, dass eine gut durchdachte,<br />
auf das dringendst Erforderliche begrenzte Bevorratung von Arznei- und<br />
Verbandmitteln sowie langjährig lagerfähigen medizinischen Hilfsmitteln<br />
unvermeidlich ist.<br />
302
Schutzdatenatlas<br />
Wolf R. Dombrowsky<br />
Anno Domini 1585 erschien die geographische Kartensammlung Gerhard<br />
Mercators in gebundener Form. Das Titelblatt zierte der Sohn des Titanen<br />
Japetos, Atlas, der im Westen der Erde steht und die Säule trägt, die den<br />
Himmel stützt. Seitdem werden Kartenwerke Atlanten genannt. Um vieles<br />
zutreffender darf sich eine Sammlung geographischer Karten Schutzdatenatlas<br />
nennen, dessen Daten über die räumlichen Verteilungen von Gefahren<br />
und Schutz Auskunft geben, bewahrte doch Atlas davor, dass den Menschen<br />
der Himmel auf den Kopf fällt . . .<br />
In allgemeinster Form sind damit bereits Ziel und Mittel benannt: Ein<br />
Schutzdatenatlas zeigt die Verteilung von Schadendem und Schützendem<br />
im Raum mittels Karten. Ganz wie der Diercke Weltatlas des Georg Westermann<br />
Verlages, der über Generationen hinweg Schüler beeindruckte und<br />
stöhnen ließ, indem er ihnen anhand von Entwicklungskarten das Werden<br />
der heutigen Kulturlandschaft, Temperatur- und Niederschlagsverteilungen,<br />
Bodennutzung und Bodenschätze, geologische Formationen, Industriestandorte,<br />
Infrastruktur und demographische Daten vor Augen führt, so kann<br />
auch ein Schutzdatenatlas auf entsprechende Weise spezifische Merkmalsausprägungen<br />
in Kartenform aufbereiten. Solche sogenannten „thematischen<br />
Karten“ lassen sich dann stapeln und „verschneiden“, wenn man so<br />
will: „hindurchloten“, so dass sich aus einer Fülle thematisch organisierter<br />
Einzelinformationen zuerst nur Überdeckungen, dann Überschneidungen<br />
im Sinne von Schnittmengen und daraus dann möglicherweise Zusammenhängen<br />
ergeben.<br />
Karte 1: Geographische Karte<br />
des Kreises Nordfriesland,<br />
Schleswig Holstein<br />
303
Mit den beiden folgenden thematischen Karten „Gemeinden“ und „Verkehrswege<br />
Straßen“ lässt sich bereits die Bedeutung der Inseln und ihres<br />
Tourismus erkennen:<br />
Karte 2: Gemeindegrenzen<br />
304
Karte 3: Verkehrswege Straßen<br />
In einer sogenannten Attributdatenbank, deren Daten in der folgenden Karte<br />
die Einwohnerzahlen von Tourismuszentren in Relation zu den Übernachtungen<br />
pro Zeiteinheit ausweisen, lassen sich dann Auslastungsgrade ebenso<br />
ermessen wie Verkehrsströme und Kapazitätsauslastungen.<br />
Für den Katastrophenschutz sind solche Daten natürlich von größter Bedeutung.<br />
Wenn z.B. die Insel Sylt rund drei Millionen Übernachtungen verzeichnet,<br />
dann lässt sich ansatzweise ermessen, welche Probleme sich in der<br />
Hochsaison ergäben, sollte in einer der Besucherhochburgen eine Evakuierung<br />
erforderlich werden. Zugleich erschließt sich der Sinn thematischer<br />
Karten: Wenn man die Kapazitäten von Schiene, Straßen, Brücken und<br />
Tunneln ebenso kennt wie in anderen Fällen die der Fähren, deren Standorte,<br />
Fahrzeugkapazitäten und Verfügbarkeit.<br />
305
Karte4: Krankenhäuser, Kurkliniken und Bettenkapazitäten<br />
Die große Anzahl von Kurkliniken mit einem hohen Auslastungsgrad stellt<br />
den Brand- und Katastrophenschutz vor technische, logistische und psychologische<br />
Herausforderung. Wieviel Aufklärung und Ernstfallübungen<br />
akzeptieren der Kurbetrieb und seine sensiblen Gäste? Haben die Kurkliniken<br />
für Brand- und Evakuierungsfälle geeignet geplant und eine Logistik in<br />
Vorhaltung, die einen schnellen Transport und Verlegungen ermöglicht?<br />
Andere Herausforderungen ergeben sich im Bereich der klinischen Regelversorgung.<br />
Dort wäre nach der regelmäßigen Bettenbelegung zu fragen<br />
und ob eine ernstfallbezogene Kapazitätsplanung innerhalb des Landkreises<br />
306
und kreisübergreifend erfolgt? Auch hier stellen kartographische Visualisierung<br />
und aktuelle Attributdatenbanken ein hoch effizientes Hilfsmittel<br />
für die Entscheidungsunterstützung zur Verfügung.<br />
Die letztgenannten Stichworte verweisen auf Reichweite und Nutzen eines<br />
Schutzdatenatlas. Er ist tatsächlich nur ein visualisierendes Hilfsmittel. So<br />
wie eine Fahrt mit dem Finger über die Landkarte nicht die Reise ersetzt, so<br />
ersetzen thematische Karten zu Risiken – z.B. Verdichtungen des Verkehrsoder<br />
Touristenaufkommens – und zu Schutz- bzw. Hilfepotentialen z.B. von<br />
Krankenhäusern – kein praktisches Risiko-Management vor Ort und keine<br />
reale Schutzvorkehrung. Auch zeigt keine Karte, was nicht vorher mühsam<br />
erhoben und in Form attributierender Daten sichtbar gemacht wurde. Dies<br />
gilt für alle quantitativen Merkmalsausprägungen, beispielsweise für Bettenzahlen,<br />
Durchflusskapazitäten oder STANs, mehr aber noch für Qualitätsmerkmale,<br />
wie z.B. die Güte eines Krakenhauses, die Belastbarkeit des<br />
Personals oder die Improvisationsfähigkeit der Einsatzkräfte im Ernstfall.<br />
Vor allem aber ergeben sich aus den Karten keine inhaltlichen Zusammenhänge<br />
– schon gar nicht „von selbst“. Sie müssen aus den Karten „herausgelesen“,<br />
oder genauer, in sie hineininterpretiert werden, und dazu bedarf es<br />
der Expertise und der Erfahrung. Doch wozu braucht man dann einen<br />
Schutzdatenatlas?<br />
Die Frage ist nicht rhetorisch. Zwei grundlegende Ansätze, die „Gefahrenanalyse<br />
Schleswig-Holstein“ und die flächendeckende Implementation von<br />
DISMA in Sachsen haben, aus ganz unterschiedlichen Gründen, in eine<br />
gewisse Stagnation geführt. Beide Ansätze repräsentieren „bürokratische<br />
Lösungen“, was nicht schmähend, sondern charakterisierend gemeint ist:<br />
Sie beginnen mit dem Anspruch, eine möglichst vollständige und umfassende<br />
Ausgangslage so zu definieren und abzubilden, dass sie zukünftig formularmäßig,<br />
besser noch: aktenmäßig, fortgeschrieben werden kann (vgl.<br />
Brüggemann et al.; Kaiser/Schindler). Beide Lösungen erfordern einen<br />
enormen Erhebungs- und Datenpflegebedarf, wie er von den meisten unteren<br />
Katastrophenschutzbedhörden weder personell noch materiell geleistet<br />
werden kann und wohl auch psychologisch nicht geleistet werden will.<br />
Noch immer sind die dortigen Mitarbeiter unterdotiert, fachlich überfordert,<br />
schnellem Stellenwechsel unterworfen oder dauerhaft in der Karrieresackgasse<br />
gefangen. Zudem ermangeln sie sowohl der politischen Unterstützung<br />
als auch der gesellschaftlichen wie ökonomischen Wertschätzung. Katastrophenschutz<br />
erscheint niemandem als wirklich wichtig, die Glanzseiten<br />
des Brandschutzes verwesen die Feuerwehren. Minimierende Haltungen<br />
verstärken sich derart. Die Mitarbeiter scheuen eine dauerhafte, wiederkehrende<br />
Belastung, die Datengeber aus Wirtschaft, Verbänden, Organisationen<br />
und Nachbarresorts ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen. Über die<br />
Meldungsgründe der Datengeber ist zu sprechen, die Konsequenzen waren<br />
für Schleswig-Holstein wie für Sachsen ähnlich: es entstanden keine<br />
Schutzdatenatlanten, sondern aufwendige Verfahren mit relativ hohen<br />
Gestehungskosten und abschreckender Zukunftswirkung.<br />
307
Ursprünglich hatte man anderes gewollt. Der schleswig-holsteinische<br />
Ansatz verfolgte ein moderates Kosten-Nutzen-Kalkül, nach dem sich Art,<br />
Umfang und Dislozierung von Schutzvorkehr am Ausmaß und der räumlichen<br />
Verteilung von Bedrohungen ausrichten sollte. Ziel war die Ermittlung<br />
eines Mindestbedarfs staatlicher Schutzvorkehr bei deren gleichzeitiger<br />
optimaler Auslastung. Praktisch erwies sich sowohl die Ermittlung des<br />
Bedrohungs- als auch des Schutzpotentials als äußerst schwierig. Wo klar<br />
definierte und gesetzlich geregelte Informations- und Meldepflichten fehlten,<br />
waren privatwirtschaftliche Daten nur über „Goodwill“ zu erhalten.<br />
Dabei erwies sich insbesondere der Datenschutz als wirksames Instrument<br />
zur Abschottung und Datenverweigerung. Doch auch die Schutzpotentiale<br />
ließen sich kaum ermitteln. Die Furcht, im Zuge einer Bedarfsermittlung<br />
Kürzungen und/oder Potentialzusammenlegungen gewärtigen zu müssen,<br />
bewirkte vielerlei Behinderungen und Lageverfärbungen. Zudem bewirken<br />
verschiedene Refinanzierungs-, Abrechnungs- und Zuteilungsverfahren,<br />
Quotierungen und Verteilungsschlüssel der verschiedenen Leistungsträger<br />
kontroproduktive Effekte in der Kapazitätsermittlung der Hilfsorganisationen,<br />
so dass letztlich nur Soll-Werte für ausgewählte Bereiche, z.B. die<br />
Ergänzungs- und Erweiterungsanteile, als Planungsgrundlage im Katastrophenschutz<br />
vorliegen, aber nirgendwo die tatsächlichen Ist-Zahlen aller<br />
Fachdienste, SEGn und anderer im Ernstfall mobilisierbarer Ressourcen.<br />
(Man wagt an dieser Stelle kaum nach der Aktualität der Mob-Listen der<br />
Schwesternhelferinnen zu fragen, die bei einem Einsatz von Bodentruppen<br />
im Kosovo dringend benötigt würden).<br />
Betrachtet man die vorhandenen thematischen Karten der schleswig-holsteinischen<br />
Gefahrenanalyse unter dem Gesichtspunkt potentieller und<br />
tatsächlicher Aussagekraft, so fallen genau diese beiden Schwierigkeiten<br />
auf. Den meisten Karten fehlt der Raumbezug, und den zugehörigen Attributdatenbanken<br />
fehlen aussagekräftige, aktuelle Daten. Welchen Sinn aber<br />
macht ein Schutzdatenatlas, wenn selbst für öffentliche Gebäude wie Schulen,<br />
Krankenhäuser oder Sozialstationen die räumliche Verortung fehlt?<br />
Wohin solle ein Einsatzleiter die zu Evakuierenden lenken, wenn ihm die<br />
Adressen aufnahmefähiger Orte (Turnhallen, Kirchen, Gemeindehäuser<br />
etc.), deren jeweilige Aufnahmekapazität, ihre Sanitäreinrichtungen und<br />
Versorgungsmöglichkeiten fehlen? Welchen Sinn macht es, wenn er z.B.<br />
der obigen Übersichtskarte „Krankenhäuser, Kurkliniken und Bettenkapazitäten“<br />
(Karte 4) nur eine ungefähre Lage und absolute Bettenzahlen entnehmen<br />
kann, nicht aber den genauen Standort, Art und Größe der Klinik,<br />
um welche Betten es sich handelt, ob und wieviele Intensivplätze verfügbar<br />
sind, wieviel Personal zur Verfügung steht und welche Arzneimittel bevorratet<br />
werden?<br />
Die Antwort aber, dass dies alles keinen Sinn mache, wäre gleichwohl verkehrt.<br />
Tatsächlich nützt auch ein Schutzdatenatlas, der im strengen Sinne<br />
kein geographisches Kartenwerk ist, sondern nur ein kartierter Sandkasten,<br />
eine auf stapelbare Karten übertragene „Übungslandschaft“. Ein solcher<br />
308
Übungs-Schutzdatenatlas stellt ein wirksames Instrument dar, um für komplexe<br />
Zusammenhänge „vernetztes Denken“ (Vester) zu erlernen und szenarische<br />
Abläufe in ihrer inneren Dynamik nachvollziehen zu können. Wer<br />
diesen imaginativen wie kreativen Denkspaß für sich entdecken konnte, der<br />
wird den heuristischen Wert eines solchen Modell- oder Übungs-Schutzdatenatlas<br />
nicht mehr missen wollen. Einige beispielhafte Denkzüge seien<br />
hier dargelegt; sie beziehen sich auf die bereits angesprochenen, sehr einfachen<br />
Problemstellungen des Tourismus auf den nordfriesischen Inseln. Man<br />
stelle sich dazu die folgende Aufgabe:<br />
Wieviele schwer brandverletzte Besucher von Wyk auf Föhr lassen sich<br />
nach einem Chanty-Chor-Konzert an einem Sonntag im August um 23.15 in<br />
welcher Zeit in welche Krankenhäuser verbringen? Welche Daten/Kenntnisse<br />
sind zur Beantwortung dieser Frage unverzichtbar, welche hilfreich,<br />
welche optimal? Welche organisatorischen, logistischen, kommunikativen,<br />
koordinierenden und kooperativen Anforderungen stellen sich für eine bestmögliche<br />
Lösung?<br />
Jeder Teilaspekt des Managementprozesses lässt sich dabei in einem Raum-<br />
Zeit- und einem Datenbezug abbilden, wobei im gegebenen Fall zeitkritische<br />
und kapazitätskritische Engstellen in Beziehung zu setzen und durch<br />
funktionale Äquivalente zu substituieren sind. Die Menge der verbringbaren<br />
Brandverletzten hängt von der verfügbaren Menge von Spezialbetten ab,<br />
ebenso von der Zeit, die man benötigt, um sie zu erreichen. Die absoluten<br />
Transportzeiten hängen von den Transportmitteln ab und relativieren sich<br />
entlang der Wirksamkeit der Erstversorgung vor Ort, den Versorgungsmöglichkeiten<br />
während des Transports und der Transportlogistik (Warteschlange).<br />
Die Transportlogistik wiederum hängt von der Qualität der Sichtung<br />
und den Versorgungskapazitäten vor Ort ab sowie dem Zusammenspiel<br />
mit den aufnahmefähigen Kliniken. Ein entlang den Sichtungskategorien<br />
koordinierter Verteilungsplan auf die entsprechenden Behandlungsbetten<br />
wiederum erfordert Kommunikation und Koordination, mithin eine<br />
Führungs- und Kommandostruktur und eine einheitliche Meldestruktur, zu<br />
der auch Identifizierung, Spurensicherung und Angehörigenerfassung<br />
gehören und im Gefolge dessen eine geeignete Betreuung, Information und<br />
Medienarbeit, des weiteren Absperrung und Verkehrslenkung bis hin zum<br />
Überflugverbot, wenn nötig.<br />
Mühelos lässt sich aus einer Nussschale eines wenig komplizierten Beispielfalles<br />
die Komplexität eines Prozesses herleiten, in den sich alsbald<br />
sämtliche staatlichen Instanzen einbeziehen lassen, sofern nur wenige Rahmenbedingungen<br />
verändert werden. Man denke an Schadstofffreisetzungen<br />
und -einleitung in das Küstengewässer durch die Explosion eines Schiffes<br />
in der Nähe der Bühne, an den Massenanfall von Toten, an einen explosionsbedingten<br />
Stromausfall oder an die Zerstörung des Fähranlegers durch<br />
die auslösende Explosion. Alle genannten Weiterungen dehnen Zuständigkeiten<br />
aus, beziehen weitere Akteure ein, vergrößern und komplizieren<br />
Kommunikation, Kooperation und Führung – der Berg zu stapelnder the-<br />
309
matischer Karten wächst und formt ein Senario, an dem sich Problembewusstsein<br />
bilden lässt. Dies ist der Lerneffekt, wie er der Entwicklung eines<br />
Schutzdatenatlas zwangsläufig einhergeht, zugleich ist es ein ablösbarer<br />
Lehreffekt, wie er mittels eines modellhaften Übungs-Schutzdatenatlas für<br />
Ausbildungs- und Trainingszwecke immer wieder herbeigeführt werden<br />
kann. Ich nenne dies die Stufe 1 des Schutzdatenatlas.<br />
Diese erste Stufe ist unverzichtbar, wenn Stufe 2 des Schutzdatenatlas<br />
erreicht werden soll. Stufe 2 ist der Schutzdatenatlas als Entscheidungsunterstützungs-<br />
und Führungsintegrationssystem, als solches ist ein exakter<br />
Raum-Zeit-Bezug ebenso Voraussetzung wie kontinuierlich aktualisierte<br />
Attributdatenbanken. Der dafür notwendige Erhebungs- und Pflegeaufwand<br />
wird jedoch nicht erbracht, wenn Sinn und Nutzen der Anstrengung nicht<br />
absehbar sind oder gar in Zweifel stehen. Deshalb ist Stufe 1 als Voraussetzung<br />
unverzichtbar; sie schafft Einsicht und Akzeptanz über den beschriebenen<br />
Lehr- und Lerneffekt. Wird auf diese Stufe verzichtet, erscheint die<br />
Entwicklung eines Schutzdatenatlas als eine neuerliche bürokratische<br />
Bürde, von fernen Instanzen erdacht, ohne praktischen Nutzen vor Ort. Die<br />
folgenden drei Grafiken widmen sich daher der Bedeutung einer integrierenden,<br />
Konsens und Akzeptanz herstellenden Begleitpolitik, ohne die ein<br />
Schutzdatenatlas nicht zu einem praktischen Management-Instrument werden<br />
kann. Schon die bloße Inventur eingetretener Ereignisse und identifizierbarer<br />
Gefahrenquellen, also die empirische Gefahrenanalyse, ist weit<br />
mehr als Statistik. Jeder Schritt dort hin, von<br />
1. Erfassen über<br />
2. Auswerten und<br />
3. Bewerten bis hin zu<br />
4. Integrieren<br />
zeigt, dass es nie um gleiche Interessen geht und somit nicht um Gefahren,<br />
sondern um Einschätzungen von Gefahren und deren Auswirkungen:<br />
310
311
Gerade weil alle Durchführungsschritte zur Erstellung einer Gefahrenanalyse<br />
immer auch Schritte der Bewertung und der Meinungsbildung sind,<br />
sollte vor dem ersten Schritt der kategorische Imperativ stehen:<br />
Überzeuge alle Beteiligten und organisiere den Prozess der Durchführung<br />
als Kooperation aller!<br />
Dies bedeutet letztlich, dass Gefahrenanalysen Bestandteil einer längerfristig<br />
angelegten Risiko- und Krisenkommunikation sein müssen. Ziel jeder<br />
312
Gefahrenanalyse ist letztlich eine rationale Kalkulation der Schutzvorkehr,<br />
im Extremfall aber auch die Entscheidung über Wagnisse und Risiken<br />
selbst, dann nämlich, wenn keinerlei angemessene und leistbare Schutzvorkehr<br />
möglich ist und so die Risikofolgen inakzeptabel groß wären.<br />
Die Grafik zum Zusammenhang von Vulnerabilitätsanalyse und Machbarkeitsanalyse<br />
zeigt sowohl die Probleme als auch die Zielsetzung von Gefahrenanalysen:<br />
Es kommt darauf an, die Bedarfsseite für Schutz rational zu<br />
ermitteln und darauf bezogen die Angebotsseite für die Erstellung von<br />
Schutzleistungen kalkulieren zu können. Von politischer Bedeutung ist<br />
dabei die Rückkoppelungsschleife zwischen den ausgehandelten Schutzzielen<br />
und den dafür bereitgestellten Mitteln und der dadurch veränderten<br />
Angebotsseite: Desto wirkmächtiger die Angebotsseite wird, desto größere<br />
Ressourcen (personell, materiell, infrastrukturell) werden gebunden, desto<br />
„sicherer“ aber erscheint auch Gesellschaft:<br />
313
314
Technologische Möglichkeiten einer möglichst<br />
frühzeitigen Warnung der Bevölkerung – Ausgangssituation<br />
der Bevölkerungswarnung und Konzepte<br />
für zukünftige Warnsysteme –<br />
Volkmar Held<br />
1. Einführung<br />
Im vergangenen Jahr wurde durch den Bundesminister des Innern eine Studie<br />
mit dem Thema „Technologische Möglichkeiten einer möglichst frühzeitigen<br />
Warnung der Bevölkerung“ ausgeschrieben und im September<br />
1998 an Firma Hörmann GmbH vergeben. Die fachliche Begleitung erfolgt<br />
durch das Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong> und eine projektbegleitende Arbeitsgruppe<br />
des Bundes und der Länder. Die Laufzeit der Studie ist 18 Monate<br />
bis März 2000, so dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt lediglich über Zwischenergebnisse<br />
berichtet werden kann.<br />
2. Politische Ausgangssituation<br />
Als <strong>Folge</strong> der politischen Entspannung in Europa zu Beginn der 90er Jahre<br />
wurde das vom <strong>Zivilschutz</strong> des Bundes in Westdeutschland betriebene<br />
System zur Bevölkerungsalarmierung 1992 außer Betrieb genommen. Gleiches<br />
gilt für das Alarmierungssystem der DDR nach der Wiedervereinigung.<br />
Seither ist eine flächendeckende Alarmierung der Bevölkerung auf<br />
Bundes- oder Landesebene bei internen oder externen Gefahren nicht mehr<br />
möglich.<br />
Nur Warnmeldungen und Informationen zur Gefahrenlage über den Rundfunk<br />
sind noch flächendeckend vorgesehen.<br />
Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber in der gesetzlichen Neuordnung des<br />
<strong>Zivilschutz</strong>es vom 25.03.97 die Warnung der Bevölkerung zwar wieder als<br />
Staatsaufgabe definiert, sie jedoch technisch und organisatorisch den Ländern<br />
und dem dortigen Katastrophenschutz zugeordnet. Da hier die Durchführung<br />
dieser Aufgabe aber nur bedingt möglich ist, sind Überlegungen für<br />
die Gestaltung eines zukünftigen, mit den Strukturen des Katastrophenschutzes<br />
integrierten Bevölkerungs-Warnsystems notwendig.<br />
3. Technische Ausgangssituation<br />
Nachdem in Westdeutschland die Warnämter des Bundes geschlossen und<br />
die Kommunikationsverbindungen zu den Sirenen aufgegeben waren, wurden<br />
die Sirenen den Gemeinden zur Übernahme angeboten und von diesen<br />
315
zu ca. 50 % übernommen. Der Rest wurde stillgelegt oder abgebaut. Ähnliches<br />
gilt für das Sirenen-Warnsystem der DDR in den neuen Bundesländern.<br />
Die von den Gemeinden übernommenen Sirenen werden heute überwiegend<br />
nur noch für die Alarmierung der Freiwilligen Feuerwehren eingesetzt.<br />
Sie sind meist auf Funkalarmierung umgestellt und auf die Abgabe des<br />
Feuersignals beschränkt. Nur bei ca. 1/3 dieser Sirenen ist noch das zusätzliche,<br />
einminütige Heulton-Signal für die Bevölkerungswarnung möglich.<br />
Letzteres trifft vor allem für die Umgebung von Kernkraftwerken, für die<br />
Umgebung von gefährlichen Betrieben und für Hochwassergebiete zu. Die<br />
Auslösung der Sirenen erfolgt auf Kreisebene.<br />
Zusammenfassend ist festzustellen, dass gegenwärtig in Deutschland eine<br />
Alarmierung der Bevölkerung mit stationären Sirenen nur noch in besonders<br />
gefährdeten Gebieten möglich ist. Die fast überall vorhandenen mobilen<br />
Sirenen und Lautsprecherfahrzeuge können aufgrund ihrer großen<br />
Reaktionszeit zu einer großflächigen Alarmierung kaum beitragen.<br />
Günstiger ist die Situation bei der Warnung der Bevölkerung durch den<br />
Rundfunk. Amtliche Gefahrendurchsagen und Gefahrenmitteilungen sind<br />
durch Vereinbarungen mit den ARD, dem ZDF und teilweise mit Privatsendern<br />
geregelt. Der hierdurch erreichte Bevölkerungsanteil ist jedoch ohne<br />
vorhergehende Alarmierung nicht ausreichend. Außerdem sind Mängel vorhanden<br />
bei der Einbeziehung der zahlreichen regionalen und lokalen Privatsender,<br />
bei der Übermittlung der Meldungen, bei der Reaktionszeit und<br />
bei den verwendeten Kommunikationsmitteln.<br />
4. Ziele der Studie<br />
Die Studie hat letztlich die Aufgabe, dem Auftraggeber Entscheidungshilfen<br />
für den Aufbau eines neuen Warnsystems in den nächsten 5 bis 10 Jahren zu<br />
liefern.<br />
Gesucht wird ein integriertes System für die rasche, umfassende, wirksame<br />
und gezielte, zentrale und dezentrale Warnung bei regionalen und überregionalen<br />
Gefahren. Schwerpunkt soll dabei die Verwendung neuer Technologien<br />
aus dem Bereich der Telekommunikation, Informations- und<br />
Medientechnik sein unter Nutzung vorhandener Strukturen der BOS.<br />
Die Identifikation und Untersuchung solch neuer Technologien und die<br />
Ermittlung ihres Potentials für die Bevölkerungswarnung, bestehend aus<br />
Alarmierung, Warnmeldung und Information, ist das Hauptziel des <strong>Forschung</strong>svorhabens.<br />
Daneben ist jedoch die Untersuchung von vorhandenen Warn- und<br />
Kommunikationsmitteln des Katastrophenschutzes und weiterer BOS sowie<br />
die Einbeziehung von Warnsystemen öffentlicher (nicht-BOS) und privater<br />
Organisationen ebenfalls ein Ziel der Studie.<br />
316
5. Durchführung der Studie<br />
Für die Durchführung der Studie wurde ein Arbeitsplan ausgearbeitet, der<br />
vier Hauptarbeitspakete beinhaltet, siehe Bild 1.<br />
Es sind dies:<br />
• Bestandsaufnahme Bevölkerungswarnung<br />
• Anforderungen an Warnsysteme<br />
• Technologien für Warnsysteme<br />
• Konzepte für Integrierte Warnsysteme<br />
Was ist vorhanden?<br />
Bestandaufnahme<br />
Bevölkerungswarnung<br />
Was ist verlangt?<br />
Anforderungen an<br />
Warnsysteme<br />
Konzepte für<br />
integrierte<br />
Warnsysteme<br />
Wie sehen reale Lösungen aus?<br />
Was ist zusätzlich nutzbar?<br />
Technologien für<br />
Warnsysteme<br />
Bild 1: Vorgehensweise und Hauptarbeitspakete der Studie<br />
Das Endergebnis der Studie, Hauptarbeitspaket 4, soll kein fertiger<br />
Lösungsvorschlag für ein zukünftiges Warnsystem sein, vielmehr sollen<br />
verschiedene Alternativen aufgezeigt und bewertet werden, die dem Auftraggeber<br />
als Hilfe für die anstehenden Entscheidungen dienen sollen.<br />
317
Aufgrund des vorgesehenen Bearbeitungszeitraums liegen zum jetzigen<br />
Zeitpunkt Zwischenergebnisse der beiden ersten Hauptarbeitspakete:<br />
Bestandsaufnahme und Anforderungen vor, die im folgenden in einer Übersicht<br />
dargestellt werden.<br />
6. Bestandsaufnahme Bevölkerungswarnung<br />
Sie umfaßt 3 Bereiche:<br />
1. Öffentliche Warnsysteme der BOS in Deutschland, insbesondere<br />
• Iststand der Bevölkerungsalarmierung durch Sirenen<br />
• Potential der Bevölkerungsalarmierung durch Sirenen (hier wird die<br />
zukünftige Nutzung der aktiven Feuersirenen zur Bevölkerungswarnung<br />
vorausgesetzt)<br />
• Ausrüstung der Leitstellen der BOS, die für die Bearbeitung, Weiterleitung<br />
und Auslösung von Warnungen in Frage kommen<br />
• Kommunikationsnetze der BOS, die für die Übertragung von Warnungen<br />
in Frage kommen<br />
• Kommunikationsverbindungen von Leitstellen der BOS zum Rundfunk<br />
(öffentlich und privat)<br />
2. Private und öffentliche (nicht BOS) Warnsysteme<br />
3. Warnsysteme im europäischen Ausland<br />
6.1. Bestandsaufnahme Öffentliche Warnsysteme der BOS in Deutschland<br />
Die Ergebnisse der Bestandsaufnahme beruhen auf Umfragen in allen Bundesländern<br />
auf der Ebene der Landkreise/kreisfreien Städte sowie auf der<br />
Untersuchung von BOS-Strukturen, deren Mitbenutzung zur Bevölkerungswarnung<br />
in Frage kommt.<br />
Iststand und Potential der theoretischen Versorgung der Bevölkerung<br />
in Deutschland mit Sirenenalarmierung.<br />
Die theoretische Versorgung ist durch den Prozentsatz der Bevölkerung<br />
definiert, der sich normalerweise im Beschallungsbereich der Sirenen aufhält.<br />
Die tatsächliche Versorgung wird im allgemeinen geringer sein, da sich<br />
nicht alle Personen im Beschallungsbereich aufhalten (siehe Aufenthaltsmuster)<br />
und die Sirenen nicht von allen wahrgenommen werden (siehe<br />
Wahrnehmung von Warnsignalen). Aus der Bestandsaufnahme ergeben sich<br />
gegenwärtig für die theoretische Versorgung die folgenden Werte:<br />
Iststand 18 %<br />
Potential 40%<br />
Der Iststand beschreibt die gegenwärtige Sirenenalarmierung, die sich<br />
hauptsächlich auf die Umgebung der Kernkraftwerke, die Umgebung von<br />
gefährlichen Betrieben und auf Hochwassergebiete beschränkt. Die Anga-<br />
318
e für das Potential der Sirenenalarmierung geht davon aus, dass zusätzlich<br />
die vorhandenen Feuersirenen für die Bevölkerungsalarmierung nachgerüstet<br />
werden (Heulton 1 Minute).<br />
Ausrüstung der Lagezentren und Leitstellen der BOS<br />
Die Umfrage sowie weitere Recherchen zeigen, dass Leitstellen der oberen,<br />
mittleren und unteren Ebene, die für die Initiierung, Bearbeitung, Weiterleitung<br />
oder Auslösung von Warnungen in Frage kommen, fast ausnahmslos<br />
ausreichend mit Rechnern, Alarmierungs- und Kommunikationssystemen<br />
ausgestattet sind. Die Ausstattung ist zwar uneinheitlich und mancherorts<br />
auch technisch überholt, sie ist jedoch für die Bearbeitung von Warnungen<br />
ausreichend, insbesondere, wenn man die geplanten Investitionen<br />
der nächsten Jahre einbezieht.<br />
Kommunikationsnetze der BOS<br />
Von entscheidender Bedeutung für eine rasche, gleichzeitige sowie<br />
großflächige Bevölkerungswarnung sind funktionierende und sichere Telekommunikationsverbindungen.<br />
Da öffentliche Netze in Gefahrenlagen möglicherweise<br />
durch Überlastung blockiert werden könnten, sollte die Bevölkerungswarnung<br />
möglichst über geschlossene Netze der BOS abgewickelt<br />
werden. Die Untersuchung beschränkte sich daher bislang auf diese Netze.<br />
Hier sind vor allem die bundesweiten und landesweiten Netze der Polizei zu<br />
nennen:<br />
• CNP-ON (Corporate Network Police, Obere Netzebene) Festnetz der<br />
Innenministerien der Länder für Sprache und Daten, betreut vom BKA.<br />
Das Netz ist weitestgehend digitalisiert.<br />
• Landesweite Polizei-/Behördennetze, für Sprache und Daten (z. B. DIS-<br />
POL-Netz in Bayern), in Zukunft: CNP-UN (Corporate Network Police,<br />
Untere Netzebene) Die Netzstrukturen sind uneinheitlich und die Integration<br />
mit der oberen Netzebene ist noch nicht abgeschlossen.<br />
• Lokale BOS-Funknetze: 4 m und 2 m Analognetze für Polizei, Feuerwehr,<br />
Katastrophenschutz, Rettungsdienst: Diese werden für Sprechfunk,<br />
Paging und Sirenensteuerung auf Kreis- oder Bezirksebene eingesetzt. Sie<br />
sind gut ausgebaut, haben jedoch eine geringe Kapazität (verfügbare<br />
Kanäle).<br />
• 2 m Digitalnetze der Feuerwehr, nur für Paging und Sirenenauslösung,<br />
bislang nur geringe Verbreitung<br />
Der vorhandene Kommunikationsengpaß zwischen Land und Kreisen<br />
sowie innerhalb der Kreise könnte durch die Einführung des digitalen Bündelfunks<br />
TETRA erheblich verbessert werden. Die bei TETRA vorhandenen<br />
Funktionen Sammelruf und Gruppenruf sind sowohl für die zentrale als<br />
auch dezentrale Warnung besonders geeignet.<br />
319
Kommunikationsverbindungen zum Rundfunk<br />
Die Warnung über den Rundfunk besteht gegenwärtig aus „amtlichen<br />
Gefahrendurchsagen“, die im Hörfunk wörtlich vorgelesen werden müssen,<br />
und „Gefahrenmeldungen“, die sinngemäß gesendet werden. Außerdem<br />
können Hinweise im Fernsehen eingeblendet werden. Die Verbreitung dieser<br />
Warnungen ist durch Vereinbarungen der Ministerien mit dem Rundfunk<br />
abgesichert. Dies trifft jedoch gegenwärtig nur für die ARD, das ZDF und<br />
einen Teil der Privatsender zu.<br />
Die Kommunikationsmittel zwischen den Lagezentren bzw. Leitstellen und<br />
dem Rundfunk sind recht unterschiedlich. Sie reichen von der DFÜ über<br />
Rechner und Sondernetze bis zum Fax mit mündlicher Rücksprache über<br />
öffentliche und private Netze. Die rasche und gleichzeitige Information<br />
aller Sender ist damit nicht möglich. Es ergeben sich unterschiedliche Reaktionszeiten<br />
bei den Sendern und die gewünschte enge zeitliche Koppelung<br />
der Warnmeldung im Hörfunk an die Alarmierung ist bei großflächigen<br />
Gefahren damit nicht erreichbar.<br />
6.2. Private und öffentliche (nicht BOS) Organisationen mit internen<br />
Warn- und Informationssystemen<br />
Insbesondere an Werktagen halten sich tagsüber ca. 50 % der Bevölkerung<br />
im Bereich von privaten und öffentlichen Organisationen auf. Beispiele<br />
hierfür sind:<br />
• Mittel- und Großbetriebe<br />
• Öffentliche Organisationen (Verwaltung)<br />
• Veranstaltungs- und Versammlungsstätten<br />
• Verkaufsstätten<br />
• Gaststätten und Beherbergungsstätten<br />
• Schulen und Hochschulen<br />
• Krankenhäuser, Heime<br />
• Öffentliche Verkehrsmittel und Bahnhöfe<br />
• Sport- und Freizeitstätten<br />
Aufgrund von Vorschriften gibt es in vielen dieser Organisationen interne<br />
Warn- oder Informationssysteme, über die bei internen Gefahren (z. B.<br />
Brand) gewarnt wird oder über die allgemeine interne Informationen verbreitet<br />
werden.<br />
Diese internen Warn- oder Informationssysteme könnten bei externen<br />
Gefahren auch dazu benutzt werden, öffentliche Alarme, Warnmeldungen<br />
und Informationen intern zu verbreiten. Damit wäre eine „gemeinschaftliche“<br />
Warnung der Mitarbeiter, Besucher oder Gäste dieser Organisationen<br />
möglich.<br />
Voraussetzungen für diese gemeinschaftliche Warnung sind eine besetzte<br />
Warn-, Sicherheits- oder Telefonzentrale, über die das interne Warn- oder<br />
320
Informationssystem bedient werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist auch<br />
ein direkter Anschluß des internen Systems an die Empfänger des externen<br />
Warnsystems (z. B. Pager oder Radio ) denkbar. Sofern die Alarmierung<br />
oder Warnmeldung über BOS-Leitstellen (z. B. PD oder FEZ) verbreitet<br />
wird, ist eine ausreichend sichere Kommunikationsverbindung zu diesen<br />
Leitstellen erforderlich. Das interne Informationssystem sollte möglichst<br />
Netz-unabhängig sein.<br />
6. 3. Bevölkerungswarnsysteme im benachbarten Ausland<br />
Dieser Teil der Untersuchung soll den gegenwärtigen Entwicklungsstand<br />
der Bevölkerungswarnsysteme im benachbarten Ausland aufzeigen, um ggf.<br />
Erfahrungen oder Technologien übernehmen zu können. Die Ergebnisse<br />
basieren insbesondere auf der Befragung des jeweiligen Zivil- oder Katastrophenschutzes<br />
nach Struktur, Funktionen, Kennwerten und verwendeten<br />
Technologien. Die Beschreibung dieser Systeme würde hier zu weit führen;<br />
es wird daher nachfolgend nur eine grobe, qualitative Bewertung im Vergleich<br />
zu Deutschland gegeben (+ bedeutet besser, ++ wesentlich besser als<br />
in Deutschland, = bedeutet ungefähr gleich):<br />
Untersuchte Länder Vergleich mit Deutschland<br />
• Dänemark ++<br />
• Niederlande +<br />
• Belgien +<br />
• Frankreich =<br />
• Schweiz +<br />
• Italien (Südtirol, Provinz Bozen) ++<br />
• Österreich +<br />
Als Beispiel für Warnsysteme im Ausland ist in Bild 2 die Struktur des<br />
Warnsystems in Dänemark dargestellt. Durch ein einheitliches System mit<br />
3 administrativen Ebenen und gesicherter Datenkommunikation zwischen<br />
diesen Ebenen und zum Rundfunk ist sowohl eine zentrale als auch dezentrale<br />
Alarmierung und Information möglich. Die Alarmabgabe über elektronische<br />
Sirenen ist landesweit reaktionsschnell und nahezu zeitgleich<br />
möglich. Auch die Information über den Rundfunk ist zeitlich an den Alarm<br />
gekoppelt. Abhängigkeit von Fremdsystemen besteht nahezu nicht.<br />
321
Bild 2: Zentrale Bevölkerungswarnung in Dänemark durch lokale Alamierung<br />
mit elektronischen Sirenen und Information über Rundfunk<br />
und Fernsehen<br />
7. Anforderungen an Warnsysteme<br />
Um Konzepte für zukünftige integrierte Warnsysteme in Deutschland ausarbeiten<br />
und bewerten zu können, sind zunächst die Anforderungen an das<br />
System und seine Komponenten festzulegen. Dabei werden unverzichtbare<br />
Anforderungen als notwendig eingestuft, andere als wünschenswert.<br />
322<br />
3 Nationale<br />
Warnzentren<br />
7 Regionale<br />
Warnzentren<br />
47 Distrikt-<br />
Warnzentren<br />
Gemeinden<br />
Behördennetz<br />
Datenfunk<br />
W 1 B 1<br />
W 1<br />
A 1<br />
S 1<br />
Alamierung<br />
durch Sirenen<br />
Initiierung<br />
Bearbeitung<br />
Weiterleitung<br />
Behördennetz<br />
Weiterleitung<br />
A 47<br />
Auslösung<br />
Alamierung<br />
S 1100<br />
Sirenen<br />
Bevölkerung<br />
Rundfunk,<br />
TV<br />
Rundfunk, TV<br />
Information durch<br />
Rundfunk, TV
Die Anforderungen werden in die folgenden Bereiche gegliedert:<br />
• Systemfunktionen<br />
Beispiele sind:<br />
– Alarmierung – Zentral – „Indoor“ – Individuell<br />
– Warnmeldung – Dezentral<br />
– Information<br />
• Bedienung<br />
• Betrieb<br />
• Mißbrauchsicherheit<br />
• Integration Katastrophenschutz<br />
• Kenndaten<br />
Beispiele sind:<br />
– „Outdoor“ – Gemeinschaftlich<br />
– Wirksamkeit oder Versorgung (% erreichte Bevölkerung)<br />
– Reaktionszeit der Alarmierung, Warnmeldung<br />
• Kosten, gegliedert nach Kostenarten<br />
Bei der späteren Bewertung von Warnsystemen müssen die notwendigen<br />
Anforderungen erfüllt sein; die Erfüllung wünschenswerter Anforderungen<br />
werden als Vorteile bewertet.<br />
8. Systemstrukturen für Warnsysteme<br />
Die Systemstruktur (auch Systemarchitektur) soll Systemkomponenten<br />
eines Warnsystems hierarchisch, funktionell, operationell und technisch<br />
übersichtlich gliedern und Signalpfade darstellen. <strong>Neue</strong> oder vorhandene<br />
Systeme oder Komponenten lassen sich damit übersichtlich in das Warnsystem<br />
eingliedern.<br />
Bild 3 zeigt beispielhaft die Systemstruktur für die individuelle und gemeinschaftliche<br />
Alarmierung, Warnmeldung und Information auf Landesebene.<br />
Die Struktur besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Strukturelementen,<br />
die in folgende Gruppen zusammengefasst werden:<br />
Administrative Ebenen: Wirkungsbereiche:<br />
– Bund – National (Zentrale Warnung)<br />
– Länder – Regional (Zentrale Warnung)<br />
– Bezirke – Lokal (Dezentrale Warnung)<br />
– Kreise/Kreisfreie Städte<br />
– Gemeinden<br />
Nutzer:<br />
– Einzelpersonen (Individuelle Warnung)<br />
– Personengruppen (Gemeinschaftl. Warnung)<br />
323
Operationelle Strukturelemente: Technische Strukturelemente:<br />
– Initiierung der Warnung – Systeme zur EDV<br />
– Bearbeitung der Warnbefehle – Telekommunikationssysteme<br />
– Weiterleitung der Warnbefehle – Alarmierungssysteme<br />
– Auslösung der Warnung – Systeme für Warnmeldungen und<br />
– Kontrolle der Warnung Information<br />
Bild 3: Warnstruktur für individuelle und gemeinschaftliche Alamierung,<br />
Warnmeldung und Information auf Landesebene<br />
324
9. Aufenthaltsmuster der Bevölkerung<br />
Die Aufenthaltsmuster definieren, wie viele Menschen sich wann und wo<br />
aufhalten und damit von Warnsystemen erreichbar sind.<br />
Die Basisdaten hierfür wurden im wesentlichen aus Unterlagen der Statistischen<br />
Ämter abgeleitet. Sie stammen aus Mikrozensuserhebungen, Sozialversicherungserhebungen,<br />
Einwohnermeldeamtszahlen und Flächenerhebungen<br />
sowie aus Katastrophenschutz-Evakuierungsplänen von Landkreisen.<br />
Davon abgeleitete Daten sind:<br />
Anteil der Bevölkerung an Werktagen: Tag, Nacht, Hauptverkehrszeiten:<br />
• Erwerbstätige, Tag, Nacht, Freizeit<br />
• Erwerbstätige, Kleinbertiebe (
10. Berechnung der Wirksamkeit eines Warnsystems<br />
Im folgenden wird dargestellt, wie die Wirksamkeit oder Versorgung [V]<br />
eines Warnsystems mit Hilfe der Theoretischen Versorgung [VT ] (siehe<br />
oben) und dem Aufenthaltsmuster [A] berechnet werden kann. Allerdings<br />
ist hierfür noch ein weiterer Wert, die Wahrnehmung [W] der Warnung<br />
erforderlich. Die Wahrnehmung ist der Anteil der Personen im Empfangsbereich<br />
des Warnmittels, die durch die Warnung tatsächlich erreicht werden.<br />
Die (aktuelle) Versorgung (Prozentsatz der gewarnten Bevölkerung) ergibt<br />
sich dann als folgendes Produkt :<br />
[V] = [VT ] • [ A] • [W]<br />
Die Wahrnehmung [W] einer Warnung hängt dabei von verschiedenen Parametern<br />
ab. Als Beispiele seien genannt:<br />
Warnmittel Tageszeit Aufenthaltsort<br />
– Sirenen – Tag – Outdoor<br />
– Rundfunk – Nacht – Indoor<br />
– Rundfunk mit Wecksignal – Hauptverkehr – Organisationen<br />
– Individualverkehr<br />
Außerdem ist die Wahrnehmung auch davon abhängig, ob vorher eine Sensibilisierung<br />
der Bevölkerung (z. B. durch Vorwarnung oder Alarmierung)<br />
stattgefunden hat.<br />
Für die Wahrnehmung liegen bislang zumindest in Deutschland keine statistisch<br />
ermittelten Werte vor. Es werden daher in dieser Studie zunächst<br />
möglichst plausible Annahmen gemacht.<br />
Der hiermit ermittelte Iststand der Bevölkerungswarnung in Deutschland ist<br />
in den Tabellen 2 und 3 dargestellt. Es ist zu beachten, dass die berechnete<br />
Versorgung von 53 % (Tag) und 32 % (Nacht) bereits davon ausgeht, dass<br />
auch in Organisationen über interne Warn- und Informationssysteme<br />
gewarnt wird.<br />
Aufenthaltsort in %<br />
Warnsystem, Tag Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />
tion verk.<br />
Warnmeldung Rundfunk 14,7 % 0,0 % 25,1 % 2,5 % 42,2 %<br />
Alarmierung Sirene<br />
Information Rundfunk<br />
3,7 % 1,5 % 9,0 % 0,3 % 14,6 %<br />
nach Alarmierung 17,8 % 0,9 % 31,8 % 2,8 % 53,4 %<br />
Theoretische Versorgung<br />
durch Sirenen 20 %<br />
20 %<br />
Tabelle 2: Iststand Warnung der Bevölkerung, Tag<br />
326
Aufenthaltsort in %<br />
Warnsystem, Nacht Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />
tion verk.<br />
Warnmeldung Rundfunk 17,1 % 0,0 % 7,4 % 0,9 % 25,5 %<br />
Alarmierung Sirene<br />
Information Rundfunk<br />
5,1 % 0,1 % 2,0 % 0,1 % 7,4 %<br />
nach Alarmierung 21,4 % 0,1 % 9,3 % 1,0 % 31,8 %<br />
Theoretische Versorgung<br />
durch Sirenen 20 %<br />
20 %<br />
Tabelle 3: Iststand Warnung der Bevölkerung, Nacht<br />
11. Beispiel eines zukünftigen Warnsystems<br />
In Bild 4 ist abschließend die Struktur einer möglichen Version für ein<br />
zukünftiges Warnsystem dargestellt. Durch die Verwendung neuer Technologien<br />
ist sowohl individuelle als auch gemeinschaftliche Warnung mit<br />
hoher Versorgung möglich.<br />
Neben der individuellen „outdoor“-Alarmierung durch Sirenen und der<br />
Information durch den Rundfunk werden noch der private Funkruf (Paging)<br />
für Alarmierung und Warnmeldungen und der Langwellenfunk mit einer<br />
„Funk-/Alarmuhr“ verwendet. Letztere könnte im Minutenzyklus Alarme<br />
empfangen und würde sich insbesondere als Weckmittel für den nachfolgenden<br />
Empfang von Rundfunkmeldungen eignen.<br />
Die mit diesen Systemen erreichbaren Versorgungen von 90 % (Tag) und<br />
50 % (Nacht) sind in den Tabellen 4 und 5 zusammengestellt. Hierbei ist<br />
bereits berücksichtigt, dass nur ein Teil der Privathaushalte über eine Weckeinrichtung,<br />
z.B. Funk-/Alarmuhr verfügen wird.<br />
Ähnliche Werte könnten auch mit anderen neuen Technologien, z. B. DAB<br />
erreicht werden. Wichtig ist, dass die großen Nutzergruppen: „Indoor“ und<br />
Organisationen in die Warnung einbezogen werden.<br />
327
Bild 4: Beispiel Warnsystem mit zukünftiger Technologie für individuelle<br />
und gemeinschaftliche Warnung<br />
328
Aufenthaltsort in %<br />
Warnsystem, Tag Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />
tion verk.<br />
Warnmeldung Rundfunk 14,7 % 0,0 % 25,1 % 2,5 % 42,2 %<br />
Alarmierung Sirene<br />
Information Rundfunk<br />
8,3 % 3,5 % 20,3 % 0,7 % 32,8 %<br />
nach Alarmierung<br />
Warnmeldung Rundfunk<br />
21,7 % 2,1 % 40,3 % 3,2 % 67,3 %<br />
mit Wecksignal<br />
Information Rundfunk<br />
25,7 % 0,0 % 40,1 % 3,7 % 69,5 %<br />
nach Alarm mit Ws<br />
Theoretische Versorgung<br />
31,8 % 2,1 % 52,3 % 4,5 % 90,6 %<br />
durch Sirenen 45 % 45 %<br />
Tabelle 4: Potential Bevölkerungswarnung, Tag, mit System nach Bild 4<br />
Aufenthaltsort in %<br />
Warnsystem, Nacht Indoor Outdoor Organisa- Individual- Summe<br />
tion verk.<br />
Warnmeldung Rundfunk 17,1 % 0,0 % 7,4 % 0,9 % 25,5 %<br />
Alarmierung Sirene<br />
Information Rundfunk<br />
11,6 % 0,3 % 4,5 % 0,3 % 16,6 %<br />
nach Alarmierung<br />
Warnmeldung Rundfunk<br />
26,7 % 0,2 % 11,6 % 1,2 % 39,7 %<br />
mit Wecksignal<br />
Information Rundfunk<br />
25,7 % 0,0 % 9,9 % 1,2 % 36,9 %<br />
nach Alarm mit Ws<br />
Theoretische Versorgung<br />
34,3 % 0,2 % 13,9 % 1,5 % 49,9 %<br />
durch Sirenen 45 %<br />
45 %<br />
Tabelle 5: Potential Bevölkerungswarnung, Nacht, mit System nach Bild 4<br />
329
330
Notwendigkeit eines Melde- und Einsatzzentrums<br />
Horst Miska<br />
Zusammenfassung<br />
Der Bedarf für eine ständig besetzte, fachkundige Stelle der Bundesregierung<br />
wird aufgezeigt und ein Vergleich mit den Lösungen in anderen Staaten<br />
gegeben. Anhand des Beispiels der Schweiz wird ein gemeinsames<br />
Melde- und Einsatzzentrum vorgeschlagen, und Möglichkeiten für die Aufgabenerledigung<br />
zum Schutz der Bevölkerung werden dargelegt.<br />
1. Einleitung<br />
Beobachtungen bei der Durchführung internationaler Übungen im Rahmen<br />
des Katastrophenschutzes in der Umgebung kerntechnischer Anlagen – hier<br />
organisiert durch die NEA *) der OECD *) – lassen erkennen, dass die angemessene<br />
Reaktion auf großflächigen Gefahrenlagen durch die Einrichtung<br />
eines Melde- und Einsatzzentrums (MEZ) wesentlich verbessert werden<br />
könnte. Auch Erfahrungen beim Brand der MS Pallas vor der norddeutschen<br />
Küste sowie aus den Hochwassern an der Oder und am Oberrhein<br />
machen die Notwendigkeit einer zentralen Stelle zur Koordinierung von<br />
Abwehr- oder Schutzmaßnahmen deutlich.<br />
Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland – die Zuständigkeit<br />
der Länder für den Katastrophenschutz ist in der Verfassung verankert –<br />
erschwert bundeseinheitliche Regelungen oder Maßnahmen. Nur für den<br />
<strong>Zivilschutz</strong> im Rahmen der Gesamtverteidigung liegt die Verantwortung<br />
beim Bund. Daher gibt es keine Führungsstruktur im Katastrophenschutz<br />
oberhalb der Länderebene, wodurch die Koordinierung rascher Schutzmaßnahmen<br />
bei länderübergreifenden Ereignissen erschwert wird.<br />
Im <strong>Folge</strong>nden werden die bestehenden Probleme erläutert und eine<br />
Lösungsmöglichkeit dargestellt.<br />
2. Derzeitiger Stand<br />
Von der Bundesregierung wird beim BMI das Lagezentrum 24 Stunden am<br />
Tag betrieben; das Personal kommt aus dem Bereich der Polizei. Dabei verfügt<br />
es über keine fachliche Absicherung, es ist z.B. nicht mit Maßnahmen<br />
zum Schutz vor ionisierenden Strahlen oder Gefahrstoffen vertraut oder<br />
mit internationalen Verpflichtungen im Rahmen von bi- oder internationalen<br />
Vereinbarungen.<br />
*) NEA = Nuclear Energy Agency; OECD = Organisation for Economic Co-operation and Development.<br />
331
Außerhalb polizeilicher Aufgaben stellt es einen reinen Meldekopf dar und<br />
steht dabei auch anderen Ressorts zur Verfügung. So übernimmt das Lagezentrum<br />
des BMI z.B. für das BMU die Funktion des „national contact<br />
point“ für die IAEA zur Erfüllung der Aufgaben auf Grund des Übereinkommens<br />
über die frühzeitige Meldung radiologischer Ereignisse. Von dort<br />
erfolgt im Ereignisfall die Alarmierung der zuständigen Ministerien. Weitere<br />
„Wachstationen“ werden zudem von anderen Ressorts, z.B. dem Verkehrsministerium<br />
und im Auswärtigen Amt, bereit gehalten.<br />
Eine ähnliche Situation besteht bei den Ländern: meist wird ein Lagezentrum<br />
im Innenministeriums ebenfalls 24 Stunden am Tag betrieben, auch hier sind<br />
Polizeibeamte für die Sammlung und Weiterleitung von Meldungen über<br />
größere Unfälle, Kontaminationen, Explosionen, Straftaten usw. zuständig.<br />
Weitere Dienstbereitschaften auf Regierungsebene bestehen im Allgemeinen<br />
nicht, aber teilweise bei Fachinstitutionen wie z.B. der Gewerbeaufsicht.<br />
3. Vergleich mit anderen Staaten<br />
Je nach Verfügbarkeit von Ressourcen und nach Gefährdungseinschätzung<br />
unterhalten andere Staaten unterschiedliche Einrichtungen. In den USA<br />
bestehen z.B. sechs offizielle „Kontaktpunkte“ für die IAEA (was bei der<br />
IAEA zu Problemen führt); auf Grund der großen Ausdehnung und wegen<br />
der stark unterschiedlichen Gefahrenquellen können die Aufgaben kaum<br />
von einer Stelle übernommen werden. Für bestimmte Lagen, so die Ausbreitung<br />
von Schadstoffen in der Luft oder im Wasser, gibt es jedoch zentrale<br />
Einrichtungen; für diese Fälle das „National Atmospheric Release<br />
Advisory Center“ (NARAC) in Livermore, CA.<br />
Auch in Frankreich gibt es mehrere Stellen, welche für radiologische Ereignisse<br />
stets einsatzbereit sind. Diese haben jedoch – ungeachtet der zentralistischen<br />
Verwaltungsstruktur des Landes – nur alarmierende oder beratende<br />
Funktionen, während die Entscheidung über die Durchführung von Schutzmaßnahmen<br />
bei dem regionalen Verwaltungsleiter, dem Präfekten, liegt.<br />
Eine vorbildliche Lösung gibt es in der Schweiz: die Nationale Alarmzentrale1)<br />
(NAZ) in Zürich stellt die „Fachstelle des Bundes für außerordentliche<br />
Ereignisse“ dar. Ihr Aufgabengebiet ist klar festgelegt; sie wird tätig bei<br />
– erhöhter Radioaktivität<br />
– großen Chemieunfällen<br />
– Staudammbrüchen oder Überschwappungen sowie bei<br />
– Satellitenabsturz.<br />
Im Rahmen ihrer Aufgaben hat die NAZ jährlich etwa 120 Einsätze, deren<br />
Ursache zumeist im Ausland liegt. Das Stammpersonal2) besteht aus 18 Per-<br />
1) Ausführliche Informationen im Internet: http://www.naz.ch<br />
2) D. Frei: Übersicht über die Nozfallorganisation in der Schweiz, in: Grenzüberschreitender Notfallschutz,<br />
gemeinsames FS/AKN-SFRP-Seminar, TÜV-Verlag Köln, 1999, S.45<br />
332
Abb. 1: Internationale Meldewege für radiologische Ereignisse<br />
sonen, welche teilweise zur Schweizerischen Meteorologischen Anstalt<br />
(SMA) gehören. Dieses Stammpersonal sichert die stetige Einsatzbereitschaft,<br />
wobei innerhalb von ein bis zwei Stunden eine Kernmannschaft in<br />
der NAZ verfügbar ist. Im Ereignisfall kann diese Mannschaft durch bis zu<br />
190 Personen aus Wissenschaft, <strong>Forschung</strong>, Industrie, Verwaltung und<br />
Medien verstärkt werden: Reservisten der Armee, welche häufig in der<br />
NAZ üben und ihre dortigen Aufgaben kennen, werden eingezogen.<br />
Die NAZ verfügt über eine Infrastruktur zur Erfassung und Beurteilung der<br />
Lage sowie ausgezeichnete Einrichtungen zur Darstellung der Lage und zur<br />
Kommunikation. Sie kann Schutzmaßnahmen nach festgelegten Kriterien<br />
anordnen, die Durchführung und Kontrolle der Maßnahmen erfolgt aber auf<br />
der Ebene der Kantone. Damit verfügt die Schweiz über eine Einrichtung,<br />
welche rasch die Lage beurteilen und die zum Schutz der Bevölkerung notwendigen<br />
Maßnahmen veranlassen kann.<br />
Zudem stellt die NAZ den Nationalen Kontaktpunkt für Meldungen der EU<br />
nach ECURIE und Meldungen der IAEA dar. Sie richtet Übungen aus oder<br />
nimmt an solchen Teil und tauscht Erfahrungen auf internationaler Ebene<br />
aus. Ende 1994 ließ sie sich von einem „Operational Safety Review Team“<br />
(OSART) der IAEA beurteilen. Das Ergebnis lautete:<br />
„Good Performance. The NAZ can be considered to be amongst the world<br />
leaders in off-site emergency plan management with its state of the art<br />
information gathering, data assessment, and communication systems.“<br />
4. Notwendigkeit und Aufgaben eines Zentrums<br />
Zur angemessen raschen Reaktion auf ein größeres Ereignis sowie zum<br />
Informationsaustausch auf internationaler Ebene ist ein (Gemeinsames)<br />
333
Melde- und Einsatzzentrum ({G}MEZ) notwendig, in dem eine ausreichende<br />
Basis von Fachkenntnis stets vorzuhalten ist. Dies sollte kein „Debattierkränzchen“<br />
sein, sondern es sollte eine rasche Beurteilung der Lage<br />
durchführen können und Entscheidungen auf Grund möglichst klar festgelegter<br />
Kriterien treffen.<br />
In der Mittel- und Spätphase eines solchen Ereignisses kann ein Teil der<br />
(nicht zeitkritischen) Aufgaben oder die Abstimmung von einer „Interministeriellen<br />
Koordinierungsstelle“, den einzelnen Fachressorts oder den zuständigen<br />
Stellen in den Ländern übernommen werden. Der Kontakt nach außen<br />
(„national contact point“) sollte aber stets über die selbe Stelle, das MEZ,<br />
laufen.<br />
Mögliche Aufgaben des MEZ in der Akutphase eines Ereignisses sind:<br />
– Entgegennahme und Weiterleitung von Alarmierungen,<br />
dabei sollte der Inhalt der Meldung verstanden und die <strong>Folge</strong>n<br />
abgeschätzt werden können;<br />
– Koordinierung im Inland<br />
zwischen betroffenen Ländern sowie den Ressorts des Bundes,<br />
nachgeordneten Behörden und fachkundigen Institutionen, . . .;<br />
– Austausch von Meldungen mit dem Ausland,<br />
bilaterale Vereinbarungen, internationale Meldeverpflichtungen<br />
(Nachbarstaaten, EC, IAEA usw.)<br />
weiterhin:<br />
– Sammlung von Fachverstand und Erfahrung<br />
ist auf Ressort- oder Länderebene nicht ökonomisch;<br />
Abb. 2: Einbindung eines Melde- und Einsatzzentrums<br />
3) I. Kölbl: Viel Rauch um nichts? BrandSchutz Deutsche Feuerwehr-Zeitung, Heft 2/99, S. 137<br />
334
– Sicherstellung zentraler Unterstützung,<br />
z.B. durch das Programmsystem RODOS;<br />
– Einsatz bei großflächigen Gefahrenlagen wie<br />
• Hochwasser (Inland/Küste) oder Gefährdung von Gewässern<br />
bei diesjährigem Hochwasser am Oberrhein wurde sogar ein<br />
„internationales Lagezentrum“ gefordert,<br />
• bei Gewässerverunreinigung (vergl. Brand bei Sandoz, Basel) sind oft<br />
mehrere Länder betroffen<br />
die Probleme beim Stranden der „Pallas“ waren teilweise auch auf<br />
fehlende Koordination 3) zurückzuführen (SH, NS, HH), s. dazu<br />
Kommentar im Hamburger Abendblatt von M. Kluth:<br />
Man kann sich eben nicht immer darauf verlassen, dass Männer<br />
wie Helmut Schmidt bei der Hamburger Sturmflut {1962} oder<br />
Mathias Platzek beim Oderhochwasser {1997} das Management<br />
entschlossen an sich reißen und handeln. In der Krise werden<br />
manchmal Helden geboren<br />
– manchmal aber auch nicht,<br />
– zur Bewältigung solcher Ereignisse müssen Führungsstrukturen<br />
aufgebaut werden …;<br />
• Schnee<br />
wie vor vielen Jahren in SH,<br />
• Erdbeben<br />
im In- und Ausland, rasche Vermittlung von Hilfe notwendig,<br />
• Waldbrand<br />
wie vor vielen Jahren in NS,<br />
• kerntechnischer Unfall (In- oder Ausland)<br />
bilaterale und internationale Meldeverpflichtungen, z.B. gegenüber<br />
der IAEA; diese fordert in „Preparedness and Response for<br />
Nuclear and Radiological Emergencies“ (Entwurf 4/99): § 2.1.<br />
This shall include a national co-ordinating authority and a national<br />
co-ordinating structure…,<br />
• Satellitenabsturz (konventionell/radioaktiv),<br />
• weiträumige Lebensmittelvergiftung,<br />
• schnell ausbreitende Seuchen usw.<br />
5. Vorschlag für ein gemeinsames Melde- und Einsatzzentrum<br />
Das MEZ sollte – frei vom politischen Tagesgeschäft (daher besser nicht in<br />
der Hauptstadt ansiedeln) – an zentraler Stelle eingerichtet werden. Da die<br />
entsprechenden technischen Einsatzmittel (im Wesentlichen sind Geräte zur<br />
Kommunikation und Dokumentation erforderlich) relativ preiswert sind, blieben<br />
die Investitionskosten in vertretbarem Rahmen. Die Geräte und Einrichtungen<br />
zur Erfassung der Lage wie z.B. das Messnetz des Bundes zur Messung<br />
der Ortsdosisleistung oder die Einrichtung des DWD sind vorhanden.<br />
Vorteilhaft wäre ein militärischer oder feuerwehrtechnischer Hintergrund<br />
des einzusetzenden Personals, da Erfahrungen in schneller Entscheidung<br />
und mit logistischen Anforderungen notwendig sind.<br />
335
Das Stammpersonal könnte, wie in der Schweiz, aus etwa 18 Personen<br />
bestehen. Davon sollten etwa sechs Fachkräfte verschiedener Fachrichtungen<br />
(Chemie, Physik, Medizin, Geologie, Mathematik/Informatik, Hoch-/<br />
Tiefbau, Maschinenbau, . . .) dem höheren Dienst angehören. Damit könnten<br />
zwei Personen stets im Dienst, eine Dritte in Bereitschaft sein, so dass<br />
innerhalb kürzester Zeit eine fachkundige Bewertung eines jeden Ereignisses<br />
erfolgen könnte.<br />
Das Stammpersonal sollte auch außerhalb von Einsätzen Aufgaben übernehmen,<br />
um sich fortzubilden. Dazu beitragen kann auch ein internationaler<br />
Erfahrungsaustausch und Mitwirkung bei oder Ausrichtung von Übungen.<br />
Zudem sollte es die Einrichtung pflegen und die Technik – die Messtechnik,<br />
EDV und Kommunikation müssen stets auf dem neuesten Stand<br />
gehalten werden – fortentwickeln.<br />
Im Einzelfall wäre eine Ergänzung durch Personal von<br />
– nicht unmittelbar betroffenen Ländern (fördert den Erfahrungsaustausch!),<br />
– nachgeordneten Fachbehörden oder<br />
– fachkundigen Institutionen<br />
notwendig. Leider erscheint die Lösung der Schweiz, fachkundige Reservisten<br />
einzuziehen, in Deutschland nicht möglich. Durch häufige Übungen<br />
oder regelmäßige Abordnung von Mitarbeitern z.B. über drei Wochen von<br />
einer Landesdienststelle – bei 16 Ländern wird dadurch eine Stelle zur Verfügung<br />
gestellt – ist dieses Ergänzungspersonal in seine Aufgabe einzuweisen<br />
und mit der Technik im MEZ vertraut zu machen.<br />
Durch die geringe Anzahl von Stammpersonal entstehen zudem vertretbare<br />
Personalkosten, wobei zusätzlich andere, laufende Aufgaben mit abgedeckt<br />
werden können. Bei guter Koordination mit allen Ressorts sind eventuell<br />
sogar Einsparungen möglich, wenn laufende Überwachungsaufgaben vom<br />
MEZ übernommen werden könnten.<br />
Wichtig erscheint mir, dem MEZ eine anerkannte Rolle zukommen zu lassen,<br />
um die Motivation des Personals zu festigen und effektive Arbeit<br />
sicherzustellen. Dies würde dem Schutz der Bevölkerung dienen und es der<br />
Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, ihren internationalen Meldeverpflichtungen<br />
angemessen nachzukommen.<br />
336
Die Autoren:<br />
Scharmann, Arthur<br />
Professor Dr. Dr. h.c. mult.<br />
I. Physikalisches Institut der Justus Liebig-Universität Giessen<br />
Heinrich-Buff-Ring 16<br />
35392 Giessen<br />
Kass, Rüdiger<br />
Dr. jur., Ministerialdirektor<br />
Abteilungsleiter Bundesgrenzschutz<br />
im Bundesministerium des Innern<br />
Alt Moabit 101 D<br />
10559 Berlin<br />
Dombrowsky, Wolf. R.<br />
Dr. rer. soc.<br />
Stellvertretender Leiter der Katastrophenforschungsstelle<br />
der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel<br />
24098 Kiel<br />
Schmidt, Gerhard<br />
Professor Dr.<br />
Abteilungsleiter des Pharmakologischen Instituts<br />
Robert-Koch-Straße 40<br />
37075 Göttingen<br />
Siegele, Gerhard<br />
Ministerialdirektor a.D.<br />
Wilkenstraße 13<br />
53913 Swisttal-Odendorf<br />
Freiherr von Richthofen, Hermann<br />
Dr., Botschafter<br />
Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland<br />
im Nordatlantikrat Brüssel<br />
B-1110 Brüssel<br />
337
Klingshirn, Heinrich<br />
Dr., Ministerialdirigent a.D.<br />
Bayerisches Staatsministerium des Innern<br />
Odeonsplatz 3<br />
80539 München<br />
Marzi, Willy B.<br />
Dr. rer. nat., Wissenschaftlicher Direktor<br />
RL im Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />
Deutschherrenstraße 93–95<br />
53177 Bonn<br />
Rebentisch, Ernst<br />
Professor Dr. med.<br />
Ganghoferstraße 4<br />
82041 Deisenhofen<br />
Wagner, Wolfgang<br />
Apotheker der Klinischen Pharmazie<br />
Schanzenstraße 21<br />
40549 Düsseldorf<br />
Domres, Bernd<br />
Professor Dr. med.<br />
Chirurgische Universitätsklinik Tübingen<br />
Hoppe-Seyler-Straße 3<br />
72076 Tübingen<br />
Sohns, Torsten<br />
Dr., Oberstarzt<br />
Sanitätsakademie der Bundeswehr<br />
– Leiter Bereich Studien und Wissenschaft –<br />
Neuherbergstraße 11<br />
80937 München<br />
338
Reichenbach, Heinz<br />
Dr. rer. nat.<br />
Steinmatten 34<br />
79194 Gundelfingen-Wildtal<br />
ter Haseborg, Jan Luiken<br />
Professor Dr.-Ing.<br />
Technische Universität Hamburg-Harburg<br />
Arbeitsbereich Messtechnik<br />
Harburger Schloßstraße 20<br />
21079 Hamburg<br />
Matz, Gerhard<br />
Professor Dr.-Ing.<br />
Technische Universität Hamburg-Harburg<br />
Arbeitsbereich Messtechnik/Umweltmesstechnik<br />
Harburger Schloßstraße 20<br />
21079 Hamburg<br />
Gerber, Georg<br />
Professor Dr. Dr.<br />
De Heylanden 7<br />
B-2400 Mol<br />
Greim, Helmut<br />
Professor<br />
Institut für Toxikologie und Umwelthygiene der Technischen Universität<br />
München<br />
Lazarettstraße 62<br />
80636 München<br />
Buff, Klaus<br />
Dr.<br />
Institut für Toxikologie und Umwelthygiene<br />
der Technischen Universität München<br />
Lazarettstraße 62<br />
80636 München<br />
339
Kohl, Claus-Dieter<br />
Professor Dr. rer. nat., Diplom-Physiker<br />
Institut für Angewandte Physik<br />
Fachbereich Physik<br />
Justus-Liebig-Universität Giessen<br />
Heinrich-Buff-Ring 16<br />
35392 Giessen<br />
Rosen, Klaus-Henning<br />
Ministerialdirektor<br />
Abteilungsleiter im Bundesministerium des Innern<br />
Alt Moabit 101 D<br />
10559 Berlin<br />
Hüls, Ewald<br />
Dr. med.<br />
Ärztlicher Leiter Rettungsdienst Landkreis Celle<br />
Facharzt für Chirurgie<br />
Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie<br />
Allgemeines Krankenhaus Celle<br />
Siemensplatz 4<br />
29221 Celle<br />
Held, Volkmar<br />
Dr.<br />
Hörmann GmbH<br />
Hauptstraße 45–47<br />
85614 Kirchseeon<br />
Miska, Horst<br />
Dr. rer. nat., Diplom-Physiker<br />
Ministerialrat im Ministerium des Innern und für Sport<br />
Referat 352 – Schutz vor Gefahrstoffen<br />
und ionisierender Strahlung<br />
Schillerplatz 3–5<br />
55116 Mainz<br />
340
Koautoren:<br />
Schwarz<br />
Institut für Angewandte Physik<br />
Fachbereich Physik<br />
Justus-Liebig-Universität Giessen<br />
Heinrich-Buff-Ring 16<br />
35392 Giessen<br />
Petig, H.<br />
RWE Essen AG<br />
Kelleter, J.<br />
GTE GmbH Viersen<br />
Kiesewetter, O.<br />
UST GmbH Geschwenda<br />
341
Band 41 – in Vorbereitung –<br />
W. König, M. Köller<br />
Einfluss von Zytokinen und Lipidmediatoren<br />
auf die Kontrolle und Regulation spezifischer<br />
Infektabwehr bei Brandverletzung<br />
Band 40 – in Vorbereitung –<br />
Institut der Feuerwehr Sachsen-Anhalt<br />
Entwicklung von Dekontaminationsmitteln und<br />
-verfahren bei Austritt von Industriechemikalien<br />
Band 39 – in Vorbereitung –<br />
TÜV Energie und Umwelt GmbH<br />
Optimierung des Schutzes vor luftgetragenen<br />
Schadstoffen in Wohngebäuden<br />
Band 38<br />
W. Kaiser, M. Schindler<br />
Rechnergestütztes Beratungssystem für das<br />
Krisenmanagement bei chemischen Unfällen<br />
(DISMA®)<br />
1999, 156 Seiten, Broschur<br />
Band 37 – in Vorbereitung –<br />
K.-J. Kohl, M. Kutz<br />
Entwicklung von Verfahren zur Abschätzung<br />
der gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von Großbränden<br />
Band 36<br />
M. Weiss, B. Fischer, U. Plappert und T. M. Fliedner<br />
Biologische Indikatoren für die Beurteilung<br />
multifaktorieller Beanspruchung<br />
Experimentelle, klinische und systemtechnische<br />
Untersuchung<br />
1998, 104 Seiten, Broschur<br />
Band 35 – in Vorbereitung –<br />
K. Amman, A.-N. Kausch, A. Pasternack, J. Schlobohm,<br />
G. Bresser, P. Eulenburg<br />
Untersuchung der Praxisanforderung an Atemund<br />
Körperschutzausstattung zur Bekämpfung<br />
von Chemieunfällen<br />
Band 34 – in Vorbereitung –<br />
W. Heudorfer<br />
Untersuchung der Wirksamkeit von Selbstschutzausstattung<br />
bei Chemieunfällen<br />
342<br />
<strong>Zivilschutz</strong>-<strong>Forschung</strong>, <strong>Neue</strong> <strong>Folge</strong><br />
Schriftenreihe der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister des Innern<br />
Herausgegeben vom Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />
ISSN 0343-5164<br />
Band 33<br />
J. Bernhardt, J. Haus, G. Hermann, G. Lasnitschka,<br />
G. Mahr, A. Scharmann<br />
Laserspektrometrischer Nachweis von Strontiumnukliden<br />
1998, 128 Seiten, Broschur<br />
Band 32<br />
Günther Müller<br />
Kriterien für Evakuierungsempfehlungen bei<br />
Chemikalienfreisetzungen<br />
1998, 244 Seiten + Faltkarte, Broschur<br />
Band 31<br />
G. Schallehn und H. Brandis<br />
Beiträge zur Isolierung und Identifizierung von<br />
Clostridium sp. und Bacillus sp. sowie zum<br />
Nachweis deren Toxine<br />
1998, 80 Seiten, Broschur<br />
Band 30<br />
Gerhard Matz<br />
Untersuchung der Praxisanforderung an die<br />
Analytik bei der Bekämpfung großer Chemieunfälle<br />
1998, 192 Seiten, Broschur<br />
Band 29<br />
D. Hesel, H. Kopp und U. Roller<br />
Erfahrungen aus Abwehrmaßnahmen bei chemischen<br />
Unfällen<br />
1997, 152 Seiten, Broschur<br />
Band 28<br />
Ronald Zech<br />
Wirkungen von Organophosphaten<br />
1997, 110 Seiten, Broschur<br />
Band 27<br />
Georg Ruhrmann, Matthias Kohring<br />
Staatliche Risikokommunikation bei Katastrophen<br />
Informationspolitik und Akzeptanz<br />
1996, 207 Seiten, Broschur<br />
Band 26<br />
43. und 44. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
beim Bundesminister des Innern<br />
Vorträge<br />
1997, 326 Seiten, Broschur
Band 25<br />
Klaus Buff, Helmut Greim<br />
Abschätzung der gesundheitlichen <strong>Folge</strong>n von<br />
Großbränden<br />
Literaturstudie<br />
Teilbereich Toxikologie<br />
1997, 138 Seiten, Broschur<br />
Band 24<br />
42. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> beim<br />
Bundesminister des Innern<br />
Vorträge<br />
1996, 205 Seiten, Broschur<br />
Band 23<br />
Klaus Haberer, Uta Böttcher<br />
Das Verhalten von Umweltchemikalien in Boden<br />
und Grundwasser<br />
1996, 235 Seiten, Broschur<br />
Band 22<br />
Beowulf Gloebel, Christiane Graf<br />
Inkorporationsverminderung für radioaktive<br />
Stoffe im Katastrophenfall<br />
1996, 206 Seiten, Broschur<br />
Band 21<br />
Arbeiten aus dem Fachausschuß III: Strahlenwirkungen<br />
– Diagnostik und Therapie<br />
1996, 135 Seiten, Broschur<br />
Band 20<br />
Arbeiten aus dem Fachausschuß V<br />
I.<br />
D. Henschler: Langzeitwirkungen phosphororganischer<br />
Verbindungen<br />
II.<br />
H. Becht: Die zellvermittelte typübergreifende Immunantwort<br />
nach Infektion mit dem Influenzavirus<br />
III.<br />
F. Hoffmann, F. Vetterlein, G. Schmidt:<br />
Die Bedeutung vasculärer Reaktionen beim akuten<br />
Nierenversagen nach großen Weichteilverletzungen<br />
(Crush-Niere)<br />
1996, 127 Seiten, Broschur<br />
Band 19<br />
Radioaktive Strahlungen<br />
I.<br />
B. Kromer unter Mitarbeit von K.O. Münnich, W.<br />
Weiss und M. Zähringer:<br />
Nuklidspezifische Kontaminationserfassung<br />
II.<br />
G. Hehn:<br />
Datenaufbereitung für den Notfallschutz<br />
1996, 164 Seiten, Broschur<br />
Band 18<br />
L. Clausen, W.R. Dombrowsky, R.L.F. Strangmeier<br />
Deutsche Regelsysteme<br />
Vernetzungen und Integrationsdefizite bei der<br />
Erstellung des öffentlichen Gutes Zivil- und<br />
Katastrophenschutz in Europa<br />
1996, 130 Seiten, Broschur<br />
Band 17<br />
41. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong> beim Bundesminister<br />
des Innern<br />
Vorträge<br />
1996, 197 Seiten, Broschur<br />
Band 16<br />
F.E. Müller, W. König, M. Köller<br />
Einfluß von Lipidmediatoren auf die Pathophysiologie<br />
der Verbrennungskrankheit<br />
1993, 42 Seiten, Broschur<br />
Band 15<br />
Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung<br />
in Notfällen<br />
Teil II: Klaus Haberer und Monika Drews<br />
1. Einfache organische Analysenmethoden<br />
2. Einfache Aufbereitungsverfahren<br />
1993, 144 Seiten, Broschur<br />
Band 14<br />
Beiträge zu Strahlenschäden und Strahlenkrankheiten<br />
I.<br />
H. Schüßler: Strahleninduzierte Veränderungen an<br />
Säugetierzellen als Basis für die somatischen Strahlenschäden<br />
II.<br />
K.H. von Wangenheim, H.-P. Peterson, L.E. Feinendegen:<br />
Hämopoeseschaden, Therapieeffekte und Erholung<br />
III.<br />
T.M. Fliedner, W. Nothdurft: Präklinische Untersuchungen<br />
zur Bechleunigung der Erholungsvorgänge<br />
in der Blutzellbildung nach Strahleneinwirkung<br />
durch Beeinflussung von Regulationsmechanismen<br />
IV.<br />
G.B. Gerber: Radionuklid Transfer<br />
1993, 268 Seiten, Broschur<br />
Band 13<br />
H. Mönig, W. Oehlert, M. Oehlert, G. Konermann<br />
Modifikation der Strahlenwirkung und ihre <strong>Folge</strong>n<br />
für die Leber<br />
1993, 90 Seiten, Broschur<br />
343
Band 12<br />
Biologische Dosimetrie<br />
I.<br />
H. Mönig, Wolfgang Pohlit, Ernst Ludwig Sattler:<br />
Einleitung: Dosisabschätzung mit Hilfe der Biologischen<br />
Dosimetrie<br />
II.<br />
Hans Joachim Egner et al.: Ermittlung der Strahlenexposition<br />
aus Messungen an Retikulozyten<br />
III.<br />
Hans Mönig, Gerhard Konermann: Strahlenbedingte<br />
Änderung der Chemilumineszenz von Granulozyten<br />
als biologischer Dosisindikator<br />
IV.<br />
Paul Bidon et al.: Zellmembranänderungen als biologische<br />
Dosisindikatoren. Strahleninduzierte<br />
Membranänderung im subletalen Bereich. Immunbindungsreaktionen<br />
an Lymphozyten<br />
1993, 206 Seiten, Broschur<br />
Band 11 vergriffen<br />
Beiträge zur Katastrophenmedizin<br />
1993, 135 Seiten, Broschur<br />
Band 10<br />
Wolf R. Dombrowsky<br />
Bürgerkonzeptionierter Zivil- und Katastrophenschutz<br />
Das Konzept einer Planungszelle Zivil- und Katastrophenschutz<br />
1992, 79 Seiten, Broschur<br />
Band 9 vergriffen<br />
39. und 40. Jahrestagung der <strong>Schutzkommission</strong><br />
beim Bundesminister des Innern<br />
Vorträge<br />
1993, 264 Seiten, Broschur<br />
Band 8 vergriffen<br />
Beiträge zur dezentralen Trinkwasserversorgung<br />
in Notfällen<br />
Teil I: Klaus Haberer und Ursula Stürzer<br />
Einfache anorganische und radiologische Methoden<br />
zur Wasseruntersuchung an Ort und Stelle<br />
1991, 78 Seiten, Broschur<br />
Broschüren und eine komplette Liste aller<br />
bisher erschienenen und bereits vergriffenen<br />
Bände können kostenlos bezogen werden<br />
bei:<br />
344<br />
Band 7 vergriffen<br />
Ernst Pfenninger und Friedrich Wilhelm Ahnefeld<br />
Das Schädel-Hirn-Trauma<br />
Klinische und tierexperimentelle Untersuchungen<br />
zur Pathogenese und neuen Behandlungsansätzen<br />
im Rahmen der Katastrophenmedizin<br />
1991, 208 Seiten, Broschur<br />
Band 6 vergriffen<br />
Otfried Messerschmidt und Alfons Bitter<br />
Neutronenschäden<br />
Untersuchungen zur Pathophysiologie, Diagnostik,<br />
Prophylaxe und Therapie<br />
1991, 96 Seiten, Broschur<br />
Band 5 vergriffen<br />
Rudolf E. Grillmaier und Franz Kettenbaum<br />
Strahlenexposition durch Ingestion von radioaktiv<br />
kontaminiertem Trinkwasser<br />
1991, 104 Seiten, Broschur<br />
Band 4 vergriffen<br />
Wolf R. Dombrowsky<br />
Computereinsatz im Zivil- und Katastrophenschutz<br />
Möglichkeiten und Grenzen<br />
1991, 94 Seiten, Broschur<br />
Band 3 vergriffen<br />
Burkhard Lommler, Eberhard Pitt, Arthur Scharmann<br />
und Rolf Simmer<br />
Der Nachweis schneller Neutronen in der Katastrophendosimetrie<br />
mit Hilfe von Ausweisen<br />
aus Plastikmaterial<br />
1990, 66 Seiten, Broschur<br />
Band 2 vergriffen<br />
Gammastrahlung aus radioaktivem Niederschlag<br />
Berechnung von Schutzfaktoren<br />
1990, 66 Seiten, Broschur<br />
Band 1 vergriffen<br />
Lars Clausen und Wolf R. Dombrowsky<br />
Zur Akzeptanz staatlicher Informationspolitik<br />
bei technischen Großunfällen und Katastrophen<br />
1990, 115 Seiten, Broschur<br />
Katastrophenmedizin – Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall<br />
4. überarbeitete Auflage1997, 230 Seiten, Broschur<br />
Bundesamt für <strong>Zivilschutz</strong><br />
– Referat II.2 –<br />
Deutschherrenstraße 93–95<br />
53177 Bonn