200 - Ausgewählte Werke - Villa Grisebach
200 - Ausgewählte Werke - Villa Grisebach
200 - Ausgewählte Werke - Villa Grisebach
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Ludwig Meidners berühmte „Apokalyptische Landschaften“ enstanden parallel zu<br />
Dix „Sonnenaufgang“ ab 1912/1913.<br />
II. Provenienzgeschichte des Werks<br />
Otto Dix hat das Gemälde 1920 dem Stadtmuseum Dresden geschenkt,<br />
dessen damaligem Direktor Paul Ferdinand Schmidt er freundschaft-<br />
lich verbunden war. Wie viele der Gemälde vor dem Ersten Weltkrieg<br />
ist das Bild in Öl auf Papier gemalt und dann von Dix auf Pappe<br />
aufgezogen worden. Praktisch bei allen dieser von Dix auf Pappe<br />
aufgezogenen Öl/Papier Arbeiten ergaben sich beim Vorgang des<br />
Kaschierens Beschädigungen in Form von Rissen. Bei dem durch seine<br />
pastose Malweise besonders schwierig aufzuziehenden Gemälde<br />
„Sonnenaufgang“ war dies nicht anders. 1933 wurde das Werk von<br />
den Nazis konfisziert und auf der Vorläuferschau „Entartete Kunst“<br />
(„Spiegelbilder des Verfalls“) im Lichthof des Dresdner Rathauses<br />
sowie auf weiteren sieben Stationen in ganz Deutschland gezeigt,<br />
bevor es dann auf der berühmt-berüchtigten Ausstellung „Entartete<br />
Kunst“ 1937 im Haus der Kunst München zu sehen war (vgl. unsere<br />
Abb.). Danach hat es wohl die weiteren Stationen dieser Ausstellung<br />
nicht mehr mitgemacht, sondern wurde im Depot des Reichspropa-<br />
gandaministeriums in Schloß Schönhausen eingelagert. Zweifelsfrei<br />
taucht das Bild auf dessen heute im Victoria and Albert Museum,<br />
London, aufbewahrten Bestandslisten auf und gehörte nicht zu den<br />
<strong>Werke</strong>n, die über die Galerie Fischer in Luzern versteigert wurden.<br />
Um oder kurz nach 1943 wurde es kriegsbedingt zusammen mit<br />
anderen <strong>Werke</strong>n zu dem mit den Nazis in Geschäftsverbindung<br />
stehenden und um die Rettung vieler <strong>Werke</strong> „Entarteter Kunst“<br />
bemühten Kunsthändler und Barlach-Freund Bernhard A. Boehmer<br />
nach Güstrow ausgelagert. Nach dessen Freitod 1945 hat Wilma<br />
Zelck, Vormund des Boehmer-Sohnes Peter, das Gemälde zwischen<br />
1945 und 1947 nach Westdeutschland überführt. Nach seiner<br />
Verlegung nach Westdeutschland wurde es von Wilma Zelck oder dem<br />
mit ihr damals zusammenlebenden Kunsthändler Albert Friedrich<br />
Daberkowan ein Stuttgarter Sammlerehepaar verkauft, das das<br />
Gemälde 1951 zur Auktion in das Stuttgarter Kunstkabinett von<br />
Roman Norbert Ketterer einlieferte. Vermutlich bei dieser Lieferung<br />
nach Stuttgart wurde das Bild in der oberen linken Ecke beschädigt.<br />
Es entstand ein Verlust in der Größe von ca. 20 x 18 cm. Bereits<br />
in nach Roentgenbefund wohl durch Otto Dix selbst ergänztem Zu-<br />
stand (zweiter Originalzustand) tauchte das Werk im November 1951<br />
auf der 14. Auktion des Stuttgarter Kunstkabinetts von Roman<br />
Norbert Ketterer auf und wurde unter der Losnummer 1437 für<br />
360. - DM an den Stuttgarter Sammler Dr. Hugo Borst versteigert.<br />
<strong>Grisebach</strong> 11/2012<br />
Die kreisenden Sonnen des späten van Gogh wie in der „Sternennacht“ von 1899<br />
aus dem Museum of Modern Art nimmt Dix in seiner kühnen Gegenlichtmalerei im<br />
„Sonnenaufgang“ auf.<br />
III. Zur inhaltlichen Deutung des Werks<br />
Von unten links nach rechts oben schneidet ein Weg als dynamisierendes<br />
Kompositionselement durch ein Feld rhythmisch-pastos<br />
geschichteter, schneebedeckter und vereister Ackerschollen, die im<br />
Farbakkord von blendendem Weiß und kühlem Blaugrau den Eindruck<br />
klirrender Kälte vermitteln. Darüber flattert, formal die wellenförmige<br />
Struktur der Ackerschollen aufnehmend, eine Schar von 13 schwarzen<br />
Krähen. Zum Horizont hin setzen die spitzen Zacken kleiner<br />
Fichtenwaldstücke zusätzliche Akzente. Über dieser Winterlandschaft<br />
steigt mittig die Sonne auf. Das Gelb der Sonne ist ein kaltes,<br />
gleichwohl von großer Strahlkraft.<br />
Zweifellos markiert dieses Gemälde im Stilpluralismus des heterogenen<br />
Frühwerks dessen expressionistischen Höhepunkt. Das bisher<br />
vor allem in der Gestaltung seiner Himmel zutage tretende Stakkato<br />
grober Pinselschläge legt sich jetzt – und das ist neu – in grob zeichnender<br />
und gleichzeitig rhythmisierender Faktur über die ganze<br />
Landschaft. In ihrer Starkfarbigkeit und ihrem Kontrastreichtum, vor<br />
allem aber in der pastos alla prima umgesetzten Leidenschaftlichkeit<br />
des Malvortrags hat diese Malweise in ihrer unverstellt grobschläch-<br />
tigen Direktheit etwas unkalkuliert Psychisch-Automatisches – spontane<br />
Malerei von Innen heraus, die einen von van Gogh stets noch<br />
bewahrten Rest von Schönlinigkeit endgültig verläßt.<br />
Und doch haben wir es andererseits mit einer sehr genau kalkulierten<br />
Bildsymbolik zu tun. Der das Bild in dynamischer Diagonale durchschneidende<br />
Weg führt nicht etwa zur Sonne, ins Licht, sondern direkt<br />
auf einen dreizackigen Wolkengreifarm, in die Bedrohung. Mit diesem<br />
Greifarm zitiert Dix in umformender Weise die himmlische<br />
Schicksalsfaust aus Blatt 5: „Verlassen“ in Max Klingers Radierfolge<br />
„Ein Leben“, Opus VIII, 1884. Klinger war für Dix zeitlebens eines<br />
seiner künstlerischen Idole. Später, Anfang der 1920er Jahre wird er<br />
sogar für einige graphische Blätter dieses Meisters ein Bild von Kurt<br />
Schwitters vertauschen. Das nächste Zitat von Symbolgehalt sind<br />
die van Gogh’schen Krähen, Unglücksbringer. Bei van Gogh fliegen<br />
sie über eben jenem Kornfeld, in dem er sich kurze Zeit später in<br />
die Brust schießen wird. Dix reduziert ihre Zahl auf die ominöse 13<br />
und übersetzt das warme Gelb van Goghs in das kalte der Wintersonne,<br />
die in der ersten Fassung erfolglos in der Kälte „blüht“, ja das<br />
Unglück in Form der Krähen an sich herankommen lassen muß. Erst