Freiwilligenbericht - Bundesministerium für Arbeit, Soziales und ...

Freiwilligenbericht - Bundesministerium für Arbeit, Soziales und ... Freiwilligenbericht - Bundesministerium für Arbeit, Soziales und ...

07.01.2013 Aufrufe

9. FREIWILLIGES ENGAGEMENT UND MIGRANTINNEN/MIGRANTEN Umweltverbesserung und zur Förderung des Umweltbewusstseins eingebunden, großteils in Partnerschaft mit einheimischen Ehrenamtlichen. Vergleichbare Initiativen existieren seit vielen Jahren auch in den Niederlanden, ein Good-Practice-Beispiel ist etwa das Projekt „Stap Twee“, in dessen Rahmen zwischen 2001 und 2005 Maßnahmen zur interkulturellen Öffnung der Mainstream-Organisationen entwickelt und umgesetzt wurden (Huth 2003). Als verantwortlich für die Beharrlichkeit der Zugangshindernisse gelten in der internationalen Literatur Faktoren wie die fragile aufenthaltsrechtliche und (sozial-) rechtliche Lage mancher Gruppen (gilt besonders für AsylwerberInnen); die soziale Abschließung der Mainstreamorganisationen; die starke Binnenorientierung mancher migrantischer Populationen bei fehlenden Brückenkontakten („weak ties“, „social links“) zu Mitgliedern bzw. in Kernbereiche der Mehrheitsgesellschaft; das Vorhandensein traditioneller Wertorientierungen und Rollenbilder, welche die Teilnahme an posttraditionalen Formen des Freiwilligenengagements (Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen etc.) bremsen; schließlich die sozial benachteiligte Lage und Bildungsferne mancher Gruppierungen, welche die Bereitschaft zu ziviler Partizipation in allgemeiner Weise hemmen. Ehrenamtliche Aktivitäten der migrantischen Bevölkerung entfalten sich vorwiegend im Rahmen von Selbstorganisationen sowie im informellen Bereich, etwa der Nachbarschaftshilfe. Um die restriktiven Bedingungen im Zuwanderungsland meistern zu können, sind Migrantinnen und Migranten vielfach auf das familiär-verwandtschaftliche und ethnische Selbsthilfepotenzial angewiesen. Informelle Unterstützung in der (herkunftsmäßig häufig homogenen) Nachbarschaft, beispielsweise bei Haushaltshilfe oder Renovierungsarbeiten, Kinderaufsicht oder Krankenversorgung sowie im Rahmen von Behördenkontakten, ist eine weit verbreitete Praxis (Reinprecht 1999). Teilweise kann dafür auch auf transnational aufgespannte soziale Beziehungsressourcen zurückgegriffen werden, etwa auf Familienmitglieder oder Verwandte, die in verschiedenen Ländern leben und sich gegenseitig unterstützen (Fernandez de la Hoz 2004). Eine nicht minder wichtige Ressource bildet die Infrastruktur der migrantischen und ethnischen Selbstorganisationen (Kultur- und Elternvereine, Sport- und Berufsvereinigungen, weltanschauliche und religiöse Gemeinschaften etc.). Diese erfüllen zahlreiche wichtige Funktionen bei der Bewältigung des Lebensalltags: Sie dienen als „Anpassungsschleuse“ für neu Zugewanderte (Treibel 2003) und vermitteln sozial-emotive, instrumentelle und materielle Hilfe auch in späteren Phasen des Migrationsprozesses; sie fördern die Pflege und den Transfer der Herkunftskultur und tragen somit zur Bildung individueller und kollektiver Identität bei; sie stärken das soziale Kapital, „indem sie erfolgreiche und qualifizierte Repräsentanten ihrer Community an sich binden und deren Kenntnisse und Verbindungen nutzen“ (Gaitanides 2003: 44), wodurch die Vereine auch eine wichtige Funktion als Brücke in die Aufnahmegesellschaft erhalten. Angebote wie Sprach- und Alphabetisierungskurse, Berufsförderung, Kulturvermittlung, Kinderbetreuung, Altenpflege etc. helfen, soziale Barrieren und Benachteiligungen zu kompensieren (in Wien nennen 41 % der Migranten- und Migrantinnenvereine entsprechende Integrationsinitiativen; Waldrauch/Sohler 2004: 168). Indem sie als Sprachrohr für kollektive Interessen sowie als Ansprechpartner bei Konfliktsituationen und für dialogische Aushandlungsprozesse 140

9. FREIWILLIGES ENGAGEMENT UND MIGRANTINNEN/MIGRANTEN auftreten, erfüllen die Vereine eine wichtige Funktion als (sozio-)politische Interessenvertretung. Die genannten Aspekte – Bedürfnis nach kultureller Zugehörigkeit und sozialer Integration, Unterstützung und Aktivität, Sicherheit und Anerkennung – spiegeln sich auch in Forschungen zu Motiven der Freiwilligenarbeit in migrantischen Bevölkerungsgruppen. Eine rezente österreichische Studie (Reinprecht/Gapp 2006) verweist auf mehrschichtige Motivbündel, wobei das Bedürfnis nach sozialer Einbindung und gesellschaftlicher Anerkennung gegenüber dem altruistischen oder auch weltanschaulichen Motiv überwiegt. Wichtig sind auch Stabilisierung bzw. Zugewinn von berufsbezogenen Kompetenzen, die im Prozess der grenzüberschreitenden Wanderung von Entwertung bedroht sind. Vergleichsanalysen zwischen migrantischen und einheimischen Bevölkerungsgruppen zeigen, dass ehrenamtliche Praktiken wesentlich dazu beitragen, das unter Migrantinnen und Migranten ausgeprägte Gefühl von „komplexer Unsicherheit“ (Reinprecht 2006) zu mildern. Die vielschichtige Funktion migrantischer und ethnischer Selbstorganisationen erhielt in der integrationspolitischen Debatte der letzten Jahre vermehrte Aufmerksamkeit und Wertschätzung. Ihre Rolle ist allerdings differenziert einzuschätzen: Zum einen ist Ehrenamtlichkeit häufig in Strategien der Existenzbewältigung eingebunden, d. h. die Betroffenen bewerten sie häufig nicht als freiwillige und auf andere bezogene Tätigkeit, sondern als Notwendigkeit für das eigene Überleben. Traditionelle Normverpflichtungen im Rahmen etablierter Hierarchien von Geschlechtsrollen und Altersgruppen strukturieren die sozialen Praktiken der Freiwilligenarbeit. Dies gilt nicht nur für informelle, in generationsübergreifende Solidarbeziehungen eingebettete Tätigkeiten (zum ausgeprägten Verpflichtungscharakter in MigrantInnenfamilien, Nauck 2004), sondern insbesondere auch für die in migrantischen und ethnischen Organisationen geleistete Freiwilligenarbeit, in der tradierte Hierarchien und Ordnungsvorstellungen die Aufgaben zuweisen. Zum anderen muss die quantitative Bedeutung sozio-politischer Selbstorganisation realistisch beurteilt werden: Nur ein Teil der migrantischen Bevölkerung ist in Vereinen organisiert. Studien, die eine Bestandsaufnahme von Selbstorganisationen versuchen, stellen zumeist eine unübersehbare Vielfalt an Vereinen fest: Waldrauch und Sohler (2004) zählen allein für Wien 728 Organisationen, davon 554 Vereine. Die Studie des Zentrums für Migrantinnen und Migranten in Tirol berichtet für Tirol und Vorarlberg von 447 Vereinen, wobei sowohl Organisationsdichte als auch Aktivitätsschwerpunkte nach Herkunft und soziologischem Profil der Migration variieren (so gilt die Organisationsdichte unter der rezenten Zuwanderung aus dem subsahariellen Afrika und Asien als überdurchschnittlich hoch, während dies unter der traditionellen Arbeitsmigration stärker für die türkische Migration zutrifft, Sohler 2007; auch Bratic 2003). In welchem Ausmaß die migrantische Bevölkerung in die Tätigkeit dieser Vereine aktiv eingebunden ist, lässt sich aus solchen Bestandsaufnahmen jedoch nicht schließen. Befragungen unter migrantischen Bevölkerungsgruppen deuten darauf hin, dass etwa ein Viertel der Zielgruppe in Organisationen engagiert ist, wobei Grad und Art der Einbindung von Merkmalen wie Herkunft, Sozialstruktur und Einwanderungskontext abhängen. Im Rahmen der eigenen Forschungen gaben 25 % der älteren Arbeitsmigrantinnen und - migranten an, in Vereinen organisiert zu sein, wobei der Wert für Türkeistämmige mit 141

9. FREIWILLIGES ENGAGEMENT UND MIGRANTINNEN/MIGRANTEN<br />

auftreten, erfüllen die Vereine eine wichtige Funktion als (sozio-)politische<br />

Interessenvertretung.<br />

Die genannten Aspekte – Bedürfnis nach kultureller Zugehörigkeit <strong>und</strong> sozialer Integration,<br />

Unterstützung <strong>und</strong> Aktivität, Sicherheit <strong>und</strong> Anerkennung – spiegeln sich auch in<br />

Forschungen zu Motiven der Freiwilligenarbeit in migrantischen Bevölkerungsgruppen.<br />

Eine rezente österreichische Studie (Reinprecht/Gapp 2006) verweist auf mehrschichtige<br />

Motivbündel, wobei das Bedürfnis nach sozialer Einbindung <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Anerkennung gegenüber dem altruistischen oder auch weltanschaulichen Motiv überwiegt.<br />

Wichtig sind auch Stabilisierung bzw. Zugewinn von berufsbezogenen Kompetenzen, die<br />

im Prozess der grenzüberschreitenden Wanderung von Entwertung bedroht sind.<br />

Vergleichsanalysen zwischen migrantischen <strong>und</strong> einheimischen Bevölkerungsgruppen<br />

zeigen, dass ehrenamtliche Praktiken wesentlich dazu beitragen, das unter Migrantinnen<br />

<strong>und</strong> Migranten ausgeprägte Gefühl von „komplexer Unsicherheit“ (Reinprecht 2006) zu<br />

mildern.<br />

Die vielschichtige Funktion migrantischer <strong>und</strong> ethnischer Selbstorganisationen erhielt in<br />

der integrationspolitischen Debatte der letzten Jahre vermehrte Aufmerksamkeit <strong>und</strong><br />

Wertschätzung. Ihre Rolle ist allerdings differenziert einzuschätzen: Zum einen ist<br />

Ehrenamtlichkeit häufig in Strategien der Existenzbewältigung eingeb<strong>und</strong>en, d. h. die<br />

Betroffenen bewerten sie häufig nicht als freiwillige <strong>und</strong> auf andere bezogene Tätigkeit,<br />

sondern als Notwendigkeit <strong>für</strong> das eigene Überleben. Traditionelle Normverpflichtungen im<br />

Rahmen etablierter Hierarchien von Geschlechtsrollen <strong>und</strong> Altersgruppen strukturieren die<br />

sozialen Praktiken der Freiwilligenarbeit. Dies gilt nicht nur <strong>für</strong> informelle, in<br />

generationsübergreifende Solidarbeziehungen eingebettete Tätigkeiten (zum<br />

ausgeprägten Verpflichtungscharakter in MigrantInnenfamilien, Nauck 2004), sondern<br />

insbesondere auch <strong>für</strong> die in migrantischen <strong>und</strong> ethnischen Organisationen geleistete<br />

Freiwilligenarbeit, in der tradierte Hierarchien <strong>und</strong> Ordnungsvorstellungen die Aufgaben<br />

zuweisen. Zum anderen muss die quantitative Bedeutung sozio-politischer<br />

Selbstorganisation realistisch beurteilt werden: Nur ein Teil der migrantischen Bevölkerung<br />

ist in Vereinen organisiert. Studien, die eine Bestandsaufnahme von Selbstorganisationen<br />

versuchen, stellen zumeist eine unübersehbare Vielfalt an Vereinen fest: Waldrauch <strong>und</strong><br />

Sohler (2004) zählen allein <strong>für</strong> Wien 728 Organisationen, davon 554 Vereine. Die Studie<br />

des Zentrums <strong>für</strong> Migrantinnen <strong>und</strong> Migranten in Tirol berichtet <strong>für</strong> Tirol <strong>und</strong> Vorarlberg von<br />

447 Vereinen, wobei sowohl Organisationsdichte als auch Aktivitätsschwerpunkte nach<br />

Herkunft <strong>und</strong> soziologischem Profil der Migration variieren (so gilt die Organisationsdichte<br />

unter der rezenten Zuwanderung aus dem subsahariellen Afrika <strong>und</strong> Asien als<br />

überdurchschnittlich hoch, während dies unter der traditionellen <strong>Arbeit</strong>smigration stärker<br />

<strong>für</strong> die türkische Migration zutrifft, Sohler 2007; auch Bratic 2003). In welchem Ausmaß die<br />

migrantische Bevölkerung in die Tätigkeit dieser Vereine aktiv eingeb<strong>und</strong>en ist, lässt sich<br />

aus solchen Bestandsaufnahmen jedoch nicht schließen. Befragungen unter<br />

migrantischen Bevölkerungsgruppen deuten darauf hin, dass etwa ein Viertel der<br />

Zielgruppe in Organisationen engagiert ist, wobei Grad <strong>und</strong> Art der Einbindung von<br />

Merkmalen wie Herkunft, Sozialstruktur <strong>und</strong> Einwanderungskontext abhängen. Im<br />

Rahmen der eigenen Forschungen gaben 25 % der älteren <strong>Arbeit</strong>smigrantinnen <strong>und</strong> -<br />

migranten an, in Vereinen organisiert zu sein, wobei der Wert <strong>für</strong> Türkeistämmige mit<br />

141

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!