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Er sah und glaubte - Una Voce Deutschland eV

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Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der gregorianischen Semiologie<br />

301<br />

Gliederungszeichen (senkrechtes Episem: Zeichen für den sog. rhythmischen Iktus 13 ).<br />

Hinzu treten einige wenige Regeln für den rhythmischen Umgang mit bestimmten melodischen<br />

Phänomenen (Pressus 14 , Quilisma 15 , Mora vocis, Liqueszenz). Diese Regeln <strong>und</strong><br />

mehr noch die Episemien entwickelte Mocquereau aufgr<strong>und</strong> des Studiums der ältesten<br />

verfügbaren Quellen, vor allem der Handschriften der St.-Galler Schreibschule. Dabei<br />

ging er behutsam vor, denn keineswegs übertrug er jeden semeiographischen Hinweis<br />

auf rhythmische Dehnung in den Notentext der Editio Vaticana, <strong>und</strong> auf eine Adaption<br />

schneller Neumen verzichtet er ganz. Vielmehr beschränkte er sich bei der Rhythmisierung<br />

der liturgischen Melodien vor allem auf die Dehnung exponierter Stellen <strong>und</strong> der<br />

Kadenzen. Daraus wird ersichtlich, daß Mocquereau nicht das Ziel einer historischen Aufführungspraxis<br />

des Gregorianischen Chorals vor Augen hatte, sondern den Choral in die<br />

lebendige Musikästhetik seiner Zeit zu integrieren suchte 16 <strong>und</strong> bei einer möglichst breiten<br />

Praxis zugleich dem ursprünglichen musikalischen Sinn der Melodien durch paläographische<br />

Studien näherkommen wollte. Dem Ausgleich zwischen diesen unterschiedlichen<br />

Ansprüchen dient die solesmensische Aufführungspraxis des gregorianischen Chorals.<br />

13 Der Themenkreis des rhythmischen Iktus in Mocquereaus System ist für deutsche Muttersprachler<br />

schwer verständlich. Dies stellt bereits P. Dominikus Johner OSB in seiner Choralschule<br />

fest. <strong>Er</strong> empfiehlt deutschsprachigen Sängern, alternativ zu den Ikten der Solesmenser<br />

Ausgaben den rhythmischen Gliederungspunkt mit den Wortakzenten einhergehen<br />

zu lassen (D. Johner: »Neue Schule des gregorianischen Choralgesanges«, Regensburg 1921,<br />

S. 33f). Von Gegnern der Solesmes-Schule wird der rhythmische Iktus gerne als Hauptargument<br />

für deren Irrigkeit angeführt. Dieser Argumentation liegt aber ein Mißverständnis<br />

zugr<strong>und</strong>e. So bezeichnet Christian Dostal den rhythmischen Iktus in einem kirchenmusikalischen<br />

Lehrbuch als »Betonungszeichen« (Christian Dostal: »Der Gregorianische Choral«,<br />

in: »Basiswissen Kirchenmusik«, Band 1, Stuttgart 2009, S. 75). Nach Mocquereau handelt es<br />

sich beim Iktus aber keineswegs um eine Betonung, vielmehr ist dieser akzentneutral, da<br />

er sowohl auf betonte als auch auf unbetonte Silben fallen kann. (Dom André Mocquereau:<br />

»Le Nombre Musical Grégorien«, Tome I, Tournai 1908, S. 66 ff., besonders S. 70: »L‘ictus<br />

rythmique se place tantôt à l‘arsis, tantôt à la thésis.«)<br />

14 Die Pressus-Regel ist aus Sicht des Neumenstudiums eine der angreifbarsten Regeln der<br />

solesmensischen Aufführungspraxis, da sie unabhängig vom semeiographischen Bef<strong>und</strong><br />

fast jedes Aufeinandertreffen zweier gleicher Töne, die auf gleicher Silbe von einem tieferen<br />

gefolgt werden, gleich behandelt. So entstehen im Quadratnotentext zahlreiche Pressus<br />

an Stellen, die aufgr<strong>und</strong> der Neumenquellen nicht als Pressus gruppiert werden dürften.<br />

15 Die Regeln der solesmensischen Aufführungspraxis sehen beim Quilisma eigentlich eine<br />

leichte Dehnung des vorangehenden Tons bzw. differenzierte Dehnungen der vorangehenden<br />

Töne vor (Dom Grégoire Suñol: »Méthode complète de chant grégorien d‘après les<br />

principes de l‘école de Solesmes«, Tournai 1922, S. 88). In der Praxis hat sich vielerorts vereinfachend<br />

die Wertverdoppelung des Tons vor dem Quilisma durchgesetzt.<br />

16 Wie zeitgeb<strong>und</strong>en die musikalisch-ästhetische Gr<strong>und</strong>anschauung auch in Hinblick auf den<br />

Choral ist, können historische Tonaufnahmen verdeutlichen, z. B. die Schallplatten-Aufnahmen<br />

der Mönche von Solesmes unter Dom Joseph Gajard aus den 1930er Jahren (als CD<br />

reproduziert: Chants Grégoirens, CDBL 1005/2, 2003).

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