Vom Führerheer zur Wehrmacht Hitler-Stalin-Pakt ... - MGFA
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Heft 2/2009<br />
C 21234 ISSN 0940 - 4163<br />
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Militärgeschichte im Bild: Soldaten der 1. Gebirgsdivision überschreiten am 5. September 1939 die slowakisch-polnische Grenze.<br />
<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />
<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
Erinnerungskultur in Polen<br />
Seekrieg im Südatlantik<br />
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Impressum<br />
Militärgeschichte<br />
Zeitschrift für historische Bildung<br />
Herausgegeben<br />
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
durch Oberst Dr. Hans Ehlert und<br />
Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.)<br />
Produktionsredakteur<br />
der aktuellen Ausgabe:<br />
Hauptmann Klaus Storkmann M.A.<br />
Redaktion:<br />
Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn)<br />
Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp)<br />
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)<br />
Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks)<br />
Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />
Bildredaktion:<br />
Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />
Lektorat:<br />
Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />
Layout/Grafik:<br />
Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang<br />
Karten:<br />
Dipl.-Ing. Bernd Nogli<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
Redaktion »Militärgeschichte«<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />
E-Mail: <strong>MGFA</strong>RedaktionMilGeschichte@<br />
bundeswehr.org<br />
Telefax: 03 31 / 9 71 45 07<br />
Homepage: www.mgfa.de<br />
Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />
an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />
Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt<br />
der Herausgeber auch das Recht <strong>zur</strong> Veröffentlichung,<br />
Übersetzung usw. Honorarabrechnung<br />
erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die Redaktion<br />
behält sich Kürzungen eingereichter<br />
Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise,<br />
fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung<br />
sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung<br />
durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />
erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme in<br />
elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />
auf CD-ROM. Die Redaktion hat keinerlei<br />
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© 2009 für alle Beiträge beim<br />
Militärgeschichtlichen Forschungsamt (<strong>MGFA</strong>)<br />
Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber<br />
ermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.<br />
Druck:<br />
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />
ISSN 0940-4163<br />
Editorial<br />
Auf dem Cover dieser Ausgabe der Militärgeschichte<br />
sehen Sie eine Aufnahme vom Marsch einer Kompanie<br />
der <strong>Wehrmacht</strong> vorbei an polnischen Grenzmarkierungen.<br />
Viele Soldaten hatten Fotoapparate im Marschgepäck<br />
und hielten damit Augenblicke und Eindrücke<br />
der Kämpfe und Zerstörungen, aber auch den Alltag<br />
im Krieg fest. Noch heute finden sich zahlreiche dieser<br />
Fotos in Schuhkartons oder Schubläden in vielen Haushalten.<br />
Aus einem dieser Nachlässe stammt das Coverbild. Statt moderner Panzer<br />
und Kfz zeigt es das genaue Gegenteil und bildet damit die Realität für einen<br />
nicht geringen Teil der Soldaten ab: Sie waren zu Fuß und mit Pferden oder Tragtieren<br />
unterwegs. Persönliche und private Erinnerungen gehören ebenso <strong>zur</strong> Geschichte<br />
des Zweiten Weltkrieges und anderer Kriege wie die »große Politik«.<br />
1939, vor nunmehr 70 Jahren, begann der Zweite Weltkrieg. Vor dem »großdeutschen<br />
Reichstag« verkündete Adolf <strong>Hitler</strong> am Vormittag des 1. September,<br />
Polen habe »auch mit bereits regulären Soldaten angegriffen« – seit 5.45 Uhr<br />
werde nun »<strong>zur</strong>ückgeschossen«. Das NS-Regime beschränkte sich nicht nur auf<br />
die Lügen im Reichstag, sondern inszenierte des Weiteren einen »handfesten«<br />
Anlass – den vermeintlichen polnischen Überfall auf die deutsche Radiosendestation<br />
Gleiwitz. Unwahrheiten und mehr oder weniger geschickte Konstruktionen<br />
eines »passenden« Kriegsanlasses waren kein singulärer Fall des Jahres 1939; sie<br />
hatten und haben in Geschichte und Gegenwart zahlreiche Vorbilder und Nachahmer.<br />
»Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.« So oft dieser Satz auch bemüht<br />
wurde, so zutreffend bleibt er in seinem Kern. Kriegsverbrechen und Lügen<br />
zu deren Verschleierung gingen auf die Konten von vielen kriegführenden Parteien.<br />
Bekannt wurde beispielsweise der Fall Katyn. 1940 ermordete der sowjetische<br />
Geheimdienst über zehntausend polnische Kriegsgefangene und andere<br />
Internierte. Bis 1990 leugnete Moskau die Verantwortung und bezichtigte die<br />
Deutschen des Verbrechens. Nicht zu verwechseln ist dieser Fall mit der Zerstörung<br />
der weißrussischen Ortschaft Chatyn und der Ermordung ihrer Bewohner<br />
durch die deutsche <strong>Wehrmacht</strong> 1943. Die Opfer von Katyn und die Leugnung der<br />
Verantwortung haben sich tief ins polnische Gedächtnis gegraben. Mit der polnischen<br />
Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg befasst sich der Schwerpunktbeitrag<br />
dieses Heftes. Tomasz Kopański zeigt dabei den polnischen Blickwinkel der Erinnerung<br />
und spart dabei auch heikle Themenfelder wie das Verhältnis von Polen<br />
und Juden nicht aus.<br />
Winfried Heinemann knüpft mit seinem Beitrag zum <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> 1939<br />
thematisch eng an die polnische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg an. Die<br />
historische Wahrheit gibt es in den wenigsten Fällen. Erinnerungen, ob nun die<br />
individuellen oder die von Nationen, sind stets subjektiv. In der deutschen zeithistorischen<br />
Forschung finden die Entwicklungslinien vom Ersten zum Zweiten<br />
Weltkrieg verstärkte Beachtung. Die Wurzeln für die Entgrenzung der Gewalt<br />
nach 1939 reichten oftmals in die Zeit vor 1918 <strong>zur</strong>ück.<br />
Bruno Thoß nimmt sich der Forschung des »Zeitalters der Weltkriege« an und<br />
zieht eine Verbindungslinie von der frühen Reichswehr <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong>. Sein Aufsatz<br />
knüpft, ebenso wie Andreas Krause Landts Beitrag <strong>zur</strong> Selbstversenkung der<br />
deutschen Hochseeflotte in Scapa Flow 1919, thematisch eng an das Heft 3/2008<br />
zu Kriegsende und Revolution 1918 an. Komplettiert wird das Heft zum Kriegsbeginn<br />
1939 durch Jann M. Witts Aufsatz über den spektakulären Beginn des Seekriegs<br />
im Südatlantik.<br />
Für Ihr Interesse an der Militärgeschichte dankt<br />
Klaus Storkmann M.A.<br />
Hauptmann
<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong><br />
<strong>Wehrmacht</strong><br />
Dr. Bruno Thoß, geboren 1945 in Dresden,<br />
Leitender Wissenschaftlicher Direktor a.D.,<br />
2005 bis 2008 Kommissarischer Leiter<br />
der Abteilung Forschung im <strong>MGFA</strong><br />
Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
Oberst Dr. Winfried Heinemann, geboren<br />
1956 in Dortmund, seit 2003 Leiter des<br />
Forschungsbereichs »Militärgeschichte der DDR<br />
im Bündnis« im <strong>MGFA</strong><br />
Der Zweite Weltkrieg im<br />
Gedächtnis der Polen<br />
Major Dr. Tomasz Kopański, geboren 1964<br />
in Warschau, Mitarbeiter am Wojskowe Biuro<br />
Badań Historycznych der Polnischen Streitkräfte,<br />
Warschau<br />
Seekrieg im Südatlantik.<br />
Das Panzerschiff »Admiral<br />
Graf Spee« 1939<br />
Dr. Jann Markus Witt, geboren 1967<br />
in Eckernförde, Studium in Kiel und London,<br />
Kapitänleutnant d.R., Historiker des Deutschen<br />
Marinebunds/Marine-Ehrenmal Laboe<br />
4<br />
8<br />
12<br />
18<br />
Inhalt<br />
Service<br />
Das historische Stichwort:<br />
Scapa Flow, 21. Juni 1919 22<br />
Medien online/digital 24<br />
Lesetipp 26<br />
Die historische Quelle 28<br />
Geschichte kompakt 29<br />
Ausstellungen 30<br />
Militärgeschichte<br />
im Bild<br />
Kriegsbeginn<br />
September 1939 31<br />
Eingebunden in das XVIII. Gebirgs-Armee-<br />
Korps der 1. Gebirgs-Division, überschritt<br />
eine Kompanie Gebirgsjäger am 5. September<br />
1939 die slowakisch-polnische<br />
Grenze zwischen Ozenna und Mszana.<br />
Foto: Privat<br />
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />
Christiane Botzet, M.A., Referentin im<br />
Referat MA 5 des Bundesarchivs,<br />
Abteilung Militärarchiv;<br />
Dr. Alexander Jaser, Historiker,<br />
Merzhausen bei Freiburg i.Br.;<br />
Andreas Krause Landt, Verleger des<br />
Landt Verlags in Berlin und freier Autor;<br />
Dr. John Zimmermann, Oberstleutnant, <strong>MGFA</strong>
<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />
<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong><br />
<strong>Wehrmacht</strong><br />
Niederlage<br />
und Revolution<br />
1918/19 und ihre<br />
militärischen<br />
Folgen<br />
Am 20. Dezember 1918 trafen<br />
sich im Berliner Gebäude des<br />
Großen Generalstabes die Spitzenoffiziere<br />
von Verbänden, die vom<br />
Schlachtfeld in den Umkreis der<br />
Hauptstadt <strong>zur</strong>ückgekehrt waren. In<br />
einer politisch wie militärisch noch<br />
gänzlich ungeklärten Lage suchten sie<br />
nach einer Standortbestimmung des<br />
Militärischen im künftigen Deutschland.<br />
Anders als in hierarchisch geordneten<br />
Verhältnissen üblich, führten dabei<br />
freilich nicht die Kommandeure<br />
das Wort, sondern zwei besonders qualifizierte<br />
Generalstabsoffiziere mit Zukunft.<br />
Der eine – Major Kurt von Schleicher<br />
– sollte es in der Weimarer Republik<br />
noch zum Reichswehrminister<br />
und Reichskanzler (1932/33) bringen;<br />
der andere – Generalmajor Hans von<br />
Seeckt – würde als Chef der Heeresleitung<br />
(1920–1926) der Aufbauära der<br />
Reichswehr seinen Stempel aufdrücken.<br />
Weit über den Tag hinaus wies<br />
der politische Charakter der divergierenden<br />
Überlegungen beider Offiziere<br />
zu dem, was sie der Armee <strong>zur</strong> Aufgabe<br />
gestellt sehen wollten. Schleicher<br />
standen die gesellschaftlichen Verwerfungen<br />
in der Revolution und die Einschnitte<br />
im politisch-ökonomischen<br />
Leben nach der Niederlage vor Augen.<br />
Vorrangig galt es daher, den gemä-<br />
5 Regierungstruppen setzen bei Straßenkämpfen in Berlin 1919 gegen die Revolution<br />
Panzer ein.<br />
ßigten Kräften in der Revolutionsregierung<br />
eine einsetzbare Ordnungstruppe<br />
<strong>zur</strong> Verfügung zu stellen, um eine weitere<br />
Radikalisierung im Innern zu verhindern.<br />
Danach würde die neue Republik<br />
jedoch militärisch erst einmal<br />
kürzer treten müssen. Entscheidend<br />
für ihre innere Stabilisierung und ihren<br />
künftigen Platz in Europa würde vielmehr<br />
die Gesundung der Wirtschaft<br />
sein. Im Gegensatz dazu gedachte<br />
Seeckt diese Zeit militärischer Schwäche<br />
für das Reich so kurz wie möglich<br />
zu halten. Für den Wiederaufstieg <strong>zur</strong><br />
international anerkannten Macht war<br />
es unverzichtbar, dass die junge Republik<br />
ihre diplomatische Handlungsfähigkeit<br />
rasch auch wieder durch hinreichende<br />
militärische Mittel untermauern<br />
konnte.<br />
Wohlgemerkt: das alles wurde zu<br />
einem Zeitpunkt debattiert, als sich die<br />
<strong>zur</strong>ückkehrenden Truppen immer<br />
noch in einem Prozess der inneren Auflösung<br />
befanden. Viele ihrer Soldaten<br />
waren seit Sommer 1918 in eine Art<br />
»verdeckten Militärstreik« getreten. Sie<br />
ließen sich gerade noch so lange von<br />
ihren Offizieren führen, wie dies zum<br />
geordneten Rückmarsch erforderlich<br />
war. Lange aufgestauter Unmut gegen<br />
die sozialen Zustände im Heer machte<br />
sich währenddessen in Übergriffen von<br />
4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Soldaten gegen die eigenen Offiziere<br />
Luft. Der am 10. November gebildete<br />
Berliner Arbeiter- und Soldatenrat<br />
brachte in seinem Aufruf »An das<br />
werktätige Volk« die Ziele der überwiegend<br />
kriegs- und militärmüden<br />
Soldaten auf den Punkt: »Der vielgerühmte<br />
[...] Militarismus ist zusammengebrochen.<br />
[...] Sofortiger Friede<br />
ist die Parole der Revolution.« Vor diesem<br />
Hintergrund war aus Sicht der<br />
noch im Amt befindlichen Obersten<br />
Heeresleitung zunächst einmal Näherliegendes<br />
angesagt als die Schleicher-<br />
Seecktschen Zukunftsprojektionen.<br />
Wenn ihr führender Vertreter, der aus<br />
Württemberg stammende Generalquartiermeister<br />
Wilhelm Groener,<br />
hoffte, »durch unsere Tätigkeit einen<br />
Teil der Macht im neuen Staat an Heer<br />
und Offizierskorps zu bringen«, dann<br />
benötigte er dazu vor allem politische<br />
Partner. Im Bündnis mit dem gemäßigten<br />
Vorsitzenden des Rates der<br />
Volksbeauftragten, Friedrich Ebert<br />
(MSPD), gelang dies auch. Die Heeresleitung<br />
erklärte sich bereit zum Kampf<br />
gegen ein Weitertreiben der Revolution<br />
und zum Schutz der bedrohten<br />
Grenzen. Dafür erhielt sie die Zusage,<br />
dass die Befehlsgewalt in den Händen<br />
der Offiziere erhalten bleiben sollte.<br />
Wohl musste man auch im Feldheer<br />
Süddeutsche Zeitung Photo
die Bildung von Soldatenräten hinnehmen,<br />
gedachte diese aber in sogenannte<br />
Vertrauensleute, die vorwiegend soziale<br />
Befugnisse erhalten sollten, umzuwandeln.<br />
Damit war freilich noch<br />
nichts darüber ausgesagt, wie die zukünftige<br />
<strong>Wehrmacht</strong> einer Deutschen<br />
Republik aussehen sollte. Denn allzu<br />
viel Kampfkraft – das zeigten gescheiterte<br />
Einsätze <strong>zur</strong>ückkehrender Fronttruppen<br />
gegen bewaffnete Anhänger<br />
der Revolution – war von den kampfmüden<br />
Soldaten nicht mehr zu erwarten.<br />
Daher galt es erst einmal, die militärische<br />
Autorität in den Verbänden<br />
wiederherzustellen. Und da dies in den<br />
Front- und Heimattruppenteilen nur<br />
noch im Ausnahmefall gelang, griff<br />
man zum Mittel einer Neuaufstellung<br />
sogenannter Freikorps aus dazu bereiten<br />
Offizieren, Unteroffizieren und<br />
Freiwilligen.<br />
Im Gegensatz dazu wollten die Revolutionäre<br />
die Gunst der Stunde nutzen,<br />
um das zu schaffen, was seit dem<br />
19. Jahrhundert als Ziel linksdemokratischer<br />
Militärprogrammatik galt: eine<br />
republikanische Volkswehr anstelle des<br />
monarchisch orientierten Kaiserheeres.<br />
5 Der frühere Chef der Heeresleitung,<br />
Hans von Seeckt (1866–1936), mit<br />
dem früheren Reichwehrminister Otto<br />
Geßler (1875–1955), Aufnahme von<br />
1931.<br />
BArch, Bild 102-10883<br />
Die Notwendigkeit von Offizieren als<br />
militärtechnischer Funktionselite akzeptierten<br />
zwar auch die Soldatenräte.<br />
Sie wollten deren republikanische Zuverlässigkeit<br />
jedoch durch Führerwahl<br />
in der Truppe, Ablegen aller Insignien<br />
aus der Kaiserzeit und Teilung der<br />
Kommandogewalt mit den Soldatenräten<br />
gesichert sehen. Die Entscheidung<br />
gegen solche Volkswehrpläne und für<br />
ein Berufsheer fiel freilich schon <strong>zur</strong><br />
Jahreswende 1918/19. Im Dezember<br />
1918 setzte sich die Führung der Mehrheitssozialisten<br />
(MSPD) mit ihrer Forderung<br />
nach einer parlamentarischen<br />
Demokratie und gegen das Modell einer<br />
sozialistischen Räterepublik durch.<br />
Aus den Januarwahlen von 1919 für<br />
eine Verfassunggebende Nationalversammlung<br />
gingen die gemäßigten Parteien<br />
mit einem überwältigenden<br />
Wahlsieg hervor. Mit ihrem Sieg im sofort<br />
ausbrechenden Bürgerkrieg entzogen<br />
die schlagkräftigeren Freikorps<br />
auch militärisch den radikalen Befürwortern<br />
einer Volkswehr den Boden.<br />
Um die neue Republik zusätzlich von<br />
außen sicherheitspolitisch unter Kontrolle<br />
zu halten, schränkten die Siegermächte<br />
im Versailler Vertrag von 1919<br />
künftige deutsche Streitkräfte auf reine<br />
Verteidigungszwecke ein. Die Wehrpflicht<br />
wurde abgeschafft und ein<br />
kleingehaltenes 100 000-Mann-Heer<br />
aus Berufs- und Zeitsoldaten vorgeschrieben.<br />
Abwartende Haltung<br />
<strong>zur</strong> Republik<br />
Noch hielten sich bei der Bildung einer<br />
vorläufigen Reichswehr allerdings Reformer<br />
und Traditionalisten in der militärischen<br />
Führung die Waage. Das<br />
schlug sich insbesondere in Maßnahmen<br />
zu einer Modernisierung der Menschenführung<br />
nieder. Unter den Bedingungen<br />
des Ersten Weltkrieges als<br />
eines vorwiegenden Grabenkrieges<br />
war die vor 1914 noch durchgängige<br />
Distanz zwischen Offizieren, Unteroffizieren<br />
und Mannschaften eingeschmolzen<br />
worden. Aufgrund der<br />
räumlichen Nähe und eines neuen<br />
Führungspersonals, das auf Kompanieebene<br />
inzwischen mehrheitlich aus<br />
bürgerlichen Reserveoffizieren und erfahrenen<br />
Feldwebeln bestand, hatte<br />
sich die bisherige formale Disziplin zugunsten<br />
einer auf Sachlichkeit und Ka-<br />
5 Kurt von Schleicher (1882–1934), Aufnahme<br />
ca. 1932.<br />
meradschaft ausgerichteten kleinen<br />
Kampfgemeinschaft weiterentwickelt.<br />
Diese gelegentlich bis <strong>zur</strong> Kumpanei<br />
reichenden Verhältnisse sollten sich<br />
nach 1918 in den Freikorps als selbsternannter<br />
Frontsoldatenbewegung fortsetzen.<br />
Die Freikorpssoldaten verkörperten<br />
den reinen Kämpfertypus und<br />
waren mehr auf ihre anerkannten<br />
Frontführer als auf den Gehorsam gegenüber<br />
der Republik und höhere Vorgesetzte<br />
eingeschworen. Beim Aufbau<br />
der Reichswehr würde man diese eher<br />
an ein modernes Söldnertum erinnernden<br />
Truppenteile und deren Führerkorps<br />
daher nur im Ausnahmefall<br />
berücksichtigen, da sie kaum in eine<br />
disziplinierte Friedensarmee zu integrieren<br />
waren.<br />
Andererseits verloren aber auch diejenigen<br />
Offiziere an der Spitze der<br />
Reichswehr schnell an Durchsetzungskraft,<br />
die bereit waren, zugunsten einer<br />
republiktreuen Truppe auf Reformforderungen<br />
aus dem Lager der demokratischen<br />
Parteien einzugehen. Wohl<br />
standen bis zum Frühjahr 1920 mit<br />
Reichswehrminister Gustav Noske<br />
(SPD) und dem württembergischen<br />
Oberst Walther Reinhardt als Chef der<br />
Heeresleitung überzeugte Republikaner<br />
an der Spitze der Armee. Der eigentliche<br />
militärische Aufbau wurde jedoch<br />
von General von Seeckt als Chef<br />
des Heeresamtes gesteuert, dem es vor-<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
BArch, Bild 136-B0228
<strong>Vom</strong> <strong>Führerheer</strong> <strong>zur</strong> <strong>Wehrmacht</strong><br />
rangig um die Entwicklungsfähigkeit<br />
der Reichswehr zu einem effizienten<br />
militärischen Instrument ging. Da er<br />
die Republik als eine vorübergehende<br />
Erscheinung ansah, stellte für ihn auch<br />
die erzwungene kleingehaltene Berufsarmee<br />
nur ein Übergangsstadium bis<br />
zu einer wiederzubelebenden Wehrpflichtarmee<br />
dar. Sein Handeln orientierte<br />
sich an drei Leitvorstellungen:<br />
strenge personelle Auslese, elitäres<br />
Sonderbewusstsein gegenüber dem<br />
nichtmilitärischen Umfeld und verbesserte<br />
Menschenführung in den Verbänden.<br />
Dabei sorgte Seeckt nach zwei Seiten<br />
hin für Abgrenzung: Die schwer integrierbaren<br />
Freikorpskämpfer schüttelte<br />
er bei der Personalgewinnung<br />
ebenso ab, wie er erklärte republikanische<br />
Offiziere bei der Wiedereinstellung<br />
benachteiligte. Das Verhältnis von<br />
15:1 zwischen Bewerbern und offene<br />
Stellen sorgten dafür, dass sich die Personalauswahl<br />
gezielt auf die Bevorzugung<br />
von Nachwuchs aus »nationalen<br />
Kreisen« konzentrieren konnte. Mit<br />
der Forderung nach rigoroser »Entpolitisierung«<br />
konnte man sich auch auf<br />
die allgemeine Abneigung in Politik<br />
und Öffentlichkeit gegen die politisierenden<br />
Soldaten in den Freikorps wie<br />
in den revolutionären Kampfverbän-<br />
5 Ausbildung in der Reichswehr, undatierte Aufnahme.<br />
den stützen. Die sicherste Gewähr dagegen<br />
schien Seeckts Kurs einer strikten<br />
Wiederherstellung der militärischen<br />
Subordination in den Händen<br />
der Offiziere. Unpolitisch sollte die<br />
Reichswehr allerdings keineswegs<br />
sein, selbst wenn ihren Soldaten das<br />
Wahlrecht vorenthalten blieb. Ihre<br />
grundsätzliche Orientierung am überzeitlichen<br />
Reichsgedanken und an einer<br />
Wiedererlangung der verlorenen Machtposition<br />
ließ sie in einer ausgesprochen<br />
abwartenden Haltung <strong>zur</strong> Republik<br />
verharren, wobei ihre Präferenzen klar<br />
bei den antidemokratischen Rechtsparteien<br />
lagen. Als entscheidend für den<br />
militärischen Wiederaufstieg erachtete<br />
es die Reichswehrführung dabei, dass<br />
die Truppe wieder fest auf eine erhebliche<br />
Leistungssteigerung in ihrer Ausbildung<br />
ausgerichtet wurde.<br />
Innere Konsolidierung<br />
der Truppe<br />
6 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Aus den Erfahrungen im Weltkrieg<br />
und beim Auseinanderbrechen der<br />
Streitkräfte in der Revolution zog man<br />
den Schluss, dass <strong>zur</strong> inneren Konsolidierung<br />
eine Modernisierung der Menschenführung<br />
angesagt war. Die bisherige<br />
Distanz zwischen Offizieren, Un-<br />
Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl<br />
teroffizieren und Mannschaften wurde<br />
dadurch verringert, dass künftige Vorgesetzte<br />
in den ersten 15 Monaten ihrer<br />
Dienstzeit zusammen mit ihren späteren<br />
Untergebenen ausgebildet wurden.<br />
Damit bekamen die jungen Offizieranwärter<br />
am eigenen Leibe die<br />
Probleme zu spüren, die sie zum Zusammenhalt<br />
ihrer Einheiten später zu<br />
berücksichtigen hatten. Gleiche Verpflegung<br />
im Manöver, gemeinsame<br />
Wanderpatrouillen und gemischte<br />
Sportmannschaften taten ein Übriges<br />
<strong>zur</strong> Verringerung des Abstands zwischen<br />
Vorgesetzten und Untergebenen.<br />
Hinzu kam ein ganzes Paket an Fürsorge-<br />
und Berufsfortbildungsmaßnahmen,<br />
die <strong>zur</strong> allgemeinen Berufszufriedenheit<br />
der Längerdienenden<br />
beitragen und schon im Dienst ihre<br />
spätere Wiedereingliederung ins zivile<br />
Berufsleben vorbereiten sollten. Landsmannschaftliche<br />
Geschlossenheit in<br />
den Verbänden und eine Weckung von<br />
Korpsgeist durch intensive Traditionspflege<br />
beförderten den Zusammenhalt<br />
in der Truppe ebenso wie die Sorgfalt,<br />
die der Auswahl von Vertrauensleuten<br />
als Vertreter der »ruhigen Leute« beigemessen<br />
wurde.<br />
Eng begrenzt waren dagegen in den<br />
ersten Nachkriegsjahren die Möglichkeiten<br />
<strong>zur</strong> Modernisierung von Waffen<br />
und Gerät wie <strong>zur</strong> Personalergänzung<br />
für den Einsatzfall. Vor beide Anliegen<br />
hatten die restriktiven Bestimmungen<br />
des Versailler Vertrages hohe Hürden<br />
aufgetürmt. Die geheime Zusammenarbeit<br />
mit der Roten Armee, dem anderen<br />
Gegner des Versailler Systems, bot<br />
zwar Möglichkeiten <strong>zur</strong> Erprobung<br />
von Flugzeugen und Panzern in der<br />
Sowjetunion. Enge Kooperation mit<br />
den rechtsgerichteten Wehrverbänden<br />
schuf zudem die Voraussetzungen für<br />
eine vertragswidrige Heranbildung<br />
einer »Schwarzen Reichswehr«, die im<br />
Krisenfalle eng mit der aktiven Truppe<br />
zusammenarbeiten und diese personell<br />
ergänzen sollte. Das wesentlichste<br />
Instrument der Modernisierung bildete<br />
jedoch die Leistungssteigerung in der<br />
Ausbildung des Führernachwuchses.<br />
Jeder Offizier und Unteroffizier wurde<br />
so geschult, dass er oberhalb seiner<br />
Dienststellung jederzeit übergeordnete<br />
Verantwortung übernehmen konnte.<br />
Außerdem öffnete man mit der Orientierung<br />
am Leistungsprinzip Chancen<br />
zum Aufstieg zwischen den Dienst
5 Ausbildung in der Reichswehr, undatierte Aufnahme.<br />
gradgruppen. Damit wurde die personell<br />
zwar kleine Reichswehr zu einem<br />
effizienten <strong>Führerheer</strong> herangebildet,<br />
das bei veränderten politischen Verhältnissen<br />
die Grundvoraussetzungen<br />
für eine rasche personelle Auffüllung<br />
in sich trug.<br />
Die NS-Diktatur als Nutznießer<br />
Wirklicher Nutznießer dieser Modernisierung<br />
von Führung und Ausbildung<br />
sollte freilich nicht mehr die Republik<br />
von Weimar sein, sondern die<br />
Diktatur des Dritten Reiches. Schon in<br />
den krisenhaften Übergangsjahren<br />
(1928/33) war zwar die politische<br />
Reichswehrführung unter ihren Ministern<br />
Wilhelm Groener und Kurt von<br />
Schleicher noch loyal <strong>zur</strong> Republik geblieben.<br />
Im Offizierkorps hatten sich<br />
jedoch die Anhänger eines gegen den<br />
Versailler Vertrag gerichteten Kurses<br />
der geheimen Aufrüstung durchgesetzt.<br />
Unter dem Schlagwort »Wehrhaftmachung<br />
der Nation« wurden bereits<br />
Ende der 1920er Jahre Maßnahmen <strong>zur</strong><br />
vormilitärischen Ausbildung der Jugend<br />
eingeleitet. Formal auf überparteilicher<br />
Basis angedacht, dominierten<br />
in der Praxis die Anhänger einer antirepublikanischen<br />
Rechten bis hin <strong>zur</strong><br />
rechtsradikalen Schutzabteilung (SA)<br />
der NSDAP bei dieser getarnten Nachwuchsgewinnung<br />
für eine Reichswehr,<br />
die schon 1932 von den erlaubten 10<br />
auf 21 Divisionen angeplant war. Noch<br />
vor <strong>Hitler</strong>s Machtantritt legte das<br />
Reichswehrministerium dazu in Zusammenarbeit<br />
mit der deutschen Industrie<br />
außerdem für alle drei Teilstreitkräfte,<br />
also auch bereits für eine an sich noch<br />
verbotene Luftwaffe, ein erstes Rüstungsprogramm<br />
<strong>zur</strong> waffentechnischen<br />
Modernisierung auf. Seine Finanzierung<br />
über getarnte Haushaltmittel<br />
wurde selbst unter den Bedingungen<br />
der 1929 voll auf das Reich<br />
durchschlagenden Weltwirtschaftskrise<br />
durchgehalten. Kurt von Schleicher<br />
als Reichskanzler erreichte noch<br />
1932 bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen<br />
einen ersten Durchbruch<br />
<strong>zur</strong> internationalen Gleichberechtigung<br />
des Reiches in Rüstungsfragen.<br />
Die schleichende Annäherung im<br />
jüngeren Offizierkorps an die Nationalsozialisten<br />
und deren Versprechen,<br />
den Versailler Vertrag mit seinen immer<br />
noch vorhandenen Einschränkungen<br />
für eine weitergehende Aufrüstung<br />
generell aufzukündigen, konnte<br />
das alles freilich nicht mehr aufhalten.<br />
Die Mehrheit der Soldaten unterstützte<br />
seit <strong>Hitler</strong>s »Machtergreifung« im Januar<br />
1933 nicht nur aus Überzeugung<br />
den neuen nationalsozialistischen als<br />
Süddeutsche Zeitung Photo<br />
einen erklärten Kriegerstaat. Nachdem<br />
1934 mit den staatlich legitimierten<br />
Mordaktionen gegen die SA-Führung<br />
um Ernst Röhm auch der wehrpolitische<br />
Konkurrent einer künftigen nationalsozialistischen<br />
»Volksarmee« ausgeschaltet<br />
worden war, ließ sich die<br />
Reichswehr unter ihrer neuen Führung<br />
nach dem Tod des Reichspräsidenten<br />
Paul von Hindenburg noch im selben<br />
Jahr reibungslos auf die Person des NS-<br />
Diktators als »Führer und Reichskanzler«<br />
vereidigen. Vor allem wäre aber<br />
der Ausbau der Reichswehr <strong>zur</strong> kriegsstarken<br />
Massenarmee der <strong>Wehrmacht</strong><br />
innerhalb weniger Jahre nicht ohne ein<br />
Führer- und Unterführerkorps denkbar<br />
gewesen, in dem schon bisher jeder<br />
Einzelne bereit und fähig war, Führungsaufgaben<br />
oberhalb der eingenommenen<br />
Dienststellung zu übernehmen.<br />
Die Einführung der allgemeinen<br />
Wehrpflicht 1935 unter Bruch des Versailler<br />
Vertrages brauchte dafür nur<br />
noch die personellen Schleusen zu öffnen.<br />
In den verbleibenden vier Jahren<br />
bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />
sollte die <strong>Wehrmacht</strong> in allen<br />
ihren Teilen zu einer schlagkräftigen<br />
Einsatzarmee für <strong>Hitler</strong>s Eroberungspolitik<br />
heranwachsen. In Auswertung<br />
der Kriegserfahrungen aus dem Ersten<br />
Weltkrieg hatte sich das <strong>Führerheer</strong><br />
der Reichswehr mittlerweile aber auch<br />
qualitativ auf den künftigen als einen<br />
modernen Bewegungskrieg eingestellt,<br />
der zwischen 1939 und 1941 mit zeitweiligem<br />
Erfolg in einer Serie von<br />
»Blitzkriegen« erprobt werden konnte.<br />
Je extremer sich der neue Weltkrieg<br />
freilich radikalisierte und schließlich<br />
auf eine erneute militärische Katastrophe<br />
hinauslief, umso zwangsläufiger<br />
sollte sich auch ein vermeintlich hocheffizientes<br />
Nursoldatentum in der geistig-moralischen<br />
Krise des Dritten Reiches<br />
verfangen.<br />
� Bruno Thoß<br />
Literaturtipps<br />
Francis L. Carsten, Reichswehr und Politik 1918–1933,<br />
Köln, Berlin 1964.<br />
Rainer Wohlfeil und Hans Dollinger, Die deutsche Reichswehr.<br />
Bilder, Dokumente, Texte, Frankfurt a. M. 1972.<br />
Menschenführung im Heer. Hrsg. vom Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamt, Herford, Bonn 1982 (= Vorträge<br />
<strong>zur</strong> Militärgeschichte, Bd. 3).<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009
<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
<strong>Hitler</strong> wollte Krieg. Schon 1938<br />
hatte er gehofft, durch Gebietsforderungen<br />
an die Tschechoslowakei<br />
einen bewaffneten Konflikt<br />
vom Zaun brechen zu können. In letzter<br />
Minute hatten Großbritannien und<br />
Frankreich nachgegeben und <strong>Hitler</strong><br />
auf der Münchener Konferenz das Sudetenland<br />
zugestanden. Noch einmal<br />
war der Frieden gerettet; der britische<br />
Premierminister Sir Neville Chamberlain<br />
wedelte bei seiner Ankunft in London<br />
mit dem unterschriebenen Vertrag<br />
und erklärte, dies bedeute »peace in<br />
our time« – Frieden für seine Generation.<br />
<strong>Hitler</strong>s Wille zum Krieg<br />
Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
5 Mitte September 1939 trafen während des Polen-Feldzuges Truppen Deutschlands und der Sowjetunion aufeinander. Im Bild<br />
Panzer der Roten Armee neben einer deutschen motorisierten Einheit.<br />
Für <strong>Hitler</strong> war die Münchener Konferenz<br />
zwar ein außenpolitischer Triumph,<br />
innerlich aber kochte der Dikta-<br />
tor: er hatte Krieg gewollt, nicht so sehr<br />
die von Sudetendeutschen bewohnten<br />
Randgebiete der Tschechoslowakei.<br />
Schon im Frühjahr 1939 legte er nach:<br />
die »Zerschlagung der Rest-Tschechei«,<br />
also die Abspaltung der Slowakei unter<br />
einer hitlerhörigen Regierung und<br />
die Umwandlung des übriggebliebenen<br />
tschechischen Staatsgebietes in ein<br />
»Reichsprotektorat Böhmen und Mähren«<br />
zeigten auch dem Appeasement<br />
(= Beschwichtigungs)-Politiker Chamberlain,<br />
dass <strong>Hitler</strong>s Unterschrift auf<br />
dem Münchener Abkommen das Papier<br />
nicht wert war, auf dem sie stand.<br />
Und in der Tat erhob der »Führer«<br />
schnell weitere territoriale Forderungen:<br />
Die durch den Versailler Vertrag<br />
von 1919 gegen den Willen der<br />
deutschen Bevölkerung geschaffene<br />
»Freie Stadt Danzig« solle wieder zum<br />
Reich kommen, und Polen solle der Errichtung<br />
einer exterritorialen Verbin-<br />
8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
dung durch den »Polnischen Korridor«<br />
zustimmen – jenen Gebietsstreifen also,<br />
der das Gros des Reichsgebiets von<br />
Ostpreußen trennte. In dieser Situation<br />
gaben die Westmächte Großbritannien<br />
und Frankreich Polen eindeutige Garantien<br />
für den Fall eines Krieges mit<br />
Deutschland.<br />
Die Rolle der Sowjetunion<br />
Wie aber würde sich der andere Nachbar<br />
Polens, die Sowjetunion, unter<br />
ihrem Diktator <strong>Stalin</strong> verhalten? Immerhin<br />
hatte sich Polen erst 1920 eines<br />
sowjetischen Angriffs auf seine Ostgrenze<br />
erwehren müssen.<br />
<strong>Stalin</strong> selbst hatte die Einsatzfähigkeit<br />
der Roten Armee entscheidend<br />
geschwächt. Die Zeit der »großen Säuberungen«<br />
war gerade erst zu Ende gegangen.<br />
Fast die komplette Spitze der<br />
BArch, Bild 101I-121-0012-30
Roten Armee, vor allem Marschall<br />
Michail Tuchatschewski, war ermordet<br />
worden, und die sowjetischen Streitkräfte<br />
waren kaum kriegsbereit. Außerdem<br />
hatte <strong>Stalin</strong>, seit er 1924 an die<br />
Macht gekommen war, bisher keine expansionistischen<br />
Tendenzen erkennen<br />
lassen. Die wachsenden Spannungen<br />
um Polen jedoch ließen der Sowjetunion<br />
eine zentrale Rolle zuwachsen,<br />
in der sie auch ohne Krieg außenpolitische<br />
Ziele erreichen konnte.<br />
Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
Zunächst waren es die Briten und Franzosen,<br />
die Verbindung zum sowjetischen<br />
Diktator aufnahmen und Garantien<br />
für Polen suchten. Seit April<br />
1939 verhandelten die britische und<br />
die sowjetische Regierung miteinander.<br />
Allerdings kamen die Gespräche<br />
nicht recht vom Fleck, denn die Westmächte<br />
waren nicht in der Lage, <strong>Stalin</strong><br />
irgendwelche territorialen Zugeständnisse<br />
auf Kosten Polens zu machen.<br />
Schließlich hatten sie ja gerade dessen<br />
territorialen Bestand garantiert.<br />
Anders stellte sich die Lage dar, als<br />
auch das Deutsche Reich die Moskauer<br />
Spitze kontaktierte. <strong>Hitler</strong> wusste um<br />
die Verhandlungen zwischen den<br />
Westmächten, vor allem Großbritannien,<br />
und der Sowjetunion. Zwar war<br />
für ihn <strong>Stalin</strong> der ideologische Todfeind,<br />
dennoch war <strong>Hitler</strong> bereit, <strong>Stalin</strong><br />
sein Stillhalteversprechen für den Fall<br />
eines Krieges mit der Intensivierung<br />
der Wirtschaftsbeziehungen und territorialen<br />
Zugeständnissen zu vergelten.<br />
<strong>Hitler</strong>s Kriegspläne wären nicht zu realisieren<br />
gewesen, hätte sich Polen auf<br />
britische und auch auf sowjetische Unterstützung<br />
verlassen können. <strong>Stalin</strong>s<br />
strategisches Kalkül aber sah anders<br />
aus. Ein Arrangement mit <strong>Hitler</strong> erlaubte<br />
ihm den unproblematischen Zugriff<br />
auf Ost-Polen, die baltischen Staaten<br />
und Finnland. Zudem eröffnete es<br />
die Möglichkeit eines Krieges zwischen<br />
den Westmächten und Deutschland –<br />
eben jenes Zerfleischen der »imperialistischen<br />
Mächte untereinander«, das<br />
anschließend der kommunistischen<br />
Weltrevolution doch noch zum Durchbruch<br />
verhelfen mochte. So erklärte<br />
<strong>Stalin</strong> 1940 (also nach dem Verschwinden<br />
Polens von der Landkarte) dem<br />
Vorsitzenden der noch existierenden<br />
Kommunistischen Internationale, dem<br />
Bulgaren Georgi Dimitroff, bei der<br />
Durchführung der Weltrevolution<br />
dürfe man die Rolle der Roten Armee<br />
nicht unterschätzen.<br />
<strong>Hitler</strong> entsandte seinen Außenminister<br />
Joachim von Ribbentrop zu streng<br />
geheimen Verhandlungen nach Moskau.<br />
Am 19. August vereinbarten beide<br />
Seiten ein Wirtschaftsabkommen, das<br />
große Lieferungen von Rohstoffen und<br />
Lebensmitteln nach Deutschland vorsah<br />
– für das rohstoffarme Land in der<br />
Mitte Europas eine wichtige Voraussetzung<br />
für seine Kriegführung.<br />
Vier Tage später, am 23. August, unterzeichneten<br />
Ribbentrop und sein sowjetischer<br />
Kollege Wjatscheslaw Molotow<br />
in Gegenwart <strong>Stalin</strong>s in Moskau<br />
einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt,<br />
der für zehn Jahre Gültigkeit<br />
haben sollte. Damit hatte <strong>Hitler</strong> erreicht,<br />
was er wollte: <strong>Stalin</strong> ließ ihm<br />
freie Hand für einen Angriff gegen<br />
Polen, und der deutsche Diktator war<br />
überzeugt, die Regierungen in London<br />
und Paris würden in dieser neuen Lage<br />
einmal mehr vor einem Krieg <strong>zur</strong>ückschrecken.<br />
Was aber gewann <strong>Stalin</strong>? Schon innerhalb<br />
weniger Tage gab es Gerüchte,<br />
der veröffentlichte Text des Nichtangriffspakts<br />
enthalte noch nicht alle beiderseitigen<br />
Abmachungen. Aus Berlin<br />
und Moskau kamen Proteste und wütende<br />
Dementis. Die Wahrheit aber sah<br />
anders aus: Ein geheimes Zusatzprotokoll<br />
grenzte die beiderseitigen Interessensphären<br />
in Osteuropa ab. Finnland,<br />
Estland und Lettland sowie Polen östlich<br />
von Narew, Weichsel und San<br />
sollten zum sowjetischen, dagegen Litauen<br />
und Polen westlich dieser Linie<br />
zum deutschen Einflussgebiet gehören.<br />
Darüber hinaus erkannte Deutschland<br />
an, dass die Sowjetunion »Interesse«<br />
an Bessarabien habe, dem östlichsten<br />
Teil Rumäniens. Die Welt war schockiert,<br />
denn mit einem Arrangement<br />
der beiden Diktatoren hatte kaum jemand<br />
gerechnet.<br />
Die Folgen<br />
Am Morgen des 1. September 1939<br />
überfiel die deutsche <strong>Wehrmacht</strong> Polen<br />
– Deutschland hatte den Zweiten Weltkrieg<br />
begonnen. Schon bald danach<br />
zerschlugen die deutschen Armeen in<br />
schnellem Vorstoß die polnischen<br />
Streitkräfte. Zwar erklärten Großbritannien<br />
und Frankreich in Erfüllung<br />
ihrer Beistandsgarantie am 3. September<br />
ihrerseits Deutschland den Krieg,<br />
aber konkrete Auswirkungen auf die<br />
militärischen Operationen in Polen<br />
konnte das nicht mehr haben. Vollends<br />
war das Schicksal Polens besiegelt, als<br />
am 17. September 1939 sowjetische Truppen<br />
von Osten auf polnisches Gebiet<br />
vorrückten. Schon bald standen sich an<br />
der in dem geheimen Zusatzprotokoll<br />
festgelegten Demarkationslinie deutsche<br />
und sowjetische Truppen gegenüber.<br />
Der polnischen Regierung gelang<br />
es, nach London ins Exil zu fliehen.<br />
Am 28. September 1939 schrieben<br />
Deutschland und die Sowjetunion das<br />
geheime Zusatzabkommen fort. Insbesondere<br />
wurde die Demarkationslinie<br />
zwischen den beiden Machtsphären<br />
nach Osten an den Bug verlegt, dafür<br />
aber wurde nun auch Litauen dem sowjetischen<br />
Interessenbereich zugeschlagen.<br />
<strong>Stalin</strong> zögerte nicht lange, die baltischen<br />
Staaten unter seinen »Einfluss«<br />
zu bringen. Estland war der erste der<br />
baltischen Staaten, der zunächst der<br />
Errichtung von Stützpunkten und der<br />
Stationierung der Roten Armee zustimmen<br />
musste. 1940 bat eine »fortschrittliche<br />
Regierung« in Tallinn um Aufnahme<br />
in die Sowjetunion als »Estnische<br />
Sozialistische Sowjetrepublik«. Es<br />
war eine Annexion in zwei Stufen, im<br />
Schutz sowjetischer Truppen übernahmen<br />
prosowjetische Kräfte die Regierung<br />
und kaschierten mit dieser »Bitte«<br />
die Annexion als freiwilligen Akt des<br />
Volkes.<br />
Lettland und Litauen folgten bald<br />
darauf. Lediglich Finnland widersetzte<br />
sich; im November 1939 kam es zum<br />
»Winterkrieg«. Finnland setzte den<br />
zahlenmäßig stark überlegenen sowjetischen<br />
Truppen tapferen und geschickten<br />
Widerstand entgegen, und die<br />
Kämpfe zeigten auch die erheblichen<br />
Führungsschwächen der Sowjetarmee,<br />
aber letztlich konnte Finnland trotz<br />
politischer und wirtschaftlicher Unterstützung<br />
aus dem Westen gegen den<br />
übermächtigen Nachbarn nicht bestehen.<br />
Finnland musste im März 1940<br />
um Frieden nachsuchen und Karelien<br />
abtreten.<br />
Für die Menschen in den drei baltischen<br />
Staaten, vor allem aber in Polen<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
9
<strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong><br />
hatten die Kriegsereignisse katastrophale<br />
Folgen. Bald danach begann in<br />
den deutsch besetzten Gebieten eine<br />
gnadenlose Verfolgung der dort ansässigen<br />
Juden, aber auch der gesamten<br />
polnischen Intelligenz und Oberschicht.<br />
Lehrer, Priester und Politiker<br />
wurden verhaftet oder ermordet (der<br />
junge polnische Priesteramtsanwärter<br />
Karol Woytila, der spätere Papst Johannes<br />
Paul II., entkam nur mit Glück);<br />
Juden wurden erschossen oder in den<br />
größeren Städten in Ghettos zusammengepfercht<br />
(von wo sie später in die<br />
großen Vernichtungslager Auschwitz,<br />
Treblinka oder Sobibor transportiert<br />
und ermordet wurden).<br />
In den Gebieten unter sowjetischer<br />
Kontrolle waren die Verfolgungsmaßnahmen<br />
nicht in erster Linie rassistisch,<br />
sondern ideologisch-politisch geprägt.<br />
Aber auch <strong>Stalin</strong> ging es darum, die<br />
Oberschicht der besetzten Gebiete zu<br />
liquidieren, indem ihre Angehörigen<br />
in Arbeitslager deportiert wurden, die<br />
viele nicht überlebten, oder unmittelbaren<br />
Mordaktionen zum Opfer fielen.<br />
Rund 4000 polnische Offiziere, die im<br />
September 1939 in sowjetische Hand<br />
gefallen waren, wurden im Frühjahr<br />
1940 ermordet, die meisten in den Wäldern<br />
bei der Ortschaft Katyn; insgesamt<br />
fielen weit über 10 000 Polen dem<br />
sowjetischen Terror zum Opfer.<br />
Aber auch Deutsche im sowjetischen<br />
Machtbereich bekamen die Entwicklungen<br />
zu spüren. Das Baltikum war<br />
Jahrhunderte lang deutscher Siedlungsraum<br />
gewesen – jetzt wurden die<br />
Baltendeutschen umgesiedelt – »Heim<br />
ins Reich«, wie die Propagandaparole<br />
der Nazis lautete. Auch aus Bessarabien<br />
wurden die deutschstämmigen<br />
Siedler vertrieben. Die Eheleute Eduard<br />
und Elisabeth Köhler, die im Norden<br />
Bessarabiens gewohnt hatten, wurden<br />
nunmehr im »Generalgouvernement«<br />
angesiedelt, dem deutsch besetzten<br />
Teil Polens. In Heidenstein (heute wieder<br />
Skierbieszów, Polen) wurde am<br />
22. Februar 1943 ihr Sohn Horst, der<br />
heutige Bundespräsident, geboren. Das<br />
Schicksal der Familie, die dann bei<br />
Kriegsende erneut vertrieben wurde<br />
und letztlich in die junge Bundesrepublik<br />
gelangte, ist typisch für viele Menschen<br />
aus den ehemals deutsch besiedelten<br />
Gebieten der Sowjetunion:<br />
Lange vor der Vertreibung der Deutschen<br />
aus den nach Kriegsende an<br />
Polen gekommenen Ostgebieten des<br />
Deutschen Reiches und der Tschechoslowakei<br />
hatte es ähnliche Vertreibungen<br />
aus sowjetischen Territorien<br />
gegeben – mit der Zustimmung des<br />
deutschen Diktators.<br />
Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> wirkte sich<br />
auch auf die weltweite kommunistische<br />
Bewegung aus. Für die Kommunisten<br />
in Deutschland, die ja zu den<br />
ersten Opfern von <strong>Hitler</strong>s Terror im eigenen<br />
Land gezählt hatten, war der<br />
<strong>Pakt</strong> der beiden Todfeinde ein Schock.<br />
Bisher hatten sie sich auf die ideologische,<br />
teilweise auch materielle Unterstützung<br />
der Kommunistischen Internationale<br />
und damit der Kommunistischen<br />
Partei der Sowjetunion verlassen können.<br />
Von einem Tag auf den anderen<br />
wurde aus der Speerspitze der Weltrevolution<br />
ein Verbündeter des faschistischen<br />
Diktators – eine für viele<br />
Kommunisten schwer verständliche<br />
Entwicklung, die besonders bei vielen<br />
der nach Westeuropa Emigrierten zum<br />
Bruch mit ihrer Partei führte. Einer der<br />
Mitbegründer der Kommunistischen<br />
Partei, Willi Münzenberg, der 1940 auf<br />
der Flucht vor der deutschen <strong>Wehrmacht</strong><br />
in Südfrankreich unter bis heute<br />
ungeklärten Umständen zu Tode kam,<br />
schrieb nach dem sowjetischen Einmarsch<br />
in Polen am 17. September einen<br />
Artikel über den »russischen Dolchstoß«<br />
in den Rücken der antifaschistischen<br />
Kämpfer gegen <strong>Hitler</strong>s Diktatur. Er endete<br />
mit dem Bannfluch: »Heute stehen<br />
in allen Ländern Millionen auf, sie<br />
recken den Arm und rufen, nach Osten<br />
deutend: ›Der Verräter, <strong>Stalin</strong>, bist Du‹.«<br />
Von ganz anderer Qualität war die<br />
Situation für die in Moskau noch lebenden<br />
Exilkommunisten. Die Mehrzahl<br />
der deutschen Politemigranten<br />
war inzwischen Opfer von <strong>Stalin</strong>s Terror<br />
der späten dreißiger Jahre geworden,<br />
und überlebt hatten nur linientreue<br />
Kader wie Wilhelm Pieck und<br />
Walter Ulbricht, die den Anspruch aufrecht<br />
erhielten, die Kommunistische<br />
Partei Deutschlands weiterhin zu führen.<br />
Auch sie wurden über Nacht von<br />
»Helden des antifaschistischen Kampfes«<br />
zu Gegnern einer in Moskau wohlgelittenen<br />
deutschen Regierung.<br />
Schon am 27. August äußerten Pieck<br />
und Ulbricht für das Zentralkomitee<br />
der KPD:<br />
»Das deutsche Volk begrüßt den<br />
Nichtangriffspakt zwischen der So-<br />
10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
wjetunion und Deutschland, weil es<br />
den Frieden will und in diesem <strong>Pakt</strong><br />
eine erfolgreiche Friedenstat von Seiten<br />
der Sowjetunion sieht. Es begrüßt<br />
diesen <strong>Pakt</strong>, weil er nicht [...] ein Instrument<br />
des Krieges und der imperialistischen<br />
Vergewaltigungen anderer<br />
Völker, sondern ein <strong>Pakt</strong> <strong>zur</strong> Wahrung<br />
des Friedens zwischen Deutschland<br />
und der Sowjetunion ist.«<br />
Nach dem deutschen Überfall auf die<br />
Sowjetunion 1941 wiederum galten<br />
diese Emigranten als Deutsche, die bestenfalls<br />
als Mitarbeiter der politischen<br />
Hauptverwaltung der sowjetischen<br />
Armee für den Propagandaeinsatz<br />
taugten, und der <strong>Pakt</strong> unterlag plötzlich<br />
ganz anderen Deutungen.<br />
Der Streit über das geheime<br />
Zusatzprotokoll im Kalten Krieg<br />
Denn nach dem deutschen Überfall auf<br />
die Sowjetunion im Sommer 1941<br />
musste <strong>Stalin</strong> anders begründen, warum<br />
er 1939 dem faschistischen Aggressor<br />
ein Heranrücken bis an die<br />
Grenzen der Sowjetunion gestattet<br />
hatte. Vor allem die Existenz des geheimen<br />
Zusatzprotokolls wurde jetzt<br />
nachdrücklicher denn je geleugnet.<br />
Viele Menschen in den baltischen Staaten<br />
begrüßten daher die deutsche<br />
<strong>Wehrmacht</strong> 1941 zunächst als »Befreier<br />
vom bolschewistischen Joch« – ohne<br />
zu ahnen, dass <strong>Hitler</strong> selbst sie 1939<br />
<strong>Stalin</strong>s Gewaltherrschaft überantwortet<br />
hatte. Die sowjetische Interpretation<br />
war nun, der Vertrag (den die sowjetische<br />
Seite vorzugsweise »Molotow-<br />
Ribbentrop-Abkommen« nannte, womit<br />
sie die Person <strong>Stalin</strong>s aus dem Spiel<br />
ließ) habe der Sowjetunion fast zwei<br />
Jahre Zeit <strong>zur</strong> Vorbereitung auf den<br />
Krieg verschafft, die sie gut genutzt<br />
habe. Dass ein geheimes Zusatzprotokoll<br />
<strong>Hitler</strong> den Krieg und <strong>Stalin</strong> die Besetzung<br />
der benachbarten Staaten ermöglicht<br />
hatte, das bestritt <strong>Stalin</strong> ein<br />
Leben lang.<br />
Je eine deutschsprachige und eine<br />
russischsprachige Ausfertigung des<br />
Vertrages und des Zusatzprotokolls<br />
waren bei Vertragsabschluss in das Archiv<br />
des Auswärtigen Amtes und in<br />
die russischen Archive gelangt. Die<br />
Ausfertigungen in deutscher Hand<br />
aber wurden bei Kriegsende vernichtet;<br />
von dem Zusatzabkommen exis-
5 Der sowjetische Außenminister Molotow unterzeichnet den sogenannten <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong>-<strong>Pakt</strong> im Moskauer Kreml. Im Hintergrund<br />
stehen der deutsche Außenminister von Ribbentrop und <strong>Stalin</strong>.<br />
tierte lediglich die Mikroverfilmung<br />
einer Kopie. Da die Sowjets ihre Archive<br />
nicht öffneten, konnten sie bis<br />
zum Ende des Kalten Krieges behaupten,<br />
das Zusatzprotokoll habe nie existiert,<br />
die Mikrofilmversion sei eine<br />
westliche Fälschung.<br />
Die westliche Forschung hingegen<br />
akzeptierte die Kopie als echt, weil es<br />
umfangreiche weitere Beweise und<br />
Zeitzeugenaussagen gab, welche die<br />
Echtheit bestätigten. So wurde auch<br />
die Frage, ob es das Zusatzprotokoll je<br />
gegeben habe, Teil der ideologischen<br />
Auseinandersetzung im Kalten Krieg.<br />
Immerhin bewies das Zusatzabkommen<br />
ja, dass die Sowjetunion 1939 ihren<br />
nunmehrigen Verbündeten Polen<br />
den schlimmsten Ausrottungsmaßnahmen<br />
in dessen Geschichte preisgegeben<br />
hatte.<br />
In der Bundesrepublik war in der<br />
Zeit der Entspannung nach 1970 die<br />
Tendenz zu beobachten, allzu scharfe<br />
Angriffe gegen die Sowjetunion wegen<br />
der von ihr verübten Verbrechen als<br />
»friedensfeindlich« und »gegen den<br />
Geist der Entspannung gerichtet« abzulehnen.<br />
In der DDR-Geschichtsschreibung<br />
wurde der <strong>Pakt</strong> weitgehend<br />
verschwiegen, auch wenn das<br />
angesichts der in der bundesrepublikanischen<br />
Forschung gewonnenen Erkenntnisse<br />
schwer fiel. Erst 1989, <strong>zur</strong><br />
Zeit von Glasnost und Perestroika unter<br />
dem reformorientierten KPdSU-Generalsekretär<br />
Michail Gorbatschow,<br />
veröffentlichte auch die sowjetische<br />
Seite den Text des bei ihr erhaltenen<br />
Exemplars; im Dezember desselben<br />
Jahres annullierte der sowjetische Kongress<br />
der Volksdeputierten den Vertrag.<br />
Nun, schon nach dem Fall der<br />
Mauer, erschien auch in der untergehenden<br />
DDR (ausgerechnet im Parteiverlag<br />
der PDS) 1990 eine entsprechende<br />
Dokumentation von Gerhard<br />
Hass. Jetzt konnte niemand mehr daran<br />
zweifeln:<br />
<strong>Hitler</strong> hatte Krieg gewollt – <strong>Stalin</strong><br />
hatte territoriale Gewinne gewollt.<br />
Beide haben Ostmitteleuropa in ver-<br />
brecherischer Weise unter sich aufgeteilt,<br />
über Millionen Menschen Tod<br />
oder unsägliches Unglück gebracht.<br />
Dass <strong>Hitler</strong> nur 23 Monate später die<br />
Sowjetunion in ebenso verbrecherischer<br />
Weise angegriffen hat, ändert<br />
an diesem Befund nichts.<br />
� Winfried Heinemann<br />
Literaturtipps<br />
Ingeborg Fleischhauer, Der <strong>Pakt</strong>. <strong>Hitler</strong>, <strong>Stalin</strong> und die<br />
Initiative der deutschen Diplomatie 1938–1939, Frankfurt<br />
a.M. 1990.<br />
Gerhard Hass, 23. August 1939. Der <strong>Hitler</strong>-<strong>Stalin</strong> <strong>Pakt</strong>,<br />
Berlin 1990.<br />
Jan Lipinsky, Das Geheime Zusatzprotokoll zum deutschsowjetischen<br />
Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939<br />
und seine Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von<br />
1939 bis 1999, Frankfurt a.M. 2004 (= Europäische<br />
Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften,<br />
991).<br />
Donal O’Sullivan, <strong>Stalin</strong>s »Cordon sanitaire«. Die sowjetische<br />
Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens<br />
1939–1949, Paderborn 2003.<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
11<br />
SZ-Photo
Erinnerungskultur in Polen<br />
Der Zweite Weltkrieg nimmt,<br />
mehr als 60 Jahre nach seinem<br />
Ende, immer weniger Platz im<br />
historischen Bewusstsein der europäischen<br />
Völker, vor allem der jungen<br />
Europäer ein. Diese verbreitete Meinung<br />
bestätigten bereits Untersuchungen<br />
des Internationalen Instituts<br />
für Meinungsforschung (IMAS International)<br />
mit Sitz im österreichischen<br />
Linz Mitte der 1990er Jahre. Eine persönliche<br />
Befragung von insgesamt 8000<br />
Personen in Österreich, Deutschland,<br />
Tschechien, Polen, Ungarn und Russland<br />
sollte »Die Meinungsfurchen des<br />
2. Weltkriegs« feststellen, so der Titel<br />
des IMAS-Reports Nr. 9 vom Mai 1995,<br />
sprich: die Spuren, die der Zweite Weltkrieg<br />
im Bewusstsein dieser sechs Nationen<br />
hinterlassen hat. In deutlicher<br />
Abweichung vom allgemeinen Trend<br />
lagen freilich die jungen Polen und<br />
Russen. Bei ihnen wollte jeweils eine<br />
breite Mehrheit von rund 64 Prozent<br />
die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg<br />
bewahren. Jüngste polnische Untersuchungen<br />
untermauern diese Ergebnisse:<br />
Die Mehrheit der Polen hat<br />
noch immer ein sehr emotionales Verhältnis<br />
zu den Kriegsereignissen.<br />
Die Erinnerung an die Vergangenheit<br />
ist ein wichtiges Element des historischen<br />
Bewusstseins und der nationalen<br />
Identität. Das Bild von der Vergangenheit<br />
des eigenen Volkes, das in der allgemeinen<br />
Erinnerung bewahrt wird,<br />
spiegelt sich nicht nur in den inneren<br />
Verhältnissen des jeweiligen Landes<br />
wider, sondern auch in dessen Beziehungen<br />
zu anderen Völkern. Unter den<br />
wichtigsten Ereignissen der tausendjährigen<br />
Geschichte Polens nimmt die<br />
Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg<br />
nach wie vor eine herausragende Stellung<br />
im historischen Bewusstsein der<br />
Bevölkerung ein.<br />
Die Zeit zwischen September 1939<br />
und Mai 1945 stellt eine außergewöhnliche<br />
Zäsur in der polnischen Geschichte<br />
dar.<br />
Die Bevölkerung des Landes musste<br />
eine lange Reihe extremer und leidvoller<br />
Erfahrungen machen: den täglichen<br />
Überlebenskampf, den bewaffneten<br />
Widerstand und das Martyrium<br />
vieler Menschen während der deutschen<br />
Besatzung Polens, Heldentum<br />
ebenso wie moralische Kompromisse,<br />
aber auch das Zerbrechen von Charakteren<br />
und menschliche Niedertracht.<br />
Dazu zählte des Weiteren die Gleichgültigkeit<br />
der Westmächte, die sich bei<br />
ihrem Vorgehen von Grundsätzen der<br />
Realpolitik leiten ließen und schließlich<br />
bereit waren, der Verständigung<br />
mit der UdSSR einen schwachen Bündnispartner<br />
zu opfern. Diese Erfahrungen<br />
haben sich im kollektiven Gedächtnis<br />
der heute Lebenden eingebrannt.<br />
Überlagert von Mythen und Legenden,<br />
werden sie von einer Generation auf<br />
die nächste vererbt.<br />
Vielfältige Erinnerungen<br />
Was die Kriegsgeneration betrifft,<br />
konnte das kollektive Gedächtnis keine<br />
einfache Bündelung der Erinnerung<br />
von Individuen sein. Zu unterschied-<br />
12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Der Zweite Weltkrieg im<br />
Gedächtnis der Polen<br />
5 Der Warschauer Aufstand 1944 ist ein zentraler Teil der polnischen Erinnerung an<br />
den Zweiten Weltkrieg. An den Jahrestagen seines Ausbruchs am 1. August besuchen<br />
zahlreiche Menschen die Gedenkstätten des polnischen Widerstandes gegen<br />
die nationalsozialistische Herrschaft, darunter auch viele junge Polinnen und Polen.<br />
Das Bild zeigt eine Aufnahme des Soldatenfriedhofs im Warschauer Stadtteil<br />
Powa˛zkivom1.August2005.<br />
lich waren die Erfahrungen, die Bewohner<br />
der polnischen östlichen Grenzgebiete<br />
oder Einwohner Zentralpolens<br />
machten, Häftlinge eines deutschen<br />
Konzentrationslagers oder Insassen<br />
eines sowjetischen Lagers, polnische<br />
Partisanen oder Soldaten, die als Angehörige<br />
polnischer Streitkräfte von England<br />
aus bei Tobruk kämpften. Die Erinnerungen<br />
eines Ghettoflüchtlings<br />
standen jenen eines Szmalcownik (etwa:<br />
Kriegsgewinnler) gegenüber, der Juden<br />
gegen Geld verraten hatte. Der<br />
Hauptstädter aus Warschau hatte den<br />
Krieg anders als ein Bauer in einem<br />
von der Welt abgeschnittenen Dorf erlebt.<br />
Unmittelbar nach dem Krieg waren<br />
also eher vielfältige und widersprüchliche<br />
Erinnerungen vorhanden. Im<br />
picture-alliance/dpa/epa pap Pawel Kula
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Laufe der Zeit unterlag dieser Teil des<br />
historischen Bewusstseins jedoch, der<br />
sich darüber hinaus mit Mythen und<br />
Symbolen vermengte, einer Umgestaltung<br />
und Vereinheitlichung, maßgeblich<br />
bestimmt von den kommunistischen<br />
Machthabern, die 45 Jahre lang<br />
eine eigene Geschichtspolitik betrieben<br />
– in Übereinstimmung mit der propagierten<br />
Ideologie des Sozialismus. Auf<br />
diese Weise entstand ein einseitiges<br />
Bild vom Krieg und von der Besatzung.<br />
Die kollektive Erinnerung der Polen<br />
an den Zweiten Weltkrieg scheint nach<br />
über 60 Jahren von zwei miteinander<br />
verwobenen Strängen dominiert zu<br />
werden. Niederlagen und Leiden bilden<br />
den einen. Das gewaltige Ausmaß<br />
der erlittenen Menschenopfer und materiellen<br />
Verluste rücken die Vorstellung<br />
vom Märtyrertum in den Vordergrund.<br />
Der zweite Strang erinnert an<br />
Mut und Heldentum. Er ist verbunden<br />
mit den Kriegsanstrengungen im<br />
Lande und an allen Fronten, an denen<br />
polnische Soldaten »für unsere und<br />
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eure Freiheit«, also auch für die anderer<br />
Europäer kämpften. Hierbei handelt<br />
es sich um eine polonozentrische<br />
Erinnerung. Im Allgemeinen erinnert<br />
man sich daran, dass sich Polen als erstes<br />
Land gegen <strong>Hitler</strong> stellte und dass<br />
es ein Staat ohne »Quislinge«, d.h. ohne<br />
Kollaborateure auf Regierungsebene,<br />
war. In Polen gab es nicht nur eine Widerstandsbewegung,<br />
sondern gleich<br />
einen ganzen, im europäischen Vergleich<br />
einzigartigen Untergrundstaat.<br />
Der Stolz der Polen auf die heldenhaften<br />
Aspekte des Krieges vermischt<br />
sich jedoch mit einer Verbitterung, die<br />
nicht nur auf dem ungeheuren Umfang,<br />
sondern auch auf der Vergeblichkeit<br />
der erlittenen Opfer beruht. Die<br />
Bitterkeit resultiert aus der Art und<br />
Weise, wie der Krieg beendet wurde –<br />
und aus den politischen Folgen für das<br />
zerstörte Polen, nämlich der sowjetischen<br />
Dominanz und dem endgültigen<br />
Verlust der polnischen Ostgebiete, die<br />
1939 von der Sowjetunion besetzt und<br />
annektiert worden waren. Angesichts<br />
fehlender militärischer und politischer<br />
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Erfolge bleibt den Polen nur, sich mit<br />
etwas zu trösten, was sie »moralische<br />
Siege« nennen.<br />
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Das Bild, das am häufigsten in Verbindung<br />
mit dem Zweiten Weltkrieg auftaucht,<br />
ist jedoch mit den deutschen<br />
Todeslagern verbunden. In Umfragen<br />
nach den wichtigsten Ereignissen des<br />
Zweiten Weltkriegs heben die Befragten<br />
diesen Punkt besonders hervor.<br />
Das wichtigste Symbol der Vernichtung<br />
bleibt Auschwitz. Das Wissen<br />
über dieses Lager differiert aber deutlich<br />
in Abhängigkeit vom Alter und<br />
Bildungsgrad der Befragten, wobei das<br />
Bild der Jüngeren und Gebildeteren<br />
näher an der historischen Wahrheit<br />
liegt. Darüber hinaus hat sich die Wahrnehmung<br />
des Lagers im Laufe der Zeit<br />
verändert. Entsprechende Umfragen<br />
zeigen, dass die Manipulationen durch<br />
die Geschichtspolitik der kommunistischen<br />
Machthaber zu Zeiten der Volks-<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
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13
Erinnerungskultur in Polen<br />
5 Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Aufnahme von 2006.<br />
republik Polen zu einer Verzerrung<br />
auch dieses Aspekts der Realität geführt<br />
haben. Viele Jahre lang hat die<br />
Bildungspolitik Auschwitz als Symbol<br />
für das Märtyrertum der polnischen<br />
Nation präsentiert, was an sich keine<br />
Verfälschung war – solange nicht die<br />
Tatsache ausgelassen wurde, dass die<br />
überwiegende Mehrzahl der Vernichtungsopfer<br />
Juden waren.<br />
Die kommunistische Geschichtsdarstellung<br />
diente der Legitimierung der<br />
Regierung; die stalinistischen Verbrechen<br />
blieben dabei außen vor. Betont<br />
wurden das Schreckliche, das die Deutschen<br />
den Polen angetan hatten, sowie<br />
die Tatsache, dass sowjetische Soldaten<br />
dem Bösen ein Ende setzten. Schrittweise<br />
ging das auf die »polnische Nation«<br />
verengte Bild später in eine Darstellung<br />
über, die das Leiden und den<br />
Tod von Bürgern vieler Nationen betonte,<br />
und schließlich in ein universelles<br />
Verständnis, in dessen Licht Auschwitz<br />
das Symbol für Völkermord schlechthin<br />
geworden ist.<br />
Der Warschauer Aufstand<br />
Eine besondere Stellung im kollektiven<br />
Gedächtnis der Polen kommt unverändert<br />
dem Warschauer Aufstand von<br />
1944 zu. Dies erstaunt neben dem<br />
großen Zeitabstand auch deswegen,<br />
weil die kommunistische Propaganda<br />
in der Zeit der Volksrepublik dem Aufstand<br />
gegenüber extrem feindlich ein-<br />
gestellt war. Aus militärischer Sicht<br />
war der Warschauer Aufstand, organisiert<br />
durch den Polnischen Untergrundstaat,<br />
gegen die deutschen Besatzer<br />
gerichtet. Seine strategische Bedeutung<br />
lag jedoch in dem Versuch, durch<br />
die Wiedererrichtung einer legalen<br />
Staatsregierung in der Hauptstadt Polens<br />
einen unabhängigen polnischen<br />
Staat zu errichten, um damit einen von<br />
der Sowjetunion abhängigen Satellitenstaat<br />
zu verhindern und den Vorkriegsverlauf<br />
der Ostgrenze wiederherzustellen.<br />
Der bewaffnete Kampf<br />
der Soldaten der Heimatarmee (Armia<br />
Krajowa) sowie der Einwohner von<br />
Warschau richtete sich gegen die neue<br />
politische Ordnung in Osteuropa:<br />
Diese war bereits auf der Konferenz<br />
von Teheran 1943 festgelegt worden,<br />
nachdem sich die USA und Großbritannien<br />
mit der von <strong>Stalin</strong> geführten<br />
Politik der vollendeten Tatsachen auf<br />
polnischem Gebiet einverstanden erklärt<br />
hatten.<br />
Nach dem Krieg wurde der Aufstand<br />
von 1944 für die Polen zum zentralen<br />
Symbol einer großen Schlacht um die<br />
Freiheit und zum höchsten Zeugnis<br />
des Willens <strong>zur</strong> Selbstbestimmung und<br />
<strong>zur</strong> Bewahrung der Souveränität Polens.<br />
Der Kampf dauerte 63 Tage. Die<br />
sich um den Aufstand rankenden Legenden,<br />
die mit ihm verbundenen<br />
Emotionen und die Streitigkeiten um<br />
die historischen Geschehnisse sind<br />
auch nach 65 Jahren nicht erloschen.<br />
So, wie von den Kommunisten be-<br />
14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Klaus Storkmann<br />
fürchtet, war die Pflege der Erinnerung<br />
an den Aufstand besonders stark in<br />
den Kreisen der Opposition verbreitet<br />
(siehe Kasten: Kampf um die Erinnerung).<br />
Die deutsch-polnischen Nachkriegsbeziehungen<br />
Das in der Gesellschaft existierende Bild<br />
vom Krieg hat eine wesentliche Bedeutung<br />
für das Verhältnis zu anderen Nationen.<br />
In der Zeit der Volksrepublik<br />
waren sowohl die deutsch-polnischen<br />
als auch die polnisch-sowjetischen Beziehungen<br />
ideologisch definiert und<br />
durch Tabus belastet. Auf das deutschpolnische<br />
Miteinander fiel jahrzehntelang<br />
der Schatten des Krieges und der<br />
Besatzung.<br />
Eine echte Diskussion über Annäherung<br />
und Versöhnung zwischen Polen<br />
und Deutschen (siehe Kasten: Die<br />
Grenzfrage) konnte sich erst unter den<br />
Bedingungen der Meinungsfreiheit<br />
und auf der Basis uneingeschränkter<br />
historischer Aufarbeitung entwickeln –<br />
also erst nach der politischen Wende<br />
des Jahres 1989. In den 1990er Jahren<br />
waren Fragen der nationalsozialistischen<br />
Besatzung jedoch zunächst<br />
eher ein Randthema. Besonders intensiv<br />
diskutiert wurden hingegen die<br />
Aussiedlung deutscher Einwohner<br />
nach dem Krieg oder auch das Verhältnis<br />
der Polen zum deutschen Kulturerbe<br />
in den ehemaligen deutschen Ostgebieten.<br />
Polnische Historiker haben<br />
sich ernsthaft mit diesem Problem auseinandergesetzt.<br />
Eine große Zahl von<br />
Artikeln und Monografien dokumentiert<br />
ihre Forschungsergebnisse. Auch<br />
in der polnischen Bevölkerung gab es<br />
ein großes Interesse an der Vergangenheit<br />
der ehemals deutschen Gebiete.<br />
In den letzten Jahren kehrte die Erinnerung<br />
an den Krieg mit den Deutschen<br />
mit unerwarteter Heftigkeit <strong>zur</strong>ück.<br />
Auslöser hierfür waren die Aktivitäten<br />
von Angehörigen einiger deutscher<br />
Vertriebenenorganisationen: Sie forderten<br />
von Polen Vermögen, Häuser<br />
und Grundstücke <strong>zur</strong>ück, die im Zuge<br />
der Vertreibungen enteignet worden<br />
waren. In heißen Diskussionen äußerten<br />
politische Kommentatoren und Publizisten<br />
in Polen die Befürchtung, in<br />
Deutschland finde eine für Polen bedrohliche,<br />
allgemeine Umgestaltung
picture-alliance/ZB<br />
�Kampf um die Erinnerung<br />
5 Denkmal für den Warschauer Aufstand am<br />
plac Krasińskich.<br />
der Erinnerung an die Vergangenheit<br />
insofern statt, als sich die Deutschen<br />
selbst als Kriegsopfer ansehen würden.<br />
Insgesamt freilich sind die Polen<br />
nicht der Meinung, dass die Mehrheit<br />
der Deutschen sich der Verantwortung<br />
für den Zweiten Weltkrieg entzieht.<br />
Ein bedeutender Teil der polnischen<br />
Gesellschaft schätzt die deutschen Gesten<br />
des guten Willens ebenso wie die<br />
ernsthafte Arbeit an der Aufarbeitung<br />
der eigenen Geschichte und meint,<br />
dass die Verständigung und Versöhnung<br />
mit den Deutschen möglich und<br />
notwendig ist.<br />
Die polnisch-russischen<br />
Beziehungen<br />
In den offiziellen polnischen Darstellungen<br />
des Zweiten Weltkrieges zwischen<br />
1945 und 1989 rückten die kom-<br />
In Warschau, dem Zentrum<br />
der politischen und militärischen<br />
polnischen Konspiration,<br />
erinnern heute zahlreiche<br />
Denkmäler, Tafeln,<br />
Kreuze und andere Mahnmale<br />
an den bewaffneten<br />
Kampf der Heimatarmee gegen<br />
die deutschen Besatzer.<br />
Der Kampf um die »richtige«<br />
Erinnerung setzte dabei unmittelbar<br />
nach dem Ende des<br />
Krieges ein. 1945 versuchte<br />
die kommunistische Polnische<br />
Arbeiterpartei noch, Initiativen<br />
von Kriegsveteranen zu<br />
kanalisieren, indem sie zu<br />
Spenden für ein »Denkmal zu Ehren der Helden der Hauptstadt« aufrief. Doch<br />
galt die Heimatarmee, an vorderster Stelle ihre Anführer, in den Augen der kommunistischen<br />
Machthaber als Hort der Reaktion; ihre Anhänger hatten im »neuen<br />
Polen« unter zahlreichen Repressionen zu leiden – bis hin <strong>zur</strong> Deportation in sowjetische<br />
»Umerziehungslager«. Die baulich sichtbare Erinnerung musste sich in<br />
der Hauptstadt des Landes bis in die 1970er Jahre hauptsächlich auf Friedhöfe beschränken;<br />
das konnte die Warschauer Bevölkerung jedoch nicht davon abhalten,<br />
mittels Kranzniederlegungen, Blumen oder Provisorien wie Holztafeln spontan<br />
des Aufstandes zu gedenken. Das erste offizielle größere Denkmal, die 1964 enthüllte<br />
»Nike«, gedachte im Sinne der Behörden dann nicht näher definierter Helden<br />
Warschaus – und nicht der Kämpfer des »ungerechtfertigten«, weil bürgerlichen<br />
Aufstandes von 1944, was in der Bevölkerung und vor allem unter ehemaligen<br />
Kombattanten Unmut hervorrief. Weitere Denkmäler folgten, unter anderem<br />
das 1989 vollendete monumentale Ensemble am plac Krasińskich, wo<br />
Bundespräsident Roman Herzog 1994 sich im Namen des deutschen Volkes für das<br />
den Polen zugefügte Leid entschuldigte. Doch immer griff der Staat entsprechend<br />
ein – von der Auswahl des Platzes bis hin zum Enthüllungsritual. Der Traum vom<br />
Bau eines eigenen Aufstandsmuseums konnte erst nach der politischen Wende<br />
von 1989 verwirklicht werden. Das Museum wurde 2004 eröffnet (weitere Informationen<br />
auf der Website des Museums: http://www.1944.pl). mt<br />
munistischen Machthaber die von<br />
Deutschen verübten Verbrechen bewusst<br />
in den Vordergrund. Wenn man<br />
die damalige, allgemein antideutsche<br />
Stimmung berücksichtigt, war es relativ<br />
einfach, die Haltung von Regierung<br />
und Bevölkerung bei der Einschätzung<br />
der Kriegsgeschichte einem gemeinsamen<br />
Nenner anzunähern. Die polnische<br />
Führung versuchte, in der Bevölkerung<br />
freundschaftliche Gefühle<br />
gegenüber der Sowjetunion als Bezwingerin<br />
des faschistischen Deutschlands<br />
zu erzeugen. Der fundamentale<br />
Widerspruch, der in der Zeit der Volksrepublik<br />
zwischen der offiziellen Geschichtsschreibung<br />
einerseits und den<br />
persönlichen Erfahrungen der meisten<br />
Polen andererseits bestand, war aber<br />
gerade mit den Auseinandersetzungen<br />
Polens mit seinen östlichen Nachbarn<br />
verbunden. Das propagandistische<br />
Motto der »polnisch-sowjetischen<br />
Freundschaft« wurde im Allgemeinen<br />
als Lüge aufgefasst. Im Bewusstsein<br />
der meisten Polen bestand eine Kontinuität<br />
zwischen dem zaristischen Russland<br />
und der UdSSR. Es können viele<br />
Beispiele dafür aufgezählt werden,<br />
welche die Feindseligkeit des Kremls<br />
gegenüber polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen<br />
belegen. Zwei sowjetische<br />
Besatzungen der polnischen<br />
Ostgebiete (zwischen dem 17. September<br />
1939 und dem 22. Juni 1941 sowie<br />
von 1944 und 1945 während der »Befreiung«<br />
dieser Gebiete durch die Rote<br />
Armee) und die mit ihnen verbundenen<br />
Verbrechen, Morde und Deportationen<br />
kamen in offiziellen Geschichtsdarstellungen<br />
nicht vor.<br />
Zweifellos waren und sind antirussische<br />
Gefühle und Ängste in Polen<br />
auch heute keine Seltenheit. Sie werden<br />
durch den Unwillen Russlands<br />
verstärkt, wenigstens eine symbolische<br />
Geste der Wiedergutmachung für die<br />
Leiden der Polen während des <strong>Stalin</strong>ismus<br />
zu zeigen. Als Beispiel hierfür mögen<br />
die fast 19 000 kriegsgefangenen<br />
polnischen Offiziere dienen, die in Lagern<br />
auf dem Gebiet der UdSSR festgehalten<br />
und durch den sowjetischen Geheimdienst<br />
NKWD im Frühjahr 1940<br />
ermordet wurden. In der öffentlichen<br />
Meinung Polens ist dieses Verbrechen<br />
von Moskau immer noch nicht ausreichend<br />
verurteilt worden.<br />
Die Furcht vor dem russischen »Imperialismus«<br />
ist weiterhin lebendiger<br />
Bestandteil der polnischen Wahrnehmung<br />
des großen Nachbarn. Hier<br />
klingt bis heute die Erfahrung der drei<br />
Polnischen Teilungen im 19. Jahrhundert<br />
nach, als die Polen ohne einen eigenen<br />
Staat als Untertanen Russlands,<br />
Deutschlands und Österreichs lebten<br />
und sich vor allem im Zarenreich<br />
starker Unterdrückung ausgesetzt sahen.<br />
Einschlägige Diskussionen in Polen<br />
resultieren dabei außer in einigen<br />
extremen Fällen nicht aus der Absicht,<br />
die Verdienste der sowjetischen Soldaten<br />
bei der Befreiung von der nationalsozialistischen<br />
Besatzung infrage zu<br />
stellen. Die Polen fordern jedoch von<br />
Russland die Anerkennung der Tatsache,<br />
dass das Heldentum der sowjetischen<br />
Soldaten und die politischen<br />
Ziele <strong>Stalin</strong>s zwei unterschiedliche Aspekte<br />
darstellen. Die eigenen – polnischen<br />
– Verluste im Osten, sowohl an<br />
Menschen als auch territorialer Art,<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
1
Erinnerungskultur in Polen<br />
�Die Grenzfrage<br />
Für Polen war das wichtigste Ergebnis des Zweiten Weltkriegs die Zerschlagung<br />
Preußens, sichtbar vor allem in der neuen Grenzziehung: der Oder-Neiße-Linie.<br />
Die Grenzfrage belastete die deutsch-polnischen Beziehungen über viele Jahre.<br />
Von Seiten des »Bruderstaates« DDR war zwar bereits 1950 im Görlitzer Abkommen<br />
die Grenzziehung anerkannt worden, eine echte Annäherung zwischen den<br />
beiden Staaten unterblieb jedoch. Die Bundesrepublik lehnte die Grenze zunächst<br />
strikt ab; Polen sah die »revisionistische BRD« gar als Nachfolger Preußens. Erst in<br />
den 1970er Jahren schlug Westdeutschland mit der Ostpolitik neue Wege ein: In<br />
den Verträgen von Moskau und Warschau (1970) bestätigte Bonn die Unverletzlichkeit<br />
der bestehenden Grenzen in Europa. Auf gesellschaftlicher Ebene war das<br />
Gespräch wesentlich früher gesucht worden, etwa im Brief der polnischen Bischöfe<br />
an die Amtsbrüder in Deutschland aus dem Jahre 1965, wo der Satz geschrieben<br />
steht: »Wir vergeben und bitten um Vergebung«. Dies hat den Prozess<br />
der Normalisierung auf Regierungsebene sowie die Annäherung der deutschen<br />
und polnischen Bevölkerung nicht unwesentlich geprägt. Im Juni 1990 verabschiedeten<br />
Bundestag und DDR-Volkskammer eine gleichlautende Erklärung <strong>zur</strong> Anerkennung<br />
der polnischen Westgrenze. Im November 1990 folgte ein entsprechender<br />
Vertrag zwischen dem vereinten Deutschland und Polen mt<br />
schmerzen zwar weiterhin, bilden aber<br />
heute für die polnische Gesellschaft<br />
insgesamt ein abgeschlossenes Kapitel.<br />
Die Kommunisten haben in gewisser<br />
Weise dazu beigetragen, indem sie<br />
jahrzehntelang die Erinnerung an die<br />
sowjetische Besatzung der polnischen<br />
Ostgebiete unterdrückten.<br />
Polen und Juden<br />
Die Beziehungen zwischen Polen und<br />
Juden während der deutschen Besatzung<br />
zählen zu den schwierigsten Aspekten<br />
im polnischen Bild von der eigenen<br />
Vergangenheit. Die Frage weckt<br />
immer noch viele Emotionen; um sie<br />
herum entstanden zahlreiche Missverständnisse,<br />
insbesondere im Ausland.<br />
Diese reichten – beispielsweise in den<br />
USA – bis hin zu verletzenden und absurden<br />
Behauptungen über eine angebliche<br />
kollektive Mitverantwortung<br />
der Polen, die in dem Vorwurf gipfelten,<br />
die Polen seien »für die Passivität<br />
im Angesicht der Vernichtung der<br />
Juden« verantwortlich.<br />
Tausende polnischer Bürger aus unterschiedlichen<br />
gesellschaftlichen, religiösen<br />
und politischen Gruppen (sogar<br />
aus denen, die antisemitisch gefärbt<br />
waren) haben verfolgten Juden geholfen<br />
und zu ihrer Rettung beigetragen.<br />
Denen, die den Polen Passivität vorwerfen,<br />
ist sicherlich die heldenhafte<br />
Tätigkeit des »Rates für Judenhilfe«<br />
(Rada Pomocy Żydom, Deckname<br />
»Żegota«) nicht bekannt – einer polnischen<br />
Untergrundorganisation, die<br />
als Organ der polnischen Exilregierung<br />
wirkte. Żegota organisierte die Unterstützung<br />
für die Juden in den Ghettos<br />
und half denjenigen, die am nötigsten<br />
Hilfe benötigten.<br />
Es ist nicht zu leugnen, dass es Fälle<br />
gab, wo Polen Schandtaten begingen.<br />
Der Krieg und die deutsche wie die so-<br />
16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
wjetische Besatzung stellten die Menschen<br />
vor extreme Herausforderungen,<br />
demoralisierten sie mitunter oder brachen<br />
ihre Würde und ihren Charakter.<br />
Erst im postkommunistischen, freien<br />
Polen entstanden die Voraussetzungen<br />
und die Bereitschaft, solch besonders<br />
düstere Seiten des Krieges gründlich<br />
und auf wissenschaftlicher Basis zu<br />
untersuchen. Phänomene wie Kollaboration,<br />
Denunziation oder nationalistisch<br />
motivierte Verbrechen waren zuvor<br />
aus dem kollektiven Gedächtnis<br />
ausgeblendet worden. Ein Wendepunkt<br />
war in dieser Hinsicht der Fall<br />
des Städtchens Jedwabne, wo 1941 eine<br />
durch die Deutschen angestiftete<br />
Gruppe polnischer Einwohner Morde<br />
an Juden verübte. Die Kontroversen<br />
und heißen Diskussionen um dieses<br />
Verbrechen haben ganz Polen aufgewühlt.<br />
Der Fall Jedwabne wird mit Sicherheit<br />
nicht vergessen werden.<br />
Mit den Worten des Historikers und<br />
Stereotypenforschers Tomasz Szarota<br />
»kann es sich ein freies und voll souveränes<br />
Volk leisten, die eigene Geschichte<br />
ehrlich aufzuarbeiten. Unter<br />
5 Jedwabne, 10. Juli 2001: Der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski<br />
legt am 60. Jahrestag des Massakers, bei dem Hunderte von Juden durch ihre polnischen<br />
Mitbewohner umgebracht worden waren, einen Kranz nieder.<br />
ullstein bild – Reuters
5 Parlamentäre der Armia Krajowa verhandeln nach mehr als 60 Tagen Kampf und<br />
Entbehrung mit <strong>Wehrmacht</strong>offizieren über die Kapitulation der Widerstandsarmee.<br />
Aufnahme vom 2. Oktober 1944.<br />
Beibehaltung des Stolzes auf lobenswerte<br />
Handlungen, Erfolge und Errungenschaften<br />
ist ein Volk auch in der<br />
Lage, sich zu unwürdigen Taten zu bekennen.«<br />
Diese von Szarota geäußerte<br />
Überzeugung fand ihre Bestätigung in<br />
repräsentativen Umfragen des Jahres<br />
2004: In allen Bildungsschichten gibt es<br />
weitaus mehr Personen, die glauben,<br />
dass man von den Leiden, die anderen<br />
von Polen zugefügt wurden, sprechen<br />
muss, als Menschen, die meinen, man<br />
sollte aufhören, dies zu tun. Dies kann<br />
als Zeugnis dafür gelten, dass die Offenheit<br />
der Gesellschaft insgesamt größer<br />
geworden ist.<br />
Sieg oder Niederlage?<br />
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
beschäftigte viele Polen die Frage, was<br />
die neue Wirklichkeit bringen werde,<br />
ob das Kriegsende wirklich einen Sieg<br />
für Polen bedeute, oder ob das Land in<br />
Wahrheit nicht eher eine Niederlage erlitten<br />
habe. Die Mehrheit der Bevölkerung<br />
erlebte damals mehr als eine Enttäuschung,<br />
was die allgemeine Situation<br />
im Lande und ihre persönlichen<br />
Lebensbedingungen nach dem Krieg<br />
betraf. Bei vielen wuchs das Gefühl des<br />
unverdienten Leidens eines Volkes, das<br />
von seinen Verbündeten verraten worden<br />
sei. Die wirkliche Freude über die<br />
Beendigung des Alptraums von Krieg<br />
und Besatzung im Lager der Sieger<br />
wurde begleitet von einem tiefgehenden<br />
und lähmenden Bewusstsein neuer Ab-<br />
hängigkeit und Unfreiheit. Die Polen<br />
waren »unterlegene Sieger«. Mit diesem<br />
Bewusstsein »betraten« viele die neue<br />
Nachkriegswirklichkeit.<br />
60 Jahre nach Beendigung des Zweiten<br />
Weltkriegs, im April 2005, führte<br />
das Zentrum für die Erforschung der<br />
gesellschaftlichen Meinung (Centrum<br />
Badania Opinii Społecznej, CBOS) eine<br />
Untersuchung durch. Es befragte Polinnen<br />
und Polen, ob ihr Land als Sieger<br />
des Zweiten Weltkriegs betrachtet<br />
werden könne. Die Analyse der Antworten<br />
zeigte, dass die meisten der<br />
Meinung waren, dass Polen zwar zu<br />
den Gewinnern des Krieges gehörte, es<br />
sich aber nicht um einen vollständigen<br />
Sieg gehandelt habe (33 Prozent). 27<br />
Prozent bejahten hingegen die Frage in<br />
vollem Umfang, während immerhin 22<br />
Prozent sie verneinten. Zwei Hauptfaktoren<br />
waren für ein derartig breit<br />
gefächertes Meinungsbild verantwortlich:<br />
der Bildungsgrad und die politischen<br />
Ansichten der Befragten. In die<br />
individuellen Bewertungen floss die<br />
Betrachtung der gesamten Nachkriegszeit<br />
mit ein, und hier vor allem die Einschätzung<br />
der kommunistischen Volksrepublik<br />
Polen: Erachtete ein Befragter<br />
die Volksrepublik als »normalen« polnischen<br />
Staat, dann zählte er Polen <strong>zur</strong><br />
Gruppe der Gewinner. Wurde die<br />
Volksrepublik als Zeit der Zensur und<br />
Unterdrückung abgelehnt, waren zwei<br />
Standpunkte möglich: ein gemäßigter<br />
(»wir waren Sieger, aber...«) oder ein<br />
radikaler (»wir sind als Verlierer aus<br />
dem Krieg hervorgegangen«).<br />
bpk/Benno Wundshammer<br />
Veränderungen in der<br />
Erinnerung nach 1989<br />
Die Erinnerung der Polen an den Zweiten<br />
Weltkrieg hat in den letzten 15 bis<br />
20 Jahren tiefgreifende Veränderungen<br />
erfahren. In Vergessenheit geraten ist<br />
das vereinfachte, von der kommunistischen<br />
Propaganda erzwungene Bild<br />
vom Krieg als ausschließlich deutschpolnischem<br />
Konflikt. Das Wissen über<br />
für die Kommunisten unangenehme<br />
Ereignisse drang im freien Polen nunmehr<br />
ungehindert bis zu all jenen vor,<br />
die bereit waren, die eigene Geschichte<br />
aufzuarbeiten. So gehört heute beispielsweise<br />
zum Allgemeinwissen, dass Polen<br />
im Jahre 1939 von zwei Invasoren –<br />
Deutschland und der UdSSR – angegriffen<br />
wurde, und dass das Ende des<br />
Krieges in keiner Weise die Wiedererlangung<br />
der polnischen Unabhängigkeit<br />
bedeutete. Der Polonozentrismus<br />
im Bild vom Krieg hat sich etwas abgemildert.<br />
Immer öfter verbinden die<br />
Polen die Kriegsereignisse mit einer<br />
Zeit der allgemeinen menschlichen<br />
Tragödie.<br />
Eine unverändert wichtige Stellung<br />
im kollektiven Gedächtnis nehmen die<br />
Stereotypen ein, die sich in den gegenseitigen<br />
polnisch-deutschen, russischpolnischen<br />
oder insbesondere in den<br />
polnisch-jüdischen Wahrnehmungen<br />
widerspiegeln. Dies bedeutet nicht,<br />
dass Anstrengungen, die gemeinsame<br />
Vergangenheit besser zu verstehen, als<br />
sinnlos zu betrachten sind. Fundiertes<br />
historisches Wissen zerstört zwar nicht<br />
falsche Mythen, löscht nicht gleich vorhandene<br />
Stereotypen aus. Es erlaubt jedoch<br />
bei einem bisschen guten Willen,<br />
den Anderen besser zu verstehen.<br />
� Tomasz Kopański<br />
Literaturtipps<br />
Übersetzung aus dem Polnischen:<br />
Sonja Stankowski<br />
Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die <strong>Wehrmacht</strong><br />
in Polen 1939, Frankfurt a.M. 2006.<br />
Bernhard Chiari (Hrsg.), Die polnische Heimatarmee.<br />
Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem<br />
Zweiten Weltkrieg, München 2003 (= Beiträge <strong>zur</strong> Militärgeschichte,<br />
57).<br />
Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens,<br />
3. Aufl., München 2002.<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
1
Seekrieg im Südatlantik<br />
Das Panzerschiff<br />
»Admiral Graf Spee« 1939<br />
Seekrieg im Südatlantik<br />
5 Am 17. Dezember 1939 versenkte Kapitän z.S. Langsdorff sein Schiff.<br />
Am 17. Dezember 1939 ging das<br />
deutsche Panzerschiff »Admiral<br />
Graf Spee« im Rio de la<br />
Plata unter. Angesichts einer militärisch<br />
aussichtslosen Lage hatte sich der<br />
Kommandant, Kapitän <strong>zur</strong> See Hans<br />
Langsdorff, entschieden, lieber sein<br />
Schiff selbst zu versenken, als seine Besatzung<br />
im Gefecht gegen einen weit<br />
überlegenen Gegner um der »Ehre der<br />
deutschen Flagge” willen zu opfern.<br />
Kapitän z.S. Langsdorff<br />
Hans Wilhelm Langsdorff wurde 1894<br />
als Sohn eines Richters in Bergen auf<br />
der Insel Rügen geboren. 1912 trat er in<br />
die Kaiserliche Marine ein und nahm<br />
1916 an Bord des Linienschiffs SMS<br />
»Großer Kurfürst« an der Skagerrak-<br />
Schlacht teil. 1918 in die Reichsmarine<br />
übernommen, avancierte Langsdorff in<br />
den 1920er Jahren zum Kommandeur<br />
einer Torpedoboot-Halbflottille. 1925<br />
wurde er Marineverbindungsoffizier<br />
<strong>zur</strong> Heeresleitung in Berlin. Anfang<br />
18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
der 1930er Jahre diente Langsdorff als<br />
Adjutant des Reichswehrministers General<br />
Kurt von Schleicher, ab 1935 als<br />
1. Admiralstabsoffizier im Stab des<br />
Kommandeurs der Aufklärungsstreitkräfte.<br />
1937 wurde Langsdorff zum<br />
Kapitän <strong>zur</strong> See befördert und im November<br />
1938 Kommandant des Panzerschiffs<br />
»Admiral Graf Spee«.<br />
Ein modernes Schiff<br />
1928 war der Bau eines Nachfolgers für<br />
das veraltete Linienschiff »Preußen«<br />
beschlossen worden. Aufgrund der im<br />
Versailler Vertrag festgelegten Größenbegrenzung<br />
auf 10 000 Tonnen Wasserverdrängung<br />
folgten die Konstrukteure<br />
dabei dem Prinzip: »Stärker als<br />
jedes schnellere und schneller als jedes<br />
stärkere Schiff«. Das Ergebnis war ein<br />
völlig neuer Schiffstyp: Ohne die Bestimmungen<br />
des Versailler Vertrages<br />
zu verletzen, war das Schiff mit seiner<br />
Bewaffnung von sechs 28 cm- und acht<br />
15 cm-Geschützen zum damaligen<br />
Zeitpunkt allen schnelleren Gegnern<br />
artilleristisch überlegen und mit seiner<br />
Höchstgeschwindigkeit von 28 Knoten<br />
(Seemeilen pro Stunde, entsprechen<br />
51,86 km/h) schneller als die meisten<br />
stärkeren Schiffe. Zugleich ermöglichte<br />
der sparsame Dieselantrieb einen großen<br />
Aktionsradius von fast 20 000 Seemeilen<br />
und damit eine Kriegführung<br />
auf den Weltmeeren. 1931 lief der erste<br />
Neubau in Kiel vom Stapel und wurde<br />
auf den Namen »Deutschland« getauft.<br />
Die gelungene Konstruktion wurde im<br />
Ausland halb spöttisch und halb bewundernd<br />
als »Westentaschen Schlachtschiff«<br />
bezeichnet.<br />
Die baugleiche »Admiral Graf Spee«<br />
lief im Juni 1934 in Wilhelmshaven<br />
vom Stapel und wurde im Januar 1936<br />
in Dienst gestellt. Im Mai 1937 vertrat<br />
das Schiff die deutsche Kriegsmarine<br />
bei der Flottenparade im Spithead anlässlich<br />
der Krönung des britischen<br />
Königs George VI. und war anschließend<br />
an der Überwachung der spanischen<br />
Gewässer während des Spanischen<br />
Bürgerkriegs beteiligt.<br />
Archiv des Deutschen Marinebundes
Jagd auf Handelsschiffe<br />
Am 21. August 1939 lief die »Admiral<br />
Graf Spee« von Wilhelmshaven mit<br />
Kurs auf den Südatlantik aus. Kapitän<br />
Langsdorff analysierte zutreffend, dass<br />
etwas Entscheidendes bevorstand, wie<br />
der Eintrag für den 25. August 1939 im<br />
Kriegstagebuch des Panzerschiffs belegt:<br />
»Der 26.8. ist als erster Tag der getarnten<br />
Mobilmachung der Kriegsmarine<br />
befohlen. Gesamteindruck, dass<br />
England und Frankreich Deutschland<br />
den Krieg erklären werden, falls<br />
Deutschland in Polen oder Danzig einmarschiert,<br />
ohne dass die Polen den<br />
Angriff eröffnet haben.«<br />
Fünf Tage später, am 1. September<br />
1939, begann mit dem deutschen Angriff<br />
auf Polen der Zweite Weltkrieg.<br />
Am gleichen Tag traf sich die »Admiral<br />
Graf Spee« zum ersten Mal mit dem<br />
Versorgungsschiff »Altmark« <strong>zur</strong><br />
Treibstoffergänzung auf offener See.<br />
Diese Fähigkeit <strong>zur</strong> Versorgung außerhalb<br />
von Häfen war entscheidend für<br />
den Erfolg der »Admiral Graf Spee«,<br />
denn auf diese Weise konnte der wichtigste<br />
strategische Nachteil der Deutschen<br />
im Seekrieg – der Mangel an<br />
überseeischen Stützpunkten – zumindest<br />
teilweise ausgeglichen werden.<br />
Dreieinhalb Wochen hielt sich die<br />
»Admiral Graf Spee« fernab der Schifffahrtswege<br />
in den Weiten des Südatlantiks<br />
verborgen. Erst am 26. September<br />
erhielt Langsdorff seinen Einsatzbefehl.<br />
Er sollte »größtmöglichste Wir-<br />
5 Das aufgebrachte englische<br />
Handelsschiff »Huntsman«.<br />
kung im Handelskrieg« anstreben, »jedoch<br />
ohne vollen Einsatz.« Das bedeutete,<br />
Langsdorff sollte so viele Handelsschiffe<br />
wie möglich versenken,<br />
Gefechten mit Kriegsschiffen aber aus<br />
dem Wege gehen. Für diese Aufgabe<br />
war das Panzerschiff dank seiner hohen<br />
Geschwindigkeit und großen<br />
Reichweite ideal geeignet, und so<br />
machte die »Admiral Graf Spee« in den<br />
folgenden vier Monaten vor Südamerika,<br />
im Südatlantik und im Indischen<br />
Ozean Jagd auf feindliche Handelsschiffe.<br />
Es gelang der »Admiral Graf Spee«,<br />
neun britische Handelsschiffe mit insgesamt<br />
50 089 BRT zu versenken, ohne<br />
dass ein einziger feindlicher Seemann<br />
sein Leben verlor. Das erste Opfer des<br />
deutschen Panzerschiffs war der Frachter<br />
»Clement«, der am 30. September in<br />
der Nähe der brasilianischen Küste<br />
aufgebracht und versenkt wurde. Zuletzt<br />
versank am 7. Dezember der Getreidefrachter<br />
»Streonshall«. Obgleich<br />
es einigen der Schiffe geglückt war, vor<br />
der Aufbringung Notrufe abzusetzen,<br />
entkam das Panzerschiff allen Verfolgern.<br />
Zur Tarnung hatte Langsdorff die Silhouette<br />
seines Schiffes verändert und<br />
zudem häufig sein »Jagdgebiet« gewechselt.<br />
So gelang es ihm, nicht nur<br />
der Entdeckung zu entgehen, sondern<br />
zugleich auch möglichst viel Unruhe zu<br />
stiften. In seinem Erinnerungen zollte<br />
Winston S. Churchill dem geschickten<br />
Vorgehen Langsdorffs Respekt: »Die<br />
Archiv des Deutschen Marinebundes<br />
›Graf Spee‹ wurde kühn und unternehmungslustig<br />
geführt. Ihre Taktik war,<br />
irgendwo kurz zu erscheinen, ein<br />
Opfer <strong>zur</strong> Strecke zu bringen und dann<br />
wieder in der Unendlichkeit des Ozeans<br />
zu verschwinden.« Noch wichtiger als<br />
der Schaden, den der Tonnageverlust<br />
dem Feind zufügte, war der strategische<br />
Wert des Unternehmens, denn<br />
durch die Jagd auf den einsamen Wolf<br />
wurde eine große Zahl von Kriegsschiffen<br />
gebunden, die anderswo<br />
ebenso dringend benötigt wurden.<br />
Nicht umsonst nannte Churchill diese<br />
Wochen »sorgenvoll”.<br />
Gefecht vor dem Rio de la Plata<br />
Vor der geplanten Rückkehr nach<br />
Deutschland wollte Langsdorff noch<br />
ein letztes Mal vor der Küste Südamerikas<br />
nach Beute Ausschau halten. Am<br />
13. Dezember 1939 gelang es jedoch<br />
der britischen Kampfgruppe »Force<br />
G«, die »Admiral Graf Spee« in Küstennähe<br />
vor der Mündung des Rio de<br />
la Plata zu stellen. Das von Kommodore<br />
Henry Harwood geführte Abfanggeschwader<br />
bestand aus dessen<br />
Flaggschiff, dem Leichten Kreuzer<br />
HMS »Ajax«, dem Schweren Kreuzer<br />
HMS »Exeter« sowie dem neuseeländischen<br />
Leichten Kreuzer HMNZS<br />
»Achilles«.<br />
Als Langsdorff am frühen Morgen<br />
die Sichtung von drei britischen Kriegsschiffen<br />
gemeldet wurde, dachte er, le-<br />
5 Kapitän z.S. Hans Wilhelm Langsdorff<br />
(1894–1939).<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
19
Seekrieg im Südatlantik<br />
diglich einen Leichten Kreuzer und<br />
zwei Zerstörer vor sich zu haben. Das<br />
war zu dieser Zeit kein ungewöhnliches<br />
Versehen auf hoher See: 1941 verwechselten<br />
etwa die britischen Schiffe<br />
»Hood« und »Prince of Wales« im Gefecht<br />
mit der »Bismarck« das Schlachtschiff<br />
mit dem Schweren Kreuzer<br />
»Prinz Eugen« – ein Fehler, der sich für<br />
die »Hood” als tödlich erweisen sollte.<br />
Da die Briten zwischen ihm und der<br />
offenen See standen, versuchte Langsdorff,<br />
die Durchfahrt zu erzwingen.<br />
Um 6.17 Uhr eröffnete die »Admiral<br />
Graf Spee« das Feuer. Den 28 cm-<br />
Kanonen des Panzerschiffs waren die<br />
15 cm-Geschütze von Harwoods Leichten<br />
Kreuzern an Reichweite und<br />
Durchschlagskraft weit unterlegen.<br />
Deshalb entschloss sich der britische<br />
Kommodore, die Schiffe seines Geschwaders<br />
getrennt angreifen zu lassen.<br />
Unterstützt von der »Achilles« attackierte<br />
er mit seinem Flaggschiff<br />
»Ajax« das deutsche Panzerschiff von<br />
Osten her, während die »Exeter« mit<br />
ihren schwereren 20 cm-Geschützen<br />
aus Richtung Süden anlief. Dadurch<br />
wurde die »Admiral Graf Spee« gezwungen,<br />
ihr Feuer zu verteilen. Für<br />
sein brillantes Manöver wurde Har-<br />
20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
wood am folgenden Tag die Ritterwürde<br />
verliehen und außer der Reihe<br />
zum Konteradmiral befördert. Langsdorff<br />
führte sein Schiff wie einen Zerstörer.<br />
Wiederholt änderte er den Kurs,<br />
sodass seine Geschützführer gezwungen<br />
waren, sich immer wieder neu auf<br />
ihre Gegner einzuschießen. Dieses Vorgehen<br />
ist später kritisiert worden. Möglicherweise<br />
hätte Langsdorff bei einem<br />
anderen Kurs seine artilleristische<br />
Überlegenheit voll zum Tragen und die<br />
drei Gegner aus der Distanz erfolgreich<br />
niederkämpfen können.<br />
Das deutsche Panzerschiff erhielt insgesamt<br />
20 Treffer. 36 Seeleute wurden<br />
getötet, 60 verwundet. Obgleich die<br />
britischen Schiffe ebenfalls schwer beschädigt<br />
wurden, zwangen sie Langsdorff<br />
schließlich zum Rückzug. Gegen<br />
7.30 Uhr löste sich die »Admiral Graf<br />
Spee« aus dem Gefecht und nahm Kurs<br />
auf den neutralen Hafen Montevideo<br />
am Rio de la Plata in Uruguay. Langsdorff<br />
hatte den Hafen auf Rat seines<br />
Navigationsoffiziers ausgewählt, augenscheinlich<br />
ohne zu bedenken, dass er<br />
und sein Schiff weiter flussaufwärts im<br />
deutschfreundlichen Argentinien sehr<br />
viel freundlicher aufgenommen worden<br />
wären.<br />
Das Ende vor Montevideo<br />
In Montevideo wollte Langsdorff die<br />
Gefechtsschäden beheben. Kurz nach<br />
Mitternacht lief die »Admiral Graf<br />
Spee« in den Hafen ein. Die an Bord<br />
befindlichen Seeleute der versenkten<br />
britischen Handelsschiffe wurden freigelassen<br />
und die 36 deutschen Gefallenen<br />
unter großer Anteilnahme der<br />
Bevölkerung beigesetzt. Auch die Offiziere<br />
und Besatzungen der von der<br />
»Admiral Graf Spee« versenkten britischen<br />
Schiffe erwiesen den Toten die<br />
letzte Ehre.<br />
Nach dem Völkerrecht hätte das<br />
deutsche Kriegsschiff nur für 24 Stunden<br />
in dem neutralen Hafen bleiben<br />
dürfen. Obgleich der Präsident Uruguays<br />
die Frist durch einen Erlass auf<br />
72 Stunden verlängerte, änderte diese<br />
Geste angesichts der schweren Schäden<br />
nicht viel. Vergeblich versuchten<br />
deutsche Diplomaten, die Frist erneut<br />
zu verlängern. Obwohl die »Admiral<br />
Graf Spee« noch kampffähig war, erschien<br />
es mehr als fraglich, ob das<br />
Schiff aufgrund der Treffer im Bug und<br />
vor allem in der Antriebsanlage die<br />
Fahrt <strong>zur</strong>ück nach Deutschland schaffen<br />
würde. Ebenso hatte einer der Tref-<br />
Archiv des Deutschen Marinebundes
fer Küche und Bäckerei des werftreifen<br />
Schiffes zerstört, wodurch die Versorgung<br />
der Besatzung so gut wie unmöglich<br />
geworden war. Unterdessen hatten<br />
die britische Propaganda die Deutschen<br />
geschickt in die Irre geführt. Es<br />
gelang den Briten, den Deutschen und<br />
Kapitän Langsdorff Glauben zu machen,<br />
dass das britische Blockadegeschwader<br />
wesentlich größer sei als nur<br />
die drei Schiffe Konteradmiral Harwoods.<br />
Verstärkt durch den Schweren<br />
Kreuzer »Cumberland«, bewachte er<br />
mit den angeschlagenen Leichten<br />
Kreuzern »Ajax« und »Achilles« seine<br />
waidwund geschossene Beute im<br />
Hafen von Montevideo, während die<br />
schwer beschädigte »Exeter« <strong>zur</strong> Reparatur<br />
Kurs auf die Falkland-Inseln genommen<br />
hatte. Die eilig herbeigerufene<br />
Verstärkung, bestehend aus dem<br />
Flugzeugträger »Ark Royal« und fünf<br />
weiteren Kriegsschiffen, war dagegen<br />
noch mehrere Tage entfernt.<br />
Angesichts der Gefechtsschäden seines<br />
Schiffes hätte aber auch die Kenntnis<br />
der wahren Situation auf der britischen<br />
Seite die Lage für Kapitän<br />
Langsdorff nicht wesentlich geändert.<br />
Ihm blieben nur drei Möglichkeiten:<br />
Die »Admiral Graf Spee« an die Uru-<br />
guayer zu übergeben und sich mit seiner<br />
Besatzung internieren zu lassen,<br />
sein Schiff zu versenken oder kämpfend<br />
unterzugehen. Auf Langsdorffs<br />
Bitte um Instruktionen antwortete das<br />
Oberkommando der Kriegsmarine<br />
ausweichend: Internierung käme nicht<br />
in Frage, aber ob er kämpfen oder das<br />
Schiff versenken wolle, müsse er selbst<br />
entscheiden. Doch anstatt sich wie von<br />
<strong>Hitler</strong> und Großadmiral Erich Raeder,<br />
dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine,<br />
erhofft, auf einen sinnlosen Kampf<br />
einzulassen, der vielleicht der »Flaggenehre«<br />
Genüge getan, aber zweifellos<br />
mit der Vernichtung seines Schiffs und<br />
dem Tod seiner Crew geendet hätte,<br />
entschloss sich Langsdorff für die<br />
Selbstversenkung. Er hatte sich damit<br />
für das Überleben seiner Besatzung<br />
entschieden – angesichts der aussichtslosen<br />
Situation ein humaner, aber für<br />
den Kommandanten eines Kriegsschiffs<br />
dennoch schwerer Entschluss.<br />
Kurz vor Ablauf der 72-Stunden-Frist<br />
verließ die »Admiral Graf Spee« am 17.<br />
Dezember 1939 um 17.30 Uhr mit einer<br />
Notmannschaft an Bord den Hafen von<br />
Montevideo. Das Panzerschiff verfügte<br />
noch über genug Munition für 80 Minuten<br />
Kampf. Doch statt die feind-<br />
5 Makabres Wahrzeichen Montevideos: das ausgebrannte Wrack der »Admiral Graf<br />
Spee« war noch viele Jahre sichtbar.<br />
Archiv des Deutschen Marinebundes<br />
lichen Schiffe zu zerstören, zerrissen<br />
die Granaten und Torpedos den Rumpf<br />
des eigenen Schiffs. Es sank auf acht<br />
Meter Wassertiefe. Tagelang wüteten<br />
schwere Brände an Bord, das ausgebrannte<br />
Wrack war noch viele Jahre<br />
später sichtbar – gleichsam als makabres<br />
Wahrzeichen Montevideos.<br />
Eine bittere Ironie des Schicksals: gut<br />
25 Jahre früher, am 8. Dezember 1914,<br />
war der Namenspatron des Schiffes,<br />
Vizeadmiral Maximilian Reichsgraf<br />
von Spee, mit seinem Geschwader bei<br />
den Falkland-Inseln von einem überlegenen<br />
britischen Verband versenkt<br />
worden.<br />
Nach der Selbstversenkung seines<br />
Schiffes war Langsdorff mit seiner gesamten<br />
Besatzung nach Buenos Aires<br />
in die argentinische Internierung gegangen.<br />
Um, wie er zu seiner Besatzung<br />
sagte, »der Welt die deutsche<br />
Ehre beweisen« – und um zu beweisen,<br />
dass er nicht aus Feigheit gehandelt<br />
hatte –, erschoss sich der Kapitän zwei<br />
Tage später. Am Morgen des 20. Dezember<br />
fand ihn sein Adjutant in voller<br />
Uniform auf der Reichskriegsflagge<br />
liegend. Langsdorff wurde auf dem<br />
deutschen Friedhof von Buenos Aires<br />
unter großer Anteilnahme der Bevölkerung<br />
beigesetzt.<br />
Lange Zeit wurde Kapitän Langsdorff<br />
von seinen Gegnern mehr gewürdigt<br />
als von seinen eigenen Landsleuten.<br />
So erhob Raeder nach dem Krieg<br />
in seinen Schriften den Vorwurf, der<br />
Verlust des Schiffes sei von Langsdorff<br />
verursacht worden, weil er gegen seine<br />
Befehle verstoßen habe. Dagegen würdigte<br />
ihn Churchill voller Hochachtung<br />
als einen »hervorragenden Offizier«.<br />
Bis heute gilt Langsdorff den<br />
Briten als ehrenhafter und würdiger<br />
Gegner – aber was galten <strong>Hitler</strong> und<br />
seinen Admiralen schon Anstand und<br />
Menschlichkeit.<br />
� Jann M. Witt<br />
Literaturtipp<br />
F.W. Rasenack, Panzerschiff »Admiral Graf Spee«, Hamburg<br />
1999.<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
21
Service<br />
Eine Woche bevor der Vertrag von<br />
Versailles den Ersten Weltkrieg<br />
formell beendete, wurden im<br />
Norden Schottlands 74 Einheiten der<br />
deutschen Hochseeflotte von ihren Besatzungen<br />
fast vollständig versenkt: 50<br />
Torpedoboote, acht Kleine Kreuzer,<br />
fünf Große Kreuzer und elf Linienschiffe<br />
– insgesamt 400 000 Tonnen<br />
Schiffsmaterial, nahezu der ganze Stolz<br />
der Kaiserlichen Marine. Sieben Monate<br />
hatten die Schiffe in der von den<br />
Orkney-Inseln gebildeten Bucht vor<br />
Anker gelegen.<br />
Während die bis 1917 gefährlich<br />
schlagkräftigen U-Boote an die gegnerischen<br />
Mächte ausgeliefert wurden,<br />
verlangte der Waffenstillstandsvertrag<br />
vom 11. November 1918 die Internierung<br />
der großen Überwasserschiffe. In<br />
den Heimathäfen entwaffnet, brach die<br />
Flotte kurz darauf von Wilhelmshaven<br />
in einer 50 Kilometer langen Linie zu<br />
ihrer letzten Fahrt auf. Auf deutscher<br />
Seite glaubte man noch, die Schiffe<br />
würden als ein »vorübergehendes<br />
Pfand« nach dem Friedenschluss <strong>zur</strong>ückkehren.<br />
Chef des Überführungs-<br />
und später des Internierungsverbands<br />
Scapa Flow war Konteradmiral Ludwig<br />
von Reuter. Zunächst fuhren die<br />
Schiffe zum Firth of Forth vor Edinburgh,<br />
wo die Briten mit großem Flot-<br />
Das historische Stichwort<br />
tenaufgebot sie erwarteten: 90 000<br />
Mann auf 370 Schiffen, für die Deutschen<br />
ein maritimer Spießrutenlauf.<br />
Admiral David Beatty wollte mit seiner<br />
Siegesparade einen Ausgleich für<br />
die ausgebliebene Vernichtungsschlacht<br />
schaffen. Die Royal Navy hatte<br />
schließlich den Krieg mit der wirksamen,<br />
dabei aber wenig spektakulären<br />
Fernblockade gewonnen, und die<br />
Kaiserliche Marine hatte sie nicht verhindern<br />
können. An diesem 21. November<br />
1918 mussten die Deutschen<br />
ihre Kriegsflaggen einholen. Danach<br />
überprüften britische und amerikanische<br />
Offiziere, ob die Entwaffnung tatsächlich<br />
erfolgt war. Sie wurden von<br />
lässigen deutschen Soldatenräten und<br />
Matrosen beobachtet, die vergeblich<br />
auf den Schulterschluss mit den gegnerischen<br />
Mannschaften hofften.<br />
Ab dem folgenden Tag ging es weiter<br />
nach Scapa Flow, dem Stützpunkt der<br />
»Grand Fleet«. Von hier aus hatte sie<br />
während des Krieges ihre Fernblockade<br />
unterhalten und die Kaiserliche<br />
Marine zu weitgehender Untätigkeit<br />
verurteilt.<br />
Der Internierungsort bot wenig Abwechslung.<br />
Außer ein paar Häusern<br />
und Baracken, Schafen, Möwen- und<br />
Kormoranschwärmen gab es nicht viel<br />
zu sehen. Die Briten umkreisten mit<br />
22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Scapa Flow,<br />
21. Juni 1919<br />
5 Feuerbereite britische Kriegsschiffe (li.) begleiten Schiffe der deutschen Hochseeflotte <strong>zur</strong> Internierung nach Scapa Flow.<br />
Dampfern den Verband und hielten ein<br />
Wachgeschwader in Bereitschaft. Der<br />
Landgang war den deutschen Besatzungen<br />
verwehrt. Von 20 000 Mann Besatzung<br />
kehrten während der folgenden<br />
Monate 15 000 in die Heimat<br />
<strong>zur</strong>ück. Die restlichen 5 000 hielten die<br />
Fahrtbereitschaft aufrecht. Außer den<br />
nötigsten Reinigungs- und Wartungsarbeiten<br />
gab es nicht viel zu tun. Die<br />
Briten lieferten Wasser und Kohle auf<br />
Rechnung; Proviant kam aus Deutschland,<br />
täglich eintausend Brote und wenig<br />
frische Lebensmittel. Die Besatzungen<br />
angelten kleine Fische und<br />
hungerten mal mehr, mal weniger. Der<br />
direkte Funkverkehr mit der Heimat<br />
war untersagt. Die Internierung wurde<br />
de facto <strong>zur</strong> Kriegsgefangenschaft. Um<br />
den Jahreswechsel 1918/19 herum kam<br />
es zu Unruhen, ausgehend vom Flaggschiff<br />
»Friedrich der Große«. Gemäßigte<br />
Mannschaften schützten von Soldatenräten<br />
»entlassene« Offiziere. Rollschuhfahren<br />
auf dem Achterdeck war<br />
eine der harmloseren Methoden, Vorgesetzte<br />
zu ärgern. Umgekehrt provozierte<br />
die Mannschaft des Kleinen<br />
Kreuzers »Bremse« die anderen Schiffe<br />
damit, dass sie am 27. Januar den Geburtstag<br />
Wilhelms II. in Paradeuniform<br />
(»Anzug blau«) feierte. Konteradmiral<br />
von Reuter, auch er unbewaffnet, be-<br />
Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl
5 Blick auf die internierten Einheiten, Aufnahme vom 10. Mai 1919 mit zeitgenössischer<br />
Beschriftung.<br />
schrieb seine Situation als »ein Spiel<br />
mit sieben Kugeln«. Die reichsweite<br />
Neuregelung der Kommandogewalt,<br />
die den Soldatenräten am 19. Januar<br />
1919 die Macht aus den Händen nahm,<br />
wirkte sich in Scapa Flow kaum aus.<br />
Eine allgemeine Beruhigung der inneren<br />
Lage trat erst mit der zweiten<br />
großen Mannschaftsreduzierung kurz<br />
vor der Versenkung ein.<br />
In Versailles einigten sich die Siegermächte<br />
auf eine drastische Reduzierung<br />
der deutschen Marine und forderten<br />
die Übergabe der internierten<br />
Flotte und weiterer Schiffe. Als am 11.<br />
Mai in Scapa Flow die Friedensbedingungen<br />
bekannt wurden, beschloss<br />
Reuter, dem allgemeinen Ehrenkodex<br />
entsprechend, kein Schiff in gegnerische<br />
Hände zu geben. Noch am 21.<br />
Juni nahm er aufgrund der letzten<br />
Nachrichten aus Berlin vom 17. Juni<br />
an, dass die Reichsregierung die Friedensbedingungen<br />
ablehnen und der<br />
Kriegszustand binnen kurzem wieder<br />
eintreten werde. Zum ersten Mal seit<br />
sieben Monaten liefen zudem die bri-<br />
6 Das Linienschiff »Bayern« wird von der<br />
Besatzung versenkt.<br />
Süddeutsche Zeitung Photo/Scherl<br />
tischen Schiffe aus Scapa Flow zu Torpedoübungen<br />
auf die offene See aus.<br />
Der 21. Juni 1919 war ein strahlend<br />
schöner Tag. Reuters mit Signalflaggen<br />
übermittelter Versenkungsbefehl lautete<br />
»Paragraph 11 bestätigen«. Wie<br />
schon bei dem in den letzten Kriegstagen<br />
unternommenen Versuch der Flottenführung,<br />
mit einem Vorstoß zu einer<br />
letzten Schlacht zu gelangen, stand<br />
im Hintergrund die Hoffnung auf ein<br />
»Stirb und Werde«, auf eine neue deutsche<br />
»Zukunftsflotte«. Ein Ausflugsdampfer<br />
mit 400 Schulkindern umkreiste<br />
die Liegeplätze der deutschen<br />
Flotte, als sich gegen 12 Uhr Mittag die<br />
ersten Schiffe <strong>zur</strong> Seite neigten, nachdem<br />
Flutventile sowie Kondensator-<br />
und Torpedorohröffnungen aufgeschraubt<br />
worden waren. Rund 1000<br />
Mann bestiegen alle verfügbaren Boote,<br />
als Zivilisten aus den nahen Ortschaften,<br />
teilweise auch die <strong>zur</strong>ückkehrenden<br />
britischen Bewacher, hilflos auf die<br />
Schiffe zu schießen begannen. 12.16 Uhr<br />
war »Friedrich der Große« als erstes Linienschiff<br />
gesunken. Auf der »Seydlitz«<br />
ertönte ein Hornruf nach dem alten<br />
Reiterlied, »Wohl auf Kameraden,<br />
auf’s Pferd, auf’s Pferd!« Als letztes der<br />
großen Schiffe sank die »Hindenburg«<br />
auf ebenem Kiel, sodass die Aufbauten<br />
noch viele Jahre aus dem Wasser<br />
ragten. Das Grollen und Tosen des Untergangs,<br />
das Reißen der Ankerketten,<br />
die aufgeregten Schulkinder, die Rufe<br />
und Schüsse, all das machte einen gewaltigen<br />
Lärm. Bergungsversuche<br />
zeigten wenig Erfolg, als einziges<br />
Fotos: ullstein bild<br />
5 Das gehobene Linienschiff »König<br />
Albert« wird 1936 <strong>zur</strong> Verschrottung<br />
geschleppt.<br />
großes Schiff wurde die »Baden« am<br />
Ufer auf Grund gesetzt. Neun deutsche<br />
Soldaten starben infolge des britischen<br />
Feuers, niemand ertrank. Die Besatzungen<br />
des Internierungsverbandes wurden<br />
vom Wachgeschwader aufgenommen<br />
und in die Kriegsgefangenschaft<br />
überführt, aus der sie am 31. Januar<br />
1920 nach Wilhelmshaven <strong>zur</strong>ückkehrten.<br />
Trotz der neun Toten war die Versenkung<br />
der wilhelminischen Flotte nicht<br />
das nächtlich-düstere Todesfanal, das<br />
der expressionistische Dichter Reinhard<br />
Goering in seinem 1920 uraufgeführten<br />
Drama »Scapa Flow« aus ihr<br />
gemacht hat. Rückblickend betrachtet,<br />
lösten Briten und Deutsche den Konflikt<br />
um die Hochseeflotte fast schon in<br />
stillschweigendem Einvernehmen.<br />
Vieles spricht dafür, dass die Briten die<br />
Aktion weitgehend tolerierten, weil sie<br />
sich der schwierigen Verteilungsfrage<br />
entledigen wollten. Ob sie sich abgesprochen<br />
haben oder nicht: Deutsche<br />
und Briten konnten im Zuge der Versenkung<br />
voreinander das Gesicht wahren.<br />
Was die Siegermächte nicht daran<br />
hinderte, den Deutschen <strong>zur</strong> Strafe<br />
weiteres Schiffs- und Hafenmaterial als<br />
Reparationsleistungen abzuverlangen.<br />
Die meisten Wracks wurden zwischen<br />
den beiden Weltkriegen mit spektakulärem<br />
Aufwand geborgen und verschrottet.<br />
Die sieben bis heute in der<br />
Bucht verbliebenen Einheiten erfreuen<br />
sich großer Beliebtheit unter marinebegeisterten<br />
Sporttauchern.<br />
Andreas Krause Landt<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009 23
Service<br />
Historisch-geografisches<br />
Informationssystem<br />
Welche Staaten umfasste der Deutsche<br />
Bund? Wieviele Exklaven hatte das<br />
Großherzogtum Baden? Wie hoch war<br />
die Bevölkerungsdichte pro Quadratmeter<br />
in der preußischen Provinz Brandenburg?<br />
Wie lange existierte die<br />
Landgrafschaft Hessen-Homburg? Wieviel<br />
Stahl wurde im Königreich Hannover<br />
produziert?<br />
http://www.hgis-germany.de<br />
All diese und viele weitere Fragen<br />
lassen sich dank des Informationssystems<br />
»HGIS Germany« per Mausklick<br />
beantworten. HGIS Germany ist ein<br />
Projekt des Instituts für Europäische<br />
Geschichte Mainz und des Instituts für<br />
Raumbezogene Informations- und Messtechnik<br />
der Fachhochschule Mainz in<br />
Kooperation mit dem Deutschen Historischen<br />
Museum in Berlin. Hinter der<br />
Abkürzung HGIS verbirgt sich ein<br />
multimediales Informationssystem,<br />
das die historisch-geografische Entwicklung<br />
der Staaten des Deutschen<br />
Bundes, des Norddeutschen Bundes<br />
sowie des Deutschen Reiches von 1820<br />
bis 1914 abbildet. Dieses Informationssystem<br />
kann kostenfrei im Internet aufgerufen<br />
werden und bietet nicht nur<br />
geografische Daten, sondern auch eine<br />
Vielzahl weiterer, historisch relevanter<br />
Informationen, wie etwa Bevölkerungszahlen,<br />
Wirtschaftsstatistiken und dynastische<br />
Verbindungen. Mittels interaktiver<br />
Zeitreise können die Entwicklung<br />
der Staats- und Verwaltungsgrenzen,<br />
der politischen, wirtschaftlichen<br />
und dynastischen Verhältnisse in und<br />
zwischen den Staaten sowie Daten <strong>zur</strong><br />
Bevölkerungsentwicklung und <strong>zur</strong> Industrialisierung<br />
abgerufen werden.<br />
Medien online/digital<br />
24 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Neben der Zeitreise bietet die Startseite<br />
von HGIS Germany einen direkten<br />
Zugriff auf thematische Karten,<br />
multimediale Staatenbeschreibungen<br />
und ein elektronisches Begleitkompendium<br />
zum historisch-geografischen Informationssystem.<br />
Die thematischen<br />
Karten bilden territoriale Veränderungen<br />
sowie dynastische und statistische<br />
Entwicklungen ab. Die multimedialen<br />
Staatenbeschreibungen behandeln<br />
nicht nur einzelne Länder,<br />
sondern auch deren Provinzen und Regierungsbezirke<br />
sowie die politischen<br />
und wirtschaftlichen Staatenbünde<br />
und können als Textdokumente ausgedruckt<br />
werden. Für die Nutzung von-<br />
HGIS Germany wird eine DSL-Verbindung<br />
empfohlen.<br />
Schlacht bei Minden<br />
mn<br />
Am 1. August 1759 traf vor den Toren<br />
der damals preußischen Festung Minden<br />
ein alliiertes Heer unter der Führung<br />
des Herzogs Ferdinand von<br />
Braunschweig auf die mit den Sachsen<br />
verbündeten Franzosen. Die alliierten<br />
Truppen stammten aus Preußen, Großbritannien,<br />
Hannover, Hessen-Kassel,<br />
Braunschweig, Sachsen-Coburg-Gotha<br />
und Schaumburg-Lippe. Trotz ihrer<br />
zahlenmäßigen Unterlegenheit konn-<br />
ten sie die französisch-sächsische<br />
Streitmacht unter dem Kommando des<br />
Marschalls Contades besiegen. Entscheidend<br />
für den Ausgang der<br />
Schlacht war ein Angriff britischer und<br />
hannoverscher Infanteriebataillone auf<br />
den linken Flügel der massiert aufgestellten<br />
französischen Kavallerie, der<br />
das Zentrum der französischen<br />
Schlachtordnung ins Wanken brachte.<br />
Gegen alle taktischen Regeln der Kriegführung<br />
des 18. Jahrhunderts griff hier<br />
die Infanterie mit fliegenden Fahnen<br />
und klingendem Spiel die gegnerische<br />
Kavallerie auf offenem Feld an.<br />
Der unerwartete Sieg der Alliierten<br />
hatte weitreichende Folgen: Durch die<br />
verlorene Schlacht bei Minden und die<br />
Niederlagen bei Quebec und Quiberon<br />
wurde Frankreich nachhaltig geschwächt,<br />
sodass Großbritannien <strong>zur</strong><br />
Weltmacht aufsteigen konnte. Die französische<br />
Monarchie sollte sich von diesem<br />
Schlag bis zum Ausbruch der<br />
Französischen Revolution nicht mehr<br />
erholen. Für Preußen war der Sieg bei<br />
Minden weniger bedeutsam, da er die<br />
Niederlagen bei Kay, Kunersdorf und<br />
Maxen nicht aufwiegen konnte.<br />
Die Stadt Minden gedenkt dieses historischen<br />
Ereignisses, das sich 2009<br />
zum 250. Mal jährt, mit einem vielfältigen<br />
Programm: Vorträge, Ausstellungen,<br />
Führungen, Theater-, Kunst- und<br />
Musikveranstaltungen werden angeboten.<br />
Alle Informationen zum Jubiläums-<br />
http://www.schlacht-bei-minden.de
digital<br />
1. August wird die Stadt dazu in das<br />
programm findet der historisch interessierte<br />
Besucher unter www.schlachtbei-minden.de.<br />
Ein Highlight im Programm<br />
ist die Nachstellung der<br />
Schlacht. Bereits in der Woche vor dem<br />
Jahr 1759 <strong>zur</strong>ückversetzt: Bürger, Bauern,<br />
Bettler, Händler und Soldaten bevölkern<br />
die Straßen und machen Minden<br />
so <strong>zur</strong> historischen Bühne, bevor<br />
am Tag der Schlacht Kampf- und Lazarettszenen<br />
den Besuchern einen Eindruck<br />
vom Schrecken des Krieges vermitteln.<br />
Die Festwoche steht unter dem<br />
Motto »Von Pulverdampf zu Rosenduft«<br />
– doch was hat Pulverdampf mit<br />
Rosenduft zu tun?<br />
Hintergrund ist die Legende, dass<br />
britische Soldaten auf dem Weg in die<br />
Schlacht Rosen pflückten und als<br />
Schmuck an ihren Hüten befestigt haben<br />
sollen. Bis heute werden in der Britischen<br />
Armee am Jahrestag der<br />
Schlacht bei Minden, dem sogenannten<br />
Minden Day, an die Soldaten der<br />
Truppenteile, die in der Tradition der<br />
bei Minden kämpfenden britischen Regimenter<br />
stehen, Rosen verteilt. Erinnert<br />
werden soll mit dieser Tradition<br />
der außergewöhnlichen Tapferkeit der<br />
britischen Infanteristen im Kampf gegen<br />
die französische Kavallerie und<br />
Artillerie.<br />
Wer nach einem Besuch der Internetseite<br />
mehr über die Schlacht bei Minden<br />
erfahren möchte, dem sei der von<br />
Martin Steffen herausgegebene und<br />
im Verlag J.C.C. Bruns erschienene<br />
Sammelband »Die Schlacht bei Minden«<br />
(2. Aufl. 2008) empfohlen. Neben<br />
einer Darstellung des Schlachtenverlaufes<br />
finden sich darin u.a. Hintergrundinformationen<br />
<strong>zur</strong> Kriegführung<br />
im 18. Jahrhundert, <strong>zur</strong> Lage der Bevölkerung,<br />
biografische Skizzen und<br />
ein Beitrag <strong>zur</strong> Traditionspflege in den<br />
britischen Streitkräften.<br />
mn<br />
<strong>Hitler</strong> vor Gericht<br />
<strong>Hitler</strong> vor Gericht. Regie: Bernd Fischerauer.<br />
Eine Produktion der Tellux-Film GmbH im Auftrag von<br />
BR-alpha, 60 Minuten, 2009; 14,95 Euro, zu beziehen<br />
über www.brshop.de<br />
April 1924. Unter lautstarken Jubelrufen<br />
der Prozessbeobachter erging eines<br />
der folgenschwersten Gerichtsurteile<br />
in der deutschen Geschichte. Wegen<br />
des Putschversuchs vom November<br />
1923 wurde Adolf <strong>Hitler</strong> zu fünf Jahren<br />
Festungshaft verurteilt.<br />
Zum 85. Jahrestag des Urteilsspruchs<br />
produzierte der Bayerische Rundfunk<br />
ein Dokumentarspiel. An den Originalschauplätzen<br />
in München und Landsberg<br />
am Lech gedreht, dokumentiert<br />
der Film den Prozess gegen <strong>Hitler</strong>, General<br />
Erich Ludendorff, Ernst Röhm<br />
und andere.<br />
»<strong>Hitler</strong> vor Gericht« stützt sich ausschließlich<br />
auf ausgewählte Originalprotokolle<br />
der 24 Prozesstage und ist<br />
somit aufgrund seiner Authentizität<br />
für die politisch-historische Bildung<br />
gut geeignet. Die im Februar 1924 in<br />
der Münchner Infanterieschule begonnene,<br />
damals noch »<strong>Hitler</strong>-Ludendorff-<br />
Prozess« genannte Verhandlung geriet<br />
mehr und mehr <strong>zur</strong> juristischen Farce.<br />
Die nachgesprochenen Dialoge und<br />
Reden zeigen deutlich die Umkehrung<br />
der Rollen: <strong>Hitler</strong> scheint nicht Angeklagter<br />
zu sein, sondern tritt als Ankläger<br />
auf. Der Vorsitzende Richter Georg<br />
Neithardt ließ <strong>Hitler</strong>, Ludendorff und<br />
den Mitangeklagten breiten Raum <strong>zur</strong><br />
Selbstdarstellung und machte aus sei-<br />
4 Gruppenbild der<br />
Angeklagten nach<br />
dem Ende des<br />
<strong>Hitler</strong>-Ludendorff-<br />
Prozesses, München,<br />
April 1924.<br />
Telepool GmbH<br />
ner politischen Sympathie für die Sache<br />
der Angeklagten keinen Hehl. Der<br />
Prozess wegen Hochverrats war von<br />
Anfang an darauf angelegt, die Verstrickung<br />
der Spitzen der bayerischen<br />
Landesregierung, der Landespolizei<br />
und der dortigen Reichswehr in den<br />
Novemberputsch zu verschleiern und,<br />
wie es hieß, dem »nationalen Gedanken<br />
nicht zu schaden«. Primäres Ziel<br />
und wohl auch politische Vorgabe an<br />
den Richter war es, Gustav Ritter von<br />
Kahr, seit September 1923 als Generalstaatskommissar<br />
Inhaber der vollziehenden<br />
Gewalt in Bayern mit diktatorischen<br />
Vollmachten, General Otto<br />
Hermann von Lossow und Hans Ritter<br />
von Seißer, Chef der bayerischen Landespolizei,<br />
aus dem Prozess gegen die<br />
Putschisten herauszuhalten. Die Sympathien<br />
des Staatsanwalts, des Richters<br />
und nahezu aller Prozessbeobachter<br />
für <strong>Hitler</strong>, Ludendorff und die Mitangeklagten<br />
treten in den Dialogen und<br />
Zeugenvernehmungen deutlich zu<br />
Tage. Das Schlusswort des Staatsanwalts<br />
und noch mehr die Urteilsbegründung<br />
des Richters waren eher ein<br />
Lobgesang auf die Angeklagten denn<br />
eine Auseinandersetzung mit dem Vorwurf<br />
des Hochverrats.<br />
Ludendorff protestierte unter dem<br />
Beifall des Publikums im Gerichtssaal<br />
lautstark gegen seinen Freispruch – er<br />
empfinde dies als »Schande«.<br />
Der zu fünf Jahren Festungshaft verurteilte<br />
<strong>Hitler</strong> musste lediglich etwa<br />
acht Monate davon verbüßen. Auch<br />
über den weiteren Werdegang der Prozessbeteiligten<br />
gibt der Film Auskunft.<br />
Richter Neithardt wurde 1933 Präsident<br />
des Oberlandesgerichts München<br />
– später Lohn für eines der folgenschwersten<br />
Fehlurteile in der deutschen<br />
Geschichte.<br />
ks<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
2<br />
Bundesarchiv
Service<br />
Antike<br />
Am Anfang der europäischen Literaturgeschichte<br />
steht ein Werk<br />
über den Krieg: die Ilias des Homer.<br />
Das Epos genügt literarisch höchsten<br />
Ansprüchen – und wird zugleich als<br />
historisches Dokument gelesen, auch<br />
wenn Homers Schilderung dem Bereich<br />
der Fiktion zu<strong>zur</strong>echnen ist. Die<br />
Erzählungen eines Homer sowie die<br />
seiner Nachfolger bilden gemeinsam<br />
mit archäologischen Quellen das Fundament<br />
der antiken (Militär-)Geschichtsschreibung.<br />
Dem zentralen Stellenwert<br />
des Krieges in der Antike ist es geschuldet,<br />
dass die Nachwelt über kaum<br />
einen anderen Gegenstand dieser Zeit<br />
so gut Bescheid weiß wie über dieses<br />
Phänomen. Die Allgegenwart des Krieges<br />
zeigt sich auch in zahlreichen Historienfilmen,<br />
nicht zu vergessen die<br />
mittlerweile zum Bildungskanon gehörenden<br />
Comics über den gallischen<br />
Krieger Asterix und seine Abenteuer.<br />
Leonhard Burckhardt,<br />
Militärgeschichte der<br />
Antike, München 2008.<br />
ISBN 978-3-406-56247-1;<br />
128 S., 7,90 Euro<br />
Lesetipp<br />
Der Militärgeschichte der Antike<br />
widmet sich auch der Baseler Professor<br />
Leonhard Burckhardt in äußerst anschaulicher<br />
und präziser Form. Dass<br />
der Kürze seines Buches einzelne Aspekte<br />
geopfert werden mussten, ist<br />
dem Autor schmerzlich bewusst. Trotzdem<br />
fanden erfreulicherweise ein paar<br />
wichtige Abbildungen Eingang in das<br />
Buch. Der Schwerpunkt der Darstellung<br />
liegt auf der Struktur- und Sozialgeschichte<br />
wie auch auf strategischtaktischen<br />
und politischen Faktoren. In<br />
allen zwölf Kapiteln, welche die Zeit<br />
vom frühen Griechenland bis zum<br />
späten Römischen Reich umspannen,<br />
hebt Burckhardt das Charakteristische<br />
der einzelnen Epochen hervor, ohne<br />
dabei jedoch das Ganze aus dem Auge<br />
zu verlieren: die Wechselbeziehungen<br />
zwischen Staat, Gesellschaft und Militär.<br />
Literaturhinweise und ein Register<br />
runden die gelungene Einführung in<br />
das Thema ab. mt<br />
26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Preußische Armee<br />
Die Geschichte des Königreichs<br />
Preußen ist auf das Engste verwoben<br />
mit der Geschichte seiner Armee.<br />
Bereits im 18. Jahrhundert urteilte der<br />
französischen Schriftsteller und Politiker<br />
Honoré Gabriel de Mirabeau, dass<br />
Preußen kein Staat mit einer Armee sei,<br />
sondern eine Armee, die einen Staat<br />
besitze. Vor dem Hintergrund der<br />
jüngsten deutschen Geschichte stellte<br />
sich die deutsche Nachkriegsgeschichtsschreibung<br />
die Frage, welche<br />
Folgen sich aus dieser symbiotischen<br />
Beziehung ergaben. Eine Antwort darauf<br />
war die These von der »sozialen<br />
Militarisierung« Preußens. Der neue-<br />
Peter Baumgart, Bernhard<br />
R. Kroener, Heinz Stübig<br />
(Hrsg.), Die preußische<br />
Armee zwischen Ancien<br />
Régime und Reichsgründung,<br />
Paderborn<br />
u.a. 2008. ISBN: 978-3-<br />
506-75660-2; 285 S.,<br />
39,90 Euro<br />
ren Forschung ist es gelungen, dieses<br />
Bild einer weitreichenden Militarisierung<br />
der preußischen Gesellschaft zu<br />
korrigieren bzw. zu revidieren und der<br />
Debatte über die gesellschaftspolitische<br />
Stellung des Militärs eine neue<br />
Richtung zu geben. Der von Peter<br />
Baumgart, Bernhard R. Kroener und<br />
Heinz Stübig herausgegebene Sammelband<br />
ist eine gelungene Zwischenbilanz<br />
dieser neuen Forschungsdiskussion<br />
und bietet zugleich einen anschaulichen<br />
Überblick über die Geschichte<br />
der preußischen Armee vom Anfang<br />
des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.<br />
In insgesamt 14 Beiträgen werden<br />
die wichtigsten Entwicklungslinien<br />
vom »Soldatenkönig« Friedrich<br />
Wilhelm I. über die preußischen Heeresreformen<br />
in napoleonischer Zeit bis<br />
<strong>zur</strong> Roonschen Heeresreorganisation<br />
und dem Reichsmilitärgesetz von 1874<br />
nachgezeichnet. Da die politische und<br />
soziale Geschichte der bewaffneten<br />
Macht dabei im Vordergrund steht,<br />
werden operationsgeschichtliche Aspekte<br />
nur am Rande behandelt. Aufgrund<br />
seines informativen Charakters<br />
ist dieses Buch nicht nur dem Fachpublikum,<br />
sondern auch einer breiten Leserschaft<br />
zu empfehlen. mn<br />
Wilhelm II.<br />
Die New York Times nannte ihn<br />
einst »the most interesting man in<br />
Europe«: Wilhelm II. ist bis heute<br />
Thema wissenschaftlicher und publizistischer<br />
Kontroversen. »Jeder Mensch<br />
ist zu seiner Zeit in einen größeren Zusammenhang<br />
gestellt«, gab Georg<br />
Friedrich Prinz von Preußen bei der<br />
Präsentation eines der neuesten Bücher<br />
über den Kaiser im Januar 2009 zu bedenken.<br />
Autor Eberhard Straub ergänzte,<br />
jeder Mensch sei auch eine<br />
»kollektive Existenz«, zumal als öffentliche<br />
Person. Wilhelm II. war Kaiser<br />
und König, zudem u.a. Admiral der<br />
Flotte und oberster Bischof der evangelischen<br />
Landeskirche Preußens.<br />
Straub zeichnet Wilhelm als Bildungsbürger<br />
und zugleich als Traditionalisten.<br />
Beispielhaft für diesen Widerspruch<br />
sieht der Autor die Personalpolitik in<br />
der Flotte, dem »Spielzeug des Kaisers«<br />
und zugleich »Stolz der Nation«.<br />
Wilhelm habe Karrierechancen für<br />
»Bürgerliche« als Offiziere geöffnet,<br />
zugleich aber Wert auf adliges, traditionelles<br />
Ethos »seiner« Seeoffiziere gelegt.<br />
Straub beschreibt das Leben Wilhelms<br />
aus sehr verschiedenen Blickwinkeln:<br />
aus der Sicht des preußischen<br />
Königshauses, des Adels und der Großund<br />
Kleinbürger. Widerspruch wird<br />
Straubs teilweise wenig kritische Einschätzung<br />
des Kaisers als hochgebildeter<br />
Modernisierer und sozial denkender<br />
Reformer finden. Mit dem von ihm<br />
gewählten Untertitel »Die Erfindung<br />
des Reiches aus dem Geist der Moderne«<br />
fordert der Buchautor zwingend<br />
<strong>zur</strong> Hinterfragung seiner Thesen heraus.<br />
Eberhard Straub, Kaiser Wilhelm II. in der Politik<br />
seiner Zeit. Die Erfindung des Reiches aus dem Geist<br />
der Moderne, Berlin 2008. ISBN 978-3-938844-05-2;<br />
468 S., 29,90 Euro<br />
Christopher Clark, Wilhelm II. Die Herrschaft des<br />
letzten deutschen Kaisers, München 2008. ISBN 978-3-<br />
421-04358-0; 416 S., 24,95 Euro (eine preisreduzierte<br />
Taschenbuchausgabe erscheint im Nov. 2009)
Der britische Historiker Christoper<br />
Clark, bekannt geworden durch seinen<br />
in Deutschland 2007 erschienen Bestseller<br />
»Preußen«, bietet ebenfalls neue,<br />
durchaus provokative Interpretationen<br />
des letzten Deutschen Kaisers und seiner<br />
dreißigjährigen Herrschaft. Clarks<br />
Ziel ist es nicht, den Monarchen zu rehabilitieren.<br />
Dennoch hinterfragt auch<br />
er die »Dämonisierung« des Kaisers<br />
durch die bisherige Geschichtsschreibung.<br />
Er analysiert zugleich, inwieweit<br />
der Verlauf der deutschen und europäischen<br />
Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts<br />
durch die Persönlichkeit und<br />
den Charakter Wilhelms bestimmt<br />
wurden. ks<br />
Zweiter Weltkrieg I<br />
Warum setzte das angeschlagene<br />
Großbritannien nach der französischen<br />
Niederlage im Frühjahr 1940<br />
den Kampf gegen das weite Teile Kontinentaleuropas<br />
beherrschende Deutsche<br />
Reich und seine sieggewohnte<br />
<strong>Wehrmacht</strong> weiter fort? Weshalb vertraute<br />
ausgerechnet der sonst stets argwöhnische<br />
<strong>Stalin</strong> bis zum 22. Juni 1941<br />
darauf, dass der <strong>Pakt</strong> mit <strong>Hitler</strong> halten<br />
und das nationalsozialistische Deutschland<br />
nicht den ideologischen Hauptgegner<br />
Sowjetunion überfallen würde?<br />
Ian Kershaw, Wendepunkte.Schlüsselentscheidungen<br />
im Zweiten<br />
Weltkrieg 1940/41,<br />
2. Aufl., München 2008.<br />
ISBN 978-3-421-05806-5;<br />
729 S., 39,95 Euro<br />
Wieso griffen die Japaner im Dezember<br />
1941 den US-Flottenstützpunkt Pearl<br />
Harbor auf Hawaii an? Und warum erklärte<br />
<strong>Hitler</strong> ungeachtet des festgelaufenen<br />
Feldzuges gegen die Sowjetunion<br />
kurz danach dem aufstrebenden Wirtschaftsgiganten<br />
USA den Krieg?<br />
Mögliche Erklärungen für diese und<br />
weitere Fragen bietet der renommierte<br />
britische Historiker und <strong>Hitler</strong>-Biograf<br />
Ian Kershaw in seiner jüngsten Studie<br />
über den Zweiten Weltkrieg, indem er<br />
die Schlüsselentscheidungen von Frühjahr<br />
1940 bis Herbst 1941, deren jeweilige<br />
Umsetzung dem Krieg eine neue<br />
Richtung gaben, sachkundig unter die<br />
Lupe nimmt.<br />
Kershaw berücksichtigt sowohl die<br />
Grundlagen dieser Entscheidungen –<br />
wie etwa den Wissensstand der Entscheidungsträger<br />
über die eigene und<br />
die Lage auf der Gegenseite – als auch<br />
den Prozess der Entscheidungsfindung<br />
selbst, und er bezieht die Persönlichkeit<br />
der jeweiligen Akteure mit ein. Indem<br />
Kershaw die zeitgenössische Perspektive<br />
der Entscheidungsträger einnimmt,<br />
wird auch mancher der auf den<br />
ersten Blick als unbegreiflich erscheinenden<br />
Entschlüsse verständlicher. Die<br />
Analyse ist dennoch keine reine »Geschichte<br />
von oben«, die den Eindruck<br />
vermittelt, dass mächtige Männer auf<br />
Grundlage einsamer Entschlüsse den<br />
Weltenlauf bestimmen: Kershaw gelingt<br />
es in der gutgeschriebenen Studie<br />
auch, die Strukturen aufzuzeigen, in<br />
welche die Entscheidungen eingebettet<br />
waren und die sich je nach Land und<br />
Staatsform in ihrem Spielraum voneinander<br />
unterschieden. All den Entscheidungen<br />
ist zu eigen, dass sie eine<br />
enorme Tragweite hatten und den<br />
Kriegsverlauf und -ausgang entscheidend<br />
beeinflussten. Die daran anknüpfende<br />
Überlegung, welchen Verlauf<br />
der Krieg im Falle einer anderen Entscheidung<br />
genommen hätte, bezieht<br />
Kershaw angemessen mit ein, ohne das<br />
»Was wäre, wenn ...« überzubetonen.<br />
Die zehn von Kershaw ausgewählten<br />
Schlüsselentscheidungen werden chronologisch<br />
analysiert, lassen sich aber<br />
auch einzeln lesen. mp<br />
Zweiter Weltkrieg II<br />
Die 1. Gebirgs-Division der <strong>Wehrmacht</strong><br />
bildet keine Tradition für<br />
die Bundeswehr. Wem es dafür noch<br />
an Beweisen mangeln sollte, dem sei<br />
das Buch von Hermann Frank Meyer<br />
besonders empfohlen. Der Autor, ein<br />
seit Jahrzehnten ausgewiesener Experte,<br />
hat wie nur wenige bislang die<br />
Geschichte eines deutschen Großverbandes<br />
im Zweiten Weltkrieg samt dessen<br />
Rolle in der sogenannten (west-)<br />
deutschen Vergangenheitsbewältigung<br />
detektivisch recherchiert und kenntnisreich<br />
beschrieben. Auf beinahe 800<br />
Seiten verfolgt er den Weg derer mit<br />
dem Edelweiß, zeichnet ihre Kämpfe<br />
und horrenden Verluste, vor allem je-<br />
doch die mörderische Blutspur nach,<br />
die sie an der Ostfront und auf dem<br />
Balkan gezogen haben. Die beispiellose<br />
Kette von der Verstrickung über die<br />
Beteiligung bis hin <strong>zur</strong> Durchführung<br />
von Mordaktionen raubt dem Lesenden<br />
bisweilen den Atem, zumal es Widerstand<br />
aus den eigenen Reihen kaum<br />
gab und noch die Nachkriegsjustiz<br />
mehr Verständnis für die Täter denn<br />
Empathie für die Opfer entwickelte.<br />
Darüber hinaus verschweigt Meyer<br />
weder die Komplizenschaft zwischen<br />
Gebirgsjägern und Teilen der einheimischen<br />
Bevölkerung noch die psychologischen<br />
Auswirkungen jahrelanger Todesgefahr<br />
auf die Soldaten. Aber er<br />
wägt sorgfältig ab, urteilt nicht, wo<br />
Hermann Frank Meyer,<br />
Blutiges Edelweiß. Die<br />
1. Gebirgs-Division im<br />
Zweiten Weltkrieg, 2. Aufl.,<br />
Berlin 2008. ISBN 978-3-<br />
86153-447-1; 800 Seiten,<br />
39,80 Euro<br />
seine Quellen dies nicht eindeutig zulassen,<br />
schildert nüchtern und moralisiert<br />
nicht. Er trägt zusammen, was in<br />
beinahe zwei Dutzend Archiven in<br />
mehr als zehn Ländern zu finden war,<br />
stellt die Fakten den Schilderungen aus<br />
über 80 Interviews mit Beteiligten gegenüber<br />
und untersucht die veröffentlichte<br />
Erinnerungsliteratur der ehemaligen<br />
Gebirgsjäger. Auf diese Weise<br />
enttarnt er die vielen Veteranen, die im<br />
Nachhinein in kaum zu übertreffender<br />
Schändlichkeit gelogen und betrogen<br />
haben, um ihre vermeintlichen Ideale<br />
in die neuen Streitkräfte der Bundesrepublik<br />
hineinzutragen. Mit Meyers<br />
Buch ist ein Standardwerk erschienen,<br />
das Maßstäbe setzt – angesichts seiner<br />
methodischen Genauigkeit, aber auch<br />
aufgrund der umfangreichen Orts- und<br />
Personenregister sowie des zahlreichen<br />
Bild- und Kartenmaterials. Wie falsch<br />
verstandenes Elitedenken und skrupelloses<br />
Draufgängertum die Grundlage<br />
für beispiellose Verbrechen bilden<br />
können, ist zudem eine Lehre für alle<br />
Zeiten. Das vorliegende Buch bezeugt<br />
das beinahe nebenbei – und ist schon<br />
deswegen gerade Soldaten zu empfehlen.<br />
John Zimmermann<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
2
Service Die historische Quelle<br />
Bundesarchiv-Militärarchiv<br />
Die Luftangriffe auf Warschau im September 1939<br />
5 Warschau nach den Luftangriffen im September 1939, BArch, Bild 141-0763.<br />
»Beantrage dringend letzte Möglichkeit von Brand- und<br />
Terrorangriffen als groß angelegten Versuch auszunutzen.«<br />
Als der Fliegerführer z.b.V. Generalmajor Wolfram<br />
Freiherr von Richthofen wenige Tage vor der Kapitulation<br />
Warschaus einen »Terrorangriff« auf die polnische<br />
Hauptstadt forderte, waren seit dem Beginn des Angriffs<br />
auf Polen bereits mehr als 150 polnische Städte und Ortschaften<br />
das Ziel verheerender deutscher Luftangriffe geworden,<br />
die Tausende Todesopfer und Verletzte gefordert<br />
hatten.<br />
Mit diesen massiven Angriffen auf nicht-militärische<br />
Ziele sollte der Widerstandswille der polnischen Bevölkerung<br />
gebrochen werden. »Die Luftwaffe sollte zum ersten<br />
Male in der Geschichte einen feindlichen Staat lebensgefährlich<br />
fassen, nicht nach alter Weise auf dem Schlachtfeld,<br />
sondern auch weitab davon und so fest, dass der<br />
Zusammenbruch dieses Staates zu einem wesentlichen<br />
Teil dem Wirken der Luftwaffe zuzuschreiben sei.« Mit<br />
diesen Worten beschrieb der Oberbefehlshaber der Luftflotte<br />
4, General der Flieger Alexander Löhr, die Strategie<br />
der Luftwaffe zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dass<br />
zudem die Luftangriffe genutzt wurden, um Erfahrungen<br />
<strong>zur</strong> Wirkung von sogenannten Terrorangriffen für künftige<br />
Einsätze zu sammeln, belegt das vorliegende Dokument<br />
eindrücklich.<br />
Am 22. September 1939 waren große Teile Polens bereits<br />
erobert, lediglich Warschau und Modlin leisteten<br />
noch Widerstand. An diesem Tag hatte der Oberbefehlshaber<br />
der Luftwaffe, Hermann Göring, an die Luftflotten<br />
1 und 4 einen »Führerbefehl« weitergegeben, nach dem<br />
der anhaltende Widerstand zwischen Warschau und<br />
Modlin »unter Einsatz aller verfügbaren Kräfte so rasch<br />
als möglich zu brechen« sei. Richthofen kündigt in dieser<br />
Situation per Fernschreiben an, die polnische Hauptstadt<br />
durch die ihm unterstellten Geschwader völlig vernichten<br />
zu wollen und fordert unverhohlen die – angesichts<br />
28 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
4<br />
Fernschreiben<br />
des Flieger-<br />
führers z.b.V.<br />
Generalmajor<br />
Wolfram Freiherr von Richthofen<br />
an die Luftflotte 4 <strong>zur</strong> Planung der Luftangriffe auf Warschau,<br />
22. September 1939, BArch, RL 2-II/51, Bl. 51.<br />
der absehbaren Kapitulation der Stadt – letzte Gelegenheit<br />
des Feldzugs zu einem »Brand- und Terrorangriff«<br />
zu nutzen, um taktische Erfahrungen zu sammeln.<br />
Zwar lehnte der Chef des Generalstabs der Luftwaffe<br />
Richthofens »groß angelegten Versuch« ab, doch drei<br />
Tage später flogen die Einheiten der Luftflotten 1 und 4<br />
wie befohlen »anhaltende Störungs- und Zermürbungsangriffe«<br />
auf Warschau. In einer der zahlreichen Meldungen<br />
zu den einzelnen Angriffen heißt es knapp: »Befohlener<br />
Stadtteil wirkungsvoll mit Bomben belegt. Riesige<br />
Brände beobachtet.« Warschau kapitulierte am 28. September<br />
1939. Die Stadt war in weiten Teilen zerstört und<br />
unter der Zivilbevölkerung hatten die Angriffe eine große<br />
Zahl von Opfern gefordert.<br />
Der Verfasser des Fernschreibens, Generalmajor von<br />
Richthofen, hatte ab 1936 der Legion Condor angehört<br />
und war als deren Stabschef verantwortlich für die Zerstörung<br />
der Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe<br />
im Spanischen Bürgerkrieg. In den folgenden Kriegsjahren<br />
sollten zahlreiche weitere Städte wie Belgrad, Coventry<br />
und Rotterdam von der deutschen Luftwaffe zerstört<br />
werden.<br />
Christiane Botzet
Militärgeschichte kompakt<br />
September 9 n.Chr. 12. August 1759<br />
Die Varusschlacht Schlacht bei Kunersdorf<br />
Als »Varuskatastrophe« ist die Schlacht in die antike römische<br />
Geschichtsschreibung eingegangen. »Varus, gib die<br />
Legionen <strong>zur</strong>ück!«, soll denn auch Kaiser Augustus angesichts<br />
der fast vollständigen Vernichtung der Truppen seines<br />
Feldherren Publius Quinctilius Varus ausgerufen haben.<br />
Eigentlich war Varus an die Grenzen des Römischen<br />
Reiches geschickt worden, um den »Barbaren« die Zivilisation<br />
zu bringen. Er galt als Mann für schwierige Fälle – und<br />
zudem als Vertrauter des Augustus. Als Statthalter der römischen<br />
Provinz Syrien führte er zuletzt auch den Befehl<br />
über die riesige Orientarmee: Er wusste wohl politische<br />
und militärische Mittel gleichermaßen effizient einzusetzen.<br />
Den 50-Jährigen beorderte Augustus schließlich nach<br />
Germanien, um, so die Quellen, zwischen Rhein und Elbe<br />
eine römische Verwaltung zu etablieren.<br />
Die Schlacht selbst, oder zumindest ein Teil davon, hat,<br />
darin sind sich die meisten Historiker einig, in Kalkriese<br />
stattgefunden. Als Gegenspieler auf dem Schlachtfeld trat<br />
ein Tischgenosse des Varus an: der Cheruskerfürst Arminius,<br />
der aufgrund seiner Ausbildung in Rom zum Offizier<br />
über beste Kenntnisse des römischen Militärwesens verfügte.<br />
Dadurch konnte er die Römer auch schlagen. Zum<br />
Sieg gereichte dem Arminius, neben Guerillataktiken, des<br />
Weiteren eine im Römischen Imperium häufig eingesetzte<br />
Kriegslist: der Verrat. Über die Motivation des Arminius<br />
lässt sich zum Teil nur spekulieren, doch berichteten die<br />
Römer, dass er die höchste Stellung in seinem Stamm anstrebte<br />
– die eines Königs.<br />
Arminius griff den römischen Tross auf dem Weg aus dessen<br />
Sommerquartier, tief im Gebiet der Cherusker am Westufer<br />
der Weser gelegen, in das Winterquartier an. Die Streitmacht<br />
der Römer bestand aus bis zu 20 000 Soldaten, der<br />
Zug muss 15 bis 20 Kilometer lang gewesen sein. Arminius<br />
kämpfte mit abtrünnigen römischen Hilfstruppen germanischen<br />
Ursprungs und mit germanischen Kriegern; er wandte<br />
eine Ausweichtaktik an, welche die schwer bewaffneten römischen<br />
Krieger ermüdete und die Kampfformationen der<br />
Truppen unter Varus nach und nach aufrieb. Nach der Niederlage,<br />
die am vierten Tag der Schlacht besiegelt war, töteten<br />
sich Varus und seine Offiziere selbst. Den Kopf des Varus<br />
ließ Arminius dem Markomannenherrscher Marbod<br />
zukommen, dadurch sein Angebot für ein Bündnis gegen<br />
die Römer unterstreichend. Marbod jedoch lehnte ab und<br />
schickte das Haupt des Varus in die Kaiserresidenz. Germanien<br />
blieb in der Folge zu großen Teilen außerhalb des römischen<br />
Machtbereichs und nahm aufgrund dieser Tatsache<br />
eine andere Entwicklung als etwa das keltische Gallien.<br />
Bereits im 16. Jahrhundert wurde der Name Arminius in<br />
Hermann umgewandelt – daher auch der Name »Hermannsschlacht«,<br />
neben dem geografisch irreführenden Begriff<br />
»Schlacht im Teutoburger Wald«. Auch der Kult um den<br />
vermeintlichen Helden setzte um diese Zeit ein. Er geht u.a.<br />
<strong>zur</strong>ück auf das Lob der Germanen und ihrer Tapferkeit<br />
durch den römischen Historiker Tacitus. Nicht zuletzt seine<br />
Schriften dienten als Beweis: In der Varusschlacht kämpfte<br />
– und siegte – eine, so der Mythos, »geeinte Nation« gegen<br />
einen übermächtigen Feind. mt<br />
1759 ist das dritte Jahr des Siebenjährigen Krieges (1756 bis<br />
1763). Friedrich II. von Preußen ist gegenüber seinen Gegnern<br />
Österreich und Russland längst in der Defensive. Die<br />
Erfolge von Rossbach und Leuthen sind zwei Jahre her. Mit<br />
Mühe, knapper werdenden Ressourcen und defensiver<br />
Strategie erwehrt sich der preußische König seiner Feinde,<br />
die eine große zahlenmäßige Überlegenheit besitzen.<br />
Im Juli 1759 gelingt es der preußischen Armee nicht, die<br />
Vereinigung eines starken österreichischen Korps mit dem<br />
russischen Hauptheer zu verhindern. An der Oder stehen<br />
den 49 000 Preußen nun etwa 79 000 Österreicher und Russen<br />
gegenüber. Friedrich II., eine Entscheidung suchend,<br />
greift am 12. August das Lager der vereinigten feindlichen<br />
Armeen bei Kunersdorf an.<br />
Ähnlich wie in der Schlacht von Leuthen versucht der König<br />
einen Flügel der gegnerischen Armee mit überlegenen<br />
Kräften anzugreifen und so die Front auf<strong>zur</strong>ollen. Doch<br />
diesmal sollte die »schräge Schlachtordnung« scheitern.<br />
Durch eine notwendige Umgruppierung der Kräfte nach<br />
un<strong>zur</strong>eichender Erkundung geht das Überraschungsmoment<br />
verloren. In stundenlangem Kampf werden die preußischen<br />
Bataillone dezimiert, und die Schlacht wird zum<br />
blutigen Gemetzel. 19 000 Preußen fallen oder werden verwundet.<br />
Das Hasardspiel des Königs scheitert, er stürzt in<br />
eine tiefe psychische Krise.<br />
Doch die Feinde sind uneins und handeln zögerlich: Wie<br />
so oft in diesem Krieg nutzen sie ihre Siege strategisch nicht<br />
energisch genug aus und versäumen die völlige Vernichtung<br />
der preußischen Streitkräfte. So kann der preußische<br />
König seine Kräfte wieder sammeln und die kommenden<br />
Kriegsjahre bis <strong>zur</strong> Erschöpfung aller Kriegsparteien durchstehen.<br />
Marcus von Salisch<br />
5Friedrich II. in der Schlacht bei Kunersdorf.<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009 29<br />
Süddeutsche Zeitung Photo / Scherl
� Aalen<br />
»Der Macht ein<br />
Gesicht geben ...«<br />
Römische Kaiserbilder<br />
am Limes<br />
Limesmuseum Aalen<br />
St.-Johann-Straße 5<br />
73430 Aalen<br />
Telefon:<br />
0 73 61 / 52 82 87 0<br />
www.museen-aalen.de<br />
23. April bis<br />
4. Oktober 2009<br />
10.00 bis 17.00 Uhr<br />
(montags geschlossen)<br />
Eintritt: 4,00 Euro<br />
ermäßigt: 3,00 Euro<br />
� Bramsche-<br />
Kalkriese<br />
Varusschlacht. Konflikt<br />
Museum und Park<br />
Kalkriese<br />
Venner Str. 69<br />
49565 Bramsche-Kalkriese<br />
Tel.: 0 54 68 / 92 04-20 0<br />
www.imperium-konfliktmythos.de<br />
16. Mai bis<br />
25. Oktober 2009<br />
Täglich<br />
9.00 bis 18.00 Uhr<br />
Samstag<br />
9.00 bis 20.00 Uhr<br />
Eintritt: 9,00 Euro<br />
ermäßigt: 6,00 Euro<br />
� Detmold<br />
Varusschlacht. Mythos<br />
Lippisches<br />
Landesmuseum<br />
Ameide 4<br />
32756 Detmold<br />
Telefon:<br />
0 52 31 / 99 25-40 9<br />
www.imperium-konfliktmythos.de<br />
16. Mai bis<br />
25. Oktober 2009<br />
Dienstag bis Freitag<br />
9.00 bis 18.00 Uhr<br />
Samstag<br />
10.00 bis 20.00 Uhr<br />
Sonntag<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 9,00 Euro<br />
ermäßigt: 6,00 Euro<br />
Service<br />
� Dresden<br />
Krieg und Medizin.<br />
150 Jahre Leben und<br />
Sterben<br />
Deutsches Hygiene-<br />
Museum<br />
Lingnerplatz 1<br />
01069 Dresden<br />
Telefon:<br />
03 51 / 48 46 40 0<br />
www.dhmd.de<br />
4. April bis<br />
9. August 2009<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
(montags geschlossen)<br />
Eintritt: 6,00 Euro<br />
ermäßigt: 3,00 Euro<br />
� Kossa<br />
Ausstellungen<br />
Dauerausstellung <strong>zur</strong><br />
NVA-Geschichte<br />
Dahlenberger Str. 1<br />
04849 Kossa/Söllichau<br />
Telefon:<br />
03 42 43 / 2 21 20<br />
www.bunker-kossa.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
9.00 bis 16.00 Uhr<br />
(Führungen jeweils<br />
10.00 und 13.00 Uhr)<br />
Eintritt 5,00–10,00 Euro<br />
� Kummersdorf<br />
Historisch-Technisches<br />
Museum<br />
Versuchsstelle<br />
Ständige Ausstellung<br />
und Geländeführungen<br />
Konsumstrasse 5<br />
15838 Am Mellensee OT<br />
Kummersdorf-Gut<br />
Telefon:<br />
03 37 03/ 77 04 8<br />
www.museumkummersdorf.de<br />
Sonntag<br />
13.00 bis 17.00 Uhr<br />
Führungen nur nach<br />
Anmeldung<br />
� Ludwigsburg<br />
Die Garnison in der<br />
Fotografie<br />
Garnisonmuseum<br />
Ludwigsburg<br />
Asperger Straße 52<br />
71634 Ludwigsburg<br />
Telefon:<br />
0 71 41 / 9 10 24 12<br />
www.garnisonmuseumludwigsburg.de<br />
18. April bis<br />
20. Dezember 2009<br />
Mittwoch<br />
15.00 bis 18.00 Uhr<br />
Sonntag<br />
13.00 bis 17.00 Uhr<br />
(und auf Anfrage)<br />
Eintritt: 2,00 Euro<br />
ermäßigt: 1,00 Euro<br />
� Peenemünde<br />
Dauerausstellung<br />
<strong>zur</strong> Geschichte der<br />
Raketentechnik<br />
Historisch-Technisches<br />
Informationszentrum<br />
Peenemünde<br />
Im Kraftwerk<br />
17449 Peenemünde<br />
Telefon: 03 83 71 / 505-0<br />
www.peenemuende.de<br />
Dauerausstellung<br />
April bis September<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
(montags geschlossen)<br />
Eintritt: 6,00 Euro<br />
ermäßigt: 4,00 Euro<br />
� Rastatt<br />
30 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
Kunst oder Militärkitsch?<br />
Reservistika und soldatischeErinnerungsstücke<br />
bis zum Ersten<br />
Weltkrieg<br />
Vorankündigung:<br />
Ab 17. Juli 2009<br />
Sonderausstellung<br />
»Gang durch die<br />
Geschichte.<br />
75 Jahre WGM und<br />
50 Jahre Vereinigung<br />
der Freunde des WGM«<br />
Wehrgeschichtliches<br />
Museum Rastatt<br />
Herrenstr. 18<br />
76437 Rastatt<br />
Telefon: 0 72 22 / 34 24 4<br />
www.wgm-rastatt.de<br />
10.00 bis 16.30 Uhr<br />
(montags geschlossen)<br />
Eintritt: 5,00 Euro<br />
ermäßigt: 2,50 Euro<br />
Heft 3/2009<br />
Militärgeschichte<br />
Zeitschrift für historische Bildung<br />
� Vorschau<br />
In diesem Jahr jährt sich zum 20. Mal der Fall<br />
der »Berliner Mauer« am 9. November 1989,<br />
der zu dem Symbol der Beendigung des Kalten<br />
Krieges schlechthin wurde. Das nächste<br />
Heft der Militärgeschichte befasst sich daher<br />
schwerpunktmäßig mit deutsch-deutschen<br />
Themen im Kontext des Kalten Krieges.<br />
Die Nachkriegskarriere des ehemaligen<br />
<strong>Wehrmacht</strong>generals und obersten Feindlageanalysten<br />
an der Ostfront Reinhard Gehlen<br />
ist ohne den aufziehenden Ost-West-Konflikt<br />
undenkbar. Jens Wegener untersucht die Hintergründe,<br />
warum die US-Amerikaner ab<br />
Sommer 1945 Know-how, Personal und Aktenmaterial<br />
des überzeugten Antikommunisten<br />
und später in westlichen Medien zum<br />
»Jahrhundertspion« verklärten ersten Präsidenten<br />
des Bundesnachrichtendienstes (BND)<br />
in ihren Dienst stellten.<br />
Gehlens weitere Karriere im westlichen<br />
Bündnis war unter dem Vorzeichen seiner<br />
Tätigkeit im Zweiten Weltkrieg auch Thema<br />
der DDR-Propaganda, die damit Kontinuitätslinien<br />
von <strong>Hitler</strong>s <strong>Wehrmacht</strong> zu Bundeswehr<br />
und BND offenlegte und propagandistisch<br />
für sich ausnutzte. Rouven Wauschkies<br />
thematisiert einen Ausschnitt dieser auf beiden<br />
Seiten erbittert ausgefochtenen Presseschlacht<br />
im geteilten Deutschland, indem er<br />
die Bundeswehr als Feindbild der Nationalen<br />
Volksarmee in den 1950er- und 1960er Jahren<br />
in den Blick nimmt.<br />
Volker Koop bilanziert die materielle und<br />
personelle »Abwicklung« der DDR-Streitkräfte<br />
nach 1990 und spart dabei auch nicht<br />
die Probleme aus, die bei der Integration von<br />
NVA-Angehörigen in die sich zu gesamtdeutschen<br />
Streitkräften wandelnde Bundeswehr<br />
auftraten.<br />
Über den operationsgeschichtlichen Verlauf<br />
und die Auswirkungen der zwischen osmanisch-deutschen<br />
und alliierten Truppen<br />
auf der Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen<br />
1915 ausgetragenen Schlacht informiert<br />
Klaus Wolf. Die strategisch bedeutsame bewaffnete<br />
Auseinandersetzung um die Vorherrschaft<br />
über die Meerengen zwischen dem<br />
Schwarzen und dem Ägäischen Meer war die<br />
erste und einzige Schlacht im Ersten Weltkrieg,<br />
die auf beiden Seiten im multinationalen<br />
Rahmen und im engen Zusammenwirken<br />
von Land-, See- und Luftstreitkräften<br />
ausgefochten wurde. Besonderes Augenmerk<br />
richtet der Autor auf den überwiegend in<br />
Vergessenheit geratenen deutschen Anteil<br />
am gemeinsamen Sieg.<br />
mp
Kriegsbeginn<br />
September 1939<br />
Der Einmarsch deutscher Truppen<br />
in Polen am Morgen des 1. September<br />
1939 und die darauffolgende<br />
Kriegserklärung Großbritanniens und<br />
Frankreichs an das Deutsche Reich<br />
vom 3. September bedeuteten vor siebzig<br />
Jahren den Beginn des Zweiten<br />
Weltkrieges. Die große Zahl deutscher<br />
Angriffsdivisionen mit raumfassenden<br />
Panzerverbänden führte in Verbindung<br />
mit dem Einsatz der deutschen<br />
Luftwaffe schon nach wenigen Wochen<br />
zum Zusammenbruch Polens.<br />
Die Brüder Gottfried und Franz Ehrle<br />
aus Wangen im Allgäu waren als Angehörige<br />
der 1. Gebirgs-Division seit<br />
dem Ausbruch der Kämpfe im<br />
Kriegseinsatz. Ihre unmittelbaren<br />
Kriegseindrücke hielten sie auf zahlreichen<br />
Fotografien fest, die nach Auskunft<br />
einer noch lebenden Verwandten<br />
für eine Fotoausstellung nach dem<br />
Kriege Material bieten sollten. Überliefert<br />
sind 41 Filme, die den Polenfeldzug<br />
von 1939, den Einsatz in Frankreich<br />
1940 sowie in Rumänien und<br />
Russland 1941 und 1942 dokumentieren.<br />
Die hier gezeigten Aufnahmen entstanden<br />
unmittelbar nach Kriegsausbruch:<br />
Eingebunden in das XVIII. Gebirgs-Armee-Korps,<br />
überschritten die<br />
Gebirgsjäger-Regimenter 98, 99 und<br />
100 die slowakisch-polnische Grenze<br />
am 5. September mit dem Befehl, den<br />
5 Gefallene. Aufnahme der Brüder Ehrle vom September 1939.<br />
Militärgeschichte im Bild<br />
strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt<br />
Lemberg einzunehmen. Bis<br />
<strong>zur</strong> endgültigen Einnahme der Stadt<br />
am 21. September fielen 405 Soldaten<br />
der 1. Gebirgs-Division, 918 wurden<br />
verwundet. Über 10 000 polnische Soldaten<br />
gerieten in Gefangenschaft; <strong>zur</strong><br />
hohen Zahl polnischer Verwundeter<br />
und Gefallener gibt es keine zuverlässigen<br />
Angaben.<br />
Der Beginn des Zweiten Weltkrieges<br />
mit seinen katastrophalen Folgen für<br />
das gesamte Europa ist in der Literatur<br />
unzählige Male geschildert worden.<br />
Welches Bild Gottfried und Franz Ehrle<br />
mit der beabsichtigten Fotoausstellung<br />
genau zeichnen wollten, muss offen<br />
bleiben; beide fielen während des<br />
Krieges. Das offizielle Berlin versäumte<br />
es jedenfalls nicht, noch 1939 eine Dokumentation<br />
vorzulegen, mit der die<br />
vermeintliche Schuld Polens am Kriegsausbruch<br />
belegt werden sollte. Dem<br />
amtlichen »Weißbuch« zum Kriegsausbruch<br />
folgte noch im Dezember 1939<br />
eine Sammlung der »Dokumente <strong>zur</strong><br />
Vorgeschichte des Krieges‹, zu denen<br />
Außenminister Joachim von Ribbentrop<br />
in seinem Vorwort schrieb, dass<br />
»sie den systematischen Ausrottungskampf,<br />
den die Polen seit dem Weltkrieg<br />
gegen das Deutschtum in Polen<br />
und gegen Danzig geführt haben«, bewiesen.<br />
Zahlreiche weitere »Dokumente<br />
polnischer Grausamkeit« (so der<br />
Privat<br />
Titel einer im Auftrag des Auswärtigen<br />
Amtes herausgegebenen Quellensammlung<br />
mit zahlreichen Bilddokumenten)<br />
folgten, deren Zielsetzung in<br />
der Rückschau nur zu offensichtlich<br />
ist: Die Propaganda von dem »uns aufgezwungenen<br />
Kampf« – so die Worte<br />
Ribbentrops – sollte den verbrecherischen<br />
Charakter des Angriffskrieges<br />
auf Polen verschleiern.<br />
Die Aufnahmen der Gebrüder Ehrle<br />
sind frei von solchen Intentionen. Sie<br />
zeigen den oft banalen Alltag im<br />
Kriege; sie zeigen die Opfer des<br />
Krieges. Vielleicht liegt für uns Nachgeborene<br />
hierin der eigentliche Quellenwert<br />
solcher Bildersammlungen,<br />
wie sie in großer Zahl erhalten sind. Sie<br />
vermitteln auch siebzig Jahre nach dem<br />
Kriegsende eine Wirklichkeit, die gerade<br />
den Jüngeren kaum mehr als eine<br />
solche erscheint – wurde doch durch<br />
die Aussöhnung Deutschlands mit seinen<br />
Nachbarn, die Integration Europas<br />
und das Ende des Kalten Krieges eine<br />
neue Wirklichkeit geschaffen. Aufnahmen<br />
dieser Art sind eine stete Mahnung<br />
daran, den 1945 eingeschlagenen<br />
Weg fortzusetzen, im Wissen um die<br />
Schrecken der Vergangenheit, wie sie<br />
die wohl meisten Beteiligten der<br />
Kriegsparteien – Zivilisten wie Soldaten<br />
gleichermaßen – erleiden mussten.<br />
Die Gebrüder Ehrle erlebten das<br />
Kriegsende und den Frieden nicht<br />
mehr, doch ist ein schriftliches Dokument<br />
erhalten, das den nur allzumenschlichen<br />
Wunsch auf eine andere,<br />
bessere Zukunft zum Ausdruck bringt.<br />
Im Felde schrieb Franz Ehrle am<br />
10. Oktober 1943 eine Feldpostkarte an<br />
seine Mutter, in der es heißt: »Liebes<br />
Manterle! Zu Deinem kommenden Namenstage<br />
wünscht Dir alles, alles Gute,<br />
vor allem Gesundheit, ein langes Leben<br />
und den nächsten Namenstag im<br />
Frieden und zuletzt den Himmel! Von<br />
Herzen Dein Sohn Franz.«<br />
Alexander Jaser<br />
Literaturtipp<br />
Hermann Frank Meyer, Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgs-<br />
Division im Zweiten Weltkrieg. Berlin 2008 (als Lesetipp<br />
auf S. 27).<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2009<br />
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