Er sah und glaubte - Una Voce Deutschland eV
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Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der gregorianischen Semiologie<br />
in der liturgischen Aufführungspraxis (Teil 1)<br />
von Krystian Skoczowski<br />
Teil 1<br />
1. Begriff <strong>und</strong> Ziel der gregorianischen Semiologie<br />
2. Edition <strong>und</strong> Interpretation des Gregorianischen Chorals im 20. Jh.<br />
3. Möglichkeiten der gregorianischen Semiologie<br />
Teil 2<br />
4. Konfliktfelder der gregorianischen Semiologie in der liturgischen Praxis<br />
5. Wissenschaftliche Vorbehalte gegen die gregorianische Semiologie<br />
6. Lösungsansätze für die liturgische Aufführungspraxis<br />
7. Zusammenfassung<br />
1. Begriff <strong>und</strong> Ziel der gregorianischen Semiologie<br />
297<br />
Unter dem Titel »Gregorianische Semiologie« erschien im Jahr 1968 ein Buch in italienischer<br />
Sprache 1 ,in dem Dom Eugène Cardine (1905-1988), Benediktiner der nordfranzösischen<br />
Abtei Solesmes, die <strong>Er</strong>gebnisse seiner seit 1948 betriebenen paläographischen<br />
Studien vorstellt. Zu Beginn seiner Ausführungen legt Cardine den Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
die Notwendigkeit solcher Forschung dar: In den ältesten musikalischen Handschriften<br />
des Gregorianischen Chorals können die Neumen gleicher melodischer Wendungen verschiedene<br />
Formen annehmen. Die Verschiedenheit der Zeichen deutet auf deren unterschiedliche<br />
Bedeutung für die Interpretation hin. Daher ist es nach Cardine notwendig,<br />
nach dem Gr<strong>und</strong> (logos) für die Verschiedenheit der Zeichen (semeion) zu suchen, um<br />
daraus »die gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien abzuleiten, die für eine authentische <strong>und</strong> objektive<br />
Interpretation maßgebend sind.« 2 Damit definiert er den Begriff <strong>und</strong> das Ziel der<br />
gregorianischen Semiologie: eine authentische <strong>und</strong> objektive Interpretation, mit anderen<br />
Worten: die historische Aufführungspraxis des Gregorianischen Chorals. In den 20 Kapiteln<br />
der »Gregorianischen Semiologie« werden die einzelnen Neumen auf ihre melodische<br />
Bedeutung <strong>und</strong> auf ihre Bedeutung für die Interpretation 3 hin untersucht. Die <strong>Er</strong>gebnisse<br />
1 »Semiologia Gregoriana«, Rom 1968. Auf französisch erschien die »Sémiologie Gregorienne«<br />
1970. Hier ist sie nach der deutschen Ausgabe zitiert: Eugène Cardine: »Gregorianische Semiologie«,<br />
Solesmes 2003.<br />
2 a.a.O., S. 2.<br />
3 Der Begriff »Interpretation« ist mehrdeutig. Cardine verwendet ihn bei der Analyse der Neumen<br />
im Sinne von »musikalischer Ausdruck«. Während er in den ersten Kapiteln stets die<br />
»Bedeutung für die Interpretation« bespricht, überschreibt er die entsprechende Stelle des