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<strong>Leseprobe</strong> aus:<br />
Jan Sprenger<br />
Kirgistan gibt es nicht<br />
Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.<br />
(c) 2012 by <strong>Rowohlt</strong>.Berlin Verlag GmbH, Berlin
Eins<br />
•<br />
In der Nähe von Bischkek hatte Olga von mir geträumt. Sie<br />
erzählte mir später, was ich im Traum getan hatte. Das war<br />
nicht viel, aber doch genug, um zu wissen, dass ich nicht<br />
mehr allzu lange in der Nähe von Bischkek sein würde.<br />
Einige Tage zuvor hatte ich Olga in einem Hostel in<br />
Bischkek kennengelernt. Das Hostel wird von einem japanisch-kirgisischen<br />
Ehepaar geführt und ist nicht leicht zu<br />
finden, und Olga hatte gehört, dass in der dunklen Gasse,<br />
die dorthin führt, regelmäßig Rucksacktouristen ausgeraubt<br />
werden. Genau genommen hatte sie dieses Gerücht<br />
von mir gehört, weil ich nicht wollte, dass sie allein das<br />
Hostel verließ beziehungsweise ohne mich.<br />
«Kommst du dann mit?», fragte Olga, und ich kam mit.<br />
Im Hostel hielt sich ein Italiener auf. Der Italiener war tatsächlich<br />
ausgeraubt worden, allerdings nicht in Bischkek,<br />
sondern zwei Wochen vorher in Osch. Er erzählte, zwei Jugendliche<br />
hätten ihn überfallen, und die Geschichte wurde<br />
dadurch dramatisch, dass er immer noch einige Schrammen<br />
hatte, in einem Gesicht, das ohnehin schon sehr kantig<br />
war. Die Not der Jugendlichen musste wirklich enorm<br />
9
gewesen sein, dass sie es wagten, einen so kantigen Mann<br />
auszunehmen. Er sagte, er würde sein Geld durch Pferdewetten<br />
machen. An Olgas Stelle hätte ich jedenfalls ihn gewählt<br />
und nicht mich, um sie nachts zum nächsten Kiosk<br />
zu begleiten.<br />
Der Italiener wartete seit nun schon drei Wochen auf irgendein<br />
Zeichen seines Landes, das ihm einen neuen Pass<br />
ausstellen sollte. Sein Land aber gab kein Zeichen, und es<br />
war sein Glück, dass jeden Tag neue Reisende kamen, denen<br />
er davon erzählen konnte. Sie streuten seine Geschichte<br />
bald wie Luftsamen durch ganz Asien, und es kamen<br />
andere Reisende, die ihn fragten, ob er der von seinem<br />
Land vergessene Italiener sei. Man habe in Kasachstan, in<br />
China, im Iran von ihm gehört. Der Italiener sagte, seine<br />
Geschichte werde Italien wohl eher erreichen als er selbst.<br />
Als Olga ankam, war ich schon da. Ich saß an einem Tisch<br />
im Innenhof des Hostels, während die kirgisische Besitzerin<br />
gerade dabei war, leere Bierflaschen vom Vortag wegzuräumen.<br />
Ihr kleiner Sohn spielte von ihr unbemerkt mit<br />
einem vollen Aschenbecher, nahm schließlich eine Kippe<br />
heraus und steckte sie in sein linkes Nasenloch. Die Besitzerin<br />
schrie ihn an, er wollte nicht hören, rannte mit der<br />
Kippe in der Nase los und verschwand im Haus.<br />
Das Hostel war erst vor kurzem eröffnet worden, die<br />
Außenwände waren noch nicht verputzt. Hinter mir lag<br />
ein kleiner Pool, in dem Regenwasser stand und zwei kleine<br />
Reifen schwammen. Ich schrieb gerade in mein Reisetagebuch:<br />
Und auch, wenn schon etliche Jahre vergangen sind, so<br />
riecht man in jeder Ecke Kirgistans doch immer noch die Blähun-<br />
10
gen der Sowjetunion. Dann stand Olga plötzlich im Innenhof,<br />
legte ihren Rucksack ab und setzte sich mir gegenüber<br />
in einen Plastikstuhl. Ich schrieb dazu: Ein neuer Rucksacker<br />
ist gekommen, eine Frau, allein, wie es scheint. Ich glaube, sie<br />
schaut mich an. Wir sind nur zu zweit hier draußen. Der Italiener<br />
ist wieder einmal zu seinem Generalkonsulat gegangen, die<br />
anderen sind auf irgendwelchen Tagestouren. Die Frau hat mich<br />
angesprochen. Sie spricht ein sauberes Englisch, aber in einigen<br />
Wörtern verfängt sich dann doch ihr grober russischer Akzent.<br />
Ich spreche jetzt mit ihr.<br />
In Bischkek gibt es ein Café. Es heißt Fatboy. Ich brachte<br />
Olga an unserem ersten Nachmittag dorthin.<br />
«Hast du was vor?», hatte sie gefragt.<br />
«Mit dir ins Fatboy gehen», hatte ich gesagt.<br />
Das Wetter war gut. Wir saßen auf der Terrasse des Cafés,<br />
direkt an der Chuy Prospektisi. Auf den Straßen sieht<br />
man in Kirgistan viele Gebrauchtwagen aus Europa, alte<br />
Volkswagen, Audis, Kleinlaster, die noch die Aufschrift<br />
deutscher oder französischer Handwerksbetriebe tragen.<br />
Die Autos meiner Jugendjahre zogen an uns vorbei, während<br />
wir einen Kaffee tranken. Olga war Ukrainerin. Sie<br />
redete nicht viel, aber gerade dann, wenn sie nicht redete,<br />
war es, als wollte sie mir damit etwas sagen. Auf der Terrasse<br />
saßen an diesem Nachmittag nur wenige Gäste, abends,<br />
sagte ich zu Olga, sei es hier voller. Sie entgegnete, dass sie<br />
nicht vorhabe, abends herzukommen, und ohnehin hätte<br />
sie gar nicht geplant, jetzt hier zu sein. Eigentlich habe sie<br />
nach Indien reisen wollen, sich aber gewissermaßen verfahren.<br />
11
«Wie kann man sich denn hierher verfahren?», fragte<br />
ich.<br />
«Zwei Busse, zwei Richtungen, eine falsche Entscheidung.»<br />
«Von hier fahren auch Busse nach Indien.»<br />
«Da will ich nicht mehr hin.»<br />
«Und wohin willst du jetzt?»<br />
Olga sagte, dass sie das noch nicht wisse, sie folge keinem<br />
Plan, sie lasse sich treiben, nur so spüre man schließlich,<br />
dass man auf einer Reise sei und nicht daheim.<br />
«Und was machst du daheim?», fragte ich.<br />
Sie meinte, dass sie unterwegs nicht gerne darüber spreche.<br />
Wer das mache, der müsse doch gar nicht erst reisen.<br />
Später, als ich sie nachts zum Kiosk begleitete, weil sie<br />
noch Durst hatte, erzählte sie dann doch, dass sie in ihrer<br />
Heimat studiert und dann in einem kleinen Verlag für Fotografie<br />
gearbeitet habe. Während ich so tat, als würde ich<br />
in den dunklen Gassen nach Gefahren schauen, sagte sie,<br />
sie habe einmal gehofft, selbst als Fotografin arbeiten zu<br />
können; dass aber die ukrainische Fotoszene schlechterdings<br />
auch eine Machoszene sei, und am Ende sei es immer<br />
darauf hinausgelaufen, dass man sie vor der Linse ernster<br />
genommen habe als dahinter, und überhaupt habe man sie<br />
oft anders genommen, als sie es sich gewünscht hätte.<br />
Nachdem wir im Kiosk einige Flaschen Bier gekauft hatten,<br />
liefen wir zum Hostel zurück, und wieder in der dunklen<br />
Gasse fragte ich sie, was sie denn für Fotos mache.<br />
Sie sagte: «Fotos von Dingen.»<br />
«Von Dingen?»<br />
«Ja.»<br />
12
«Was für Dinge?»<br />
«Autos, Küchenmaschinen, Feuerzeuge.»<br />
«Wofür?»<br />
«Für Kataloge.»<br />
«Und das macht Spaß?»<br />
«Was machst du beruflich?»<br />
«Egal», sagte ich, und da waren wir schon wieder am<br />
Hostel angelangt.<br />
Ich schrieb in mein Reisetagebuch: Wir sind zurück im Hostel.<br />
Die Frau, die mich heute Vormittag angesprochen hat, heißt<br />
Olga. Ich war mit ihr in einem Café, wir haben uns dort aber kaum<br />
unterhalten. Sie kommt aus der Ukraine und hat schöne Augen.<br />
Damit schaut sie allerdings nicht mehr mich an, sondern eine<br />
ganze Weile schon einen Schotten, der aussieht wie Ewan McGregor.<br />
Vielleicht ist er auch Ewan McGregor. Ich sitze daneben und<br />
schreibe, damit es nicht auffällt, dass ich nichts zu sagen habe.<br />
Nichts zu sagen zu haben ist verdächtig hier im Hostel. Man sollte<br />
doch zumindest etwas über irgendwelche Hostels in irgendeiner<br />
Stadt sagen können oder darüber, wie schön und spannend die<br />
Natur hier oder dort ist. Man sollte sich austauschen, und austauschen<br />
würde ich mich jetzt auch gerne, mit Olga. Aber Olga<br />
tauscht sich mit Ewan McGregor aus, und gegen seinen schottischen<br />
Akzent komme ich nicht an. Ich schreibe also weiter.<br />
Ich verließ den Innenhof, als Ewan McGregor gerade verkündete,<br />
dass er nicht Ewan McGregor sei, aber trotzdem<br />
mit Olga darauf anstoßen wolle. Als ich den Schlafsaal betrat,<br />
hörte ich noch, wie sie ihre leeren Gläser auf den Tisch<br />
knallten.<br />
13
Im Saal waren sechs Betten, drei waren schon belegt. In<br />
einem Bett lag eine Schwedin, die so schwedisch aussah,<br />
dass ich erwartet hätte, sie schliefe nackt und mit zwei<br />
Männern zusammen. Aber es lagen keine Männer mit ihr<br />
im Bett, sie hatte nur ihren Laptop auf dem Schoß, das Licht<br />
des Bildschirms flimmerte in ihrem Gesicht. Im Bett neben<br />
ihr schlief ein Mann, ich hatte ihn im Hof gesehen, wie er<br />
Wodka und Bier getrunken hatte, und jetzt schnarchte er<br />
so laut, dass ein anderer ein Kissen warf, seinen Kopf aber<br />
verfehlte. Das Fenster zum Hof stand offen, und ich hörte<br />
den Schotten und Olga unten miteinander sprechen. Olga<br />
erzählte Ewan McGregor viel mehr, als sie mir im Fatboy<br />
erzählt hatte. McGregors Rucksack lag auf dem Bett neben<br />
mir, und ich lugte eifersüchtig zu dem abgewetzten Ding<br />
hinüber. Ich wusste nicht, ob er schon vergeben war. Ich<br />
wusste nicht, ob ich Grund hatte, mir Sorgen zu machen.<br />
Jedenfalls machte ich mir Sorgen und schlief dann ein.<br />
Als ich morgens erwachte, drehte ich mich zum Nebenbett<br />
und sah keinen Ewan McGregor. Ich wusste, dass Olga<br />
ein Zweibettzimmer hatte, und die Sorgen vom Vorabend<br />
wurden zur Enttäuschung. Die Schwedin schlief, auch der<br />
Mann, der geschnarcht, und der Mann, der das Kopfkissen<br />
geworfen hatte. Es musste noch sehr früh sein, und ich beschloss,<br />
Bischkek zu verlassen. Enttäuschungen auf Reisen<br />
sind erträglich, weil sie selten mitreisen. Sie sind wie Sehenswürdigkeiten,<br />
die man kurz besichtigt, dann aber hinter<br />
sich lässt. Und von Olga hatte ich kein Foto gemacht.<br />
Sie war also nicht besichtigt und würde damit am Stadtrand<br />
schon vergessen sein.<br />
14
Der Taxifahrer in seinem alten Lada wollte zu viel Geld für<br />
die Fahrt zum See. Aber ich war in der Stimmung, Geld<br />
auszugeben, also verhandelte ich nicht. Der Mann ging<br />
später von sich aus mit dem Preis runter. Ich setzte mich<br />
auf den Rücksitz, die Stadt holperte durch jedes Schlagloch<br />
langsam vorbei, und bald drang der Duft von sommerlichen<br />
Wiesen herein. In Kirgistan blühten die Felder gegen<br />
die Langeweile des Landes an, und Wolken türmten sich an<br />
den Bergen, als wir den Issyk-Kul erreichten. Ich sagte dem<br />
Fahrer, er solle mich in Tamchy absetzen.<br />
Dort angekommen, war ich enttäuscht, ich hatte gedacht,<br />
der Ort wäre größer. Als ich meinen Rucksack aus<br />
dem Kofferraum nahm, sah ich nur eine Sandpiste von der<br />
Hauptstraße abzweigen. Der Fahrer zeigte in ihre Richtung,<br />
also ging ich dort entlang. Kleine, alte Russenhäuser<br />
standen rechts und links, eine Bauernsiedlung, das war der<br />
Ort, und hätte er nicht an einem See gelegen, er wäre gar<br />
kein Ort gewesen.<br />
Ich fand bald eine Unterkunft. Ein junger Kirgise stand<br />
vor seinem Haus und sprach mich auf Englisch an. Ein Jägerzaun<br />
umgab den Garten, in dem blühte, was nur blühen<br />
konnte, während drum herum die Häuser welkten. In der<br />
Mitte des Gartens stand ein Pavillon aus Holz, in dem zwei<br />
Männer Playstation spielten und die Bienen vertrieben.<br />
«Die Dusche ist dahinten», sagte der junge Kirgise. Er<br />
deutete in den Garten, an einem Apfelbaum vorbei. «Aber<br />
im See baden ist besser.»<br />
Von außen sah das Haus klein und wunderlich aus,<br />
aber es barg in seinem Innern mehr Raum, als ich erwartet<br />
hatte. Wir betraten ein großes Vorzimmer, in dem alte<br />
15
Matratzen mit Fußabtritten und dunklen Flecken um einen<br />
kleinen Tisch gruppiert lagen. Zwei Wasserpfeifen standen<br />
wie Wachtürme auf dem Tischchen, es roch wohlig nach<br />
Kirsche. «Abends rauchen wir», sagte mein Gastgeber.<br />
Er führte mich weiter ins nächste Zimmer, in dem es so<br />
düster war, dass ich zunächst nichts sehen konnte. Nachdem<br />
sich meine Augen daran gewöhnt hatten, stellte ich<br />
fest, dass es hier auch kaum etwas zu sehen gab. In der<br />
hintersten Ecke stand verschreckt ein Sofa, an der Wand<br />
rechts von mir standen sich zwei Sessel gegenüber, krumm<br />
wie zwei alte Schachspieler. Ein Couchtisch in der Mitte<br />
des Raums, auf dem eine unterbrochene Partie Monopoly<br />
lag, wusste nicht, wohin er gehörte, zum Sofa oder zu den<br />
Sesseln. An den grau verputzten Wänden hingen ein paar<br />
Bilder von europäischen Metropolen.<br />
Der Mann führte mich in ein kleines angrenzendes Zimmer.<br />
Eine Holzgarderobe mit Spiegel, zwei schmale Betten<br />
rechts und links, die Nacht sei billig, sagte er, um dann<br />
noch einmal anzumerken: Dusche im Garten, aber besser<br />
baden im See.<br />
«Frühstück?», fragte er.<br />
«Ja», sagte ich. «Der See?»<br />
«Da runter. Zwei Minuten.»<br />
Drei Minuten später saß ich am See. Der Bergkamm gegenüber<br />
war schneebedeckt, und man konnte auf den ersten<br />
Blick nicht entscheiden, wo die Berge aufhörten und die<br />
Wolken begannen. Alles wuchs mächtig hier, die Berge,<br />
die Wolken, der See war riesig, und auf dem Wasser sah ich<br />
winzige Menschen in winzigen Tretbooten, kleine Köpfe<br />
16
lugten aus dem Wasser und schwammen vereinzelt umher.<br />
Das Ufer war eine dreckige Wiese, es gab nur wenige sandige<br />
Stellen, im Sand steckten, als würden sie darin schwimmen,<br />
Zigarettenkippen. Menschen sonnten sich, Kinder<br />
kamen vorbei und verkauften Trockenfisch. Ihre Gesichter<br />
wollten erwachsen sein, wenn sie mit einem Touristen<br />
über den Preis verhandelten, und sobald sie weiterzogen,<br />
schelmten sie wieder herum wie die Kinder, die sie waren.<br />
Frauen mit Kopftüchern trugen Weidenkörbe mit Fettgebäck,<br />
das sie jedem Badegast anboten. Die Körbe waren mit<br />
Geschirrtüchern ausgelegt, die den Kopftüchern der Frauen<br />
glichen. Das Fett der Gebäckteile hatte sich am oberen<br />
Ende der Tücher zu einem dunklen Rand versammelt.<br />
Ich zog mein Hemd und meine Hose aus und lief in der<br />
Unterhose zum Wasser, als mir eine der Frauen den Weg<br />
verstellte. Sie zeigte auf das Gebäck in ihrem Korb und versuchte,<br />
mir zuerst in ihrer Sprache, dann mit ihren Händen<br />
den Preis mitzuteilen. Ich schüttelte den Kopf und brachte,<br />
nachdem sie nicht reagierte, die paar Brocken Russisch<br />
hervor, die ich kannte. Jetzt schüttelte sie den Kopf, und so<br />
standen wir ein paar Sekunden da, ganz sprachlos, bis die<br />
Frau schließlich aufgab und weiterlief.<br />
Das Wasser war kalt und so flach, dass es mir auch nach<br />
gut fünfzig Metern nur bis zu den Kniekehlen reichte. Ich<br />
stieß mir die Zehen an einigen dicken Kieselsteinen und<br />
beschloss nach kurzer Zeit, wieder zurück ans Ufer zu gehen.<br />
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, notierte ich in<br />
mein Reisetagebuch:<br />
17
Der Issyk-Kul ist die Nordsee der Russen und Kasachen. Im<br />
Sommer strömen sie hierher und bräunen ihre kalkigen Körper.<br />
Im Reiseführer steht, dass in der Nähe des Sees Gold geschürft<br />
wird. Vor einigen Jahren ist ein Laster mit Chemikalien für die<br />
Goldwäsche in den See gestürzt und hat ihn verseucht. Jetzt<br />
fahren auf dem See Jetskis und Tretboote. Esel und Kamele<br />
stehen oder liegen am Ufer. Es sind weniger Menschen hier,<br />
als ich angenommen hatte, es liegen nur vereinzelt ein paar<br />
Körper zwischen Steinen und dreckigem Sand.<br />
Eine alte Frau hat versucht, mir Gebäck zu verkaufen.<br />
Sich mit ihr zu unterhalten wäre interessant gewesen. Warum<br />
interessant? Weil sie anders ist als ich? Weil sie älter ist<br />
als ich? Weil man so etwas tut und dann zu Hause erzählt,<br />
dass man in Kontakt mit den Einheimischen gekommen ist?<br />
Um sich zu vergewissern, dass man auf der glücklichen Seite<br />
des Lebens steht und nur einen Ausflug gemacht hat, dorthin,<br />
wo das Gras nicht so grün ist und alte Frauen ranziges Gebäck<br />
verkaufen müssen?<br />
Ich werde einige Tage am Issyk-Kul bleiben, mein Visum<br />
läuft in vierzehn Tagen aus. Ich werde um den See herumreisen<br />
und vielleicht eine Nacht in den Bergen verbringen. Zu Hause<br />
denkt jemand an mich, ich habe Schluckauf.<br />
Dann lernte ich doch noch Land und Leute oder zumindest<br />
Mikael kennen, den Mann, in dessen Haus ich wohnte.<br />
«Was machst du in Kirgistan?», fragte er.<br />
«Ich bin auf der Durchreise», sagte ich.<br />
«Wohin?»<br />
«Nach China.»<br />
«Und was machst du dann in China?»<br />
18
«Durchreisen.»<br />
Mikael war zu mir gekommen, nachdem ich vom See<br />
zurückgekehrt war und mich im Vorraum auf eine der verlebten<br />
Matratzen gelegt hatte. Ob ich eine Shisha rauchen<br />
wolle, fragte er. Ich lehnte dankend ab.<br />
«Kommen viele hierher?», fragte ich.<br />
«Im Moment nicht so viele. Im letzten Jahr waren es<br />
mehr.»<br />
«Warum?»<br />
«Keine Ahnung. Vielleicht die Wirtschaftskrise. Vielleicht<br />
gab es Visaprobleme. Die Schweinegrippe, keine<br />
Ahnung.»<br />
«Wie lange vermietest du schon?»<br />
«Seit meine Großmutter gestorben ist. Ihr gehörte das<br />
Haus. Und ich dachte, das ist eine gute Chance, nichts zu<br />
tun und trotzdem Geld zu verdienen. Touristen sagen, das<br />
hier ist die Schweiz Asiens.»<br />
«Nur ohne Banken», sagte ich.<br />
«Ja, aber mit Wodka.»<br />
Er holte eine Flasche und schenkte mir ein. Der Kirgise<br />
war ein netter Mensch, weil er mir den Gefallen tat, mehr<br />
von sich zu sprechen, als sich nach mir zu erkundigen. Ich<br />
vermutete, dass er es gewohnt war, anderen von sich zu erzählen,<br />
da er zu den wenigen Menschen in diesem Ort gehörte,<br />
die genug Englisch konnten, um das Bedürfnis der<br />
Reisenden nach einem lokalen Plausch zu befriedigen.<br />
Am Tag, bevor ich Olga begegnet war, hatte ich bereits<br />
einen Nachmittag auf der Terrasse des Fatboy verbracht.<br />
Ein älteres Pärchen aus Österreich setzte sich bald neben<br />
19
mich an den Tisch, zusammen mit ihrer Reiseführerin. Ich<br />
lauschte ihrem Gespräch, und es ging den Österreichern<br />
zunächst darum, ihr österreichisches Vorwissen über Kirgistan<br />
mit dem wahren Kirgistan abzugleichen. So habe<br />
man dies und das gelesen, und ob dies und das denn so<br />
stimme. Man selbst glaube dagegen nämlich, es verhalte<br />
sich ganz anders, aber eigentlich sei das Land ja fremd und<br />
in den westlichen Medien nicht vorhanden. Die junge Reiseführerin<br />
hangelte sich gefährlich zwischen den Vorurteilen<br />
ihrer Gäste und ihrer eigenen Realität entlang und war<br />
dabei zu bedauern, denn während ihr Land in den Augen<br />
der Österreicher den Bach hinunterging, wurde gegenüber<br />
der Zaun des Präsidentenpalastes gerade mit Goldfarbe verziert.<br />
Weil sich Kirgistan an diesem Nachmittag nicht zwischen<br />
zwei Espressos auflöste, wechselte das Pärchen bald<br />
das Thema, und es wurde persönlich und privat. Später<br />
machten sie Fotos, diese Fotos von sich selbst zusammen<br />
mit der Reiseführerin würden sie in drei Wochen daheim<br />
herumreichen. Ein kleiner Teil von Österreich würde dann<br />
erfahren, wie schwer es für junge Frauen sei, in Kirgistan<br />
über die Runden zu kommen, und dass sich die Reiseführerin<br />
von ihrem Trinkgeld anschließend endlich ein neues<br />
Kleid habe kaufen können.<br />
Mein Kirgise in Tamchy war nicht sentimental. Er meinte,<br />
es gehe ihm gut, zumindest heute. Wir tranken Wodka.<br />
Als ich dann später nicht sonderlich betrunken in meinem<br />
Bett lag und mich schon die Vorläufer der kommenden<br />
Träume überflogen, stand plötzlich eine Frau im Zimmer.<br />
Ich dachte zuerst, es wäre die Schwedin aus Bischkek, weil<br />
20
die Frau nackt war. Ich verscheuchte schnell die ersten<br />
Traumfetzen und sah, dass die Frau nicht nackt war und<br />
dass aus der Schwedin Olga wurde, und Olga blieb. Sie hatte<br />
Licht gemacht und sagte: «Oh.» Dann setzte sie ihren<br />
Rucksack ab.<br />
«Ich dachte, ich hätte das Zimmer für mich allein», sagte<br />
sie.<br />
«Das dachte ich auch», sagte ich.<br />
«Und jetzt?»<br />
«Du kannst hier schlafen, das macht mir nichts aus.»<br />
«Ich frage mal, ob es noch andere Zimmer gibt.»<br />
Sie verließ den Raum, kam zurück und sagte: «Nein.»<br />
Also teilten wir uns das Zimmer. Ich hatte nicht den Eindruck,<br />
dass sie mich wiedererkannte.<br />
Licht weckte mich. Ich drehte mich um und sah, dass Olga<br />
die kleine Nachttischlampe angeschaltet hatte und gerade<br />
dabei war, etwas in ihrem Rucksack zu suchen. Als sie<br />
bemerkte, dass ich wach geworden war, teilte sie mir mit,<br />
dass sie losgehen und den Sonnenaufgang sehen wolle. Ich<br />
meinte, das sei eine gute Idee. «Ja», sagte sie.<br />
Kurz vor fünf standen wir am See. Es war kalt und dunkel,<br />
die Sonne war noch irgendwo in China, rückte aber<br />
schon näher. Eine halbe Stunde, dann würden wir die ersten<br />
Strahlen sehen, wie sie langsam die Berge in Angriff<br />
nähmen. Bis es so weit war, sprachen Olga und ich kaum<br />
miteinander. Sie baute ein kleines Stativ auf und montierte<br />
ihre Kamera darauf. Das Montieren und Justieren<br />
nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ich hatte<br />
meine kleine Digitalkamera dabei, die nichts Besonderes,<br />
21
aber doch ziemlich gute Fotos machen konnte, auch dann,<br />
wenn die Realität es eigentlich nicht zuließ. Weil ich nichts<br />
zu montieren hatte, wollte ich mich unterhalten.<br />
«Machst du damit die Katalogfotos?»<br />
«Ja.»<br />
«Kann man davon leben?»<br />
«Man kann davon reisen.»<br />
«Darf ich später deine Reisefotos sehen? Ich zeig dir<br />
dann meine.»<br />
«Ich mach nicht viele Fotos, wenn ich reise.»