Rudolf Steiners Zugang zum Christentum - Rudolf Steiner Archiv
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68 Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> <strong>Zugang</strong> <strong>zum</strong> <strong>Christentum</strong><br />
In seiner Autobiographie «Mein Lebensgang»<br />
berichtet <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>, daß er im<br />
Winter 1901/1902 vor Mitgliedern der<br />
Theosophischen Gesellschaft in Berlin<br />
eine Vortragsreihe über «Das <strong>Christentum</strong><br />
als mystische Tatsache» gehalten<br />
habe. Er schreibt:<br />
«Ich habe von Anfang an erkennen<br />
lassen, daß die Wahl des Titels ‹als mystische<br />
Tatsache› wichtig ist. Denn ich<br />
habe nicht einfach den mystischen Gehalt<br />
des <strong>Christentum</strong>s darstellen wollen.<br />
Ich hatte <strong>zum</strong> Ziele, die Entwicklung von<br />
den alten Mysterien <strong>zum</strong> Mysterium von<br />
Golgatha hin so darzustellen, daß in dieser<br />
Entwicklung nicht bloß die irdisch<br />
geschichtlichen Kräfte wirken, sondern<br />
geistige, außerirdische Impulse. Und ich<br />
wollte zeigen, daß in den alten Mysterien<br />
Kultbilder kosmischer Vorgänge gegeben<br />
waren, die dann in dem Mysterium<br />
von Golgatha als aus dem Kosmos<br />
auf die Erde versetzte Tatsache auf die<br />
Plane der Geschichte sich vollzogen.» 1<br />
Diese späte Inhaltsangabe formulierte<br />
<strong>Steiner</strong> – soweit ersichtlich – aus der Erinnerung,<br />
auch aufgrund der Arbeit an<br />
den verschiedenen Auflagen seines Buches<br />
«Das <strong>Christentum</strong> als mystische<br />
Tatsache» 2 (ab 1910 mit dem Zusatz<br />
«und die Mysterien des Altertums»).<br />
Noch während der Vortragsreihe, im Dezember<br />
1901, forderten Graf und Gräfin<br />
Brockdorf <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> auf, der Theosophischen<br />
Gesellschaft beizutreten und<br />
1 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Mein Lebensgang (GA 28).<br />
Kap. 30. Diese Aussagen beziehen sich sowohl<br />
auf die Vortragsreihe als auch auf das<br />
im Herbst 1902 herausgebrachte Buch desselben<br />
Titels.<br />
2 GA 8 (1902, 1910, 1925).<br />
3 Christoph Lindenberg: <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>. Eine<br />
Chronik. Stuttgart 1988. S. 192.<br />
in Deutschland die Leitung der theosophischen<br />
Arbeit zu übernehmen. 3<br />
Die 24 Vorträge über das <strong>Christentum</strong><br />
sind offiziell nicht mitgeschrieben.<br />
<strong>Steiner</strong> sprach wie immer frei, weshalb<br />
auch keine Aufzeichnungen aus seiner<br />
Hand vorliegen. Sollte es dennoch<br />
solche Aufzeichnungen gegeben haben,<br />
so haben sie gewiß die Ausarbeitung der<br />
Buchfassung nicht überdauert.<br />
Vortragsnachschriften<br />
Viele Jahre später tauchten Nachschriften<br />
auf, die ein Berliner Zuhörer (Franz<br />
Seiler) aus einer stenographischen Mitschrift<br />
angefertigt hatte. Die Nachschriften<br />
sind mit der Schreibmaschine geschrieben<br />
und wurden im Laufe der Jahre<br />
immer wieder kopiert. Nähere Einzelheiten<br />
sind mir unbekannt. Ich bemerkte<br />
aber, daß zahlreiche Persönlichkeiten<br />
innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft<br />
solche Kopien besaßen bzw.<br />
besitzen. Mehrere Anfragen bei der<br />
<strong>Rudolf</strong><strong>Steiner</strong>Nachlaßverwaltung ergaben,<br />
daß die Nachschriften Seilers in<br />
mancherlei Hinsicht für unzuverlässig<br />
gehalten werden, weshalb über eine<br />
Veröffentlichung noch nicht entschieden<br />
sei. Der Biograph <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong>,<br />
Christoph Lindenberg, dem die Nachschriften<br />
ebenfalls vorlagen, äußerte<br />
sich dazu wie folgt:<br />
«Die in manchen Einzelheiten unzuverlässige<br />
und bisher unpublizierte<br />
Nachschrift der ursprünglichen Vorträge<br />
über ‹Das <strong>Christentum</strong> als mystische Tatsache›<br />
zeigt, daß <strong>Steiner</strong> viele weitere<br />
zeitgenössische Schriften studiert hat.<br />
Zugleich wird aus dieser Nachschrift<br />
deutlich, daß <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> bei Beginn<br />
seiner Vorträge das spätere Konzept des<br />
Ostern 2006 Anthroposophie
Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
dann im Sommer 1902 geschriebenen<br />
Buches noch nicht vor Augen stand.<br />
Während der Vorträge tastete er sich<br />
Schritt für Schritt an seine Themen<br />
heran, und erst, nachdem er die verschiedenen<br />
Aspekte der Sache studiert<br />
und vorgetragen hatte, entwickelte er<br />
das Konzept des Buches mit den klaren<br />
Thesen.» 4<br />
In der bibliografischen Übersicht des<br />
<strong>Rudolf</strong><strong>Steiner</strong>Verlages 1984 sind die<br />
Vorträge zwar im Register vermerkt,<br />
haben aber keine Bandnummer zugeteilt<br />
erhalten.<br />
Nach dem jahrelangen Zögern des<br />
<strong>Rudolf</strong><strong>Steiner</strong>Verlages brachte Ende<br />
2005 überraschend der ArchiatiVerlag<br />
München die Vortragsnachschriften in<br />
zwei Bänden heraus, und zwar unter<br />
dem unzutreffenden Titel «Das <strong>Christentum</strong><br />
und die Mysterien des Altertums» 5 .<br />
Gerade die Wendung «als mystische Tatsache»,<br />
auf welche <strong>Steiner</strong> besonderen<br />
Wert legte, ließ der ArchiatiVerlag<br />
fallen. Die Redaktion der Vorträge hat<br />
Pietro Archiati persönlich übernommen.<br />
Er sorgte für einzelne Erläuterungen in<br />
einem Anmerkungsteil, fügte zahlreiche<br />
Klammerhinweise und Apostrophierungen<br />
ein, welche natürlich mit dem<br />
gesprochenen Wort nichts zu tun haben<br />
können. Die von <strong>Steiner</strong> durchgehend<br />
gebrauchten Worte «theosophisch» und<br />
«Theosophie» änderte Archiati, einem<br />
späteren Wunsche <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> folgend, in<br />
«geisteswissenschaftlich» und «Geisteswissenschaft».<br />
6<br />
4 Christoph Lindenberg: <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>. Eine<br />
Biografie. Band 1. Stuttgart 1997. S. 329.<br />
5 Diese Formulierung gebrauchte <strong>Steiner</strong> weder<br />
für die Vortragsreihe noch für sein Buch<br />
von 1902.<br />
6 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> hat wohl kaum daran gedacht,<br />
gerade für die zahlreichen Mytheninterpretationen<br />
in den Vorträgen das Prädikat<br />
«geisteswissenschaftlich» in Anspruch nehmen<br />
zu wollen.<br />
Anthroposophie Ostern 2006<br />
69<br />
Im Untertitel bezeichnet Archiati<br />
seine Edition als einen «Grundkurs in<br />
Geisteswissenschaft». Am Ende seines<br />
Vorworts faßt er zusammen: «Diese 24<br />
Vorträge sind eine Schatztruhe voller<br />
Kostbarkeiten und Überraschungen.» Er<br />
betrachtet die Vorträge in gegenwärtiger<br />
Wiedergabe als «geistige Nahrung» für<br />
alle suchenden Menschen.<br />
Eine Besprechung der Nachschriften<br />
kann nicht davon absehen, daß sich<br />
nach dem Erscheinen von Christoph<br />
Lindenbergs Buch «Individualismus und<br />
offenbare Religion. <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong><br />
<strong>Zugang</strong> <strong>zum</strong> <strong>Christentum</strong>» (1. Auflage<br />
1970, 2. erweiterter Auflage 1995) heftige<br />
Auseinandersetzungen in der Anthroposophischen<br />
Gesellschaft abgespielt<br />
haben über Lindenbergs Deutung der inhaltlichen<br />
Unterschiede zwischen den<br />
Auflagen 1902 und 1910 von <strong><strong>Steiner</strong>s</strong><br />
Buch «Das <strong>Christentum</strong> als mystische<br />
Tatsache». Es wurde u.a. die Ansicht gegen<br />
Lindenberg vertreten, daß <strong>Rudolf</strong><br />
<strong>Steiner</strong> eines <strong>Zugang</strong>s <strong>zum</strong> <strong>Christentum</strong><br />
nicht bedurft habe und daß daher<br />
wesentliche Aussageunterschiede nicht<br />
bestehen könnten. 7<br />
Unter diesen Umständen muß nach<br />
der nun erfolgten Veröffentlichung von<br />
Interesse sein, ob die Vortragsnachschriften<br />
Lindenbergs seinerzeitige Analyse<br />
stützen oder nicht. Lindenberg war<br />
zu dem Ergebnis gelangt, daß <strong>Rudolf</strong><br />
<strong>Steiner</strong> 1902 die volle Anschauung der<br />
Mysterien von Inkarnation, Tod und leiblicher<br />
Auferstehung Christi noch nicht<br />
besaß. Was sind <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> Kernaussagen<br />
im Winter 1901/1902? Ist seine<br />
Auffassung vom <strong>Christentum</strong> 1901/1902<br />
gegenüber den späteren anthroposophi<br />
7 Lindenbergs Forschungsresultate wurden<br />
aufgegriffen in: Lorenzo Ravagli, Günter Röschert:<br />
Kontinuität und Wandel. Zur Geschichte<br />
der Anthroposophie im Werk <strong>Rudolf</strong><br />
<strong><strong>Steiner</strong>s</strong>. Stuttgart 2003.
70 Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
schen Lehren tatsächlich unvollständig<br />
oder mit diesen sogar unvereinbar? Das<br />
Ergebnis einer darauf abzielenden<br />
Durchsicht der Vorträge ist zwar für eine<br />
sich auf das spätere schriftliche und<br />
mündliche Vortragswerk <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> abstützende<br />
geisteswissenschaftliche<br />
<strong>Christentum</strong>sidee ohne wesentlichen<br />
Belang, nicht aber für den Werdegang<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> und die Entstehung der<br />
Anthroposophie. Natürlich ist es im<br />
Rahmen eines dem Umfang nach beschränkten<br />
Berichtes in einer Zeitschrift<br />
nicht möglich, auf alle 24 Vorträge in extenso<br />
einzugehen; der durchgehenden<br />
Argumentationslinie nachzuforschen<br />
muß daher zunächst genügen.<br />
Mythen und Mysterien<br />
Die Vorträge 1 bis 11 handeln von der<br />
vorsokratischen und der platonischen<br />
Philosophie und von der Welt des griechischen<br />
und ägyptischen Mythos. <strong>Steiner</strong><br />
bemüht sich, das griechische Mysterienwesen<br />
plausibel zu machen. Das<br />
«Stirb und Werde» sei Inhalt der Mysterienkulte<br />
gewesen, was sich besonders<br />
bei Heraklit und Pythagoras als Eingeweihten<br />
zeige. Die Natur werde im Geiste<br />
des Menschen wiedergeboren,<br />
Selbsterkenntnis sei höchste Welterkenntnis.<br />
Dies sei der Kern der Mysterienlehren.<br />
Das «Urwesen» sehe sich<br />
selbst im Menschen. Der Mythos enthalte<br />
Bilder von Mysterienvorgängen. Im<br />
Rahmen der Behandlung des Pythagoräismus<br />
kommt <strong>Steiner</strong> zu der Aussage,<br />
Materie sei gefrorener Geist, sei «nichts<br />
anderes als bloß erscheinender Geist».<br />
Der Pythagoräismus sei ägyptisch beeinflußt.<br />
Gott sei in der Welt, nicht außerhalb<br />
als deren Schöpfer. In diesem Zusammenhang<br />
greift <strong>Steiner</strong> den in seinem<br />
Buch über die Mystik 8 entwickelten<br />
Begriff des «AllIch» auf und bestimmt<br />
ihn als die ursprüngliche «Osirisnatur»<br />
des Weltalls. Die in den Vorträgen enthaltenen<br />
Mythendeutungen dürften heutigen<br />
Ansprüchen der Mythenforschung<br />
kaum mehr genügen. Dies zeigt sich besonders<br />
am 8. Vortrag bei der Behandlung<br />
des HeraklesMythos. 9<br />
<strong>Steiner</strong> trägt ein durch eigene Erfahrungen<br />
gebildetes Deutungsmodell an<br />
die behandelten Mythen heran, wodurch<br />
sich mitunter gewaltsame Ausdeutungen<br />
nicht vermeiden lassen: «In jeder Sage<br />
drückt sich […] jene tiefe Tragik aus,<br />
welche darin liegt, daß die höchste Erkenntnis<br />
erst verloren, versenkt sein<br />
muß in die Tiefe der Materialität, und<br />
daß sie nur auf dem Wege der vollständigen<br />
Selbstverleugnung wieder gefunden<br />
werden kann […]» (I. 178).<br />
<strong>Steiner</strong> betont, daß er den Platonismus<br />
als eine «entschieden mystische<br />
Lehre» auffasse, «als Vorstufe des Neuplatonismus<br />
und der Lehren des ersten<br />
<strong>Christentum</strong>s» (I. 204). Er möchte den<br />
«Zweck» der platonischen Gespräche<br />
darin sehen, «die Menschen von dem<br />
Glauben an die Beweisbarkeit des höheren<br />
Wissens abzubringen» (I. 175). Dafür<br />
gebraucht er den Ausdruck «exoterisches<br />
Herumreden» (I. 216). Es handle<br />
sich bei Platon stets um ein «Hinaufführen<br />
des Menschen zu höheren Bewußtseinszuständen»<br />
(I. 264). Den Dualismus<br />
Sinnlichkeit/Geist habe Platon<br />
aber nicht überwinden können (I. 267).<br />
Die «Erlösung durch die ChristusIdee»<br />
geschehe im Leben, nicht nur im<br />
«bloßen Geist» (I. 271).<br />
8 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Die Mystik im Aufgange des<br />
neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis<br />
zu modernen Weltanschauungen (GA<br />
7). Vgl. dazu Anm. 8.<br />
9 In der Fragenbeantwortung zu diesem Vortrag<br />
setzt <strong>Steiner</strong> den Demiurgen, die Weltseele<br />
und den Logos gleich, was ihm die<br />
Möglichkeit gibt, von dem «am Weltenkreuz<br />
gekreuzigten Logos» zu sprechen.<br />
Ostern 2006 Anthroposophie
Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
<strong><strong>Steiner</strong>s</strong> Aussagen <strong>zum</strong> Platonismus<br />
stützen sich vorwiegend auf die Dialoge<br />
«Phaidon», «Phaidros», «Symposion».<br />
«Politeia», die großen Spätdialoge einschließlich<br />
«Parmenides», die eigentliche<br />
Gotteslehre Platons, und «Nomos» berücksichtigt<br />
<strong>Steiner</strong> nicht. Es gibt lediglich<br />
eine bruchstückartige Erwähnung<br />
des Höhlengleichnisses der «Politeia», bei<br />
der aber gerade die Idee des Guten als<br />
der Sonne des Ideenreiches nicht vorkommt.<br />
Charakteristisch für die MysterienDeutung<br />
des Platonismus durch<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> ist, daß er den mit dem<br />
Höhlen- und Liniengleichnis verknüpften,<br />
für Platon zentralen Weg einer<br />
philosophischen Einweihung durch<br />
Mathematik und Dialektik übergeht. 10<br />
Im 12. Vortrag «Platon und das <strong>Christentum</strong>»<br />
will <strong>Steiner</strong> zeigen, «wie das<br />
<strong>Christentum</strong> sich unter dem Einfluß des<br />
Platonismus entwickelt hat» (I. 273).<br />
Platonismus sei Entwicklung <strong>zum</strong> Übersinnlichen,<br />
zur «Seelenewigkeit». Das<br />
<strong>Christentum</strong> dagegen sei von der sinnlichen<br />
Wahrnehmbarkeit des Erlösers<br />
ausgegangen. Die Erlösung werde also<br />
nicht bewiesen, sondern verbürgt durch<br />
den stellvertretend wirkenden Erlöser<br />
und durch Augenzeugen. <strong>Steiner</strong> nennt<br />
drei Faktoren, die zur Entstehung des<br />
<strong>Christentum</strong>s führten:<br />
– Gott wurde materiell in der Schöpfung;<br />
der in die materielle Welt versenkte<br />
Gottessohn oder Logos führt<br />
zurück <strong>zum</strong> Geiste;<br />
– der Initiationsprozeß ist es, der den<br />
Mysten <strong>zum</strong> Urquell des Daseins<br />
führt, zur eigenen «Vergottung»;<br />
– «Und nun […] denken Sie sich einen<br />
einmaligen geschichtlichen Prozeß,<br />
denken Sie sich einen einzigen Initi<br />
10 Erst in der Buchfassung vom Herbst 1902<br />
findet sich der Ausdruck «philosophische<br />
Einweihung», allerdings bezogen auf den<br />
Pythagoräismus.<br />
Anthroposophie Ostern 2006<br />
71<br />
ierten und denken Sie sich ihn als den<br />
UrInitiierten aufgefaßt, als den stellvertretenden<br />
Initiierten für alle anderen,<br />
dann haben Sie das Bild für den<br />
‹Christus›, wie es sich im ersten Jahrhundert<br />
des <strong>Christentum</strong>s entwickelt<br />
hat.» «Das ist die Auffassung, die die<br />
Theosophie von der Entstehung des<br />
<strong>Christentum</strong>s hat.» (I. 285.)<br />
Das <strong>Christentum</strong> sei also «stellvertretendes<br />
Mysterium» und als solches<br />
«Sache des Glaubens», verbürgt durch<br />
kirchliche Autorität. Die persönlichen<br />
Wege der Mysterien seien verschlossen<br />
worden.<br />
Das historische <strong>Christentum</strong><br />
als Allegorie<br />
Mit diesen Aussagen ist das Deutungsschema<br />
für das «<strong>Christentum</strong> als mystische<br />
Tatsache» gegeben. In der zweiten<br />
Hälfte der Vortragsreihe, in den Vorträgen<br />
13 bis 24 (1. Februar bis 26. April<br />
1902) versucht <strong>Steiner</strong>, diese Deutung<br />
des <strong>Christentum</strong>s näher zu bestimmen,<br />
insbesondere hinsichtlich der Person des<br />
«Urinitiierten».<br />
Im 13. Vortrag greift <strong>Steiner</strong> die oben<br />
angeführten drei «Vorbedingungen für<br />
die Entstehung des <strong>Christentum</strong>s» auf<br />
und spricht von einer «Verquickung» des<br />
Initiationsprozesses «mit einer geschichtlichen<br />
Tatsache» (II. 7). Wie ist<br />
diese Verquickung zu denken? Das Bindeglied<br />
sieht <strong>Steiner</strong> einerseits in der<br />
Logoslehre des alexandrinischen Philosophen<br />
Philo und andererseits in einer<br />
angenommenen Zugehörigkeit Jesu zur<br />
Essäergemeinde. <strong>Steiner</strong> interpretiert<br />
Philo – der von dem Auftreten des<br />
Christus Jesus nichts wußte – so, daß im<br />
Menschen das Allgemeine der Idee individuell<br />
werde im menschlichen Willen.<br />
Der Mensch verwandle den materiellen<br />
Prozeß individuell im eigenen Leben in<br />
einen geistigen. Gott werde mit Hilfe des
72 Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
Menschen aus der Materie erlöst. Philo<br />
habe aus der jüdischen Mystik geschöpft<br />
– die <strong>Steiner</strong> aber historisch nicht erläutert<br />
– und deren «mystischem Ursymbol»:<br />
Vater rechts, Mutter links, das Kind<br />
in der Mitte. Dieses «Ursymbol» habe<br />
sich verwandelt in das Kreuz des<br />
Christus auf Golgatha mit den Schächern<br />
rechts und links. Im Rahmen einer Fragenbeantwortung<br />
betont <strong>Steiner</strong>, der<br />
«tiefere Gehalt» der jüdischen Mystik<br />
habe «denselben Ursprung wie der<br />
Buddhismus». Auch Philo habe «alles<br />
von Indien erhalten». Noch die an dieser<br />
Stelle gewiß fragmentarische Nachschrift<br />
läßt die Ratlosigkeit der damaligen<br />
Zuhörer nachempfinden.<br />
Im folgenden 14. Vortrag kommt <strong>Steiner</strong><br />
auf die Sekten der Therapeuten und<br />
Essäer zu sprechen. Johannes der Evangelist<br />
habe das Herauswachsen der<br />
christlichen Idee aus der Philosophie<br />
Philos, aus der Therapeuten und Essäerlehre<br />
gezeigt.<br />
Die entscheidenden Aussagen über das<br />
<strong>Christentum</strong>, wie <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> es<br />
1901/1902 sah, sind in den Vorträgen 15<br />
bis 18 enthalten.<br />
Der Lehrgehalt des <strong>Christentum</strong>s sei<br />
«nichts anderes» als ein Ergebnis der<br />
ägyptischen Initiation (II. 51). Es sei eine<br />
«theosophisch festgestellte Tatsache»,<br />
daß das «allegorische Herabsteigen des<br />
Logos» irrigerweise als leibhaftiges Herabsteigen<br />
verstanden worden sei. <strong>Steiner</strong><br />
bezieht sich dabei auf eine Aussage C.W.<br />
Leadbeaters (II. 52), nicht auf eigene<br />
Geistesforschung, sondern auf «Studien,<br />
welche ich bei den Kirchenvätern, bei<br />
den Gnostikern und so weiter gemacht<br />
habe […]» (II. 53). Der Christus Jesus,<br />
den <strong>Steiner</strong> an dieser Stelle und weiter<br />
den «Meister» nennt, ist Initiator für den<br />
esoterischen Pfad der Jünger. Der esoterische<br />
Sinn von «Auferstehung» liege in<br />
dem «Stirb und Werde» (nach Joh. 12,25,<br />
Jakob Böhme, Goethe). Gerade weil die<br />
erwartete Herabkunft des Gottesreiches<br />
nicht eingetreten sei, sei die esoterische<br />
Auffassung des <strong>Christentum</strong>s die einzig<br />
mögliche (II. 62). Der tiefere Gehalt des<br />
<strong>Christentum</strong>s leite sich aus den ägyptischen<br />
Mysterien ab. In Ägypten und Indien<br />
habe man die Herabkunft eines Osiris<br />
bzw. eines Erleuchteten erwartet. Der<br />
«in der ägyptischen Religion lebende<br />
Christusgedanke» habe sich «zu einem<br />
historischen Ereignis umgewandelt» (II.<br />
90). Indisches, ägyptisches und jüdisches<br />
Geistesleben stimmten darin überein,<br />
daß sich Gott selber <strong>zum</strong> Menschen<br />
machen müsse (II. 104). Die Gottwerdung<br />
des Menschen in der Initiation –<br />
mit dreitägigem Grabesschlaf und «Auferstehung»<br />
lebe in der «Christusgeschichte»<br />
als geschichtliches Ereignis<br />
wieder auf (II. 107). Darin liege auch die<br />
Ähnlichkeit zwischen Buddha und Jesusleben<br />
begründet. Selbstverständlich<br />
betrachtet <strong>Steiner</strong> Buddha und Jesus<br />
nicht als bloße Symbolfiguren. Beide<br />
habe es wirklich gegeben, aber eben als<br />
hohe Initiierte «mit einer größtmöglichen<br />
Zahl von Wiederverkörperungen»<br />
(II. 124). «Die christliche Anschauung<br />
sieht in der ChristusPersönlichkeit<br />
einen vergöttlichten Menschen in genau<br />
derselben Weise, wie der Mysterienkult<br />
immer wieder diese vergötterten oder<br />
vergöttlichten Menschen gesehen hat.»<br />
(II. 127) «Wer die Evangelien wirklich zu<br />
lesen vermag, der sieht in ihnen geradezu<br />
nichts anderes als einen […] ausführlichen<br />
Bericht des Rituals, welches dazu<br />
bestimmt war, die Mysten in die Mysterien<br />
einzuweihen.» (II. 128)<br />
Der 19. Vortrag enthält den zusammenfassenden<br />
Satz: «Der Initiationsprozeß<br />
ist es also, der uns im <strong>Christentum</strong><br />
als Inhalt des christlichen Glaubensprozesses<br />
vorliegt.» (II. 138) <strong>Steiner</strong><br />
meint, das Matthäusevangelium zeige,<br />
daß Jesus ein «auf höherer Stufe der<br />
Reinkarnation stehender Mensch» war.<br />
Ostern 2006 Anthroposophie
Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
Die Verklärungsszene (Mt. 17,1 f.), die<br />
<strong>Steiner</strong> teilweise gegen den Text auslegt,<br />
zeige klar, daß Jesus nicht nur Geheimlehrer,<br />
sondern inkarnierter Gott war (II.<br />
140). Er sei Eingeweihter unter anderen<br />
Eingeweihten, großer Volksredner und<br />
zugleich Geheimlehrer gewesen (II.<br />
142). Jesus habe – wie die Lazarusgeschichte<br />
lehre – den Initiationsprozeß<br />
öffentlich gelehrt (II. 148).<br />
Im 20. und 21. Vortrag versucht<br />
<strong>Steiner</strong>, die Apokalypse im Sinne seiner<br />
initiatorischen Auffassung vom <strong>Christentum</strong><br />
zu interpretieren. Im Mittelpunkt<br />
der Auslegung steht die Überzeugung,<br />
daß durch das <strong>Christentum</strong> der Mysterienprozeß<br />
verallgemeinert und in dieser<br />
Form popularisiert wurde. Die Apokalypse<br />
sei «aus der Gnosis heraus zu begreifen».<br />
An die Stelle der Mysterientempel<br />
sei die Kirche getreten. Paulinisches<br />
und johanneisches <strong>Christentum</strong> stellt<br />
<strong>Steiner</strong> im 22. Vortrag einander gegenüber.<br />
Jesus sei Paulus wohl wirklich «im<br />
vergeistigten Leibe» erschienen. 11 Die<br />
Lehre vom Christus Jesus als zweitem<br />
Logos sei dagegen in einer JohannesGeheimschule<br />
entstanden. In dieser sei das<br />
Apostolische Glaubensbekenntnis geformt<br />
worden als Ausdruck des Initiationsprozesses.<br />
In den letzten beiden Vorträgen 23<br />
und 24 behandelt <strong>Steiner</strong> Augustinus<br />
und Johannes Scotus Erigena.<br />
Stellung des Vortragszyklus<br />
im Werk <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong><br />
Die Vorträge 13 bis 24, die hier nur fragmentarisch<br />
und in umrißhafter Form betrachtet<br />
werden konnten, bestätigen Lindenbergs<br />
seinerzeitige Analyse des Textes<br />
der 1. Auflage des Buches «Das <strong>Christentum</strong><br />
als mystische Tatsache» in vol<br />
11 An dieser Stelle kommt <strong>Steiner</strong> seinen späteren<br />
Erkenntnissen am nächsten.<br />
Anthroposophie Ostern 2006<br />
73<br />
lem Umfange. Die Durchsicht der Vortragsnachschriften<br />
zeigt, wie gewaltsam<br />
<strong>Steiner</strong> 1901/1902 mit der christlichen<br />
Überlieferung umgegangen ist. Die hingebungsvolle<br />
Arbeit der kirchlichen<br />
Schriftsteller der ersten nachchristlichen<br />
Jahrhunderte, der Konzilien und Synoden,<br />
die zur allmählichen Ausbildung<br />
eines intellektuell tragfähigen, seelisch<br />
ungemein wirksamen Glaubensbildes<br />
des Christus Jesus geführt hat, berührt<br />
<strong>Steiner</strong> nur am Rande. Die Bezug <br />
nahmen auf indische, ägyptische und<br />
israelitische mystische Traditionen<br />
bleiben merkwürdig unsubstantiiert.<br />
Den Christus Jesus schildert <strong>Steiner</strong><br />
1901/1902 wie einen Bodhisattva. Eine<br />
den Konzilien von Nicäa und Konstantinopel<br />
(325, 381 n. Chr.) gemäße Trinitätsidee<br />
ist den Nachschriften nicht zu<br />
entnehmen. Passion und leibliche Auferstehung<br />
behandelt <strong>Steiner</strong> nicht oder in<br />
mißverständlicher Art. In einer Fragenbeantwortung<br />
<strong>zum</strong> 22. Vortrag findet<br />
sich die Kurznotiz Seilers «Auferstehung<br />
des Fleisches = Reinkarnation» (II. 207,<br />
vgl. auch II. 129).<br />
Auffallend ist die von Seiler wiederholt,<br />
stellenweise gehäuft protokollierte<br />
Redewendung <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> «[…] nichts anderes<br />
als […]». Dieser reduktionistischen<br />
Redewendung ist entgegenzuhalten,<br />
daß der behandelte Gegenstand regelmäßig<br />
doch noch etwas ganz anderes<br />
ist als behauptet.<br />
Zum wirklichen Geheimnis Christi,<br />
wie es sich in den späteren christologischen<br />
Vorträgen <strong><strong>Steiner</strong>s</strong>, in einer geradezu<br />
erhabenen Art im Vortragszyklus<br />
«Von Jesus zu Christus» (1911) darstellt,<br />
ist <strong>Steiner</strong> 1902 – seiner bisherigen<br />
Arbeitsrichtung folgend – noch nicht<br />
durchgestoßen. Es erscheint daher völlig<br />
unvertretbar, die in <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> Autobiographie<br />
mit wenigen aber monumentalen<br />
Worten und mit äußerster Zurückhaltung<br />
erwähnte Begegnungserfahrung
74 Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
biografisch auf die Zeit vor Entstehung<br />
der hier besprochenen Vortragsreihe legen<br />
zu wollen. Umgekehrt ergibt sich die<br />
geistige Größe dieser späteren Erfahrungen<br />
gerade aus den tastenden Unklarheiten<br />
der Aussagen von 1901/1902. 12<br />
Die Edition des<br />
Archiati-Verlages<br />
Die Vorträge sind alles andere als ein<br />
«Grundkurs in Geisteswissenschaft». Sie<br />
bilden eine kontroverse Vorstufe von<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> anthroposophischer<br />
ChristusErkenntnis, die für das Verständnis<br />
der letzteren nur einen Hintergrund<br />
darstellt, jedoch biographisch<br />
bedeutsames Material enthält. Ich halte<br />
die Herausgabe der Nachschriften in der<br />
von Piertro Archiati gewählten Form,<br />
ohne gewissenhafte Hermeneutik, für<br />
unverantwortlich. Leser ohne genügende<br />
Vorkenntnisse können durch diese<br />
Edition nur in Verwirrung geraten.<br />
Mit Sorgfalt sind <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> eigene<br />
Ausführungen in «Mein Lebensgang»<br />
zu bedenken: «Was im ‹<strong>Christentum</strong> als<br />
mystische Tatsache› an Geisterkenntnis<br />
gewonnen ist, das ist aus der Geistwelt<br />
selbst unmittelbar herausgeholt. Erst um<br />
Zuhörern beim Vortrag, Lesern des Buches<br />
den Einklang des geistig Erschauten<br />
mit den historischen Überlieferungen zu<br />
zeigen, nahm ich diese vor und fügte sie<br />
dem Inhalte ein. Aber nichts was in diesen<br />
Dokumenten steht, habe ich diesem<br />
Inhalt eingefügt, wenn ich es nicht erst<br />
im Geiste vor mir gehabt habe. In der<br />
Zeit, in der ich die dem Wortlaute nach<br />
Späterem so widersprüchlichen Aussprüche<br />
über das <strong>Christentum</strong> tat, war es<br />
auch, daß dessen wahrer Inhalt in mir<br />
begann keimhaft vor meiner Seele als<br />
12 Für Näheres verweise ich auf meine Beiträge<br />
in dem Buch «Kontinuität und Wandel»<br />
(s. Anm. 8).<br />
innere ErkenntnisErscheinung sich zu<br />
entfalten.» 13<br />
Nur dasjenige, was im «<strong>Christentum</strong><br />
als mystische Tatsache» – und hier ist<br />
auch der Vortragszyklus mit einzubeziehen<br />
– an GeistErkenntnis enthalten ist,<br />
entstammt eigener Erfahrung <strong>Rudolf</strong><br />
<strong><strong>Steiner</strong>s</strong>. Dieser Geistinhalt läßt sich aus<br />
dem Vortragszyklus nicht schon nach<br />
oberflächlicher Kenntnisnahme isolieren.<br />
Bei näherer Würdigung von Seilers<br />
Nachschriften zeigt sich aber dann: Es<br />
ist das Urbildliche des Initiationsweges,<br />
soweit in den Mysterien des Altertums<br />
ausgebildet, aufgrund eigener aktueller<br />
Erfahrung des Autors. Dies hat der Autor<br />
dann im vierten bis sechsten Absatz des<br />
2. Kapitels «Mysterien und Myterienweisheit»<br />
der Buchfassung in einem<br />
autobiographischen Einschub unzweideutig<br />
mitgeteilt: «Wer über diese Dinge<br />
recht denken will, muß Erfahrungen<br />
über die intimen Tatsachen des Erkenntnislebens<br />
haben […]» usw. Die Situation<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong> in dem entscheidenden<br />
Abschnitt seines Lebens kurz nach der<br />
Jahrhundertwende 1900 war in gewissem<br />
Sinne paradox. Aus eigener Erfahrung<br />
der Initiation im modernen Sinne,<br />
auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen<br />
Denkens 14 , machte sich<br />
<strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> vor einem theosophischen<br />
Publikum daran, das <strong>Christentum</strong><br />
aus den alten Mysterien als deren Fortsetzung<br />
und verallgemeinerte Umbildung<br />
darzustellen, ja als eine «Schöpfung<br />
naturgesetzlicher Entwicklung» 15 .<br />
<strong>Steiner</strong> befand sich auf dem Wege<br />
einer neuen christlichen Einweihung,<br />
die es aber nach seinen Ausführungen<br />
13 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Mein Lebensgang (GA 28).<br />
Kap. 26. Hervorhebungen: G.R.<br />
14 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Das <strong>Christentum</strong> als mystische<br />
Tatsache und die Mysterien des Altertums<br />
(GA 8). 1. Kapitel «Gesichtspunkte».<br />
15 Ebenda. Vorwort von 1902, in der 2. Auf lage<br />
nicht wieder abgedruckt.<br />
Ostern 2006 Anthroposophie
Aus der anthroposophischen Arbeit<br />
sowohl in den Vorträgen wie auch in der<br />
Buchfassung von 1902 gar nicht geben<br />
konnte. Den Erkenntnisweg <strong>Rudolf</strong><br />
<strong><strong>Steiner</strong>s</strong> bahnte der UrInitiator selbst,<br />
aber dieser war zu dieser Zeit personal<br />
noch nicht zu erkennen. Bildlich gesprochen<br />
befand sich <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong> auf dem<br />
Wege nach Damaskus, ohne die Stadt<br />
schon erreicht zu haben. Die Mauern<br />
und Heiligtümer der Stadt waren aber in<br />
der Ferne bereits zu erblicken.<br />
Den Weg zur vollen Klarheit des<br />
Christus ist kein menschliches Wesen<br />
aus eigener Kraft zu vollenden fähig. 16<br />
16 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Von Jesus zu Christus (GA<br />
131). Vortrag vom 13.10.1911in Karlsruhe:<br />
«Wenn der Mensch glaubt, daß er das höchste<br />
menschliche Ideal […] erreichen kann<br />
auf einem bloßen inneren Seelenweg, durch<br />
eine Art Selbsterlösung, dann ist eine Beziehung<br />
zu dem objektiven Christus nicht<br />
möglich.»<br />
Anthroposophie Ostern 2006<br />
75<br />
Dazu bedurfte es eines «außerirdischen<br />
Impulses» 17 , der sich in der Seele <strong>Rudolf</strong><br />
<strong><strong>Steiner</strong>s</strong> allmählich entfaltete. Während<br />
der Vortragsreihe 1901/1902 erschien<br />
dem Vortragenden der Christus Jesus im<br />
Gewande eines eingeweihten Mysterienpriesters<br />
mit vielen Inkarnationen, wenig<br />
später 18 offenbarte sich der Auferstandene<br />
selbst. Wer sich mit dieser<br />
Deutung der Vorgänge in <strong>Rudolf</strong> <strong><strong>Steiner</strong>s</strong><br />
Leben zwischen 1901 und ca. 1903<br />
verbinden kann, wird die am Ende des<br />
XXVI. Kapitels des Lebensganges<br />
geschilderte Kulmination vielleicht erst<br />
dann in ihrem vollen Gewicht einzuschätzen<br />
imstande sein.<br />
Günter Röschert, München<br />
17 <strong>Rudolf</strong> <strong>Steiner</strong>: Mein Lebensgang (GA 28).<br />
Kap. 30, weiter oben zitiert.<br />
18 Vgl. Anm. 8.