Er sah und glaubte - Una Voce Deutschland eV
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306 Krystian Skoczowski<br />
3.2. Die Melodien des Gregorianischen Chorals nach den <strong>Er</strong>kenntnissen der gregorianischen<br />
Semiologie<br />
Auch in Hinblick auf die Melodien bietet die gregorianische Semiologie Möglichkeiten<br />
für <strong>Er</strong>kenntnisse, die älteren Interpretationsschulen verborgen bleiben. Dies gilt<br />
im Detail für die melodische Beziehung der Tonstufen zueinander, wenn diese durch<br />
rhythmische Differenzierung im melodischen Verlauf hervorgehoben oder nivelliert<br />
werden23 . Über solche Beobachtungen im Detail hinaus betreffen die <strong>Er</strong>kenntnisse der<br />
Semiologie oft auch die melodische Substanz der Gesänge. Wie bereits beschrieben,<br />
werden durch synoptische Studien der frühesten adiastematischen <strong>und</strong> diastematischen<br />
Quellen die auf späteren Quellen gründenden Melodiefassungen der Editio Vaticana<br />
an vielen Stellen in Frage gestellt. Auch wenn die semiologisch begründete Restitution<br />
einer archaischen Melodiefassung spekulativ bleibt – dies ist die zwangsläufige Folge<br />
der Anwendung einer synoptischen Methode an einer Auswahl divergierender Quellen<br />
– ist der Zweifel an der Fassung der Vaticana aus Sicht der Semiologie legitim. Dieser<br />
Zweifel motiviert zum Studium der Gesänge <strong>und</strong> zum <strong>Er</strong>k<strong>und</strong>en der Gesetzmäßigkeiten<br />
ihres melodischen Verlaufs. Hier besteht die Möglichkeit zu vertiefter <strong>Er</strong>kenntnis,<br />
<strong>und</strong> ein vertiefter Blick auf das Innere der Melodien wird jeglicher Interpretation eine<br />
festere Gr<strong>und</strong>lage geben. Diese letzte Aussage mag aus wissenschaftlicher Sicht ein Allgemeinplatz<br />
sein, aber aus der Sicht des Musikers ist sie von hoher Bedeutung: Der wissenschaftliche<br />
Gegenstand der gregorianischen Semiologie ist die musikalische Interpretation,<br />
<strong>und</strong> in diesem Sinne kann sie ihre Wirksamkeit hier am weitesten entfalten.<br />
(Fortsetzung im nächsten Heft)<br />
23 So verdeutlichen zum Beispiel die Nicht-Kurrenzen am Beginn des Offertoriums »Ave Maria«<br />
oder der Communio »Hoc corpus« die dem achten Ton eigentümliche Spannung zwischen<br />
der Finalis <strong>und</strong> den sie umgebenden Ganztönen. Der Notentext der Editio Vaticana<br />
alleine vermag diese Tonbeziehungen nicht mit solcher Deutlichkeit darzustellen (Notenbeispiele<br />
aus dem Graduale Triplex, Solesmes 1979):