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Organisationen, Ideologien und Strategien - Eurasisches Magazin

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© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 1


<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong><br />

Die Netzzeitschrift, die Europa <strong>und</strong> Asien zusammenbringt<br />

Ausgabe 05-09<br />

1. Mai 2009<br />

Inhalt<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 2<br />

ZUR NEUEN AUSGABE .....................................................................................................................3<br />

TERMINE 06-09..............................................................................................................................4<br />

EURASIEN-TICKER 06-09 ...............................................................................................................6<br />

„DER IRAN IST HEIßER KANDIDAT FÜR EINE GEOPOLITISCHE UMORIENTIERUNG“..........................9<br />

DAS AMERIKANISCHE DILEMMA ZWISCHEN ALTER UND NEUER POLITIK....................................... 15<br />

MILITANTER ISLAMISMUS IN ZENTRALASIEN - ORGANISATIONEN, IDEOLOGIEN UND STRATEGIEN<br />

.....................................................................................................................................................23<br />

INDUSTRIE-AUFSCHWUNG IM FERNEN OSTEN ..............................................................................29<br />

DAS LAND KOMMT NICHT ZUR RUHE.............................................................................................32<br />

MODERNE AMAZONEN..................................................................................................................35<br />

ENDE DER STETTINER WERFT.......................................................................................................37<br />

ARBEITSMIGRANTEN WOLLEN NICHT MEHR NACH HAUSE............................................................ 40<br />

„BEHINDERUNG GILT IN ARABISCHEN LÄNDERN ALS GÖTTLICHE STRAFE“....................................43<br />

GEOMANTIK-ART AUS DER EISZEITHÖHLE....................................................................................46<br />

SCHAMANISMUS AUF DER SCHWÄBISCHEN ALB.............................................................................49<br />

„EISZEITJÄGER AUF DER SCHWÄBISCHEN ALB“ VON JÜRGEN WERNER.........................................53<br />

„DIE AMAZONEN – TÖCHTER VON LIEBE UND KRIEG“ VON HEDWIG APPELT................................55


Zur neuen Ausgabe<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 3<br />

m 12. Juni wählt der Iran einen neuen Präsidenten. Amtsinhaber Mahmud<br />

Ahmadinedschad hat die besten Aussichten auf einen Wahlsieg. „Der Iran ist heißer<br />

Kandidat für eine geopolitische Umorientierung“, prophezeit Dr. Guido Steinberg von<br />

der Stiftung Wissenschaft <strong>und</strong> Politik. „Die Iran-Sanktionen haben keinerlei Effekt, werden<br />

aber dazu führen, dass Teheran sich vom Westen abkehrt, den Blick nach Osten richtet <strong>und</strong><br />

in China <strong>und</strong> Russland neue geopolitische Partner findet.“<br />

„Das amerikanische Dilemma zwischen alter <strong>und</strong> neuer Politik“ gegenüber dem Iran<br />

untersucht der deutsch-iranische Politologe Ali Fathollah-Nejad, der in London lebt. „George<br />

W. Bushs Nachfolger Barack Obama hat angekündigt, die moralische <strong>und</strong> politische<br />

Führungsrolle der USA im Nahen <strong>und</strong> Mittleren Osten wiederherzustellen, die im Zuge der<br />

letzten acht Jahre erheblich gelitten hat. Doch bei genauer Betrachtung begegnet man in<br />

seiner Politik einer Menge Altvertrautem“, erkennt Fathollah-Nejad.<br />

Neue Entdeckungen zur Eurasischen Spiritualität wurden auf der Schwäbischen Alb<br />

gemacht: „Geomantik-Art aus der Eiszeithöhle“. Bis zu 40.000 Jahre alt ist die „Venus von<br />

Schelklingen“, die der Tübinger Archäologe Nicholas Conard <strong>und</strong> sein Team gef<strong>und</strong>en haben.<br />

Wir bringen einen ausführlichen Bericht zu den Ausgrabungen, die nach Ansicht des<br />

Wissenschaftlers belegen, dass in den Albtälern das „erste Kulturvolk der Welt“ gelebt habe.<br />

Außerdem haben wir ein Interview mit Jürgen Werner geführt, das den Titel „Schamanismus<br />

auf der Schwäbischen Alb“ trägt. Werner ist Autor des Buches „Eiszeitjäger auf der<br />

Schwäbischen Alb“, das wir ebenfalls vorstellen. Der Autor hat in seiner Erzählung<br />

dargestellt, wie das Leben in den Höhlen <strong>und</strong> auf der Jagd der eiszeitlichen Jäger vonstatten<br />

ging.<br />

Für die kommende Ausgabe haben wir unter anderem die Rezension eines Buches über die<br />

Roten Khmer vorgesehen: „Meine Heimat – Euer Krieg“ von Saovorry Kim Sana.<br />

*


Termine 06-09<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 4<br />

„Die Kunst der Interpretation“ · „Die Türken <strong>und</strong> die Preußen" · „Dionysos:<br />

Verwandlung <strong>und</strong> Ekstase“ · „ZeitRäume – Milet in Kaiserzeit <strong>und</strong> Spätantike“ ·<br />

„Masken der Südsee“ · „Naga – Schmuck <strong>und</strong> Asche“<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Kunst der Interpretation – Italienische<br />

Reproduktionsgraphik von Mantegna bis Carracci“ – Infos hier<br />

Berlin bis 14.06.: Ausstellung „Die Türken <strong>und</strong> die Preußen: Türkische Kunst, die<br />

Reformen des Osmanischen Reiches <strong>und</strong> die deutsch-türkische Fre<strong>und</strong>schaft“ – Infos hier<br />

Berlin bis 21.06.: Ausstellung „Dionysos: Verwandlung <strong>und</strong> Ekstase“ – Infos hier<br />

Berlin bis 21.06.: Ausstellung „Zusammenarbeit für den Sieg – Das amerikanische Leih-<br />

<strong>und</strong> Pachtabkommen <strong>und</strong> die UdSSR 1941-1945" – Infos hier<br />

Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Tuchintarsien in Europa von 1500 bis heute“ – Infos hier<br />

Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Die Rückkehr der Götter: Berlins verborgener Olymp“ –<br />

Infos hier<br />

Berlin bis 05.07.: Ausstellung „Die Konservativen? Malerei in Beiping <strong>und</strong> Beijing“ – Infos<br />

hier<br />

Berlin bis 10.08.: Ausstellung „Gandhara – Das buddhistische Erbe Pakistans. Legenden,<br />

Klöster <strong>und</strong> Paradiese“ – Infos hier<br />

Berlin 06.05. bis 31.08.: Ausstellung „ZeitRäume – Milet in Kaiserzeit <strong>und</strong> Spätantike“ –<br />

Infos hier<br />

Bonn bis 26.07.: Fotoausstellung „Tschechische Fotografie des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts“ – Infos<br />

hier<br />

Bonn 28.08. bis 28.02.2010: Ausstellung „James Cook <strong>und</strong> die Entdeckung der Südsee“<br />

– Infos hier<br />

Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Masken der Südsee“ – Infos hier<br />

Hamburg bis 30.12.: Ausstellung „Mit Kamel <strong>und</strong> Kamera – Historische Orient-Fotografie<br />

1864-1970“ – Infos hier<br />

Hamburg bis 10.08.10: Ausstellung „Ein Hauch von Ewigkeit. Die Kultur des Alten<br />

Ägyptens“ – Infos hier<br />

Hamburg bis 24.06.11: Ausstellung „Ein Traum von Bali“ – Infos hier<br />

Heidelberg bis 14.06.: Ausstellung „Den Spuren der Götter folgen. Rituale <strong>und</strong> religiöse<br />

Ästhetik in Orissa“ – Infos hier<br />

Kalkriese/ Detmold bis 25.10.: Ausstellung „Imperium, Konflikt, Mythos. 2000 Jahre<br />

Varusschlacht“ – Infos hier


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 5<br />

Köln bis 27.09.: Ausstellung „Kunst des esoterischen Buddhismus“ – Infos hier<br />

Köln 19.06.-15.11.: Ausstellung „Europa brennt: Kunst der Völkerwanderungszeit“ – Infos<br />

hier<br />

München bis 04.10.: Ausstellung „Mazu – Chinesische Göttin der Seefahrt. Kolorierte<br />

Holzschnitte von Lin Chih-hsin. Begleitet von Pilgerstäben des Künstlers Ludwig Denk“ -<br />

Infos hier<br />

München bis 02.05.2010: Ausstellung „Sufi-Poster-Art aus Pakistan. Sonderschau in der<br />

Ravi Gallery“ – Infos hier<br />

Passau 12.06. bis 19.07.: 57. Festspiele Europäische Wochen Passau – Infos hier<br />

Speyer bis 12.07.: Ausstellung „Die Wikinger“ – Infos hier<br />

Speyer 13.09. bis 02.05.2010: Ausstellung „Hexen – Mythos <strong>und</strong> Wirklichkeit“ – Infos<br />

hier<br />

Stuttgart/ Tübingen 29.10. bis 04.11.: Filmfest „26. Französische Filmtage“ – Infos hier<br />

Wien bis 28.09.: Ausstellung „Made in Japan“ – Infos hier<br />

Wien bis 28.09.: Ausstellung „Japanese Rooms. Intime Einblicke in japanische<br />

Wohnungen von Sven Ingmar Thies“ – Infos hier<br />

Worms 31.07. bis 16.08.: Nibelungenfestspiele ,,Das Leben des Siegfried“ – Infos hier<br />

Wuppertal 21.06. bis 23.08.: Ausstellung „Freiheit, Macht <strong>und</strong> Pracht: Niederländische<br />

Kunst im 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert“ – Infos hier<br />

Zürich bis 06.09.: Indien-Ausstellung „Naga – Schmuck <strong>und</strong> Asche“ – Infos hier<br />

Zürich bis 24.09.: Ausstellung „Geschichten aus der Schattenwelt: Figuren aus China,<br />

Indien <strong>und</strong> der Türkei“ – Infos hier


Eurasien-Ticker 06-09<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 6<br />

Deutsch-russische Expedition mit dem Forschungsschiff „Sonne“ · Stiftung<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Politik (SWP) eröffnet Büro in Brüssel · Japaner essen<br />

neuerdings mehr Fleisch als Fisch · Kasachstan plant Errichtung einer<br />

nuklearen Brennstoffbank · Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan · Immer<br />

mehr Auswanderer aus Deutschland kehren zurück<br />

Von EM Redaktion<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Deutsch-russische Expedition mit dem Forschungsschiff „Sonne“<br />

EM – Deutsche <strong>und</strong> russische Wissenschaftler des Forschungsprojekts „KALMAR“ wollen<br />

die untermeerischen Vulkanberge vor Kamtschatka entschlüsseln. Sie brachen Mitte Mai mit<br />

dem deutschen Forschungsschiff Sonne von Yokohama (Japan) aus zu einer dreiwöchigen<br />

Expedition in den Nordwestpazifik auf.<br />

Unter wissenschaftlicher Leitung der B<strong>und</strong>esanstalt für Geowissenschaften <strong>und</strong> Rohstoffe<br />

(BGR) soll der nördlichste Bereich der untermeerischen Vulkankette „Emperor Seamount<br />

Chain“ untersucht werden. An Bord der „Sonne“ befindet sich eine Gruppe von 25 deutschen<br />

<strong>und</strong> russischen Wissenschaftlern <strong>und</strong> Technikern.<br />

„Unsere Aufgabe ist es, die erloschenen Vulkane genau zu vermessen, um weitere<br />

Aufschlüsse über die geologische Entwicklung der russischen Halbinsel Kamtschatka zu<br />

erhalten“, erklärt BGR-Expeditionsleiter Dr. Christoph Gaedicke. Im Verlauf der<br />

vergangenen 85 Millionen Jahre sind die Vulkane, die sich einstmals südöstlich im Bereich<br />

des Hawaii-Archipels gebildet haben, mit der pazifischen Platte nach Nordwesten in<br />

Richtung Kamtschatka gewandert <strong>und</strong> tauchen dort langsam unter dem eurasischen<br />

Kontinent ab. „Auf diese Weise üben die untermeerischen Vulkane einen entscheidenden<br />

Einfluss auf die Verformung der Halbinsel, die Erdbebentätigkeit <strong>und</strong> den Vulkanismus aus“,<br />

so Gaedicke.<br />

Mit seismischem Gerät bestimmen die Forscher den Aufbau der Erdkruste. Sonden werden<br />

eingesetzt, um das Alter <strong>und</strong> die Dichte des Ozeanbodens <strong>und</strong> der untermeerischen Vulkane<br />

zu ermitteln. Mit bordeigenen Instrumenten wird die Morphologie des Meeresbodens genau<br />

kartiert.<br />

Das vom B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Forschung finanzierte Projekt wird unter der<br />

Koordination des Leibniz-Instituts für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR) in Kiel<br />

durchgeführt. Vulkanologen des IFM-GEOMAR werden auf Gr<strong>und</strong>lage der Messergebnisse<br />

gezielt Proben der untermeerischen Vulkane nehmen.<br />

Weitere Informationen: http://kalmar.ifm-geomar.de/<br />

Stiftung Wissenschaft <strong>und</strong> Politik (SWP) eröffnet Büro in Brüssel<br />

EM – Ein neues Büro im Zentrum der Europastadt Brüssel soll für die SWP eine wichtige<br />

Doppelfunktion erfüllen. Einerseits möchte die SWP dadurch Entscheidungsträger mit ihren<br />

außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitischen Forschungsergebnissen vertraut machen, andererseits soll<br />

die Forschung über die EU <strong>und</strong> die NATO erleichtert werden. Dank des Büros können<br />

Forschungsaufenthalte von Wissenschaftlern des Berliner Instituts <strong>und</strong> vertrauliche Dialoge<br />

vor Ort zu europa-, außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitischen Fragen miteinander verb<strong>und</strong>en<br />

werden. Das Büro wird von Roderick Parkes, Mitarbeiter der Forschungsgruppe EU-<br />

Integration, geleitet. Zu seinen aktuellen Forschungsgebieten zählen die europäische Innen-


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 7<br />

<strong>und</strong> Justizpolitik, sowie Fragen der britischen Innen- <strong>und</strong> Europapolitik. Dr. Reinhardt<br />

Rummel, SWP Senior Fellow, verstärkt das Büro. Als ehemaliges Mitglied der<br />

Forschungsgruppe EU-Außenbeziehungen forscht er zu Fragen der europäischen Integration,<br />

der Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik der EU <strong>und</strong> der transatlantischen Beziehungen.<br />

Japaner essen neuerdings mehr Fleisch als Fisch<br />

EM - Nach einer neuen Studie der japanischen Regierung haben die Japaner 2006 erstmals<br />

mehr Fleisch als Fisch verzehrt. Dies meldet der pressetext.austria. Im darauf folgenden Jahr<br />

hat sich der Appetit nach Fleisch sogar noch weiter gesteigert. Offensichtlich ist auch in<br />

Japan ein deutlicher Wechsel im Lebensstil zu beobachten. Die Studie kommt zum Schluss,<br />

dass ein Gr<strong>und</strong> der veränderten Ernährung auch darin liegt, dass Fleischspeisen schneller<br />

zubereitet werden können.<br />

Die japanische Regierung plant jetzt gezielte Demonstrationen, um auf die Gefährdung der<br />

japanischen Fischereiindustrie aufmerksam zu machen. Trotz der nun vorherrschenden<br />

Trends essen die Japaner immer noch mehr Fisch als alle anderen Industrienationen. In der<br />

vergangenen Dekade sei der Fischkonsum in allen Generationen allerdings massiv<br />

zurückgegangen. Weltweit erfreut sich die japanische Küche, vor allem Sushi <strong>und</strong> Sashimi,<br />

wachsender Popularität. Meeresbiologen warnen indessen vor dem Overkill in den Ozeanen,<br />

denn die bevorzugten Speisefische wie Tunfische sind weltweit davon betroffen. Das größte<br />

Problem dabei ist, dass sich die Bestände nur sehr langsam erholen.<br />

Die Japaner halten die Tradition ihrer eigenen Küche sehr hoch <strong>und</strong> hatten 2007 eine<br />

Richtlinie für japanische Restaurants im Ausland erlassen, um „Verfälschungen“ zu<br />

verhindern. Der aus Repräsentanten von Wirtschaft, Gastronomie <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

zusammengesetzte Rat, den der japanische Agrarminister ins Leben rief, legte eine<br />

Empfehlung vor, die auf der Homepage des Ministeriums eingesehen werden kann:<br />

http://www.maff.go.jp/gaisyoku/kaigai/. (Ende)<br />

Kasachstan plant Errichtung einer nuklearen Brennstoffbank<br />

EM - Der Vorsitzende des Nuklearenergiekommitees des kasachischen Energieministeriums,<br />

Timur Zhantikin ließ kürzlich verlauten, dass die Errichtung einer atomaren Brennstoffbank<br />

in Kasachstan „näher analysiert wird“. Technische Details würden ausgearbeitet, <strong>und</strong> man<br />

prüfe Möglichkeiten <strong>und</strong> einen eventuellen Ort des Lagers. „Es stehen mehrere Orte zur<br />

Auswahl. Wenn die Entscheidung für einen Ort getroffen wurde, werden wir ihn der<br />

Atomenergiebehörde (IAEA) präsentieren“, sagte Herr Zhantikin.<br />

Der staatliche Kernkraftbetreiber KazAtomProm <strong>und</strong> das staatliche Nuklearzentrum würden<br />

in das Projekt involviert, <strong>und</strong> die Brennstoffbank könne mit der technologischen Kapazität<br />

Kasachstans vernetzt werden, sagte Zhantikin weiter. Er betonte, dass „Kasachstan sehr<br />

bekannt für seine nukleare Abrüstungspolitik <strong>und</strong> Unterzeichner des<br />

Atomwaffensperrvertrags ist. Zu dem haben wir eine gut entwickelte Kernkraftindustrie, die<br />

uns international bestehen lässt. Es gibt keinen direkten kommerziellen Profit für<br />

Kasachstan.“<br />

Im April hatte bereits Präsident Sultan Nasarbajew erklärt, dass „Kasachstan als Standort für<br />

eine nukleare Brennstoffbank in Betracht gezogen werden könne“. Ein internationales<br />

Projekt unter der Aufsicht der internationalen Atomenergiebehörde <strong>und</strong> mit Unterstützung<br />

der US-Regierung würde den Staaten ein zentrales Lager für Brennstoff für ihre<br />

Atomkraftwerke bieten, ohne eigene Anreicherungsstätten besitzen zu müssen.<br />

Tatort Adria - Vogeljagd auf dem Balkan


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 8<br />

EM – Die EuroNatur-Studie „Tatort Adria – Vogeljagd auf dem Balkan.<br />

Augenzeugenberichte“ macht das katastrophale Ausmaß der Wilderei an der östlichen Adria<br />

deutlich. Und doch dokumentiert der Bericht nur die Spitze des Eisbergs. In Serbien,<br />

Montenegro, Albanien, Bosnien-Herzegowina <strong>und</strong> Kroatien ist kaum eine Art vor den Flinten<br />

der Vogeljäger sicher – nicht einmal in Schutzgebieten. Angelockt durch Vogelattrappen, mit<br />

Tonbändern oder von Schnellbooten zusammengetrieben, haben die Vögel kaum eine Chance<br />

zu überleben. Nach den Jagdgesetzen der Länder entlang der Adria-Zugroute sind derartige<br />

Jagdmethoden verboten. Doch gewöhnlich schreiten weder Polizei noch Wildhüter gegen<br />

diese gesetzeswidrigen Handlungen ein. „Wir müssen den internationalen Druck auf die<br />

Länder entlang der Adria-Zugroute dringend erhöhen. Nur so können wir der Wilderei auf<br />

unsere Zugvögel entgegenwirken“, sagt EuroNatur-Projektleiter Dr. Martin Schneider-<br />

Jacoby.<br />

„Die Wilderei an der östlichen Adria gräbt den Vogelschützern hierzulande das Wasser ab“,<br />

sagt EuroNatur-Geschäftsführer Gabriel Schwaderer. In diesen Tagen schlüpfen bei uns die<br />

ersten Wiedehopfe des Jahres. Heute gilt der Wiedehopf in Deutschland als stark gefährdet,<br />

<strong>und</strong> es gibt hier nur noch 400 Brutpaare. „Doch während in Deutschland große<br />

Anstrengungen zum Schutz der Art unternommen werden, knallen Vogeljäger die seltenen<br />

Tiere an der Adria hemmungslos ab“, kritisiert Schwaderer. Das belegt unter anderem der<br />

F<strong>und</strong> von zwei erlegten Wiedehopfen an der albanischen Küste. Die beiden Vögel wurden in<br />

ihrem Brutgebiet in Brandenburg beringt. Wiedehopfe aus Deutschland benutzen die Adria-<br />

Zugroute, <strong>und</strong> die Abschüsse gefährden ihren Brutbestand. Ebenso ergeht es Feldlerche,<br />

Wachtel <strong>und</strong> anderen Vogelarten, die aus unseren Kulturlandschaften mehr <strong>und</strong> mehr<br />

verschwinden.<br />

Mehr zur Kampagne unter www.euronatur.org/vogeljagd<br />

Immer mehr Auswanderer aus Deutschland kehren zurück<br />

EM – Die B<strong>und</strong>esbürger sind im allgemeinen zufrieden mit Deutschland <strong>und</strong> halten das<br />

Konzept der Sozialen Marktwirtschaft für überzeugend. Jeder fünfte Deutsche könnte sich<br />

aber auch vorstellen, aus wirtschaftlichen oder finanziellen Gründen in einem anderen Land<br />

zu leben. Doch scheint die Auswanderungswelle gebrochen, trotz pausenloser Fernsehserien<br />

mit dem Titel „Die Auswanderer“. „Wir haben mindestens doppelt so viele Anfragen von<br />

potenziellen Rückkehrern als sonst“, sagte die Emigrationsexpertin Monika Schneid vom<br />

Raphaels-Werk, Deutschlands größter Beratungseinrichtung für Auswanderer, der<br />

„Wirtschaftswoche“. Ein Gr<strong>und</strong> sei die Wirtschaftskrise: „Deutsche haben im Ausland oft<br />

befristete Verträge, sodass sie in der Regel die Ersten sind, die ihren Arbeitsplatz räumen<br />

müssen.“<br />

Nach vorläufigen Zahlen wanderten im ersten Quartal des vergangenen Jahres noch 39 000<br />

Deutsche aus, aber bereits 23 800 kehrten zurück. Im zweiten Quartal betrug das Verhältnis<br />

von Auswanderern zu Rückkehrern 38 600 zu 26 900, im dritten Quartal 54 900 zu 32 722.<br />

Deutlich erkennbar werde die Trendwende erst in den offiziellen Statistiken für 2009 sein,<br />

sagte Schneid.


EM-INTERVIEW<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 9<br />

„Der Iran ist heißer Kandidat für eine geopolitische<br />

Umorientierung“<br />

Die Iran-Sanktionen haben keinerlei Effekt, werden aber dazu führen, dass<br />

Teheran sich vom Westen abkehrt, den Blick nach Osten richtet <strong>und</strong> in China<br />

<strong>und</strong> Russland neue geopolitische Partner findet. Deutschland <strong>und</strong> die EU haben<br />

dann das Nachsehen. Die Berliner Regierung betreibt dennoch eine gezielte<br />

Entmutigungspolitik gegen das Bestreben der heimischen Wirtschaft sich im<br />

Iran zu engagieren. Dr. Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft <strong>und</strong><br />

Politik ist Herausgeber einer Studie, die diese Fehlentwicklungen heftig<br />

kritisiert.<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

urasisches <strong>Magazin</strong>: Sie<br />

haben zusammen mit<br />

weiteren Experten der<br />

Stiftung Wissenschaft <strong>und</strong> Politik<br />

eine Studie erstellt, in der Sie die<br />

deutsche Außenpolitik im Nahen<br />

<strong>und</strong> Mittleren Osten <strong>und</strong> in<br />

Nordafrika untersuchen.<br />

Deutschland tut sich schwer,<br />

seine Interessen in dieser Region<br />

zu definieren, lautet eine Ihrer<br />

Dr. Guido Feststellungen. Wie kann es sein,<br />

Steinberg<br />

dass ein Land seine eigenen<br />

Interessen nicht artikulieren kann?<br />

Guido Steinberg: Ich denke schon, dass<br />

Deutschland seine Interessen artikulieren kann. Das<br />

ist eine der Forderungen, die wir mit unserer Studie<br />

verbinden. Aber Deutschland ist bei der<br />

Formulierung seiner Interessen sehr viel vorsichtiger<br />

als andere Nationen. Ich glaube, dass der Begriff der<br />

eigenen Interessen in Deutschland noch immer zu<br />

sehr nach harter Machtpolitik klingt <strong>und</strong> deshalb<br />

Unbehagen verursacht. Das ist ein Problem unserer<br />

politischen Kultur. Wer aber nicht definiert, was er<br />

eigentlich will, der droht erstens sich zu verzetteln,<br />

weil er keine genauen Zielvorstellungen hat. Und<br />

zweitens ist er als Partner für andere Staaten<br />

schwierig. Wie will man mit jemandem<br />

zusammenarbeiten, der seine Interessen nicht<br />

öffentlich <strong>und</strong> auch deutlich definiert?<br />

Zur Person: Guido Steinberg<br />

Dr. Guido Steinberg ist<br />

Islamwissenschaftler <strong>und</strong><br />

Mitarbeiter der Berliner Stiftung<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Politik. Seine<br />

Forschungsfelder sind: Politik <strong>und</strong><br />

Geschichte des Arabischen Ostens<br />

<strong>und</strong> der Golfregion, insbesondere<br />

des Iraks <strong>und</strong> Saudi-Arabiens.<br />

Außerdem Islamismus <strong>und</strong> der<br />

Islamistische Terrorismus.<br />

Steinberg war 2002-2005 Referent<br />

im Referat Internationaler<br />

Terrorismus im B<strong>und</strong>eskanzleramt<br />

<strong>und</strong> 2001 Koordinator des<br />

Interdisziplinären Zentrums<br />

„Bausteine zu einer<br />

Gesellschaftsgeschichte des<br />

Vorderen Orients“ an der FU Berlin.<br />

Von Guido Steinberg sind<br />

erschienen: „Der nahe <strong>und</strong> der ferne<br />

Feind – Das Netzwerk des<br />

islamistischen Terrorismus“ (Siehe<br />

EM 03-06), „Saudi-Arabien: Politik -<br />

Geschichte – Religion“. Im Oktober<br />

erscheint: „Im Visier von al-Qaida –<br />

Deutschland braucht eine Anti-<br />

Terror-Strategie.“<br />

EM: Nach der Definition Bismarcks gibt es in der Außenpolitik keine Fre<strong>und</strong>e, sondern nur<br />

Interessen. Das wussten wir Deutschen schon mal. Wo ist dieses Wissen verblieben?<br />

Steinberg: Wir haben Werte, die es zu vertreten gilt, gerade in der Nahostpolitik. Insofern<br />

ist Bismarcks Definition nicht mehr gültig. Aber auch wenn man werteorientiert handelt,<br />

muss man darüber hinaus seine Interessen definieren. Und das geschieht nur sehr<br />

zurückhaltend.


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 10<br />

„Die Regierung Schröder hat Ansätze für stärker interessengeleitete<br />

Außenpolitik aufgezeigt“<br />

EM: Im Nahen <strong>und</strong> Mittleren Osten betreiben die USA eine knallharte Interessenpolitik.<br />

Länder, die den US-Interessen nicht entsprechen, wurden bislang zu einer Achse des Bösen<br />

gerechnet, als Schurkenstaaten tituliert, mit Krieg oder zumindest Geheimdienstaktionen<br />

überzogen. Fällt es Deutschland deshalb so schwer, seine Interessen, zum Beispiel im Iran, zu<br />

definieren <strong>und</strong> zu vertreten, weil es Rücksicht auf US-Interessen nehmen muss?<br />

Steinberg: In den letzten acht Jahren unter dem Präsidenten George Bush stand die<br />

Ideologie in der amerikanischen Außenpolitik sehr prominent im Vordergr<strong>und</strong>. Das sollte<br />

man nicht übersehen. Der Irak wurde ja angegriffen, weil man ihn zum demokratischen<br />

Leuchtturm machen wollte. Eine ganz absurde Idee. Wenn die Bush-Administration<br />

Interessenpolitik betrieben hätte, dann wären wir heute nicht mit so vielen Problemen im<br />

Irak, in Afghanistan <strong>und</strong> Pakistan konfrontiert. Ich sehe unser Problem deshalb auch weniger<br />

in der US-Politik als in unserer eigenen politischen Kultur. Wer wagt es denn, in Deutschland<br />

offen zu sagen, dass es in unserem ureigensten Interesse ist, Gas aus dem Irak <strong>und</strong> dem Iran<br />

für die europäische Nabuco-Pipeline zu beziehen, um die Abhängigkeit von Russland zu<br />

verringern <strong>und</strong> dass dies Auswirkungen auf unsere Außenpolitik haben muss? Interessen<br />

werden häufig nur von Fachleuten benannt.<br />

EM: War das unter der SPD-geführten Regierung Schröder anders?<br />

Steinberg: Die Regierung Schröder hat Ansätze für stärker interessengeleitete Außenpolitik<br />

aufgezeigt, insbesondere in den Feldern, in denen der Kanzler selbst die Außenpolitik prägte.<br />

Gerhard Schröder war weniger vorsichtig in der Formulierung eigener Interessen als die<br />

deutsche Politik zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Er hat zum Beispiel eine Kommerzialisierung<br />

unserer Außenpolitik betrieben - gegenüber Russland <strong>und</strong> China, aber auch den Golfstaaten.<br />

Es hat einen zielgerichteten Ausbau der Beziehungen zu Saudi Arabien <strong>und</strong> den Vereinigten<br />

Arabischen Emiraten gegeben. Die Beziehungen zu den VAE wurden damals etwas<br />

großspurig strategische Partnerschaft genannt. Die Regierung Schröder wollte die<br />

Handelsbeziehungen Deutschlands zu Saudi Arabien <strong>und</strong> den VAE intensivieren, weil das in<br />

unserem Interesse liegt. Aber wenn man die Gesamtregion Naher Osten ansieht, gibt es doch<br />

eine große Kontinuität der deutschen Politik.<br />

„Die enge Bindung an die USA entspringt einer Anerkennung unserer eigenen<br />

Schwächen“<br />

EM: B<strong>und</strong>eskanzlerin Angela Merkel war schon als Oppositionsführerin während der<br />

Regierung Schröder stets auf Seiten der Koalition der Willigen zu finden. Schadet diese enge<br />

Gefolgschaft gegenüber den USA eigenen deutschen Interessen?<br />

Steinberg: Ich glaube, dass diese enge Bindung an die USA sowohl einer Anerkennung<br />

unserer eigenen Schwächen als auch der Realitäten in der internationalen Politik entspringt.<br />

Diese Bindung kann natürlich schaden, wenn die US-Außenpolitik so überhaupt nicht<br />

zielführend ist, wie sie das unter Bush meist war. In unserer Studie werden dafür Fälle<br />

genannt wie die Isolierung Syriens <strong>und</strong> der Hamas beispielsweise. Das war falsche Politik.<br />

Und gegenüber dem Iran ist es aktuell noch immer falsche Politik. Die Sanktionen haben ja<br />

überhaupt keinen Effekt <strong>und</strong> werden auch künftig keinen haben, schaden gleichzeitig aber<br />

unseren wirtschaftlichen Interessen. Da wäre es an der Zeit zu überlegen <strong>und</strong> zu sagen, was<br />

wir eigentlich wollen. Allerdings muss man klar sehen, dass wir in der Iran-Politik nur mit<br />

den USA zusammen etwas erreichen können.<br />

EM: Weiß man denn in Washington, was Deutschland will?


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 11<br />

Steinberg: Das ist Teil des Problems. Wenn wir Partner sein wollen - <strong>und</strong> nicht nur wie Sie<br />

das gesagt haben Gefolge -, dann müssen wir unsere Vorstellungen definieren, darlegen <strong>und</strong><br />

zur Geltung bringen. Wir Nahostfachleute werden andauernd mit der Frage konfrontiert, was<br />

denn die Ziele, Interessen <strong>und</strong> die Politik Deutschland eigentlich sind? Zum Beispiel<br />

gegenüber Syrien. Zum Beispiel im Iran? Am Golf? Das ist nicht nur ausländischen<br />

Beobachtern in vielen Fällen nicht klar.<br />

„Der Jemen läuft Gefahr zusammenzubrechen“<br />

EM: Wo liegen sie denn? Welches sind die wichtigsten Interessen Deutschlands in der Nah-<br />

<strong>und</strong> Mittelostregion <strong>und</strong> in Nordafrika?<br />

Steinberg: Aktuell vorrangig ist natürlich eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.<br />

Ebenso wichtig ist eine friedliche Lösung des Konflikts über das iranische Atomprogramm –<br />

sofern das denn möglich ist. Und wir wollen eine Stabilisierung des Iraks aber auch anderer<br />

schwacher Staaten, des Libanon beispielsweise <strong>und</strong> vor allem des Jemen. Dieser Staat läuft<br />

Gefahr zusammenzubrechen. Es gibt einen kleinen Bürgerkrieg im Norden, dazu derzeit<br />

separatistische Unruhen im Süden. Es gibt ein massives Terrorproblem durch Zuwanderung<br />

von Irakveteranen <strong>und</strong> saudiarabischen Kämpfern. Dazu ist das Land wirtschaftlich sehr<br />

instabil. In unserem Interesse ist es, so etwas zu verhindern, soweit wir eben dazu in der Lage<br />

sind. Es sollte nicht so weit kommen wie in Somalia oder Afghanistan, die bereits einen<br />

staatlichen Zusammenbruch hinter sich haben.<br />

EM: Also sollte sich Deutschland dort im Jemen mehr engagieren, schon aus Gründen der<br />

Terrorbekämpfung?<br />

Steinberg: Ja, die Stabilisierung schwacher Staaten <strong>und</strong> die Eindämmung des Terrorismus<br />

gehen meistens Hand in Hand. Aber wir haben darüber hinaus auch noch weitere Interessen,<br />

nämlich eine sichere Energieversorgung <strong>und</strong> die Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen.<br />

EM: Der amtierende US-Präsident Barack Obama erweckt den Eindruck, als würde er von<br />

der harten Linie seines Vorgängers abrücken. Aber bislang ist davon nur im Umgangston<br />

etwas zu merken. Wird Obama US-Interessen am Golf aufgeben, sich aus anderen Regionen<br />

Eurasiens zurückziehen, in denen Konfliktlinien, zum Beispiel mit Russland, bestehen?<br />

Steinberg: Das sehe ich nur teilweise so wie Sie. Im Falle Afghanistan <strong>und</strong> Pakistan ist<br />

Obama schon über Ankündigungen hinausgegangen. Für eine amerikanische Administration<br />

ist das im Mai des ersten Regierungsjahres sehr beachtlich. Die USA haben eine ganz genaue<br />

Vorstellung davon, was sie dort wollen, sie haben eine Strategie ausgearbeitet <strong>und</strong> sie haben<br />

Truppen entsandt. Für Nahost stimmt allerdings das, was Sie sagen. Es gibt bisher nur<br />

Ankündigungen. Aber die Obama-Administration hat doch sehr deutlich gemacht, dass sie<br />

aktiv werden will. Das macht ein klein wenig Hoffnung.<br />

„Ich habe meine Zweifel, ob die Obama-Administration alle Vorhaben<br />

bewältigen kann. Sie wird Prioritäten setzen müssen.“<br />

EM: Wo sehen Sie dann die Ansätze, was wird sich ändern?<br />

Steinberg: Ich sehe vor allem, dass die USA Probleme damit haben werden, Prioritäten zu<br />

setzen. Ich bin mir nämlich nicht sicher, dass diese Administration so viele Themen, wie sie<br />

nun auf sie zukommen, tatsächlich auch schultern kann. Da sind einmal die ganzen<br />

wirtschaftlichen Aspekte, die schon ein großes Problem darstellen. Dazu kommen Nordkorea,<br />

Afghanistan, Pakistan, der Irak. Der Iran wird sicherlich auch noch dazukommen. Und<br />

inwieweit dann noch Luft ist für eine intensive Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt oder<br />

anderen Themen in der Region, werden wir wahrscheinlich erst im nächsten Jahr sehen. Ich


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 12<br />

habe meine Zweifel, ob die Obama-Administration das alles bewältigen kann. Sie wird<br />

Prioritäten setzen müssen.<br />

EM: Was hindert die Deutschen <strong>und</strong> die EU-Staaten sich hier weit stärker zu engagieren als<br />

bisher?<br />

Steinberg: Voraussetzung für eine Änderung ist die Aufgabe der eigenen Zurückhaltung.<br />

Dazu muss man sich klar werden, was man dort eigentlich wie erreichen will. Es ist eine<br />

Gr<strong>und</strong>linie der deutschen Außenpolitik, dass sie stark auf multilaterale Ansätze setzt. Und<br />

das zu Recht. Vor allem natürlich innerhalb der EU. Da allerdings ist die Uneinigkeit gerade<br />

in wichtigen Fragen der Nahostpolitik sehr groß, zum Beispiel im Umgang mit Israel. Es gibt<br />

außerdem einzelne Akteure, die in der Region sehr viel gezielter als wir nationale Interessen<br />

vertreten. Dazu gehören vor allem Frankreich, aber in Nordafrika auch Spanien <strong>und</strong> Italien.<br />

Die EU ist infolge ihrer eigenen Uneinigkeit kein ernst zu nehmender Akteur im Nahen<br />

Osten. Diejenigen europäischen Nationalstaaten, die wie Frankreich selbstbewusst auftreten,<br />

spielen eine kleine Rolle. Deutschland ist noch unbedeutender, auch, weil es stärker auf die<br />

EU setzt.<br />

EM: Gibt es denn nun in der deutschen Außenpolitik überhaupt definierte Interessen <strong>und</strong><br />

eine klare Strategie, diese durchzusetzen, egal wo?<br />

Steinberg: Jedenfalls stoßen wir überall, wo wir solche Interessen haben, die ja in unserer<br />

Studie auch dargestellt sind, auf andere Akteure, die ihre eigenen Interessen verfolgen. Also<br />

die USA, aber auch Frankreich. Aber die wichtigste Entwicklung in den letzten Jahren ist,<br />

dass andere Staaten als Konkurrenten dazukommen. Das sind vor allem Russland <strong>und</strong> China<br />

Gerade im Iran werden Russen <strong>und</strong> Chinesen für die deutsche Wirtschaft eine ganz ernst zu<br />

nehmende Konkurrenz. Sie profitieren von der Sanktionspolitik <strong>und</strong> den zusätzlichen<br />

Hemmnissen, die die B<strong>und</strong>esregierung für die deutsche Wirtschaft aufbaut.<br />

Entmutigung durch Reduzierung der Hermes-Bürgschaften<br />

EM: Täuscht der Eindruck oder wird der Iran künftig in der Region eine immer wichtigere<br />

Rolle spielen?<br />

Steinberg: Der Iran wird tatsächlich immer wichtiger. Er ist ein heißer Kandidat für eine<br />

geopolitische Umorientierung, also eine Abwendung vom Westen. Wenn die Iraner mit uns<br />

nicht mehr ins Geschäft kommen, werden sie sich andere Partner suchen. Sie haben Öl <strong>und</strong><br />

Gas. Ihre neuen Partner werden Russland <strong>und</strong> China sein.<br />

EM: Beide sind auch Mitglieder der Vereinten Nationen, scheren sich aber offenbar weniger<br />

um die Sanktionsauflagen, richtig?<br />

Steinberg: Vor allem verhindern beide effektivere Sanktionen. Dabei sind die<br />

Sanktionsauflagen für die deutsche Wirtschaft noch nicht einmal das<br />

Schlimmste. Vielmehr ist es die darüber hinausgehende Entmutigungspolitik der<br />

B<strong>und</strong>esregierung, die die Geschäfte letztlich verhindert. Zum Beispiel durch die massive<br />

Reduzierung der Hermes-Bürgschaften. Die deutsche Wirtschaft wird so davon abgehalten,<br />

mit dem Iran ins Geschäft zu kommen. So etwas gibt es natürlich in Russland oder China<br />

nicht.<br />

EM: Und warum macht eine deutsche B<strong>und</strong>esregierung das?<br />

Steinberg: Beim Thema Iran folgen wir natürlich der amerikanischen Linie. Die<br />

B<strong>und</strong>esrepublik kann nur hoffen, dass die Iraner das Gesprächsangebot von Obama


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 13<br />

annehmen. So könnte Deutschland die Gelegenheit erhalten, vielleicht noch rechtzeitig die<br />

Beziehungen zum Iran wieder zu reparieren. Ich bin da allerdings sehr skeptisch.<br />

„Wir brauchen intensivere, niveauvollere <strong>und</strong> ehrlichere Debatten über<br />

Außenpolitik“<br />

EM: Das ist doch wie ein Schuss ins Knie, wie eine gezielte Selbstentleibung. Man sollte doch<br />

nicht erwarten, dass eine Regierung so etwas tut, ihrer eigenen Wirtschaft gegenüber, die ja<br />

doch die ökonomische Basis ist. Oder gibt es dafür eine andere Erklärung?<br />

Steinberg: Eine solche Politik wäre nur unter der Voraussetzung zielführend, dass die<br />

Sanktionen wirken. Die B<strong>und</strong>esregierung hofft darauf; ich halte das nicht für realistisch.<br />

Letztlich schaden die Sanktionen unserer Wirtschaft. Und zwar auf Feldern, die dann von<br />

anderen beackert werden. Das müssen nicht nur Russland <strong>und</strong> China sein, es kann durchaus<br />

sein, dass bei einer amerikanisch-iranischen Annäherung das Geschäft dann von den<br />

Amerikanern gemacht wird. Ich gehe jedoch eher von einer Eskalation des Konfliktes aus.<br />

EM: Zu guter Letzt die Frage: Wie kann sich die deutsche Politik aus ihren Fesseln befreien<br />

– oder sehen Sie gar nicht die Möglichkeit?<br />

Steinberg: Was wir zunächst brauchen, sind intensivere <strong>und</strong> niveauvollere Debatten über<br />

diese Fragen. Auch ehrlichere. Es gibt in Deutschland kaum große <strong>und</strong> länger anhaltende<br />

außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitische Auseinandersetzungen. Diskussionen sind immer nur<br />

anlassbezogen <strong>und</strong> werden dann sehr schnell von innenpolitischen Themen überlagert. Dabei<br />

betreibt die deutsche Politik eine immer aktivere Außenpolitik, sei es im Libanon, in<br />

Afghanistan oder am Horn von Afrika. Dies geschieht aber oft ohne eine vorherige Definition<br />

der deutschen Interessen. In den Fällen, in denen deutsche Truppen entsandt werden,<br />

geschah dies zumindest in der Vergangenheit mehrmals ohne genügende Abwägung der<br />

Risiken <strong>und</strong> der Folgen. Wir sehen das in Afghanistan. Der deutsche Einsatz dort erfolgte aus<br />

einem einzigen Gr<strong>und</strong>, nämlich dass die Regierung Schröder 2001 Solidarität mit den USA<br />

zeigen wollte. Die B<strong>und</strong>esregierung wusste damals nicht, was unsere Truppen da erwartet<br />

<strong>und</strong> war auch überrascht, als die Bush-Administration 2002 Afghanistan für gar nicht mehr<br />

so wichtig hielt. Jetzt w<strong>und</strong>ern sich Politik <strong>und</strong> Öffentlichkeit, dass der Widerstand gegen die<br />

deutsche Präsenz zunimmt. So etwas darf künftig nicht mehr passieren. Eine gut entwickelte<br />

außen- <strong>und</strong> sicherheitspolitische Debattenkultur kann solchen Überraschungen<br />

entgegenwirken.<br />

„In Deutschland entstehen neue politische <strong>und</strong> militärische Eliten“<br />

EM: Und nun?<br />

Steinberg: Die B<strong>und</strong>esrepublik lernt mit den Erfahrungen der Deutschen in Afghanistan –<br />

Militärs <strong>und</strong> Zivilisten. Wir erleben eine Entwicklung, wie sie im Gr<strong>und</strong>e von den<br />

Kolonialmächten im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert durchgemacht wurde. Durch die deutsche Präsenz in<br />

Krisenregionen <strong>und</strong> die oft schmerzlichen Erfahrungen dort werden wir gezwungen, uns<br />

intensiv mit diesen Ländern zu befassen. Mehr junge Leute befassen sich mit Weltregionen,<br />

die bisher wenig Interesse gef<strong>und</strong>en haben. Neue Studiengänge für Internationale<br />

Beziehungen werden eingerichtet. In Deutschland entstehen neue politische <strong>und</strong> militärische<br />

Eliten, die in Zukunft die deutsche Politik mitprägen <strong>und</strong> ihr etwas von ihrer heutigen<br />

Provinzialität nehmen werden.<br />

EM: Sehen Sie bei einer B<strong>und</strong>esregierung in der nächsten Legislaturperiode eine<br />

Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich an den hier beschriebenen außenpolitischen Defiziten<br />

etwas ändert?


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 14<br />

Steinberg: Das hat wenig mit der einen oder anderen B<strong>und</strong>esregierung zu tun. Deutschland<br />

hat viele wichtige Interessen <strong>und</strong> macht die Erfahrung, dass es nur sehr wenige durchsetzen<br />

kann. Deshalb gibt es eine Entwicklung hin zu interessengeleitetem Handeln in der<br />

Außenpolitik <strong>und</strong> die wird sich auch nach September 2009 fortsetzen – je nach Regierung<br />

mehr oder weniger schnell. Ob sich diese Entwicklung allerdings auf die Nahostpolitik<br />

auswirken wird, ist bisher noch fraglich. Unsere Studie soll eine Anregung in dieser Richtung<br />

sein.<br />

EM: Herr Dr. Steinberg, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

Die Studie der SWP finden Sie hier:<br />

http://swp-berlin.org/de/produkte/swp_studie.php?id=10689<br />

Lesen Sie in diesem Zusammenhang auch EM-Interview 03-09 „Der Iran beansprucht ohne<br />

Zweifel eine kulturelle <strong>und</strong> wirtschaftliche Führungsposition im Nahen Osten“<br />

*<br />

Das Interview führte Hans Wagner


IRAN<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 15<br />

Das amerikanische Dilemma zwischen alter <strong>und</strong> neuer<br />

Politik<br />

George W. Bushs Nachfolger Barack Obama hat angekündigt, die moralische<br />

<strong>und</strong> politische Führungsrolle der USA im Nahen <strong>und</strong> Mittleren Osten<br />

wiederherzustellen, die im Zuge der letzten acht Jahre erheblich gelitten hat.<br />

Doch bei genauer Betrachtung begegnet man in seiner Politik einer Menge<br />

Altvertrautem.<br />

Von Ali Fathollah-Nejad<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

er neue Mann im<br />

Weißen Haus hat<br />

eine Reduzierung<br />

der Kampftruppen im<br />

Irak bis Ende 2011<br />

angekündigt, aber es<br />

sollen 50.000 bis<br />

60.000 der 142.000<br />

Mann starken dort<br />

stationierten Einheiten<br />

als<br />

„Ausbildungstruppen,<br />

Schutz von<br />

amerikanischen<br />

Interessen <strong>und</strong> Kräfte<br />

zur<br />

Terrorismusbekämpfun<br />

Ali Fathollah-Nejad g“ (als „Garnisonen“<br />

bezeichnet) bestehen<br />

bleiben. Dazu kommt eine Präsenz von geschätzten<br />

100.000 privaten Söldnertruppen (sog. Private<br />

Military Contractors, PMCs), welche die<br />

Sicherheitslage im Irak unmittelbar tangieren <strong>und</strong><br />

deren Mitarbeiter zudem nur schwer für ihre<br />

Vergehen haftbar gemacht werden können.<br />

Zur Person: Ali Fathollah-<br />

Nejad<br />

Der deutsch-iranische Politologe Ali<br />

Fathollah-Nejad (MA, MSc cum<br />

laude, BA, BSc), geboren 1981,<br />

studierte Politik,<br />

Rechtswissenschaften <strong>und</strong><br />

Soziologie an Sciences-Po Lille<br />

(Frankreich), der Westfälischen<br />

Wilhelms-Universität Münster <strong>und</strong><br />

der University of Twente (Enschede,<br />

Niederlande) in verschiedenen<br />

binationalen Studiengängen.<br />

Er ist Autor eines Forschungspapiers<br />

zur US-Iran-Krise <strong>und</strong> der Rolle<br />

Europas mit dem Titel „Iran in the<br />

Eye of Storm: Backgro<strong>und</strong>s of a<br />

Global Crisis“ (2007). Seine<br />

Beiträge, die in diversen<br />

nordamerikanischen (auf Englisch<br />

<strong>und</strong> Französisch), britischen <strong>und</strong><br />

deutschen Medien erschienen,<br />

wurden ins Englische, Deutsche,<br />

Französische, Persische, Italienische<br />

<strong>und</strong> Türkische übersetzt.<br />

Neben der Ausweitung des Afghanistan-Krieges, soll<br />

die unilaterale Gewaltanwendung gegen die neue Mehr vom Autor:<br />

„Zielscheibe“ Pakistan forciert werden. Im<br />

http://www.fathollah-nejad.com/.<br />

Washingtoner Jargon wird diese von Obama erkorene „zentrale Front im Global War on<br />

Terrorism“ als „AfPak“ tituliert. Insgesamt deutet nicht viel darauf hin, dass es einen Riss<br />

gibt im Konsens darüber, dass bei der „Terrorismusbekämpfung“ weiterhin die als<br />

völkerrechtswidrig einzustufende „Prävention“ – die jedoch gerne irreführend als<br />

„Präemption“ bezeichnet wird – zu gelten hat.<br />

Der „Krieg gegen den Terror“ wird also nur rhetorisch abgeschafft. Um jedoch eine<br />

glaubwürdige Kehrtwende einzuleiten, müsste Obama dem unsäglichen „Global War on<br />

Terror“ ein Ende bereiten. Und die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS, die sog. Bush-<br />

Wolfowitz-Doktrin), die völkerrechtswidrige Angriffskriege vorsieht, müsste einer radikalen<br />

Erneuerung unterzogen werden. Doch beides ist nicht absehbar. In den Worten des<br />

Redenschreibers der ehemaligen Außenministerin Rice wird Obama den „pragmatischen


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 16<br />

Internationalismus“ der zweiten Amtszeit Bushs weiterführen, um eine „stabile, nachhaltige<br />

globale Leadership“ zum Erfolg zu verhelfen. Nach Meinung vieler Analysten hat jedoch<br />

gerade die unilaterale Politik der Bush/Cheney-Regierung die Herausbildung einer<br />

multipolaren Welt beschleunigt.<br />

Gestaltung einer neuen Weltordnung?<br />

Die Eliten in den USA, aber auch jene des transatlantischen Bündnisses, hegen die Hoffnung,<br />

dass die Vereinigten Staaten unter Präsident Obama wieder an Macht <strong>und</strong> Einfluss<br />

gewinnen. Um mit dem einflussreichen amerikanischen Politikwissenschaftler Charles<br />

Kupchan (u.a. Senior Fellow am Council on Foreign Relations) zu sprechen, habe sich mit<br />

Obama das Fenster für die USA geöffnet, um eine aus den Händen Washingtons geglittene<br />

Weltordnung wieder neu zu gestalten. Dieser Einschätzung widerspricht jedoch der Direktor<br />

des einflussreichen britischen Royal Institute of International Affairs (Chatham House)<br />

Robin Niblett <strong>und</strong> meint, dass das Fenster irreversibel geschlossen sei. Darin stimmt ihm<br />

auch der amerikanische Analyst Parag Khanna zu, wenn er in der Zeit (Nr. 2/2009 v.<br />

31.12.2008, S. 3) schreibt: „Aus geistiger Bequemlichkeit möchte man vielleicht gern glauben,<br />

Präsident Obama sei in der Lage, die Führungsrolle der Vereinigten Staaten<br />

wiederherzustellen. Doch Amerikas geschrumpfte Macht hat strukturelle Ursachen <strong>und</strong><br />

hängt nicht von einzelnen Akteuren ab. Unser Sonnensystem hat keine Sonne mehr.“ (Dazu:<br />

EM 11-08 „Pax Americana – Die Weltmacht stürzt“).<br />

In „Der Kampf um die zweite Welt: Imperien <strong>und</strong> Einfluss in der neuen Weltordnung“<br />

(Berlin Verlag, 2008) spricht der indischstämmige Khanna von nunmehr drei „Imperien“ –<br />

die USA, die EU <strong>und</strong> China – zwischen denen das Gros des globalen Handels abgewickelt<br />

wird. Die sog. „Zweite Welt“ (darunter Russland, Indien, Brasilien, aber auch Länder wie<br />

Kasachstan <strong>und</strong> der Iran) bildet jenen umkämpften Schauplatz, auf dem entschieden wird,<br />

welcher der drei Imperien der „Ersten Welt“ in der Lage sein wird, global ein Machtgewicht<br />

zu seinem Gunsten herzustellen.<br />

Mit neuen Tönen <strong>und</strong> alter Politik?<br />

Der israelischen Logik folgend hatte Obama im Wahlkampf wiederholt hervorgehoben, dass<br />

ein nuklear bewaffneter Iran „unakzeptabel“ sei, eine solche Entwicklung käme einem – wohl<br />

geopolitisch verstandenen – „Game Changer“ gleich. Sein Vize Joseph Biden sprach<br />

unterdessen von dem „unerlaubten (illicit)“ zivilen Atomprogramm der Iraner. Direkte<br />

Gespräche, so der Präsident, sollten an einem Ort <strong>und</strong> zu einer Zeit, welche US-Interessen<br />

dienten, dazu abgehalten werden.<br />

Ebenfalls im Rennen um das Weiße Haus hatte Obama die Doktrinen seiner Vorgänger<br />

bekräftigt, indem er erklärte: „Ich werde nicht zögern, Gewalt anzuwenden, notfalls auch<br />

unilateral, um das amerikanische Volk oder unsere vitalen Interessen zu schützen, wenn wir<br />

attackiert oder sie bedroht werden.“ In der Washington Post (v. 29.04.2007) bezeichnete ihn<br />

der wohl führende neokonservative Außenpolitikstratege Robert Kagan mit nicht zu<br />

übersehender Genugtuung als „Interventionisten“: „Obama spricht über ‚Schurkennationen‘,<br />

‚verfeindete Dikatoren‘, ‚muskulöse Bündnisse‘ <strong>und</strong> die Aufrechterhaltung ‚einer starken<br />

atomaren Abschreckung‘. Er spricht darüber, wie wir den ‚amerikanischen Moment‘ ‚greifen‘<br />

müssen. Wir müssen ‚die Welt von Neuem beginnen‘. Ist dies Realismus? Ist dies<br />

linksliberale Außenpolitik?“, so der Post-Kolumnist. Sicherlich gibt es auch Gründe, Obamas<br />

Aussagen im Lichte des Wahlkampfes zu betrachten. Denn dabei kommt der mächtigen<br />

Israel-Lobby traditionell großer Einfluss zu. Doch wie zu zeigen sein wird, hat sich nichts<br />

Substantielles verändert.<br />

Von den an Obama in der Iran-Frage gerichteten Policy-Empfehlungen – von realistischer<br />

bis hin zu neokonservativer Seite – werden jedoch gemeinsame Linien deutlich. Neben einer<br />

stärker koordinierten Zusammenarbeit mit Israel, sollen die Teheran gegenüber misstrauisch


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 17<br />

eingestellten pro-amerikanischen sunnitisch-arabischen Autokratien in die US-Strategie<br />

eingeb<strong>und</strong>en werden. Wenn möglich, soll auch Syrien dem Iran als Bündnispartner<br />

abgeworben werden. Außerhalb der Region wollen die USA – wie die Münchner<br />

Sicherheitskonferenz 2009 gezeigt hat – die NATO-Bündnispartner sowie Russland auf eine<br />

gemeinsame Position in der Iran-Politik einschwören. Washington hat Moskau gegenüber<br />

bereits signalisiert, dass es seine Pläne für eine National Missile Defense (NMD) in<br />

Osteuropa überdenken würde, wenn denn Russland in der Iran-Politik kooperiere. Diese<br />

NMD ermöglicht nach Einschätzung mancher Experten eine nukleare Erstschlagsfähigkeit<br />

Washingtons.<br />

Während insbesondere die Einbindung Moskaus aufgr<strong>und</strong> der wirtschaftlichen Interessen<br />

Russlands gegenüber dem Iran <strong>und</strong> der strategischen Rivalität des Landes mit den USA<br />

schwierig zu erreichen wäre, könnte eine moderate Töne anschlagende <strong>und</strong> in anderen<br />

Bereichen Moskau entgegenkommende Obama-Administration in der Lage sein, verlorenes<br />

politisches Terrain wettzumachen. Hinzu kommt, dass die globale Finanz- <strong>und</strong><br />

Wirtschaftskrise innerhalb der mächtigen Staaten eher eine Anbindung an politische<br />

Vorgaben Washingtons zur Folge hat, als eine Distanzierung. So hat China, das 22 Prozent<br />

(Ende November 2008) an US-amerikanischen Staatsanleihen (treasury securities) hält,<br />

keinerlei Interesse am „Niedergang“ der USA. An der Strategie global eine „Koalition der<br />

Willigen“ gegen Iran griffbereit zu halten wird zweifelsohne festgehalten, um gegebenenfalls<br />

den Druck auf Teheran, etwa durch Sanktionsverschärfungen, zu erhöhen. Des Weiteren<br />

weist der US-Präsident auch seit seinem Amtsantritt im Januar 2009 darauf hin, im Umgang<br />

mit dem Iran die „militärische Option“ nicht vom Tisch nehmen zu wollen, womit die USA<br />

weiterhin das in der UN-Charta (Art. 2, Abs. 4) aufgeführte Verbot zur Androhung<br />

militärischer Gewalt verletzen.<br />

Forcierung einer gescheiterten Strategie ist zum Scheitern verurteilt<br />

Obama hat eine Iran-Politik mit „Bigger Carrots & Bigger Sticks“ („größeres Zuckerbrot <strong>und</strong><br />

größere Peitsche“) proklamiert. Dieser Ansatz beinhaltet signifikante Defizite, die einer<br />

friedlichen diplomatischen Einigung im Weg stehen sowie Aussichten auf Entspannung <strong>und</strong><br />

Annäherung maßgeblich trüben: Eine Beibehaltung oder sogar Verstärkung dieser<br />

gescheiterten <strong>und</strong> kontraproduktiven transatlantischen Strategie verspricht kaum Erfolge,<br />

sondern führt in eine Sackgasse (vgl. Christoph Bertram, „Partner, nicht Gegner: Für eine<br />

andere Iran-Politik“, Hamburg: Edition Körber-Stiftung, 2008).<br />

Es gibt bislang keinerlei Hinweise, wo die „Larger Carrots“ zu vermuten sind, die<br />

insbesondere in Bezug auf das iranische Sicherheitsdilemma vorzuweisen wären (z.B. in<br />

Form einer Nichtangriffsgarantie). Zumindest benutzt Obama nun, wie erstmals in seiner<br />

Rede zum iranischen Neujahr, den offiziellen Namen „Islamische Republik Iran“, womit er<br />

zusammen mit der gegenüber Teheran bek<strong>und</strong>eten Gesprächsbereitschaft eine Abkehr vom<br />

Regimewechsel-Vorhaben seines Vorgängers erkennen lässt.<br />

Diese verbale Zusicherung zugunsten Teheraner Regimesicherheit ändert an der „New<br />

Insecurity“ des Landes in Folge des „11. September“ <strong>und</strong> der Potenzierung amerikanischer<br />

Militärprenz in der unmittelbaren Nachbarschaft des Iran jedoch wenig (vgl. K. Afrasiabi &<br />

A. Maleki, „Iran’s Foreign Policy After 11 September“, The Brown Journal of World Affairs,<br />

Heft IX, Nr. 2 [Winter/Frühjahr 2003], S. 255–65).<br />

Allein das Festhalten an einer an die koloniale Ära erinnernden Herr/Knecht-Metapher<br />

erzeugt widerspenstige Reaktionen in einem Land, das in seiner jüngsten Geschichte eine<br />

halbkoloniale Erfahrung durchgemacht hat <strong>und</strong> dessen daraus resultierende<br />

antikolonialistische Dritt-Welt-Logik Teil seiner gegenwärtigen politischen Identität ist.<br />

Der Ansatz basiert zudem auf einer fehlgeleiteten Einschätzung der iranischen Politik, welche<br />

vor allem davon ausgeht, dass Teheran nach der Atombombe strebe <strong>und</strong> von diesem Weg


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 18<br />

abgebracht werden müsse (vgl. Ali Fathollah-Nejad, „Playing Nuclear Politics“,<br />

guardian.co.uk, 20.02.2009).<br />

Zwangsdiplomatie <strong>und</strong> Griff nach der „militärischen Option“<br />

Eine in dieser Art durchgeführte diplomatische Offensive ist kaum dazu geeignet, eine<br />

friedliche Lösung, welche legitime wirtschaftliche <strong>und</strong> sicherheitspolitische Interessen <strong>und</strong><br />

Rechte der Iraner respektiert, herbeizuführen. Falls Gespräche aufgr<strong>und</strong> der Forderung nach<br />

einer Aufgabe des iranischen Atomprogramms scheitern – wovon auszugehen ist –, dann soll<br />

es in den Augen der „Falken“, zu denen zuvorderst der in den USA als „Israel-Lobbyist“<br />

bekannte Iran-Beauftragte des US-Außenministeriums Dennis Ross gehört, zu einer raschen<br />

Eskalation samt kriegsähnlichen Maßnahmen kommen (vgl. Ross, „Talk Tough With<br />

Tehran“, Newsweek, 31.12.2008). Eine derartige Zwangsdiplomatie erleichtert den Griff nach<br />

der „militärischen Option“, eine Tatsache die den erwähnten Robert Kagan zu einer guten<br />

Note der bisherigen Iran-Politik Obamas hinreißt: „Seine Politik gegenüber Iran macht Sinn,<br />

solange er einen ernsthaften Plan B bereithält, falls der Gesprächspfad mit Teheran<br />

scheitert.“ Kurz vor der Amtseinführung Obamas hatte schon der Israel-Lobbyist <strong>und</strong><br />

Obama-Berater Martin Indyk verkündet: „Falls er [Obama] es [Verhandlungen mit dem Iran]<br />

versucht <strong>und</strong> scheitert, dann werden andere Optionen [vor allem die militärische] legitimer<br />

werden.“ Es gehe darum, den „Kurs zu korrigieren“, ist sich dieser indes sicher.<br />

Was darüber hinaus kaum die notwendige Beachtung findet, ist eine nüchterne Diskussion<br />

über die nuklearen Ambitionen des Irans. In „Iran – Eine politische Herausforderung“<br />

(Frankfurt/M.: Edition Suhrkamp, 2008) schreibt der Direktor der Stiftung Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Politik (SWP) Volker Perthes zutreffend: „Es spricht […] vieles dafür, dass eine<br />

strategische Entscheidung über das endgültige Ziel des iranischen Atomprogramms bislang<br />

nicht gefallen ist.“ (S. 113). Betreibe man eine realistische Einschätzung, so gehe keine<br />

unmittelbare Gefahr vom Nuklearprogramm des Irans aus, stellt auch Christoph Bertram<br />

fest. Der frühere Leiter des Londoner International Institute for Strategic Studies (IISS,<br />

1974–82) stellt klar, dass ein „nuklearer Iran“ nicht im strategischen Interesse Teherans läge;<br />

ganz im Gegenteil, eine Atommacht Iran würde nach dem Iran-Irak-Krieg mühsam<br />

erworbenes politisches Kapital durch das notwendigerweise zu erwartende Misstrauen der<br />

Nachbarn einbüßen.<br />

Iranische Atombombe als self-fulfilling prophecy?<br />

An der Richtigkeit dieser Einschätzungen dürfte sich bis heute nicht viel geändert haben.<br />

Denn, das stellt Perthes unter Angabe israelischer Strategie-Analysten klar, Iran sei durchaus<br />

als „rationaler oder ‚logisch‘ handelnder Akteur“ zu verstehen (S. 61). Demnach würden<br />

militärische Drohungen jene Kräfte im Iran stärken, die eine zwecks Abschreckung<br />

eingeleitete Militarisierung des Nuklearprogramms für sinnvoll halten. Daraus kann man<br />

schließen, dass im Falle des Ausbleibens der Reduzierung des Sicherheitsdilemmas das<br />

Atomprogramm als Abschreckungsinstrument weiterentwickelt werden würde. Wenn<br />

Teheran jedoch sein ziviles Programm zur niedrigen Anreicherung von Uran (Low Enriched<br />

Uranium, LEU) auf ein militärisch nutzbares Niveau (High Enriched Uranium, HEU)<br />

bringen wollte, dann würde dieser illegale Pfad sofort von der Aufsicht führenden<br />

Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) registriert werden. Diese zentralen<br />

Differenzierungen spiegeln sich jedoch in Obamas Äußerungen nicht wider, was eine eher auf<br />

den dominanten Diskurs als auf eine Einsicht in Tatsachen gestützte Politik vermuten lässt.<br />

Falls der bisherige Politikansatz weiterverfolgt werden sollte, dann könnte in letzter<br />

Konsequenz eine iranische Atombombe zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung<br />

werden.<br />

Falls Teheran sich jedoch weigert, den Wünschen Washingtons in Gänze nachzukommen, ist<br />

im Falle eines Ausbleibens eines eindeutigen Kurswechsels mit der Fortsetzung einer Druck-<br />

<strong>und</strong> Drohpolitik der USA zu rechnen. Während wirtschaftliche Sanktionen in Europa


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 19<br />

aufgr<strong>und</strong> der Rezession auf größere Kritik stoßen könnten, kann davon ausgegangen werden,<br />

dass im US-Kongress weiterhin eine politische Mehrheit sicher ist, um unilaterale<br />

Sanktionen aufrechtzuerhalten. Hingegen ist eine Kursänderung Teherans im Falle der<br />

Fortführung solch einer „Peitschen“-Politik auch im Falle nicht mehr sprudelnder<br />

Öleinnahmen nicht zu erwarten.<br />

Die „War Party“ als Kontinuum<br />

Zum Anderen ist ein militärischer Angriff auf den Iran nach wie vor wegen seiner zu<br />

erwartenden unkalkulierbaren Folgen – vor allem für US-Interessen in der ölreichen Region<br />

– eine für Washington kaum gangbare Alternative (vgl. den Bericht des Militärstrategie-<br />

Experten Sam Gardiner, The End of ‘Summer of Diplomacy’: Assessing U.S. Military Options<br />

on Iran, New York: The Century Fo<strong>und</strong>ation, 2006).<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> stellt sich die Frage, weswegen dennoch beachtlich viele Gruppen,<br />

eine solche antizipieren. Eine Antwort hierauf könnte darin liegen, dass der gigantisch<br />

aufgeblähte militär-industrielle Komplex (MIK) der USA wegen seines<br />

Selbsterhaltungstriebes nicht daran interessiert ist, sich nach der jahrelang mit aufgebauten<br />

„iranischen Bedrohung“ die „militärische Option“ vom Tisch nehmen zu lassen. Hinzu<br />

kommt, dass in den USA mit der Wahl Obamas <strong>und</strong> seinem versprochenen Wandel dringend<br />

notwendigen Finanzspritzen in den zivilen Sektor nur mit dem Abbau des gigantischen, sich<br />

über eine Billion US-Dollar belaufenden Verteidigungs- <strong>und</strong> Sicherheitshaushaltes möglich<br />

erscheinen. Eine Folge dieser Notwendigkeiten ist die zunehmende Nervosität des MIK <strong>und</strong><br />

des Pentagons, welche sich laut Angaben des Center for Responsive Politics in der<br />

historischen Rekordsumme von 24,5 Millionen US-Dollar an Spendengeldern für die beiden<br />

Kandidaten der großen Parteien im Präsidentschaftswahlkampf 2008, niederschlägt. In<br />

Robert Kagans Argumentation („Necessary Threat“, The New Republic, 23.04.2007), wonach<br />

eine glaubhafte Androhung militärischer Aktionen gegen Iran notwendig ist, um einen Krieg<br />

zu vermeiden, spiegelt sich die krude Logik der Militaristen wider, die damit im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen die Interessen des MIK zu sichern suchen.<br />

Neben dem Einfluss des MIK, ist die Israel-Lobby als gewichtiger Faktor zugunsten einer<br />

weiteren konfrontativen Politik gegenüber Iran zu betrachten. Aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Mobilisierungsfähigkeit im US-Kongress kann mit scharfen anti-iranischen Resolutionen<br />

gerechnet werden, die zu einer kriegerischen Eskalation der fragilen Situation führen<br />

könnten. In beiden Häusern des US-Kongresses befinden sich bereits von der mächtigen<br />

American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) in Gang gebrachte Gesetzesentwürfe<br />

(„Iran Refined Petroleum Sanctions Act“), die – ganz im Sinne eines „Plan B“ à la Dennis<br />

Ross – eine militärisch umgesetzte Blockade des Iran zwecks Benzineinfuhr- <strong>und</strong><br />

Ölausfuhrverbots zur Folge hätten. Aufgr<strong>und</strong> dieses Machtpotentials jedoch ist auch das<br />

Bewusstsein jener Gruppen, die eine Eskalation gegenüber Iran ablehnen, gestiegen.<br />

Angesichts der weithin alarmistischen Berichterstattung der Medien, welche vermutlich<br />

durch das fortlaufende iranische Atomprogramm nur forciert wird, <strong>und</strong> der darin nach wie<br />

vor stark vertretenen neokonservativen <strong>und</strong> MIK-„Experten“ kann nicht ausgeschlossen<br />

werden, dass kriegswillige Gruppen in der medialen <strong>und</strong> politischen Öffentlichkeit<br />

schlussendlich die Überhand gewinnen. Es ist zudem absehbar, dass die amerikanische<br />

Israel-Lobby wegen der politischen Entwicklungen in Israel Aufwind erhalten wird.<br />

Covert Actions <strong>und</strong> selektive Annäherung<br />

Während ein mit unkontrollierbaren Risiken verb<strong>und</strong>ener Waffengang gegen den Iran<br />

zumindest von amerikanischer – aber nicht so sehr von israelischer Seite –<br />

unwahrscheinlicher geworden ist, aber nicht ausgeschlossen werden kann, werden die seit<br />

Anfang 2005 laufenden verdeckten Maßnahmen im Iran vermutlich intensiviert. Die von den<br />

israelischen <strong>und</strong> amerikanischen Geheimdiensten ausgeführten Aktionen zielen darauf ab,<br />

mithilfe von weit reichenden Sabotageakten <strong>und</strong> Tötungen von führenden


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 20<br />

Nuklearwissenschaftlern des Landes das iranische Atomprogramm zu verzögern (vgl.<br />

Thomas Frankenfeld, „Israels geheimer Krieg gegen den Iran“, Hamburger Abendblatt,<br />

18.02.2009).<br />

Überdies scheint ein vollkommener Wandel der US-Politik im „Greater Middle East“<br />

unwahrscheinlich, da Obama größtenteils mit dem von seinem Vorgänger ernannten<br />

Verteidigungsstab sowohl im Pentagon als auch in der Region zusammenarbeiten muss.<br />

Zumindest in der Iran-Politik hat Außenministerin Hillary Clinton während ihres<br />

Confirmation Hearing vor dem Senat bekräftigt, dass ihr Ministerium die Vorstellungen<br />

Obamas umzusetzen beabsichtige, hat aber auf ihrer ersten Amtsreise in die Region<br />

signalisiert, dass sie nicht mit einem diplomatischen Erfolg rechne.<br />

Dass die USA den Iran – nicht zuletzt wegen ihrer global schwindenden Kräfte (vgl. National<br />

Intelligence Council, Global Trends 2025: A World Transformed, November 2008) – für die<br />

Verbesserung ihrer misslichen Position in der Region dringend benötigen, ist eine<br />

Erkenntnis, die den meisten Iran-Papieren zugr<strong>und</strong>e liegt. Und Teheran bietet sich auch<br />

dafür an, sofern ihm als Regionalmacht <strong>und</strong> auf gleicher Augenhöhe begegnet wird. Wie der<br />

iranische Parlamentspräsident <strong>und</strong> frühere Verhandlungsführer im Atomkonflikt Ali<br />

Laridschani auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2009 hervorhob, müsse der Iran<br />

aufgr<strong>und</strong> der kulturellen Kenntnis der Region – im Gegensatz zu den nicht-regionalen <strong>und</strong><br />

manch anderen regionalen Mächten – stärker in Afghanistan <strong>und</strong> anderswo einbezogen<br />

werden. Irans Rolle ist in vielen für Washington ausschlaggebenden Schauplätzen von<br />

maßgeblicher Bedeutung: im Irak, um eine pro-amerikanische <strong>und</strong> stabile Regierung, welche<br />

naturgemäß von der schiitischen Bevölkerungsmehrheit dominiert sein müsste,<br />

sicherzustellen. In Afghanistan, um eine ebenso geartete Regierung zu stellen sowie das Land<br />

wirtschaftlich aufzubauen. Und schließlich in Pakistan, um eine (Wieder-)Erstarkung der<br />

Taliban zu vermeiden helfen.<br />

Dem Iran kommt eine Schlüsselrolle bei vielen Konfliktherden zu<br />

Falls der politische Wille beibehalten werden sollte, all diese Konfliktherde nicht mehr<br />

unilateral, sondern in einem multilateralen Rahmen zu begegnen, dann kommt dem Iran<br />

eine Schlüsselrolle zu. Schon in Bezug auf den allmählichen Rückzug aus dem Irak steht für<br />

Washington einiges auf dem Spiel: Um den Iranern im Zuge dessen keinen größeren Einfluss<br />

in diesem für die US-Vorherrschaft „vitalen“ Land zu ermöglichen, wird schon nahe gelegt,<br />

die „saudische Karte“ zu spielen. Ein aggressiver agierendes Saudi-Arabien sollte von den<br />

USA als Gegenspieler Teherans positioniert werden. Um die verstärkten US- <strong>und</strong> NATO-<br />

Militäroperationen in Afghanistan zu ermöglichen, müssen zudem verlässliche<br />

Truppenversorgungsrouten sichergestellt werden. Aufgr<strong>und</strong> der Instabilität der Route über<br />

die pakistanische Nordwestprovinz Peschawar nach Kabul jedoch wäre die einfachste<br />

Möglichkeit auf die von den Indern erbaute Autobahn im Nordosten des Irans<br />

zurückzugreifen. Damit Teheran diesem jedoch zustimmt, müssten die USA z.B. ihre<br />

Ablehnung der Iran-Pakistan-Indien-Gaspipeline aufgeben. Unterm Strich lässt sich<br />

feststellen, dass eine selektive Annäherung zwischen den USA <strong>und</strong> Iran in beiderseitigem<br />

Interesse liegt, deren Komplexität jedoch wahrlich jene der hier skizzierten Vorschläge<br />

uebersteigt.<br />

In seiner Vereidigungsrede sagte Obama, wenn die Kräfte der Region – gemeint waren die<br />

nicht-amerikafre<strong>und</strong>lichen, vor allem der Iran – ihre „geballten Fäuste aufgäben“, dann<br />

„strecken wir ihnen die Hand aus“. Daraufhin reagierte sein iranischer Amtskollege mit der<br />

Forderung, dass die USA ihre globale Militärpräsenz beenden müssten <strong>und</strong> sich für ihre<br />

Missetaten beim iranischen Volk (ein Verweis auf den Sturz der Mossadegh-Regierung 1953,<br />

die Unterstützung der Schah-Diktatur <strong>und</strong> der Irak-Aggression) zu entschuldigen hätten,<br />

bevor es zu einer Annäherung kommen könne. Wenn eine Änderung der Politik<br />

herbeigeführt werden solle, dann müsste Washington jegliche Einmischung in die<br />

Angelegenheiten anderer Nationen aufgeben. Obgleich vieles von dem verbalen


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 21<br />

Schlagabtausch auf innerpolitische Sensibilitäten ausgerichtet ist, blendet Obamas Vorwurf<br />

einer „geballten Faust“ des Irans die aggressive Politik seines Vorgängers aus. Immerhin war<br />

Teheran diejenige der beiden Parteien, die willens war zu verhandeln – nur ohne jede<br />

Vorbedingungen, deren Sinn nun auch Washington einzusehen scheint. Insgesamt darf man<br />

davon ausgehen, dass die Forderung nach „Regime Change“ durch jene des<br />

„Verhaltenswechsels des Regimes“ ersetzt wurde.<br />

Europas Haltungen in der Obama-Ära<br />

Neben positiven Signalen aus strategischen Kreisen in der EU für eine Umkehr der<br />

bisherigen Iran-Politik, scheint die weithin transatlantisch orientierte politische Klasse an<br />

der Coercive Diplomacy der letzten Jahre festhalten zu wollen. Drei Tage nach der Wahl<br />

Obamas gab die französische Ratspräsidentschaft ein vertrauliches sechsseitiges Papier zur<br />

„transatlantischen Partnerschaft“ heraus. Vier Kernthemen werden ins Zentrum des außen-<br />

<strong>und</strong> sicherheitspolitischen Dialogs der EU mit der neuen US-Administration gestellt: (1.)<br />

Effektiver Multilateralismus; (2.) die Situation in Afghanistan <strong>und</strong> Pakistan; (3.) die Situation<br />

im Nahen Osten; <strong>und</strong> (4.) die transatlantischen Beziehungen zu Russland.<br />

Zum ersten Themenkomplex wird recht ausführlich auf den Iran eingegangen. Die bisherige<br />

Dual-Track-Strategie müsse fortgesetzt werden. Druck, vor allem ökonomischer Natur,<br />

müsse erhöht werden, bis Teheran sich für einen „substantiven Dialog“ bereit erklärt. So soll<br />

der Iran zu politischen Zugeständnissen in der Region gebracht <strong>und</strong> zur Einhaltung der UN-<br />

Sicherheitsresolutionen für die Einstellung seines Atomprogramms gebracht werden. Um die<br />

bisherige Taktik nicht zu gefährden, wäre ein amerikanisch-iranischer Dialog nur unter<br />

„bestimmten Konditionen nützlich“, heißt es warnend.<br />

Um das Beharren der EU auf der alten Iran-Strategie gegenüber dem neuen US-Präsidenten<br />

zu bek<strong>und</strong>en, reiste der französische Außenminister Bernard Kouchner (als Außenminister<br />

der EU-Präsidentschaft seines Landes) am 12. November 2008 nach Washington. Vor der<br />

dem Obama-Team nahestehenden Brookings Institution, warnte der französische Politiker<br />

den US-Präsidenten vor einem neuen Kurs in der Iran-Politik, die vorbedingungslose<br />

Verhandlungen mit Teheran in Aussicht stellte. Die bisherige Strategie, so Kouchner, sei<br />

„gewiss nicht gescheitert“. Ein die Normalisierung der Beziehungen ermöglichender Dialog<br />

von Seiten der USA werde den bislang verfolgten „dual track process“ „verdammen“. Er<br />

betonte, dass jeglicher Dialog „sinnvoll“ sein müsse. Zum Schluss ließ er durchblicken, dass<br />

er nicht wünsche, dass die neue US-Administration einen „neuen Blick auf die ganze Sache“<br />

werfe. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> kann trotz anders lautender europäischer Bek<strong>und</strong>ungen<br />

vermutet werden, dass die EU daran interessiert ist, die USA durch das Ausbleiben einer<br />

Normalisierung vom iranischen Markt fernzuhalten. Aus diesem Gr<strong>und</strong> scheint Washington<br />

auch entschlossen, stärker darauf zu achten, dass die Europäer <strong>und</strong> andere Mächte stärker<br />

als bisher das Handels- <strong>und</strong> Investitionsverbot gegenüber dem Iran einhalten. Zumal aber<br />

eine Normalisierung amerikanisch-iranischer Beziehung im strategischen Interesse Europas<br />

anzusehen ist, kommt nun darauf an, dass die EU-Staaten eine auf Ausgleich bedachte Iran-<br />

Politik dadurch unterstützen, indem auch sie ihre Politik gegenüber Teheran ändern.<br />

Was wird sich denn ändern?<br />

Vieles deutet darauf hin, dass an der alten Strategie, welche im Kern darauf ausgerichtet ist,<br />

via politischem Druck <strong>und</strong> Sanktionen dem Iran das Recht auf die Fortsetzung des<br />

Anreicherungsprogramms streitig zu machen, festgehalten wird. Daraus folgt, dass der<br />

Konflikt weiterhin krisenanfällig bleiben wird. Um jedoch eine für alle Seiten akzeptable<br />

Lösung herbeizuführen, müssen neue Wege beschritten werden. Nicht nur in der Iran-Politik<br />

besteht Obamas Mission nicht darin, einen wahrhaftigen Wandel einzuleiten, sondern einen<br />

notwenigen Wandel durchzusetzen. Es soll sichergestellt werden, dass die Kontinuität der<br />

amerikanischen Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg gewahrt bleibt. Die Dominanz in


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 22<br />

der „vitalen“ Region des Nahen <strong>und</strong> Mittleren Ostens soll zugunsten der globalen<br />

Vorreiterrolle sichergestellt werden.<br />

Somit muss Obama diejenigen Risiken, die sein Vorgänger zu verantworten hat, möglichst<br />

aus dem Weg schaffen <strong>und</strong> gleichzeitig die Möglichkeiten, die Dank Bushs<br />

Interventionspolitik zustande gekommen sind, vor allem die errichteten Militärpräsenzen in<br />

Afghanistan <strong>und</strong> Irak (die zu einer Einkesselung des Iran geführt haben), vollends absichern.<br />

Dafür braucht es einen charismatischen Führer wie den schwarzen US-Präsidenten <strong>und</strong> der<br />

verstärkten Einbindung von Washingtons Partnern, die nicht nur weiterhin für die finanzielle<br />

Absicherung zu sorgen haben, sondern auch verstärkt militärisch gefordert werden sollen.<br />

Mit den Worten des US-Vizepräsidenten Biden formuliert, heißt dies: „Die gute Nachricht ist:<br />

Amerika wird mehr tun. Die schlechte Nachricht ist: Amerika wird auch von unseren<br />

Partnern mehr verlangen.“ (auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 07.02.09).<br />

Will Netanjahu den Krieg?<br />

Vielleicht der zurzeit wichtigste Faktor ist der Umgang mit dem israelischen Kriegsdrängen.<br />

Die dortige Regierung pocht nicht erst seit dem dramatischen Rechtsruck in Folge der März-<br />

Wahlen auf einen Krieg gegen Iran. Zum Ende des Mandats von George W. Bush wies seine<br />

Regierung noch eine israelische Anfrage zur Nutzung des irakischen Luftraums für einen<br />

Angriff auf Iran ab, wohl wissend, dass solch ein Akt von der Komplizenschaft Washingtons<br />

gezeugt hätte <strong>und</strong> somit amerikanische Truppen durch iranischen Vergeltungsschlägen in<br />

Gefahr gebracht hätte. Doch die Situation hat sich nun mit der erneuten<br />

Ministerpräsidentschaft des für seine kriegstreiberische Anti-Iran-Haltung bekannte Likud-<br />

Hardliners Benjamin Netanjahu verschärft, der noch vor seiner Wahl angekündigt hatte, dass<br />

seine erste Amtsmission darin bestünde, die von Iran ausgehende „nukleare Bedrohung“,<br />

wenn nötig mit militärischen Mitteln, abzuwenden.<br />

Dieser Rhetorik ist er weiterhin auch treu geblieben. Als sich am 18. Mai zum ersten Mal die<br />

jüngst ins Amt berufenen beiden israelischen <strong>und</strong> amerikanischen Regierungschefs trafen,<br />

sprach man jedoch aneinander vorbei. Während Netanjahu von der angeblichen Gefahr eines<br />

in absehbarer Zeit nicht über Atomwaffen verfügenden Irans (vgl. D. Sevastopulo, „Iran<br />

Missile Threat Not Seen in Six Years“, Financial Times, 20.05.2009) für die über H<strong>und</strong>erte<br />

von Atomsprengköpfen verfügende viertgrößte Militärmacht der Welt besessen schien,<br />

machte Obama deutlich, dass die Bildung eines palästinensischen Staates oberste Priorität<br />

haben müsse. Die israelische Strategie besteht momentan denn auch darin, jegliche<br />

Zugeständnisse an die Palästinenser von einem harten Iran-Kurs der USA abhängig zu<br />

machen.<br />

Das Treffen machte die diametral zueinander stehende Interessenlage beider Länder in<br />

Bezug auf den Iran deutlich. Während die USA auf den Machtfaktor Iran zur Reduzierung<br />

ihrer Probleme in der Region angewiesen sind, fürchtet Israel um seine „special relationship“<br />

mit Washington, was in den Augen der dortigen Elite zu empfindlichen wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

sicherheitspolitischen Einbußen führen würde. Die Crux in der Iran-Frage besteht also zu<br />

erheblichen Anteilen darin, inwieweit die neue US-Regierung ihren Iran-Kurs gegen harsche<br />

Proteste aus Israel durchzusetzen vermag. Die Israel-Frage steht auch deswegen im Zentrum<br />

der außenpolitischen Debatten in Washington <strong>und</strong> ist in den Augen führender Realisten, wie<br />

dem Harvard-Professor Stephen Walt, eine potentielle Gefahr für die Durchsetzung<br />

amerikanischer Interessen. Um Israel von einem militärischen Alleingang, welcher kaum<br />

zugunsten seiner tatsächlichen Sicherheitsinteressen ausfallen dürfte, abzuhalten <strong>und</strong> eine<br />

produktive Iran-Politik zu aktivieren, kommt Europa eine durchaus nicht zu unterschätzende<br />

Rolle zu.


TERROR<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 23<br />

Militanter Islamismus in Zentralasien - <strong>Organisationen</strong>,<br />

<strong>Ideologien</strong> <strong>und</strong> <strong>Strategien</strong><br />

Mit der Festnahme der so genannten Sauerlandbomber mussten die Ermittler<br />

feststellen, dass die Bedrohung durch den aus Zentralasien importierten<br />

Terrorismus Deutschland unmittelbar erreicht hatte. Hier eine Analyse der<br />

Kräfte <strong>und</strong> des Potentials.<br />

Von Michail Logvinov<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

m 4. September 2007 nahm die Polizei nach monatelanger Fahndung drei mutmaßliche<br />

Mitglieder einer Islamischen Jihad Union (IJU) im sauerländischen Oberschledorn fest.<br />

Laut Anklage waren die Mitglieder der IJU „von dem Willen getrieben, auch in Deutschland<br />

die Feinde des Islam – vornehmlich US-Bürger – zu vernichten <strong>und</strong> dabei das Ausmaß der<br />

Anschläge vom 11. September zu erreichen“. Doch auch deutsche Opfer seien willkommen<br />

gewesen: „Wenn jeder fünfzig tötet, paar verletzt, da sind 150 tot“, soll ein im Auftrag der<br />

usbekischen terroristischen Vereinigung handelnder Islamist kurz vor der Festnahme gesagt<br />

haben.<br />

Auf einer türkischsprachigen Internetseite bekannte sich die IJU zu den Anschlagsplänen in<br />

Deutschland. Auf derselben Webseite verkündete die terroristische Vereinigung Anfang März<br />

2008 die Ausführung eines Selbstmordanschlages auf amerikanische <strong>und</strong> afghanische<br />

Truppen in der Provinz Paktika durch einen türkischstämmigen Deutschen.<br />

Terrorismusexperten gelangten infolgedessen zur Erkenntnis, dass die IJU die angestrebte<br />

Internationalisierung des Dschihad durch Kontakte mit Al-Qaida, der Taliban <strong>und</strong> türkischen<br />

Terroristen erfolgreich zu implementieren wusste. Darüber hinaus scheint die<br />

zentralasiatische Region trotz des zunehmenden Drucks im Antiterrorkampf zu einem<br />

bedeutenden Rückzugs- <strong>und</strong> Mobilisierungsraum für den internationalen Terrorismus<br />

geworden zu sein. Entwickelt sich Mittelasien zu einem terroristischen Schlachtfeld der<br />

Zukunft mit über die Region hinausgehenden Implikationen für die europäische Sicherheit,<br />

wie es Laqueur voraus sagte? Welche terroristischen <strong>Organisationen</strong> traten in Mittelasien in<br />

Erscheinung <strong>und</strong> wie lassen sich ihre <strong>Ideologien</strong> <strong>und</strong> <strong>Strategien</strong> beschreiben?<br />

Vor allem haben die folgenden islamistische <strong>Organisationen</strong> Zentralasiens haben nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion von sich reden gemacht: die regionalen Zellen der Hisb ut-<br />

Tahrir, Akramiya, Hisb un-Nusrat, Tabligh Jamaat sowie die Partei der islamischen<br />

Wiedergeburt Tadschikistans <strong>und</strong> die Islamische Bewegung Usbekistans.<br />

Die Partei der Wiedergeburt Tadschikistans<br />

Die Partei der Wiedergeburt Tadschikistans ist aufgr<strong>und</strong> ihrer Verquickung in den<br />

Machtkampf zwischen den Kommunisten <strong>und</strong> der von Islamisten infiltrierten Opposition<br />

eine der am besten analysierten islamistischen Kräfte Zentralasiens der 1990er Jahre. Das<br />

Besondere an dieser Organisation ist, dass die „PIW in Zentralasien die einzige legale Partei<br />

mit einem religiösen Mandat [ist]“. (Rainer Freitag-Wirminghaus in „ Russland, islamische<br />

Republiken des Kaukasus <strong>und</strong> Zentralasiens“).<br />

Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen haben sich die tadschikischen<br />

Islamisten für eine Kooperation mit den Säkularisten entschlossen <strong>und</strong> verzichteten darauf,<br />

den nicht-islamischen Staat herauszufordern. Nachdem sich die PIW in die Regierung<br />

einbinden ließ, distanzierte sie sich von anderen islamistischen Parteien. Doch auch die


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 24<br />

Islamisten selbst betrachteten sie nicht mehr als wahre islamische Kraft <strong>und</strong> kehrten der<br />

Organisation den Rücken, nachdem die PIW als von der Regierung „bezahlt <strong>und</strong> gekauft“<br />

verschrien wurde. Diese Entwicklung kam vor allem der Hisb ut-Tahrir <strong>und</strong> der Islamischen<br />

Bewegung Usbekistans zu Gute.<br />

Hisb ut-Tahrir<br />

Die Propaganda-Schriften der HuT wurden bereits in den 1970er Jahren nach Usbekistan<br />

gebracht. Die ersten Zellen dieser Organisation wurden jedoch im Ferganatal zwischen 1992<br />

<strong>und</strong> 1995 aktiv. Von hier aus breitete sich das HuT-Netzwerk auf Usbekistan, Tadschikistan<br />

<strong>und</strong> Kirgistan aus. Da die Bevölkerung Zentralasiens wenig mit der arabischen Sprache <strong>und</strong><br />

dem salafitischen Gedankengut anfangen konnte, passte sich die HuT rasch an die regionalen<br />

Gegebenheiten an. Bald nachdem ein Jordanier, der sich Sala´uddin nannte, <strong>und</strong> seine<br />

usbekischen Unterstützer die erste HuT-Zelle aufbauten <strong>und</strong> ihre Propagandaarbeit<br />

aufnahmen, tauchten in der Region die ersten Übersetzungen der programmatischen<br />

Schriften <strong>und</strong> Propaganda-Flugblätter der Partei der Befreiung auf. Die Ideologie <strong>und</strong> der<br />

Großteil der Finanzierung der HuT stammten allerdings nach wie vor aus dem Ausland. HuT<br />

ist die am schnellsten wachsende Bewegung in Zentralasien.<br />

Die Errichtung eines Kalifats ist eines der erklärten Ziele der Partei der Befreiung. Weitere<br />

Zielsetzungen der HuT sind die Vernichtung Israels, die Befreiung der muslimischen Welt<br />

von den westlichen Einflüssen sowie die Wiedereinführung der Scharia als Strukturprinzip<br />

der islamischen Ordnung.<br />

Die HuT präsentiert sich zwar als nichtgewalttätig, dennoch ragen der aggressive<br />

Antisemitismus <strong>und</strong> die antiwestliche Rhetorik als fester Bestandteil ihrer Ideologie hervor.<br />

Darüber hinaus legitimiert die HuT den Dschihad gegen Israelis <strong>und</strong> Amerikaner, weshalb<br />

von einem ernst gemeinten Gewaltverzicht kaum die Rede sein kann. Die Experten gehen<br />

davon aus, dass der Verzicht auf Gewaltanwendung strategischer Natur ist.<br />

Drei-Etappen-Modell zur Zusammenführung der Muslime<br />

Die Partei der Befreiung akzeptiert keine politischen Kompromisse bzw. andere<br />

Ordnungsmodelle außer einem auf der Scharia basierenden islamischen Staat. Jeder<br />

Verfassungsartikel, jede Rechtssprechung sollen von der Scharia abgeleitet werden. In<br />

Programmschriften der HuT lässt sich ein Drei-Etappen-Modell der Zusammenführung aller<br />

Muslime in einem Neo-Kalifat finden, das auf einer Interpretation der historischen Mission<br />

des Propheten Mohammed bei der Gründung des ersten islamischen Staates basiert: (1) Die<br />

Etappe der Kultivierung umfasst die Suche nach <strong>und</strong> die Förderung von den Muslimen, die<br />

die Überzeugungen sowie politischen Methoden der Partei teilen <strong>und</strong> diese in die Welt tragen<br />

würden; (2) der Schritt zwei setzt die Interaktion mit der Umma voraus, um diese bei der<br />

Arbeit für den Islam sowie der Integration des Islams ins Alltagsleben, in den Staat <strong>und</strong> die<br />

Gesellschaft zu unterstützen; (3) die dritte Etappe beschreibt einen Prozess der<br />

Machtübernahme <strong>und</strong> die ganzheitliche, totale Umsetzung der islamischen Ordnung.<br />

Beginnend in Zentralasien muss sich also die ganze Umma nach friedlichen<br />

Demonstrationen erheben <strong>und</strong> zu einem Kalifat vereinigen.<br />

Nach den friedlichen antiautoritären Umbrüchen in der Ukraine, in Kirgistan <strong>und</strong> Georgien<br />

sahen sich die Ideologen der HuT in der Annahme bestätigt, dass eine Regimestürzung im<br />

postsowjetischen Raum auch mit friedlichen Mitteln möglich ist. Dennoch stellen die<br />

Beobachter fest, dass die HuT sich seit 2001 konsequent radikalisiert <strong>und</strong> auf terroristische<br />

Taktik setzt (Selbstmordterrorismus, Dschihad als legitimes Mittel im Konflikt der<br />

Zivilisationen). Die Dschihad-Theorie der HuT hat wenig mit dem globalen Dschihad einer<br />

Al-Qaida gemeinsam. Dennoch verzichtet die Organisation nicht ganz auf die Praxis des<br />

bewaffneten Kampfes – mit einer bemerkenswerten Akzentsetzung. Für den Moment sei der


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 25<br />

spirituelle, große Dschihad entscheidend. Der physische, kleine Dschihad bleibt für die Zeit<br />

nach der Wiedervereinigung der Umma in einem Neo-Kalifat vorbehalten.<br />

Es liegen keine belastbaren Informationen über die Mitgliederzahl der HuT in Zentralasien<br />

vor. Die dezentralen HuT-Zellen agieren im Verborgenen, die Sicherheitsvorkehrungen<br />

werden sehr streng gehandhabt. Nur Leiter der Zellen kennen die Entscheidungsträger der<br />

übergeordneten Strukturen. Die HuT ist straff <strong>und</strong> pyramidenförmig organisiert. Die<br />

Organisationsstruktur reicht nach Freitag-Wirminghaus „von lokalen Basiseinheiten über<br />

regionale Organisationsebenen bis zu einer überregionalen Führung. […] Der regionale<br />

Repräsentant wird vom Zentralen Politischen Rat auf internationaler Ebene eingesetzt“.<br />

Experten gehen jedoch davon aus, dass aufgr<strong>und</strong> politischer Repressionen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlicher Depression „zwischen 60.000 <strong>und</strong> 70.000 der weltweit 100.000 Anhänger<br />

für die „einzig echte islamische Bewegung“ tätig sein sollen“. Auch Baran u.a. gehen davon<br />

aus, dass die Mitgliederzahlen der HuT in Usbekistan bis zu 70000 beträgt, während<br />

Kirgistan <strong>und</strong> Tadschikistan zwischen 3000 <strong>und</strong> 5000 Mitglieder zählen.<br />

Akramija<br />

Nicht alle Anführer regionaler islamistischer <strong>Organisationen</strong> teilen jedoch die Programmatik<br />

der HuT. Akram Juldaschew, ein Aktivist <strong>und</strong> Ideologe des islamistischen Untergr<strong>und</strong>s,<br />

gelangte bereits als Mitglied der HuT zur Erkenntnis, dass die im arabischen Ausland<br />

ausgearbeiteten Methoden der Partei der Wiedergeburt unter den regionalen<br />

Voraussetzungen nicht anwendbar seien. Er gründete daraufhin in Andischan eine<br />

Bewegung mit einer lokalen Agenda, die als Akramija bekannt geworden ist. Die ideologische<br />

Nähe der Akramija zur HuT veranlassten die Experten diese Organisation als regionale<br />

Splittergruppe der Partei der Wiedergeburt zu betrachten. Dennoch hat die Akramija einige<br />

Besonderheiten.<br />

Die Akramisten gehen davon aus, dass die regionale Agenda nur von der lokalen Ebene<br />

heraus implementiert werden kann. Juldaschew arbeitete ein 5-Etappen-Programm aus, das<br />

es den Akramija-Mitgliedern ermöglichen soll, die Gesellschaft zu islamisieren <strong>und</strong><br />

dergestallt an die Macht zu gelangen. Die erste Etappe schließt eine islamische Ausbildung<br />

der Mitglieder in geheimen Zellen ein <strong>und</strong> endet mit einem Treueschwur auf den Koran. Die<br />

zweite Etappe ist auf die Schaffung einer materiell-finanziellen Existenzbasis gerichtet. Die<br />

Akramisten gründen Kleinunternehmen, wo die „Brüder“ arbeiten können, oder werden mit<br />

Unterstützung der Gleichgesinnten in öffentliche <strong>Organisationen</strong> eingestellt. Ein Fünftel des<br />

Gewinns haben die Mitglieder in die Akramija-Kasse abzuführen. Während die dritte Etappe<br />

auf die geistige Indoktrination setzt, zielt der vorletzte Schritt zur wahren islamischen<br />

Ordnung auf die Legitimierung der Vereinigung entweder durch die Einwerbung von<br />

Beamten öffentlicher Behörden oder durch die Infiltrierung <strong>und</strong> Instrumentalisierung dieser<br />

durch die Akramisten. Nach der Legitimierung der Bewegung <strong>und</strong> ihrer Unterstützer würde<br />

sich der legale Weg zur Macht für die Akramija öffnen. Der Vereinigung gelang es mit einem<br />

sozioökonomischen Ansatz an Einfluss in Andischan zu gewinnen, indem sie Arbeitsplätze<br />

schuf <strong>und</strong> wirtschaftliche Depression zu lindern wusste. „This is one most successful<br />

examples of the bottom-up approach of pro-Islamic social engineering“.<br />

Tabligh Jamaat<br />

Ähnlich wie die HuT oder Akramija strebt auch die in den 1920er Jahren in Indien<br />

gegründete Organisation Tabligh Jamaat (TJ) die Errichtung eines islamischen Staates in<br />

Zentralasien an. TJ konnte ein breites Netzwerk in westlichen Staaten schaffen <strong>und</strong> unterhält<br />

zahlreiche Schulen <strong>und</strong> Büros in Europa <strong>und</strong> Nordamerika. Tabligh Jamaat agiert parallel<br />

zur wahhabitischen Islamischen Weltliga. Die Islamisten halten der Organisation vor, dass<br />

sie dem politischen Alltagsgeschehen fernbleibt <strong>und</strong> „nur“ Missionierungsziele verfolgt. Als<br />

Anhänger einer apolitischen Organisation können die TJ-Mitglieder einfacher verreisen <strong>und</strong><br />

Grenzen passieren, was bei den Sicherheitsbehörden den Verdacht nährt, sie könnten in


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 26<br />

Schmuggelgeschäfte involviert oder von Terroristen infiltriert sein. Darüber hinaus geriet<br />

Tabligh Jamaat in Verdacht, ihre Nachfolgerschaft für den Kampf auf der Seite von Taliban<br />

<strong>und</strong> Al-Qaida mobilisiert zu haben.<br />

Die TJ-Mitglieder waren vor allem im Fergana-Tal – besonders in Andischan – präsent.<br />

2004 verhafteten die usbekischen Sicherheitsbehörden 14 Anhänger dieser Organisation, die<br />

der Gründung 1998 einer extremistischen Gruppe beschuldigt <strong>und</strong> zu Freiheitsstrafen<br />

verurteilt wurden. Als Motivlage der usbekischen TJ gab die Regierung die Gründung eines<br />

islamischen Staates an, während die Verhafteten auf ihre unpolitische, über das Studium des<br />

Korans nicht hinausgehende Agenda beharrten. TJ zufolge sei die Gewalt nicht notwendig,<br />

um einen islamischen Staat in Usbekistan zu errichten. Dieses Ziel könne auch mit<br />

islamischer Missionierung erreicht werden.<br />

Islamische Bewegung Usbekistans<br />

Mit der islamischen Missionierung bzw. mit der vorwiegend friedlich herbeizuführenden<br />

islamistischen Unterwanderung Zentralasiens konnte die größte militante Organisation der<br />

Region – die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU) – schon durch die relativ frühe<br />

Verquickung ihrer führenden Köpfe in den tadschikischen Bürgerkrieg <strong>und</strong> den regionalen<br />

Dschihad wenig anfangen. Als die usbekische Regierung in den 1990er Jahren die Aktivisten<br />

des islamistischen Untergr<strong>und</strong>s einem permanent steigenden Druck aussetzte, begaben sich<br />

ihre Führer ins Exil nach Tadschikistan <strong>und</strong> Afghanistan, wo sie unter dem Schutz der<br />

„Vereinigten Tadschikischen Opposition“ <strong>und</strong> der afghanischen Mudschaheddin <strong>und</strong> später<br />

der Taliban standen. Für zwei der usbekischen „Flüchtlinge“ <strong>und</strong> Anführer der Namangan<br />

Bataillon – Tahir Juldaschew <strong>und</strong> Dschumo Chodschijew (Namangani) – war der<br />

antikommunistische Kampf in Tadschikistan der Anfang eines Dschihad gegen die Regierung<br />

Usbekistans.<br />

Der einstige Mullah von Namangan, Juldaschew, war im Gegenzug zu seinem im<br />

sowjetischen Afghanistankrieg erprobten Weggefährten, Namangani, ein begabter<br />

Organisator <strong>und</strong> eine charismatische Persönlichkeiten, die sich der Scharia-Ordnung<br />

verpflichtete. Durch den Wahhabismus <strong>und</strong> Deobandismus geprägt, forderte Juldaschew<br />

Anfang der 1990er Jahre die usbekische Regierung ideologisch wie militärisch heraus. Die<br />

Antwort des Karimow-Regimes ließ nach der Übernahme der Regionalverwaltung in<br />

Namangan (1991) nicht lange auf sich warten. Die bewaffneten Milizen Juldaschews wurden<br />

von der Regierung militärisch bekämpft <strong>und</strong> zur Flucht gezwungen.<br />

Namangani näherte sich dem Dschihad während des Krieges gegen die afghanischen<br />

Mudschaheddin an, indem er einen großen Respekt für sie entwickelte. Seine Erfahrungen in<br />

Guerillataktiken – er wurde als „Meister des Partisanenkrieges“ bezeichnet – kamen dem<br />

militanten Widerstand der Partei der islamischen Wiedergeburt Tadschikistans zugute.<br />

Während des Krieges in Tadschikistan reisten Juldaschew <strong>und</strong> Namangani nach Afghanistan,<br />

wo der Erstere von den Führern der islamischen Opposition Tadschikistans, Said Abdullo<br />

Nuri <strong>und</strong> Hodscha Akbar Turadzhon-zade, zum „Amir“ der usbekischen Zelle der<br />

Islamischen Partei der Wiedergeburt <strong>und</strong> zum stellvertretenden Vorsitzenden der Bewegung<br />

Islamischer Wiedergeburt Tadschikistans ernannt werden sollte. Namangani traf sich dort<br />

angeblich mit Präsident Rabbani <strong>und</strong> Ahmad Shah Masood sowie mit einem paschtunischen<br />

Befehlshaber aus dem Umfeld eines Gulbuddin Hekmatyar <strong>und</strong> setzte sich mit der<br />

Kommandozentrale der PIW in Verbindung. In Afghanistan sollen die Taliban <strong>und</strong> Osama<br />

bin Laden ihn ideologisch beeinflusst haben.<br />

Tahir Juldaschew als geistiger Führer<br />

Auch Juldaschew entwickelte in den 1990er Jahren eine Reihe von internationalen<br />

Reiseaktivitäten. Er reiste nach Pakistan <strong>und</strong> Afghanistan, Saudi-Arabien, in den Iran <strong>und</strong> in<br />

die Türkei, um belastbare Kontakte zu anderen islamistischen <strong>Organisationen</strong> aufzubauen.


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 27<br />

Während des ersten Tschetschenienkrieges präsentierte sich der junge Untergr<strong>und</strong>aktivist im<br />

Nordkaukasus als geistiger Führer der islamischen Revolution Usbekistans. Die<br />

pakistanische ISI sollte Juldaschew finanziell unter die Arme gegriffen <strong>und</strong> ihm<br />

Zufluchtsmöglichkeiten zwischen 1995 <strong>und</strong> 1998 zur Verfügung gestellt haben.<br />

Als der Krieg in Tadschikistan 1997 durch ein Friedensabkommen zwischen beiden<br />

Kriegsparteien beigelegt wurde, akzeptierte Namangani die Waffenruhe nicht <strong>und</strong> lehnte sich<br />

gegen die PIW-Entscheidung auf, den Dschihad einzustellen. Auch Juldaschews Nachfolger<br />

aus den Reihen tadschikischer Islamisten waren desillusioniert <strong>und</strong> vom Einlenken bzw.<br />

konformen Regierungsanspruch der PIW enttäuscht. Infolgedessen wurden im Fergana-Tal<br />

Mitglieder radikaler Untergr<strong>und</strong>organisationen (vor allem der Adolat, aber auch der Tauba<br />

<strong>und</strong> Islam Lashkarlary) für eine islamische Revolution in Zentralasien reaktiviert. Die Zeit<br />

für eine Neuauflage des Dschihad war gekommen.<br />

Am 2. September 1999 brachte eine aserbaidschanische Zeitung eine Dschihad-Erklärung der<br />

bis zu Bombenanschlägen in Taschkent Anfang 1999 <strong>und</strong> dem Überfall auf die kirgisische<br />

Provinz Batken im August gleichen Jahres kaum bekannten Islamischen Bewegung<br />

Usbekistans. Die IBU setzte sich für die Errichtung eines islamischen Staates in Usbekistan<br />

<strong>und</strong> die Entlassung inhaftierter Muslime ein: „Am 13 džuma-d-ul-avval 1420 (25. August<br />

1999) hat der Emir der ‘Islamischen Bewegung Usbekistans’ <strong>und</strong> Hauptkommandeur der<br />

Mudschaheddin, Muhhamad Tahrir, dem Taschkenter Regime den ‘Djihad’ erklärt“, heißt es<br />

in der Erklärung. Ein Jahr früher, im Sommer 1998 verkündeten Juldaschew <strong>und</strong><br />

Namangani in Kabul die Gründung der IBU. Im August 2000 wiederholten sich die dreisten<br />

Überfälle der IBU auf Usbekistan <strong>und</strong> Kirgistan. Neu war allerdings, dass die Operation<br />

simultan von mehreren unabhängigen Einheiten durchgeführt wurde.<br />

Es wird auf die Unterstützung Al-Qaidas <strong>und</strong> der Taliban sowie weiterer <strong>Organisationen</strong><br />

(Harakat-ul-Ansar <strong>und</strong> al-Jihad) für beide IBU-Ideologen hingewiesen. Tadschikische PIW-<br />

Führer behaupten sogar, es sei Bin Ladens Initiative gewesen, eine usbekische<br />

Dschihadgruppe zur Bekämpfung des Karimow-Regimes ins Leben zu rufen. Ende 2001<br />

begaben sich die IBU-Kämpfer nach Afghanistan, um die Taliban <strong>und</strong> Al-Qaida in ihrem<br />

Kampf gegen die NATO-Truppen zu unterstützen. Bei einem Raketenangriff kam dort<br />

Namangani ums Leben. Nach der Vernichtung von Al-Qaida-Basen in Nordafghanistan <strong>und</strong><br />

spürbaren Verlusten der IBU soll sie sich auf Befehl Bin Ladens im Süd-Waziristan<br />

verschanzt haben. Seit 2006 kämpfen die usbekischen Islamisten zusammen mit dem<br />

Führer der pakistanischen Taliban, Baitullah Mehsud, gegen die Regierung.<br />

Islamische Dschihad-Union<br />

2004 trat eine Abspaltung der IBU unter dem Namen Islamische Dschihad-Union (IJU) zum<br />

ersten Mal in Erscheinung. Im Gegenzug zur IBU, die vornehmlich eine regionale Agenda<br />

verfolgt, steht die IJU für einen globalen Dschihad an der Seite Al-Qaidas. In einem<br />

Statement bekannte sich die IJU unter dem Namen Jama’at at al-Jihad al-Islami zu<br />

Bombenanschlägen in Buchara wie in Taschkent vom März/April 2004 <strong>und</strong> erklärte, die<br />

Angriffe auf israelische <strong>und</strong> US-amerikanische Botschaft verübt zu haben. Der Führer der<br />

IJU, Najmiddin Jalolov, sagte in einem Interview, der Sturz des usbekischen Präsidenten<br />

Karimov sei lediglich eines der Ziele der Organisation: „Ihr Hauptkampfgebiet sei im Jahr<br />

2007 Afghanistan. Die IJU bemühe sich, ihre Aktivitäten dort mit anderen Zentralasiaten<br />

<strong>und</strong> Kämpfern aus der Kaukasusregion zu koordinieren. Darüber hinaus strebe die IJU, den<br />

Jihad in die ganze Welt zu tragen, um die Muslime aus der Tyrannei der Ungläubigen zu<br />

befreien. Dieser Kampf werde erst enden, wenn der Islam die Welt beherrsche“.<br />

Die 2002 gegründete Vereinigung wird vom US State Department unter dutzend Namen als<br />

eine Terrororganisation geführt: “the Islamic Jihad Group (IJG) also known as Jamaat al-<br />

Jihad, also known as the Libyan Society, also known as the Kazakh Jamaat, also known as the<br />

Jamaat Mujahidin, also known as the Jamiyat, also known as Jamiat al-Jihad al-Islami, also


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 28<br />

known as Dzhamaat Modzhakhedov, also known as Islamic Jihad Group of Uzbekistan, also<br />

known as al-Djihad al-Islami”. Der Al-Qaida/Taliban-Sanktionsausschuss der Vereinten<br />

Nationen auf der Gr<strong>und</strong>lage der Resolution 1267 des Sicherheitsrates der VN verzeichnet seit<br />

2005 die Islamische Jihad Group ebenfalls auf der Liste terroristischer <strong>Organisationen</strong>.


RUSSLAND<br />

Industrie-Aufschwung im fernen Osten<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 29<br />

Die russische Fernost-Region Chabarowsk hat ein paar starke Industrie-<br />

Betriebe, die sich vom EU-Russland-Gipfel positive Impulse erhofften.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Das Zentrum der<br />

fernöstlichen Metropole<br />

Chabarowsk, nur 20<br />

Kilometer von der<br />

chinesischen Grenze am<br />

Amur entfernt<br />

n der modernen Halle der Flugzeugwerft von Komsomolsk<br />

am Amur knattern die Niethämmer. An drei giftgrünen<br />

Flugzeug-Rohbauten vom Typ Superjet 100 wird intensiv<br />

gearbeitet. Der Superjet mit seinen 98 Sitzplätzen <strong>und</strong> einer<br />

Reichweite von 4.400 Kilometern ist der ganze Stolz der zivilen<br />

russischen Luftfahrtindustrie. Denn der Liner ist das erste<br />

russische Passagierflugzeug, welches nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion entwickelt wurde, allerdings<br />

in Zusammenarbeit mit dem einstigen Gegner im Kalten Krieg,<br />

dem US-Konzern Boeing.<br />

Der Stolz der russischen Flugzeugbauer wird ausgerechnet im<br />

russischen Fernen Osten, im Gebiet Chabarowsk produziert.<br />

Dort hat am 21. <strong>und</strong> 22. Mai ein EU-Russland-Gipfel<br />

stattgef<strong>und</strong>en, auf dem es vor allem um Energie-Fragen <strong>und</strong> die Konflikte im Kaukasus ging.<br />

Doch der Gouverneur des Gebietes, Wjatscheslaw Schport, der selbst lange Jahre als<br />

Ingenieur im Sukhoi-Flugzwerk gearbeitet hat, erhoffte sich von dem Gipfel weitere Impulse<br />

für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Europa. Schport gibt sich als weltläufiger Mann.<br />

Er habe schon in den USA <strong>und</strong> im französischen Toulouse gelebt <strong>und</strong> sei oft in Indien<br />

gewesen. Man könne von allen Nachbarn <strong>und</strong> weiter entfernten Partnern etwas lernen.<br />

Tatsächlich gibt es in Chabarowsk eine ganze Reihe von Betrieben, die mit europäischen<br />

Investitionen modernisiert – wie die Ölraffinerie der Stadt - oder völlig neu gebaut wurden,<br />

wie die supermoderne Vorgeburts-Klinik der Stadt.<br />

Wladimir Putin verspricht Hilfe in Russisch-Fernost<br />

Mit dem Superjet will Russland auf dem Markt der Regionalflugzeuge alteingesessenen<br />

Anbietern, wie dem kanadischen Flugzeugbauer Bombardier, Konkurrenz machen. Zwei Tage<br />

bevor eine Gruppe ausländischer Journalist das Werk besuchte, war Wladimir Putin da <strong>und</strong><br />

versprach staatliche Krisen-Hilfen für das Prestige-Flugzeug.<br />

Die Arbeiter sind schon dabei die Bordelektronik zu installieren. Sie kriechen in Tragflächen<br />

<strong>und</strong> andere Hohlräume um Kabel zu verlegen. Im Passagierraum werden bereits die ersten<br />

Sitze eingebaut. Schon in diesem Jahr sollen vier der neuen Mittelstrecken-Liner ausgeliefert<br />

werden, zwei an Aeroflott <strong>und</strong> zwei an eine armenische Fluggesellschaft, erzählt Aleksandr<br />

Pekarsch, der Direktor des Sukhoi-Werkes, in dem insgesamt 15.000 Arbeiter <strong>und</strong><br />

Ingenieure beschäftigt sind <strong>und</strong> hauptsächlich Kampfflugzeuge hergestellt werden. 640<br />

Mitarbeiter sind in dem Sukhoi-Tochterunternehmen SCAC beschäftigt, welches eigens zum<br />

Bau des Superjets gegründet wurde.<br />

Enge Verzahnung mit europäischen Unternehmen<br />

Der Bau eines modernen Verkehrsflugzeuges in Russland sei nur möglich, wenn man die<br />

Bordelektronik <strong>und</strong> die Innenausrüstung in westlichen Ländern kauft, meint Direktor<br />

Aleksandr Pekarsch. Ganz bewusst habe man bei der Entwicklung <strong>und</strong> Produktion mit


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 30<br />

westlichen Partnern kooperiert. Davon verspricht man sich auch bessere Absatzchancen auf<br />

dem europäischen Markt. So ist das italienische Luft- <strong>und</strong> Raumfahrtunternehmen Alenia<br />

Aeronautica mit 25 Prozent plus einem Anteil an dem Superjet-Hersteller SCAC beteiligt.<br />

Eine enge Geschäftsverbindung der Russen gibt es auch mit der französischen Triebwerk-<br />

Firma Snecma, die in einem Joint Venture mit dem russischen Unternehmen NPO Saturn die<br />

Triebwerke für den Superjet produziert.<br />

Die Krise machte aber auch vor dem Superjet-Hersteller nicht halt. Durch den Fall des<br />

Rubel-Kurses hat sich der Verkaufspreis des Superjets von 28 auf 22 Millionen Dollar<br />

reduziert. Man habe das Personal „etwas“ reduzieren müssen, berichtet der Direktor.<br />

Moderne Stahl-Hütte hofft auf Staats-Hilfen<br />

Noch stärker als die Flugzeugbauer, leidet die Stahlhütte Amurmetall unter der Krise. Sie ist<br />

die zweite von insgesamt drei großen Industriebetrieben, welche in Komsomolsk am Amur,<br />

der erst 1932 als fernöstliches Zentrum der sowjetischen Rüstungsindustrie gebauten Stadt,<br />

errichtet wurde. Die Hütte verarbeitet Metallschrott. Die Hälfte der Produktion von<br />

Stahlerzeugnissen geht in den Export nach Korea, Vietnam <strong>und</strong> auf die Philippinen. Größter<br />

Konkurrent in der Fernost-Region ist China. Die Hütte sei vollständig modernisiert, berichtet<br />

Direktor Sergej Chochlow, doch seit der Finanzkrise ist die Nachfrage drastisch<br />

eingebrochen. Nun müsse man 1.600 der 6.200 Mitarbeiter in den unbezahlten Urlaub<br />

entlassen. Doch vor Arbeiter-Aufständen habe er keine Angst. Im russischen Fernen Osten,<br />

gäbe es keine Tradition von Protesten. Putin habe die Hütte vor kurzem besucht. Da habe er<br />

händeringend um Not-Kredite staatlicher Banken gebeten.<br />

Ljudmilla Nikolajewna, Abteilungsleiterin in einem Schönheitssalon von Komsomolsk,<br />

meint, die Krise in ihrem Betrieb sei noch nicht zu spüren, doch in der Stahlhütte schon. Ihr<br />

Sohn arbeitete für 13.000 Rubel (300 Euro) als Helfer in dem Stahl-Werk. Jetzt sei er in den<br />

unbezahlten Urlaub entlassen worden. Doch die 49jährige mit den blondierten Haaren gibt<br />

sich optimistisch. „Wir haben schon so manche Krise überstanden“. In Krisenzeiten würden<br />

die Familien meist von den Renten der Pensionäre <strong>und</strong> „kleinen Dienstleistungen“ leben.<br />

Auch ihr Mann habe keine Angst vor der Krise, denn der repariere Fernseher <strong>und</strong> die würden<br />

immer gebraucht.<br />

Proteste gegen die Erhöhung der Import-Zölle<br />

Völlig kalt lässt die Krise die Menschen im russischen Fernen Osten jedoch keineswegs. Im<br />

Dezember gab es in den Städten Primorje, Wladiwostok <strong>und</strong> auch in Chabarowsk eine<br />

Protestwelle gegen die von Putin angeordnete Erhöhung der Importzölle für japanische<br />

Gebrauchtwagen. In Chabarowsk fahren fast alle rechtsgesteuerte Autos aus Japan. „Über<br />

russische Autos lachen wir nur“, meint der 29jährige Denis, der in der Medienwirtschaft<br />

arbeitet. „Die kann man einfach nicht ernst nehmen.“ Auch die 48jährige Juristin Irina, die<br />

sich lange in der Umweltbewegung für den vom Aussterben bedrohten Amur-Tiger engagiert<br />

hat – im Gebiet Chabarowsk leben noch etwa 80 Exemplare - , hält nicht viel von der<br />

Erhöhung der Zollgebühren, wobei sie die Absicht von Putin, die heimische Autoindustrie zu<br />

unterstützen, natürlich verstehe. „In Chabarowsk ein russisches Auto zu kaufen, ist einfach<br />

nicht attraktiv.“ Ein japanischer Gebrauchtwagen sei viel billiger als ein russischer Neuwagen<br />

<strong>und</strong> biete zudem viel mehr Komfort.<br />

An den EU-Russland-Gipfel hatte Denis keine Erwartungen. Er würde sehr gerne mal nach<br />

Salzburg fahren. Dort soll es schön sein. Aber Reisen von Chabarowsk nach Europa könnten<br />

sich nur Wenige leisten. Meistens fahren die Städter zum Nachbarn China, einfach zum<br />

Shoppen oder nach Thailand, um Urlaub zu machen. Bis zur chinesischen Grenze ist es nur<br />

ein Katzensprung von 20 Kilometern. Der Grenzfluss Amur leidet unter den chinesischen<br />

Industrieabwässern. Baden kann man in dem Fluss schon lange nicht mehr. Wenn man den


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 31<br />

Hahn aufdreht, kommt braunes Wasser. „Bloss nicht Trinken“, meint Denis. In Chabarowsk<br />

kaufen die Bürger ihr Trinkwasser alle im Laden.


GEORGIEN<br />

Das Land kommt nicht zur Ruhe<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 32<br />

In Georgien, durch das eine für den Westen wichtige Öl-Pipeline verläuft,<br />

nehmen die Spannungen zu. Nach wochenlangen Massen-Demonstrationen der<br />

Opposition gegen den Präsidenten Michail Saakaschwili wurde jetzt nach einem<br />

Feuergefecht der Anführer einer angeblichen Meuterei im Militär verhaftet <strong>und</strong><br />

ein anderer Meuterer getötet.<br />

Von Ulrich Heyden<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Die Gerüchte über den Anfang Mai vom georgischen Innenministerium in der<br />

Militärbasis Muchrowani aufgedeckten angeblichen Putschplan gegen den Präsidenten<br />

Saakaschwili, bekommen immer wieder neue Nahrung. Kürzlich lieferte sich eine georgische<br />

Spezialeinheit 30 Kilometer nördlich von Tiflis, im Tianeti-Bezirk, ein 15minütiges<br />

Feuergefecht mit drei angeblichen flüchtigen Meuterern der Militärbasis, auf der ein<br />

Panzerbataillon stationiert ist. Der georgische Innenminister Wano Merabschwili traf<br />

persönlich am Ort des Feuergefechts ein. Bei der Auseinandersetzung wurde das ehemalige<br />

Mitglied der Sondereinheit Delta, Gio Krialaschwili, getötet. Zwei angebliche Meuterer,<br />

darunter der Hauptverdächtige Koba Otanadse – auf ihn hatten die Sicherheitsbehörden ein<br />

Kopfgeld von 120.000 Dollar ausgesetzt - <strong>und</strong> der Offizier Lewan Amiridse wurden verletzt.<br />

Nato-Manöver trotz Spannungen<br />

Der „Putsch-Plan“ Anfang Mai wurde aufgedeckt, just einen Tag bevor die Opposition mit der<br />

Blockade von Fernstraßen beginnen wollte. Damit wollte man der Forderung nach dem<br />

Rücktritt des autoritär regierenden Präsidenten Michail Saakaschwili Nachdruck verleihen.<br />

Unmittelbar nach der Aufdeckung dieses angeblichen Putschplans waren mehrere Zivilisten<br />

<strong>und</strong> zehn hohe Militärs, darunter der ehemalige Kommandeur der georgischen<br />

Nationalgarde, General Koba Kobaladse, verhaftet worden.<br />

Was hinter den angeblichen Putsch-Plänen steckt, liegt noch im Dunkeln. Das georgische<br />

Verteidigungsministerium hatte behauptet, der russische Geheimdienst habe Verbindungen<br />

mit meuternden Militärs. Ziel sei es das zu dieser Zeit in Georgien laufende Nato-Manöver zu<br />

behindern <strong>und</strong> Präsident Saakaschwili zu stürzen. Doch da Saakaschwili in den letzten zwei<br />

Jahren schon mehrmals behauptete, Russland stehe hinter Putschplänen <strong>und</strong><br />

Verschwörungen, glauben in Georgien nur noch Wenige derartigen Behauptungen. Vertreter<br />

der georgischen Opposition erklärten, mit solchen Vorwürfen versuche Saakaschwili, die<br />

Proteste gegen ihn zu stoppen.<br />

Die Kreml-kritische Internetzeitung newsru.com berichtete unter Berufung auf einen<br />

georgischen Sicherheits-Experten, die Kommandeure des Panzerbataillons in Muchrowani<br />

hätten den Gehorsam verweigert, nachdem sie über einen möglichen Einsatz gegen die<br />

Opposition informiert worden waren. Das russische Außenministerium wies jede Beziehung<br />

zu dem angeblichen Putsch-Plan als „Quatsch“ zurück. Bei den vierstündigen Verhandlungen<br />

mit den angeblichen Meuterern, am 5. Mai, war der georgische Präsident Michail<br />

Saakaschwili persönlich beteiligt.<br />

Phantasievolle Aktionen


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 33<br />

Seit Anfang April demonstriert die georgische Opposition mit großen <strong>und</strong> phantasievollen<br />

Aktionen gegen Präsident Saakaschwili. Am 9. April gab es eine Großk<strong>und</strong>gebung vor dem<br />

Parlament in Tiflis mit 100.000 Teilnehmern. Mit mehreren Tausend Menschen wurde die<br />

Residenz des Präsidenten belagert. Man entließ einen Hasen auf das Territorium der<br />

Residenz, denn der Präsident - so die Vertreter der Opposition - sei ein Angsthase. Man lässt<br />

dem ehemaligen Rosenrevolutionär keine Ruhe. Kaum hat sich der Präsident in einem Edel-<br />

Restaurant zum Abendbrot niedergelassen, tauchen schon Protestierer auf, die per<br />

Megaphon fordern, der Präsident solle heraus kommen. Saakaschwili verschwindet dann in<br />

der Regel durch den Hinterausgang. Mehrere Oppositionelle leben seit Wochen in Käfigen,<br />

Mitten in der Stadt. Damit wollen sie zeigen, dass Georgien ein Polizeistaat ist.<br />

Am 7. Mai, als Demonstranten vor dem Polizei-Hauptquartier in Tiflis die Freilassung von<br />

drei jungen Demonstranten forderten, eskalierte die Situation. Die Polizei ging mit<br />

Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Diese hatten versucht, über den Zaun der<br />

Polizei-Zentrale zu klettern.<br />

In den letzten Mai-Tagen lieferten sich vor dem Parlament in Tiflis Demonstranten eine<br />

Straßenschlacht mit der Polizei. Dabei wurden nach Behördenangaben mehrere Beamte<br />

verletzt, einer durch einen Messerstich. Eine Gruppe von 20 mit Knüppeln bewaffneten<br />

Männern schlug anschließend auf die Demonstranten ein. Dabei wurden mehrere<br />

Regierungsgegner verletzt. Bei den Männern habe es sich um Agenten in Zivil gehandelt,<br />

sagte Oppositionsführerin Nino Burdschanadse.<br />

Harter Polizeieinsatz angedroht<br />

Saakaschwili hatte die Polizeikräfte zu Beginn der Protestwelle zur Zurückhaltung<br />

angehalten, drohte für den Fall einer Blockade der Fernstraßen jedoch mit einem harten<br />

Polizeieinsatz. Gegenüber westlichen Medien hatte sich der georgische Präsident zunächst<br />

noch mit den Demonstrationen in Tiflis gebrüstet. Sie seien ein Beweis von „europäischer<br />

Demokratie“. Die Opposition aber wirft dem Autokraten Polizei-Repression, Zensur der<br />

Medien <strong>und</strong> inzwischen sogar Folter vor.<br />

Die Gespräche am 11. Mai mit Saakaschwili, welche vier Vertreter des<br />

Oppositionsbündnisses, dem 14 liberale <strong>und</strong> konservative Parteien angehörten, führten,<br />

brachten kein Ergebnis. Saakaschwili behauptete bei dem Treffen, in Georgien „gibt es keine<br />

Krise“. Die Oppositionsführer erklärten, der Präsident lebe „in einer virtuellen Welt“. Die<br />

georgische Opposition ist auch enttäuscht, dass der Westen Saakaschwili immer noch stützt.<br />

Enttäuschung über sinnlosen Krieg<br />

Die Mehrheit der Menschen hat die Nase voll von dem Rosenrevolutionär, weil er im August<br />

2008 einen Krieg zur Rückgewinnung der seit 1991 abtrünnigen Provinz Südossetien<br />

anzettelte. Der Krieg war nach Meinung der Opposition von vorneherein zum Scheitern<br />

verurteilt. Doch nachdem die USA Saakaschwili mit Waffenlieferungen <strong>und</strong> Finanzhilfen<br />

massiv den Rücken stärkte, fühlte sich der georgische Präsident stark genug für ein<br />

Militärabenteuer. Im August 2008 gab er seinen abenteuerlichen Angriffsbefehl gegen die<br />

südossetische Stadt Zchinwali. Doch es dauerte weniger als einen Tag, da hatte Russland das<br />

Militärabenteuer beendet <strong>und</strong> Zchinwali, die Hauptstadt des seit dem Zerfall der<br />

Sowjetunion mit Moskau verbündeten Südossetien, zurückerobert. An Pfingsten hat<br />

Südossetien ein neues Parlament gewählt.<br />

Gegen Saakaschwili - aber proeuropäisch<br />

Die Westorientierung von Georgien steht bei den Demonstranten nicht zur Debatte, die<br />

Enttäuschung darüber, dass der Westen Saakaschwili immer noch stützt nimmt unter den<br />

Georgiern aber zu. Die Demonstrationen richten sich vor allem gegen die faktische Allein-


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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 34<br />

Herrschaft von Saakaschwili, gegen die katastrophale soziale Lage – das durchschnittliche<br />

Einkommen in Georgien beträgt nur 100 Dollar - <strong>und</strong> das Führen eines sinnlosen Krieges.<br />

Die Oppositionsführer wissen, wie man die Proteste mit immer neuen Aktionsformen am<br />

Laufen hält. Geld zur Organisierung der Proteste scheint es geben. Unter den<br />

Oppositionsführern sind reiche Leute, wie der Weinunternehmer Lewan Gatschetschiladse<br />

<strong>und</strong> Mitglieder des georgischen Establishments. Sie sind meist frühere Gefolgsleute von<br />

Saakschwili, wie der ehemalige UNO-Botschafter Irakli Alasanija, die ehemalige<br />

Außenministerin Salome Surabischwili <strong>und</strong> die ehemalige Parlamentssprecherin, Nino<br />

Burdschanadse. Diese hat sich stark radikalisiert, lässt an ihrer proeuropäischen Haltung<br />

aber keinen Zweifel. Doch die von Saakaschwili gesteuerten Medien behaupten trotzdem,<br />

Burdschanadse arbeite mit Moskau zusammen.<br />

Streit um den Status der abtrünnigen Provinzen<br />

Wie es mit den abtrünnigen Provinzen Abchasien <strong>und</strong> Südossetien, die nach dem August-<br />

Krieg 2008 von Russland anerkannt wurden <strong>und</strong> deren Außengrenzen inzwischen von<br />

russischen Grenzschützern kontrolliert werden, weitergeht, ist zwischen Russland <strong>und</strong> dem<br />

Westen umstritten. Ausdruck dieses Streits ist, das Moskau den OSZE- <strong>und</strong> den EU-<br />

Beobachter-Missionen in Georgien den Zugang zu den „neuen Staaten“ verwehrt. Das<br />

russische Außenministerium fordert, die OSZE müsse in Südossetien eine eigene OSZE-<br />

Mission einrichten. Doch der Westen, der für die territoriale Integrität von Georgien eintritt,<br />

lehnte diesen Vorschlag ab, weil dies als indirekte Anerkennung von Südossetien<br />

interpretiert werden könnte. So steht die OSZE-Mission für Georgien zurzeit auf der Kippe,<br />

weil es keine Einigung mit Russland gibt.


UKRAINE<br />

Moderne Amazonen<br />

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<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 35<br />

Im westukrainischen Lviv (Lemberg) hält man die Amazonen nicht nur für<br />

einen Mythos, sondern ist überzeugt, dass diese zur ukrainischen Geschichte<br />

gehören. Die Sportwissenschaftlerin Kateryna Tarnovska hat eine Schule<br />

gegründet, in der junge Frauen mit Kampfsport <strong>und</strong> einer eigenen Philosophie<br />

zu modernen Amazonen erzogen werden sollen. Das schließt ein, dass sie sich<br />

auch in Haushaltsführung <strong>und</strong> Kindererziehung schulen lassen.<br />

Von Andriy Vovk<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Ljudmyla Ohorodnyk will<br />

eine moderne Amazone<br />

werden. Mehrmals<br />

wöchentlich geht sie zum<br />

Training in der Schule für<br />

Kampfkunst <strong>und</strong><br />

praktische Lebensführung.<br />

(Foto: Andriy Vovk)<br />

judmyla will eine moderne, ukrainische Amazone<br />

werden. In wenigen Minuten beginnt ihr Training in der<br />

Schule für Selbstverteidigung <strong>und</strong> Frauenkampfkunst –<br />

Asharda. Schon seit zwei Jahren besucht die 18-jährige<br />

Wirtschaftsstudentin Ljudmyla Ohorodnyk drei Mal in der<br />

Woche mehrstündige Trainingseinheiten, in denen sie die<br />

Kampfkunst der legendären Kriegerinnen erlernt. Ljudmyla<br />

gehört zur Fortgeschrittenengruppe der Amazonenschule.<br />

Neben Nahkampftechniken üben die Schülerinnen auch den<br />

Umgang mit altukrainischen Waffen wie Sicheln, Stöcken <strong>und</strong><br />

Ketten. Am Anfang jeder Trainingseinheit wird gebetet <strong>und</strong> ein<br />

zur Schulhymne erklärtes, historisches ukrainisches Lied gegen<br />

Unterdrückung <strong>und</strong> Sklaverei gesungen.<br />

Ljudmyla sieht sich allerdings keineswegs als zukünftiger<br />

Rambo mit Rockzipfeln oder als irgendeine andere<br />

Kampfmaschine, wie sie es in der Fernsehwelt zur Genüge gibt. „Für mich ist das Training<br />

eine Möglichkeit, mich selbst zu verwirklichen. Ich arbeite hart an mir selbst, um meinen<br />

Platz in der Gesellschaft zu finden <strong>und</strong> meinem Staat nützlich zu sein“, sagt sie. „Die Schule<br />

hat sehr strenge Regeln, ja. Aber das passt gut zu meiner Weltanschauung, zu meinen<br />

Vorstellungen vom Leben.“ Der Zeitaufwand für das Training ist nicht gerade gering. Aus<br />

Ljudmylas Sicht ist es nur eine Frage guter Organisation <strong>und</strong> Disziplin. „Da ist kein Zwang,<br />

bei dem man immer nachdenken muss, ob man alles richtig macht. Im Gegenteil: Das ist<br />

schon ein Teil meines Lebens.“<br />

Amazonen waren auch auf dem Territorium der Ukraine beheimatet<br />

Asharda sei viel mehr als nur eine Kampfkunst, erklärt Ljudmylas Trainerin Kateryna<br />

Tarnovska, die Gründerin der 2002 ins Leben gerufenen Schule. Die studierte<br />

Sportwissenschaftlerin beruft sich auf die Theorie, nach der die in den griechischen<br />

Legenden erwähnten Amazonen auf dem heutigen Territorium der Ukraine beheimatet<br />

gewesen seien. Belege dafür sieht auch der Lviver Historiker <strong>und</strong> Ethnologe Oles Noha: „In<br />

der Vergangenheit wurden bei uns immer wieder Gräber gef<strong>und</strong>en, in denen Frauen in<br />

vollständiger Kriegsausrüstung bestattet waren.“ Er verweist zudem auf historische<br />

Reiseberichte, die die Frauen in der Ukraine im Gegensatz zu anderen europäischen<br />

Regionen als besonders klug, stark <strong>und</strong> dem Manne gleichgestellt beschreiben. „Es gibt bei<br />

uns auch die Legende vom Kosaken Mamaj, dessen Name sich gerade vom Wort Mama<br />

ableitet.“ – Für Noha ist das „ein Relikt aus matriarchalischer Zeit“.<br />

Die Schülerinnen durchlaufen bei Kateryna Tarnavska einen ganzen Ausbildungskomplex.<br />

Am Anfang steht die Verbesserung der physischen Kondition <strong>und</strong> der Motorik. Im Weiteren


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 36<br />

können verschiedene Wege eingeschlagen werden: Die folkloristisch-künstlerische Richtung<br />

beschäftigt sich mit Tanztraditionen des ukrainischen Volkes, mit der Geschichte der<br />

Tanzkunst wie auch mit Choreographie <strong>und</strong> Theaterkunst. Ein eher vom Sportgedanken<br />

getragener Zweig zielt auf die Teilnahme an Wettkämpfen für gemischte Kampfsportstile <strong>und</strong><br />

die Präsentation von Kampftechniken zu Showzwecken. Ihre künftigen Amazonen erwerben<br />

laut Kateryna Tarnovska neben der Körper- <strong>und</strong> Waffenbeherrschung auch philosophische,<br />

psychologische <strong>und</strong> naturheilk<strong>und</strong>liche Kenntnisse sowie extrasensorische Fähigkeiten.<br />

Amazonen, die auch stricken <strong>und</strong> sticken lernen<br />

Das Frauenbild, das<br />

den ukrainischen<br />

Mädchen in der<br />

Asharda-Schule<br />

vermittelt wird, ist<br />

widersrpüchlich:<br />

einerseits<br />

Kämpferin,<br />

andererseits<br />

sorgende Ehefrau<br />

<strong>und</strong> Mutter.<br />

(Foto: Andriy Vovk)<br />

Unabhängig davon, welche Richtung die Mädchen einschlagen,<br />

belegen sie zudem Kurse in allgemeiner Lebensführung:<br />

Gesprächskultur <strong>und</strong> Durchsetzungsvermögen, Familiengründung,<br />

Haushaltsführung, unternehmerische Tätigkeit, Kindererziehung,<br />

stricken, sticken, malen, ges<strong>und</strong>e Ernährung, Kochkunst. „Wenn sie<br />

Harmonie zwischen Körper <strong>und</strong> Geist erreicht haben, bewähren sich<br />

die Amazonen im Leben <strong>und</strong> werden Hüterinnen des Guten <strong>und</strong> der<br />

Liebe“, ist sich die Trainerin sicher. Sie beschreibt die perfekten<br />

Amazonen so: „Sie bringen Wahrheit <strong>und</strong> Licht in die Gesellschaft.<br />

Die Kämpferfrau – das ist die vollkommene Frau. Sie ist zärtlich, wird<br />

aber, wenn nötig stark, <strong>und</strong> wenn es sein muss, erhebt sie sich<br />

gemeinsam mit dem Mann für die Verteidigung ihres Staates, ihres<br />

Geschlechts <strong>und</strong> ihres Volkes.“<br />

Der Name Asharda ist ein Kunstwort. Es setze sich aus drei Teilen<br />

zusammen, erklärt Kateryna Tarnovska: „As ist die Vollkommenheit,<br />

Har das Feuer <strong>und</strong> Da ist gleich Dana, die Personfizierung des<br />

Wassers. Asharda bedeutet also die vollkommene Verbindung<br />

zwischen Feuer <strong>und</strong> Wasser.“ Die Trainerin hat lange nach einem<br />

Namen für ihre Schule gesucht. In einem Buch über alte Götter sei sie<br />

fündig geworden, ein Guru habe ihr das Wort entschlüsselt. Die<br />

germanische Mythologie kennt den Ort Asgard als Götterburg.<br />

Außerhalb der Schule wird Asharda mit Skepsis betrachtet. „Die Schule ist eigentlich ein<br />

gutes Beispiel für das hohe Potential an Kreativität im Identitätsfindungsprozess der<br />

Ukrainer“, sagt Kati Brunner, die als Lektorin für den Deutschen Akademischen<br />

Austauschdienst in Lviv arbeitet. „Die Herleitung des Namens scheint plausibel, aber richtig<br />

handfeste Quellen fehlen.“ Darüber hinaus erscheinen ihr die Aussagen zur Rolle der Frau in<br />

der ukrainischen Gesellschaft widersprüchlich. „Einerseits Kämpferin, andererseits<br />

liebevolle, zärtliche <strong>und</strong> sorgende Ehefrau <strong>und</strong> Mutter.“ Das zeige ganz gut das Dilemma<br />

vieler ukrainischer Frauen: Sie stehen ihren Mann im Berufsleben <strong>und</strong> halten häufig in<br />

Eigenregie Familie <strong>und</strong> Haushalt zusammen. „Dabei wünschen sie sich häufig nur eine starke<br />

Männerschulter, an die sie sich anlehnen dürfen“, erklärt die Lektorin.<br />

Ljudmyla Ohorodnyk hat diese Sorgen noch nicht. Stolz singt sie am Ende des Trainings das<br />

Lied von Freiheit <strong>und</strong> Unabhängigkeit. Übermorgen wird sie wieder in die Schule kommen<br />

<strong>und</strong> mit ihren Fre<strong>und</strong>innen für ihr großes Ziel, als Amazone die guten Traditionen ihrer<br />

Heimat wiederbeleben <strong>und</strong> verteidigen zu können, trainieren.<br />

Der Autor ist Korrespondent von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />

ganz Osteuropa <strong>und</strong> berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />

allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- <strong>und</strong><br />

Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />

unter http://www.n-ost.de/.<br />

*


POLEN<br />

Ende der Stettiner Werft<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 37<br />

Während die Danziger Werft wegen ihrer hohen Symbolkraft immer wieder in<br />

den Schlagzeilen ist, verschwindet ganz leise ein anderes maritimes Symbol in<br />

Polen: Ende Mai soll die Werft in Stettin aufgelöst <strong>und</strong> verkauft werden. Dies<br />

hat die EU-Kommission erwirkt, die die finanzielle Hilfe der polnischen<br />

Regierungen für die polnischen Werften für widerrechtlich bef<strong>und</strong>en hat. In<br />

Stettin werden nicht nur Tausende von Menschen ihre Jobs verlieren. Mehr<br />

noch: Die Stadt muss ohne ihr größtes Symbol weiter funktionieren.<br />

Von Agnieszka Hreczuk<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Nach dem letzten<br />

Stapellauf auf der Stettiner<br />

Werft:<br />

Zbigniew_Roszkowski<br />

senkt den Kopf.<br />

(Foto: Agnieszka Hreczuk)<br />

bigniew Roszkowski ist stolz. Er ist stolz darauf, „dass<br />

man bei einem solchen Kollos mitgewirkt hat“, sagt der<br />

42-jährige Ingenieur in der Stettiner Werft. Doch in<br />

seiner Stimme fehlt echte Freude. Diese Freude fehlt auch<br />

Tausenden Stettinern, die sich auf dem Pier gesammelt haben.<br />

Eine zierliche Frau schlägt mit einem kleinen silbernen<br />

Hammer. Ein Zeichen für Roszkowski. „Stopper freilassen“,<br />

gibt er den Befehl übers Radio weiter. Sirenen heulen auf, ein<br />

Containerschiff gleitet runter aufs Wasser. Die Zuschauer<br />

schweigen.<br />

So sah er aus, der letzte Stapellauf in der Stettiner Werft.<br />

Anfang Juni wird sie zugemacht <strong>und</strong> aufgelöst. 4.000<br />

Mitarbeiter verlieren ihre Jobs, den meisten wurde bereits in<br />

den vergangenen Wochen gekündigt. Eine Entscheidung der EU-Kommission, die die<br />

langjährigen staatlichen Subventionen für die polnischen Werften für rechtswidrig bef<strong>und</strong>en<br />

hat. Die Stettiner Werft wurde in 27 Teilen angeboten, bestehend aus Immobilien, Mobiliar<br />

<strong>und</strong> Vermögen. Eine Sonderregelung, die Transparenz schaffen soll. Die Fortsetzung des<br />

Schiffbaus wird dabei nicht zur Bedingung gemacht.<br />

Auf Brüssel sind die Stettiner nicht gut zu sprechen<br />

Das können die Stettiner nicht nachvollziehen. „Jetzt könnte ein Käufer eine der Hallen<br />

erwerben <strong>und</strong> dort eine Disko oder sogar einen Puff aufmachen <strong>und</strong> es wäre OK für die EU“,<br />

sagt ein alter Schweißer. Auf die EU <strong>und</strong> Brüssel sind die Menschen in Stettin nicht gut zu<br />

sprechen. Die seien schuld am Ende der Werft, heißt es. Weil sie die größeren Staaten<br />

bevorzugten. Frankreich <strong>und</strong> Deutschland zum Beispiel, so sagen einige, unterstützten<br />

immer noch die eigenen Werften <strong>und</strong> die Schiffbau-Industrie. Dort mische sich Brüssel<br />

überhaupt nicht ein. „Aber wenn es um uns geht, dann sagen sie, es verstößt gegen das EU-<br />

Recht. Die Armen verlieren immer“, klagen zwei Männer vor der Halle, in der die Schiffe<br />

einst gestrichen worden waren.<br />

„Deutschland <strong>und</strong> Frankreich haben wohl bessere Regierungen“, vermutet Zbigniew<br />

Roszkowski. Er ist etwas zurückhaltender bei Vorwürfen. Für ihn gilt Warschau als der<br />

Hauptschuldige. „Sogar das kleine Malta hat eine Übergangsphase ausgehandelt, nur Polen<br />

nicht. Keine der Regierungen nach 1989. So kann man sich auf die eigene Regierung<br />

verlassen“, sagt er ironisch.<br />

Sein ganzes Leben hat Roszkowski in der Stettiner Werft verbracht. Als 15-Jähriger hat er<br />

dort eine Ausbildung zum Monteur begonnen. Danach hat er studiert <strong>und</strong> sich


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 38<br />

hochgearbeitet, bis zum Leiter eines von zwei Hauptwerken der Werft. Ein typischer<br />

Lebenslauf. Viele seiner Kollegen <strong>und</strong> sogar einige Vorstandsvorsitzende haben den gleichen<br />

Weg gemacht. Für die erste <strong>und</strong> zweite Generation der Stettiner nach dem Krieg war die<br />

Werft weniger ein sentimentales Stadtsymbol, als vielmehr ein attraktiver Arbeitgeber. „Ein<br />

gut bezahlter, sicherer Job <strong>und</strong> vielleicht noch eine Chance auf einen Vertragsjob in<br />

Ausland“, erklärt Roszkowski. „Eine einmalige Aufstiegschance für einen Jungen aus der<br />

Vorstadt.“<br />

Hier wurden schon vor 150 Jahren deutsche Schiffe gebaut<br />

Vorerst letzter Stapellauf<br />

auf der Stettiner Werft. Ob<br />

es einen Rettungsring für<br />

den Schiffbau in der Stadt<br />

gibt, ist ungewiss.<br />

(Foto: Agnieszka Hreczuk)<br />

Mittlerweile ist die Werft im Bewusstsein der Stadt <strong>und</strong> ihrer<br />

Bewohner tief verwurzelt. „Hier, genau auf dem Platz, wo<br />

dieser Stapel steht, wurden schon vor 150 Jahren Schiffe<br />

gebaut“, sagt Roszkowski mit Stolz in der Stimme. „Und nicht<br />

einfach irgendwelche: die größten Ozeandampfer der Welt, die<br />

modernsten Eisbrecher.“ Nicht umsonst heißt der Stapel Nowy<br />

Wulkan, Neuer Vulkan. Eine Anknüpfung an die Geschichte<br />

des deutschen Stettins. Vulkan <strong>und</strong> Oderwerke hießen die<br />

Werften, in denen seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Schiffe<br />

<strong>und</strong> auch bekannte Lokomotiven entstanden.<br />

In den Foto-Alben über Stettin, die man überall in der Stadt<br />

kaufen kann, gibt es viele Bilder aus dieser Zeit. Auf einem<br />

stehen Tausende von Menschen, vor der Tribüne mit Politikern<br />

<strong>und</strong> Geschäftsleuten, im Hintergr<strong>und</strong> ein riesiges Schiff. Wappen mit Hakenkreuzen deuten<br />

auf die Zeiten hin. Die waren schon damals nicht die besten für die Werft. Die Stettiner Werft<br />

überlebte in den 30er- <strong>und</strong> 40er-Jahren nur wegen staatlicher Aufträge <strong>und</strong> Subventionen.<br />

Ein Großteil der Produktion wurde nach Hamburg verlegt. Nach dem Krieg subventionierten<br />

die Kommunisten die Werft im dann polnischen Stettin weiter – als vorbildliches Werk der<br />

neuen Wirtschaft. Mit Tausenden Beschäftigten, die vor allem dank Aufträgen aus der<br />

Sowjetunion Schiffe gebaut haben.<br />

Auch hier hat die Solidarnosc gestreikt<br />

Doch sie haben dort nicht nur Schiffe gebaut. „Als ich meine Ausbildung anfangen sollte, kam<br />

ich erst einmal überhaupt nicht auf das Werftgelände“, erinnert sich Roszkowski an seinen<br />

ersten Tag. Es war der August 1980. Die Gewerkschaft Solidarnosc hatte in der Werft heftig<br />

gestreikt. Die Bilder aus dieser Zeit kann man weltweit in den Medien finden, nicht seltener<br />

als die aus Danzig. Heute jedoch, haben die Arbeiter den Eindruck, ist das längst vergessen.<br />

Niemand in Stettin versteht, warum als Symbol, das wegen seiner Bedeutung für das Ende<br />

des Kommunismus in Polen nicht gefährdet werden darf, nur die Danziger Werft erwähnt<br />

wird.<br />

Deshalb sind die Stettiner Werftarbeiter verbittert. Dabei, sagen sie, ging es ihrer Werft nach<br />

der Wende viel besser. „Die Neunziger waren die beste Zeit in der Werftgeschichte nach dem<br />

Krieg. Wir waren stolz darauf, dass wir so schnell bauen.“ Drei Schichten am Tag, sieben<br />

Tage in der Woche. „Die schnellste Werft in Europa waren wir, ich vermute auch weltweit.<br />

Die Stettiner Werft baute die meisten Schiffe in Europa, vor allem für die deutschen<br />

Reedereien.“ Doch heute verstehen die Werftarbeiter die Welt nicht mehr. So viele waren sie,<br />

so viel war bei ihnen in der Werft los. Jetzt herrscht nur noch der Wind auf dem Gelände,<br />

Segmente der nicht fertig gestellten Schiffe liegen auf den Stapeln.<br />

Verkauft – mit ungewisser Zukunft<br />

So wird es bleiben, fürchten die Arbeiter, auch Roszkowski. Seit einigen Tagen ist zwar<br />

sicher, dass die strategischen Teile der Werft von einem Investor gekauft worden sind, doch


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 39<br />

die Stimmung unter Arbeitern hat sich kaum geändert. Immer noch wissen sie nicht, was mit<br />

ihnen passieren wird. Ob sie neue Jobs bekommen, ob die Schiffe weiter gebaut werden.<br />

Niemand weiß, wer hinter dem Investor steht. Polens Wirtschaftsminister Waldemar Pawlak<br />

sagte vor kurzem, er hoffe, die neue Firma werde den Schiffbau fortsetzen.<br />

Doch wer soll Pawlak glauben, fragen sich die Arbeiter, wenn er gleichzeitig zugegeben hat, er<br />

wisse nicht, wer die beiden Werften gekauft hat? Alles ein großen Fragezeichen. Immerhin<br />

wurden die Projektierungen der Schiffe, auch der preisgekrönten, nicht gekauft. Das würde ja<br />

was sagen, schimpft ein Mitarbeiter, der noch bis zum Ende in der Werft bleibt. „Entweder<br />

will der Investor ganz andere Schiffe bauen, eine optimistische Variante, oder gar keine.“ Das<br />

wäre das pessimistische Szenario. Stettin ohne Werft? Zbigniew Roszkowski kann es sich<br />

kaum vorstellen. „Es gibt eine Werftstraße, eine Werftapotheke, ein Werft-Stadion n<strong>und</strong> ein<br />

dazugehöriges Fußballteam in Stettin, nur die Werft sollte es nicht mehr geben?“ Die Angst<br />

geht um in Stettin.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />

ganz Osteuropa <strong>und</strong> berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />

allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- <strong>und</strong><br />

Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />

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RUMÄNIEN<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 40<br />

Arbeitsmigranten wollen nicht mehr nach Hause<br />

Über zwei Millionen Rumänen arbeiten im Ausland, weil sie dort mehr<br />

verdienen als in ihrer Heimat. Deshalb herrscht in Rumänien<br />

Fachkräftemangel. Mit einem Sonderprogramm hat die Regierung versucht,<br />

einige der Arbeitsmigranten wieder ins Land zurückzuholen. Das ist jedoch<br />

gescheitert. Das Arbeitsministerium spricht von einigen Dutzend, die<br />

zurückgekehrt sind.<br />

Von Laura Capatana-Juller<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

wei Arbeitsbörsen in Spanien <strong>und</strong> zwei in Italien – damit wollte die rumänische<br />

Regierung im vergangenen Jahr zumindest einige der r<strong>und</strong> zwei Millionen Rumänen<br />

aus dem Ausland wieder zurück in ihre Heimat locken. R<strong>und</strong> anderthalb Millionen Rumänen<br />

arbeiten allein in Spanien <strong>und</strong> Italien, legal <strong>und</strong> illegal. Sie wollen einen Lohn, der über dem<br />

rumänischen Durchschnittslohn von 350 Euro liegt. Die Aktion der Regierung, ihre Bürger<br />

wieder ins Land zu locken, war erfolglos. Nicht mehr als 3.500 von ihnen haben die Börsen<br />

besucht. „Einige Dutzende“ sind zurückgekehrt, so das Arbeitsministerium. Ob, wo <strong>und</strong> unter<br />

welchen Bedingungen diese angestellt wurden, konnte es jedoch nicht angeben.<br />

Eine umfassende Rückhol-Strategie hatte sich die rumänische Regierung Anfang 2008<br />

ausgedacht. Vorgesehen waren beispielsweise Zuschüsse zu Gehältern, Umzugs- <strong>und</strong><br />

Ansiedlungsvorschüsse, eine gebührenfreie berufliche Weiterbildung <strong>und</strong> Umschulung sowie<br />

Erleichterungen bei der Gründung von Unternehmen. Doch es blieb bei der Auflistung dieser<br />

Maßnahmen – verwirklicht wurden sie nicht. Die neue Regierung, die seit vergangenem<br />

Herbst im Amt ist, zeigt sich interessiert an der Rückkehr der Eliten <strong>und</strong> jungen Leute mit<br />

anerkannten Leistungen. Konkret wurde jedoch nichts für sie unternommen.<br />

Viele von denen, die zurückkehren, bereuen ihre Entscheidung<br />

Ohne eine finanzielle Unterstützung <strong>und</strong> eine sichere <strong>und</strong> gut bezahlte Arbeitsstelle will<br />

kaum jemand zurück nach Rumänien, obwohl die internationale Finanzkrise die<br />

Arbeitsstellen im Ausland gefährdet <strong>und</strong> die Umstände der Arbeit oft widrig sind. Bei Ioan<br />

Lunguleac aus Kronstadt/ Braşov gab es Zeiten, da hat er in Pappzelten geschlafen. Er<br />

arbeitet schwarz in Italien <strong>und</strong> hat die Arbeitsbörse der rumänischen Regierung in Rom im<br />

vergangenen Februar besucht. Er war enttäuscht: „Was bekomme ich, wenn ich nach<br />

Rumänien zurückkehre? Nichts. Warum soll ich also dorthin gehen? Hier verdiene ich<br />

wenigstens Geld”, sagt der 50-Jährige.<br />

Viele von denen, die zurückkehren, bereuen ihre Entscheidung. Viorel Domuţă aus Satu Mare<br />

ist nach sieben Jahren im Ausland wieder nach Rumänien gegangen. Er hatte gehofft, seine<br />

Erfahrung im Bauwesen in einem eigenen Unternehmen einsetzen zu können. Doch das war<br />

schwieriger als angenommen. „Statt mich bei der Unternehmensgründung zu unterstützen,<br />

verlangt der Staat Unmengen an Papieren, Gebühren <strong>und</strong> Steuern. Ich will nichts umsonst<br />

bekommen, dazu ist das Land nicht reich genug, aber wenigstens für den Anfang könnte es<br />

Vergünstigungen bei den Gebühren geben”, fordert Domuţă <strong>und</strong> stellt resigniert fest: „Es gibt<br />

nichts mehr, was mich an dieses Land bindet.“ Noch ein Jahr lang will er sein Glück in<br />

Rumänien versuchen. Wenn seine Firma bis dahin nicht läuft, wird er wieder auswandern.<br />

Noch im vergangenen Jahr wurden über 500.000 Arbeitskräfte gesucht, davon r<strong>und</strong> 150.000<br />

allein im Bauwesen. Auch die Textilbranche <strong>und</strong> die Gastronomie, aber auch Bereiche wie IT,<br />

Logistik <strong>und</strong> Transportwesen suchen Fachkräfte. Großen Bedarf gibt es auch an Ingenieuren


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 41<br />

<strong>und</strong> Ärzten. Die müssen in Rumänien allerdings von einem Gehalt von umgerechnet 450<br />

Euro leben. Deshalb siedeln viele von ihnen ins Ausland um, wo sie ein fast zehn Mal so<br />

hohes Gehalt bekommen.<br />

Rumänien muss Arbeitskräfte in andern Ländern suchen<br />

Im IT-Bereich, wo Jobs auf Führungspositionen zwischen 1.500 <strong>und</strong> 2.000 Euro einbringen,<br />

fehlten 2008 im Land r<strong>und</strong> 10.000 Arbeitskräfte. Ähnlich attraktivere Lohnangebote gibt es<br />

auch im Bank- <strong>und</strong> Finanzbereich, in der Logistik <strong>und</strong> im Verkauf. „Wir suchen Personal für<br />

Leitungspositionen, das nach Rumänien zurückkehren will“, bestätigt Daniela Necefor,<br />

Managing Partner der Human Resource Firma Total Business Solutions. Necefor ist für das<br />

Head-Hunting im Ausland zuständig. Sie zählt die Vorteile für beide Seiten auf: „Der<br />

Angestellte kehrt nach Hause zurück, bekommt ein Gehalt wie im Westen, manchmal bis zu<br />

3.000 Euro, <strong>und</strong> der Arbeitgeber findet einen gut ausgebildeten Menschen mit der<br />

Erfahrung, die dieser in einem entwickelten Land gesammelt hat.” Necefor glaubt, dass<br />

jemand, der diesen Schritt macht, seinen neuen Job nicht so leicht wechseln wird.<br />

Die Entscheidung vieler Rumänen fällt trotzdem für das Ausland. Deshalb muss das<br />

Rumänien, einer der großen Exporteure von Arbeitskraft in der EU, inzwischen Arbeitskräfte<br />

importieren. Arbeiter kommen vor allem aus der Republik Moldau, der Türkei sowie aus<br />

Asien <strong>und</strong> Afrika. Sie arbeiten hauptsächlich auf Baustellen <strong>und</strong> in Textilfabriken. Das<br />

Rumänische Büro für Immigration hat im vergangenen Jahr 10.000 Arbeitsaufenthalte<br />

genehmigt, dieses Jahr sollen es noch mehr werden. Qualifizierte Arbeiter können r<strong>und</strong> 450<br />

Euro in Rumänien verdienen, sagen Arbeitgeber.<br />

„Erst wenn der Unterschied zwischen den Gehältern geringer wird, werden wir vielleicht eine<br />

Rückmigration erleben“, sagt Liviu Voinea, Leiter der Gruppe für Angewandte Wirtschaft<br />

(GEA). Der Versuch der Regierung, den massiven Arbeitskräftemangel mit Rückkehrern zu<br />

begleichen, sei ein Misserfolg, der vorhersehbar war. „Die Rumänen sind nicht nach dem<br />

Besuch von Arbeitsbörsen emigriert <strong>und</strong> werden auch nicht dank solcher Börsen<br />

wiederkehren“, sagt Voinea. Die Lösung für eine erfolgreiche Rückholaktion wäre die<br />

Schaffung von gut bezahlten Arbeitsplätzen, so Voinea. Bis dahin aber müsse man sich auf<br />

das „Behalten” der Rumänen konzentrieren.<br />

Eine massive Rückkehr von Emigranten brächte auch Probleme<br />

Außerdem müssten für Arbeiter auf Zeit Wohnungen gebaut werden, fordert Voinea. „Es ist<br />

leichter, vom Land in die Stadt als ins Ausland zu ziehen”, erklärt er. Je geringer die<br />

Unterkunftskosten seien, desto lukrativer ist der Job. „Wenn man von einem Gehalt von 500<br />

Euro noch 300 Euro Miete zahlen soll, lohnt es sich nicht”, sagt der Experte. Gerade im<br />

Ausland sei dies ein großes Problem. Dort wohnten rumänische Emigranten manchmal zu<br />

Acht in einem Zimmer, um die Unterkunftskosten zu teilen.<br />

All diese Forderungen werden für die im vergangenen Herbst neu gewählte rumänische<br />

Regierung kaum zu erfüllen sein. Eine massive Rückkehr von rumänischen Emigranten<br />

würde zudem eine Reihe von Problemen mit sich bringen. Liviu Voinea verweist darauf, dass<br />

beispielsweise das rumänische Ges<strong>und</strong>heitssystem zusammenbrechen würde. Denn die<br />

Emigranten haben jahrelang kein Geld in die Krankenkassen eingezahlt, würden aber<br />

Anspruch auf Hilfe haben. Und die Regierung muss damit rechnen, dass sich das<br />

Bruttoinlandsprodukt um etwa vier Prozent verringern wird. Schließlich würden es nicht<br />

mehr sieben Milliarden Euro sein, die die Emigranten jährlich ins Land schicken.<br />

Soziologischen Studien zufolge wollen die meisten Emigranten gar nicht zurückkehren. Sie<br />

haben inzwischen auch ihre Familien nachziehen lassen. Die Kinder wurden in fremde<br />

Bildungssysteme integriert. Und auch die Generation der Großeltern zieht inzwischen ins<br />

Ausland nach, um auf die Kinder aufzupassen. R<strong>und</strong> 29 Prozent der Rumänen aus der


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 42<br />

Region um Madrid wollen dort sesshaft werden, weitere 33 Prozent beabsichtigen, in etwa<br />

fünf Jahren zurückzukehren. Knapp 14 Prozent überlegen tatsächlich, bereits jetzt<br />

zurückzugehen, sagt Dr. Dumitru Sandu, Leiter der Studie über die Rumänen um Madrid<br />

<strong>und</strong> Soziologe an der Universität Bukarest.<br />

*<br />

Die Autorin ist Korrespondentin von n-ost. Das Netzwerk besteht aus über 50 Journalisten in<br />

ganz Osteuropa <strong>und</strong> berichtet regelmäßig für deutschsprachige Medien aus erster Hand zu<br />

allen Themenbereichen. Ziel von n-ost ist es, die Wahrnehmung der Länder Mittel- <strong>und</strong><br />

Osteuropas in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zu verbessern. Weitere Informationen<br />

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EM-INTERVIEW<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 43<br />

„Behinderung gilt in arabischen Ländern als göttliche<br />

Strafe“<br />

Die palästinensische Ärztin Jumana Odeh wurde 2008 für ihre Bemühungen<br />

zur Verbesserung der Lebensbedingungen behinderter Kinder mit dem „World<br />

of Children Health Award“ ausgezeichnet.<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

urasisches <strong>Magazin</strong>: Weshalb wurde Ihnen dieser<br />

Preis verliehen?<br />

Joumana Odeh: Als Antwort auf diese Frage fällt mir<br />

zunächst einmal die Begründung der Jury ein: „Eine Frau, die<br />

sich, statt nach persönlicher Gewinnmaximierung zu streben,<br />

für Kinder in Palästina <strong>und</strong> überall auf der Welt einsetzt.“ Ich<br />

bin Kinderärztin geworden, weil es in diesem Beruf in erster<br />

Joumana Odeh<br />

Linie um den Menschen mit all seinen Beschwerden <strong>und</strong><br />

Leiden geht. Und ich bin den Kindern dankbar, denn sie haben meinem Leben einen Sinn<br />

gegeben. Sicherlich haben zu meiner Entscheidung, gerade mit behinderten Kindern zu<br />

arbeiten, die im allgemein als „anders“ gelten <strong>und</strong> daher ausgegrenzt werden, auch die<br />

außergewöhnlich schwierigen Umstände beigetragen, unter denen sie <strong>und</strong> wir<br />

gezwungenermaßen unter der Besatzung leben. Wir wollen, dass die von uns betreuten<br />

Kinder trotz der kulturellen, sozialen <strong>und</strong> politischen Widrigkeiten in ihrem Umfeld glücklich<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong> aufwachsen können.<br />

EM: Worum geht es bei diesem besonderen Preis?<br />

Odeh: Der Preis will herausragende Persönlichkeiten ehren, die zur Verbesserung der<br />

Lebensbedingungen von Kindern in ihrem eigenen Land oder anderswo beitragen. Gestiftet<br />

wurde der Preis von Harry Leibowitz, der selbst als Kind als Flüchtling nach Amerika kam<br />

<strong>und</strong> bereits im Alter von zwölf Jahren gezwungen war, durch Arbeit zum Lebensunterhalt der<br />

Familie beizutragen, es später jedoch in Kalifornien zu einigem Reichtum brachte. Vor elf<br />

Jahren, als er selbst gerade an Krebs erkrankt war, brachten ihn Fernsehberichte über das<br />

Leiden von Kindern weltweit auf die Idee, einen Preis für Menschen zu stiften, die das Leben<br />

von Kindern verbessern. Für diese Auszeichnung, die dann fünf Jahre später als „Kinder-<br />

Nobelpreis“ bekannt wurde, wurde ich im letzten Jahr von Leibowitz' Stiftung „World of<br />

Children“ nominiert.<br />

„Ich hoffe dass ich noch mehr für behinderte Kinder tun kann“<br />

EM: Sie sind die erste arabische Ärztin, die diesen Preis erhält. Was bedeutet er Ihnen <strong>und</strong><br />

was bedeutet er für die Frauen in Palästina <strong>und</strong> in der arabischen Welt insgesamt?<br />

Odeh: Als man mir mitteilte, dass ich den Preis erhalten werde, war mir klar: Diese Ehrung<br />

gilt nicht allein mir persönlich, sondern allen Frauen. Ich bin auch glücklich darüber, diesen<br />

Preis in mein Land, nach Palästina, geholt zu haben. Wir können so der Welt zeigen, dass<br />

Frauen in Palästina sich aktiv für den Aufbau einer humanen Gesellschaft <strong>und</strong> für das Wohl<br />

von Kindern einsetzen - <strong>und</strong> dadurch etwas bewirken können. Und ich hoffe, dass ich in<br />

Zukunft noch mehr für die von uns betreuten Kinder werde tun können, denn sie haben<br />

wirklich mehr verdient.


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 44<br />

EM: Sie leiten das Palestinian Happy Child Center (PHCC). Wie sind Sie auf die Idee<br />

gekommen, ein solches Zentrum aufzubauen <strong>und</strong> welche Ziele verfolgen Sie bei Ihrer Arbeit?<br />

Odeh: Ich habe das Zentrum 1994 in Jerusalem gegründet, um auf die besonderen<br />

Bedürfnisse von so genannten behinderten Kindern eingehen zu können. Wir setzen uns für<br />

deren Rechte ein, bieten ihnen angemessene ärztliche Versorgung <strong>und</strong> fördern sie in ihrer<br />

Bildung sowie ihrer gesellschaftlichen Integration <strong>und</strong> Rehabilitation. Außerdem führen wir<br />

Untersuchungen zur Früherkennung von Behinderungen durch, um besser präventiv tätig<br />

werden zu können <strong>und</strong> bieten Angehörigen behinderter Kinder psychologische <strong>und</strong><br />

familientherapeutische Beratung an.<br />

Alle Leistungen des Zentrums können kostenlos in Anspruch genommen werden. Es ist<br />

damit die erste Einrichtung dieser Art in Palästina überhaupt <strong>und</strong> die Tatsache, dass uns<br />

infolge der Preisverleihung nun so viel Aufmerksamkeit zuteil wird, kann uns nur zugute<br />

kommen, nachdem wir 14 Jahre lang in aller Stille gewirkt haben, ohne dass uns irgend<br />

jemand in den Medien Beachtung geschenkt hätte.<br />

Der Beginn einer Bewusstseinsänderung ist zu spüren<br />

EM: In arabischen Ländern stellen Behinderungen ein gesellschaftliches Tabuthema dar.<br />

Wie gehen Sie damit um?<br />

Odeh: Wir mussten uns dieser gewaltigen Herausforderung von Anfang an stellen, weil eben<br />

Behinderungen in unseren arabischen Gesellschaften nur mit äußerstem Misstrauen<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> als etwas vollkommen Negatives betrachtet werden. Kinder mit<br />

körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen werden oft mitleidig oder abwertend<br />

behandelt, auch <strong>und</strong> ganz besonders von ihren Eltern, denen die Behinderung vielfach als<br />

eine Art göttliche Strafe gilt. Sie beginnen dann, nach dem Gr<strong>und</strong> für diese Bestrafung zu<br />

forschen.<br />

Hier setzt unsere Arbeit an. Wir bieten den Familien logische Erklärungen an, die es ihnen<br />

ermöglichen, besser mit der Situation zurechtzukommen <strong>und</strong> dieses Vorurteil zu<br />

überwinden. Darin liegt sicherlich unsere größte Herausforderung. Wir können aber bereits<br />

feststellen, dass sich generell die Haltung der Gesellschaft im Laufe der Zeit gewandelt hat,<br />

auch ganz speziell im Hinblick auf diese Kinder <strong>und</strong> ihre Familien.<br />

EM: Wie würden Sie denn angesichts dieser weit verbreiteten Vorstellung von einer<br />

göttlichen Strafe, wie Sie sie gerade beschrieben haben, die Situation behinderter Kinder in<br />

Palästina beschreiben?<br />

Odeh: Als äußerst desolat. Diesen Kindern werden ihre Rechte weitgehend vorenthalten.<br />

Besonders schlimm ist die Haltung der Gesellschaft, aber auch das Fehlen entsprechender<br />

öffentlicher Einrichtungen, die auf die Bedürfnisse dieser Kinder eingehen <strong>und</strong> die<br />

mangelnde behindertengerechte Ausstattung des öffentlichen Raumes: Alles, von Märkten<br />

<strong>und</strong> Geschäften über Freizeit- <strong>und</strong> Spielstätten bis hin zu Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen, ist nur<br />

auf ges<strong>und</strong>e Kinder ausgerichtet. Nichts ist so auf behinderte Kinder zugeschnitten, dass sie<br />

sich barrierefrei <strong>und</strong> ungehindert bewegen können.<br />

Außerdem gibt es nicht genügend Einrichtungen oder Zentren, die sich gezielt um diese<br />

Gruppe kümmern, obwohl sie doch immerhin 2,3 Prozent der palästinensischen Bevölkerung<br />

ausmachen - ein recht hoher Anteil. Und auch in der Schule geht man nicht gezielt auf sie<br />

ein. Hier konnten wir zwar im vergangenen Jahr einen Erfolg verzeichnen, denn dank<br />

unserer Unterstützung können nun 44 leicht bis mittelschwer behinderte Kinder normale<br />

Schulen besuchen. Und wir haben auch ihre Eltern, die Pädagogen <strong>und</strong> das gesamte<br />

schulische Umfeld entsprechend geschult. Doch es bleibt noch viel, ja sehr viel zu tun. Wir<br />

haben noch einen langen Weg vor uns.


Behinderte Kinder leiden zu Hause <strong>und</strong> in der Schule<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 45<br />

EM: Unter welchen Diskriminierungen leiden denn die Kinder in der palästinensischen<br />

Gesellschaft?<br />

Odeh: Diese Frage lässt sich nur im Zusammenhang der gesamtpolitischen Situation der<br />

palästinensischen Gesellschaft beantworten. Die Abriegelungen <strong>und</strong> die Checkpoints des<br />

israelischen Militärs als Teil unserer täglichen Realität schränken uns in unserer<br />

Bewegungsfreiheit ein <strong>und</strong> erlauben nur einen begrenzten Zugang zu Betreuungs- oder<br />

Rehabilitationseinrichtungen. Darüber hinaus werden die Kinder natürlich leider auch zu<br />

Hause, in der Schule oder ganz allgemein gesellschaftlich diskriminiert. In öffentlichen<br />

Schulen beispielsweise ist die Diskriminierung ganz besonders sichtbar. Das ärgert mich<br />

umso mehr, als dass man zwar ständig von Politikern hört, wie sie sich zur Integration von<br />

behinderten Kindern an Schulen äußern, dies aber in der Praxis so gut wie gar nicht<br />

umgesetzt wird. De facto besuchen nur sehr wenige behinderte Kinder öffentliche Schulen.<br />

Wenn überhaupt, dann gehen sie auf private Schulen, die aber sehr teuer sind, so dass die<br />

meisten Familien sie sich nicht leisten können.<br />

Hinzu kommt noch, dass in der Schule die Lehrer diese Kinder nicht genügend<br />

berücksichtigen oder einbinden <strong>und</strong> dass auch die Lehrpläne überhaupt nicht auf sie<br />

zugeschnitten sind. Es geht mir hier aber gar nicht um Mitleid, ich würde gar nicht wollen,<br />

dass man die Kinder ständig bedauert. Nein, ich will, dass ihre Rechte, ihre Würde <strong>und</strong> ihre<br />

Gefühle gebührend geachtet werden.<br />

EM: Führen Sie auch Initiativen oder Programme zusammen mit europäischen<br />

<strong>Organisationen</strong> durch?<br />

Odeh: Ja, wir führen zusammen mit europäischen Einrichtungen Projekte durch <strong>und</strong><br />

nehmen gerne jede finanzielle Hilfe an, die unsere Arbeit fördert, auch wenn wir leider<br />

manchmal das Gefühl haben, dass uns Unterstützung aus Europa in sehr herablassender<br />

Weise gewährt wird. Dabei sollten derartige Kooperationen doch auf gegenseitigem<br />

Verständnis basieren <strong>und</strong> als Erfahrungsaustausch eine Bereicherung für alle beteiligten<br />

Seiten darstellen. Als Folge der Preisverleihung sind wir Mitglied von „World of Children“<br />

geworden <strong>und</strong> können so nun unsere in Palästina begonnene Aufklärungsarbeit auch auf<br />

Dubai, Katar <strong>und</strong> Marokko ausweiten.<br />

Aus dem Arabischen von Nicola Abbas<br />

© Qantara.de 2009<br />

*<br />

Das Interview führte Muhanad Hamed


EURASISCHE SPIRITUALITÄT<br />

Geomantik-Art aus der Eiszeithöhle<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 46<br />

Ein sensationeller neuer F<strong>und</strong> auf der Schwäbischen Alb hat wieder einmal<br />

bestätigt: am geomantischen Höhenpfad der großen Europäischen<br />

Wasserscheide lebte das erste Kulturvolk der Welt. Hier hat der moderne<br />

Mensch seinen kulturellen Siegeszug begonnen <strong>und</strong> auch die erdverb<strong>und</strong>enen<br />

Formen einer eurasischen Spiritualität entwickelt.<br />

Von Eberhart Wagenknecht<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

ie Entdeckung ist eine Sensation! Sechs Zentimeter klein, 33 Gramm leicht, vor 35.000<br />

bis 40.000 Jahren mit Steinwerkzeugen aus Mammut-Elfenbein geschnitzt: Die<br />

„Venus von Schelklingen“. Sie ist die älteste, weltweit entdeckte Menschendarstellung.<br />

Gef<strong>und</strong>en wurde sie im Herbst 2008 in der Karsthöhle „Hohle Fels“, nahe der Stadt<br />

Schelklingen. Einzelheiten zu ihrer Entdeckung <strong>und</strong> ihrer Bedeutung veröffentlichte der<br />

Tübinger Archäologe <strong>und</strong> Grabungsleiter Nicholas Conard vor wenigen Tagen im<br />

Wissenschaftsmagazin „Nature“ (Bd. 459, S. 248, 2009).<br />

Schelklingen liegt am Urstromtal der Donau unweit von Ulm im Regierungsbezirk Tübingen.<br />

Die Europäische Wasserscheide markiert in diesem Landstrich den uralten Kampf zwischen<br />

Rhein <strong>und</strong> Donau. An der Autobahn A 8 weist bei Hohenstadt ein Schild auf diese Tatsache<br />

hin. Unsichtbar zieht sich die trennende Linie der Gewässer durch die Landschaft. Südöstlich<br />

von ihr münden alle Bäche <strong>und</strong> Flüsse in die Donau, nordwestlich dagegen werden sie in den<br />

Neckar geleitet <strong>und</strong> fließen schließlich in den Rhein.<br />

Nicholas Conard zufolge fand hier im Karst- <strong>und</strong> Juragebiet der Alb vor 40.000 Jahren „ein<br />

immenser kultureller Fortschritt statt“. Das Gebiet am Höhenstrom der Wasserscheide hält<br />

er für „ein entscheidendes kulturelles Entwicklungszentrum des Homo sapiens“. Denn auf<br />

der Schwäbischen Alb „wurden die bedeutendsten F<strong>und</strong>e der frühen Eiszeit gemacht. Sie ist<br />

heute der Forschungsmittelpunkt für die Anfänge der Menschheitsgeschichte.“<br />

Hier lebte das erste Kulturvolk der Welt<br />

In den vergangenen 150 Jahren wurden in verschiedenen Albhöhlen unzählige<br />

Elfenbeinschnitzereien gef<strong>und</strong>en. Vor zwei Jahren ging die Meldung vom F<strong>und</strong> eines 35.000<br />

Jahre alten, ebenfalls zentimeterkleinen Mammuts um die Welt. In einer Alb-Höhle wurde<br />

auch das weltweit älteste Musikinstrument entdeckt, eine Flöte aus einem Mammutstoßzahn<br />

gefertigt. Das r<strong>und</strong> 35.000 Jahre alte Instrument war mit großem Aufwand aus massivem<br />

Elfenbein geschnitzt worden. Die Tübinger Archäologen haben es in der Geißenklösterle-<br />

Höhle bei Blaubeuren gef<strong>und</strong>en. Es ist eines der drei ältesten bekannten Tonwerkzeuge der<br />

Welt. Sie wurden alle drei hier gef<strong>und</strong>en. Unter anderem auch eine Flöte aus einem<br />

Vogelknochen. Damit gilt für die Wissenschaft als bewiesen, dass Menschen schon in der<br />

Eiszeit zum Tanz aufgespielt haben.<br />

Archäologe Conard hält es angesichts all dieser Spuren <strong>und</strong> F<strong>und</strong>e durchaus für möglich,<br />

dass auf der Schwäbischen Alb das erste Kulturvolk der Welt gelebt hat. Auf jeden Fall seien<br />

von der Alb wesentliche Impulse für die Entwicklung der Musik <strong>und</strong> der figürlichen Kunst für<br />

die Menschheit ausgegangen. Bei der Vorstellung der „Venus von Schelklingen“ schwärmte<br />

der Wissenschaftler: „Dieses Stück ist mit Energie geladen“.


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 47<br />

Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Figur als Anhänger getragen wurde. Die<br />

Statue habe „überdimensionierte Brüste“, ein ausgeprägtes Gesäß <strong>und</strong> deutlich<br />

hervorgehobene Geschlechtsteile - ohne Zweifel seien die Geschlechtsmerkmale der Figur wie<br />

das auffallend große Schamdreieck <strong>und</strong> die Vulva „bewusst übertrieben“ worden, sagt<br />

Conard.<br />

Die Beine der Frauengestalt sind kurz <strong>und</strong> spitz. Auf den Schultern befindet sich anstelle<br />

eines Kopfes ein geschnitzter Ring. Viele kleine Linien im Elfenbein deuten außerdem eine<br />

Art Kleid oder einen Schurz an. Selbst der Bauchnabel ist deutlich erkennbar. Die Figur<br />

erinnert die Wissenschaftler an die in Österreich gef<strong>und</strong>ene „Venus von Willendorf“, die mit<br />

einem Alter von 28.000 Jahren aber um 7000 Jahre jünger ist.<br />

Fruchtbarkeitssymbol, Schamanenkult, Männerphantasien<br />

Bei der Deutung der Venus ist Conard vorsichtig. Die Betonung von Brüsten <strong>und</strong> Vulva<br />

verweise auf Fruchtbarkeit, Geburt, Fortpflanzung, vielleicht auch auf Männerphantasien.<br />

Möglich sei eine Verbindung zum Schamanismus, die durch ebenfalls in den Karsthöhlen der<br />

Alb gef<strong>und</strong>ene Mensch-Tier-Wesen nahe gelegt wird Es könnte sich um eine Frau auf der<br />

Reise in die Geisterwelt handeln, um die Fruchtbarkeit zu garantieren.<br />

In dem Erzählband „Eiszeitjäger auf der Schwäbischen Alb“ des Autors Jürgen Werner wird<br />

deutlich, welche Bedeutung Fruchtbarkeit <strong>und</strong> Anzahl der Menschen eines Jäger-Clans für<br />

die damals lebenden frühen Bewohner der Alb hatten. Sank die Kopfzahl unter 30 bis 20<br />

Menschen ab, konnte z. B. nicht mehr effektiv gejagt werden, Nahrungsknappheit aber<br />

bedeutete den Tod. (Siehe Interview <strong>und</strong> Buchbesprechung in dieser Ausgabe).<br />

„Die Weltöffentlichkeit schaut fasziniert auf die Region, in der die bisher älteste Figur eines<br />

Menschen gef<strong>und</strong>en worden ist“, sagt der Leiter der Museumsgesellschaft Schelklingen,<br />

Rainer Blumentritt. Er arbeitet mit seiner Organisation daran, dass das Gebiet mit den<br />

F<strong>und</strong>stätten von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wird.<br />

Hier ist schließlich wirklich Weltkultur entstanden. Der Boden der Karsthöhlen <strong>und</strong> des<br />

geomantischen Höhenpfades Wasserscheide ist auch in späteren Jahrtausenden mit Kultur<br />

gedüngt worden. So befinden sich beispielsweise fast alle Kastelle des Alb-Limes der Römer<br />

auf der Wasserscheide. Besonders eindrucksvoll ist die Befestigung in Burladingen gelegen.<br />

Die Stadt liegt nicht weit von Schelklingen genau auf der Wasserscheide <strong>und</strong> gehört ebenfalls<br />

zum Regierungsbezirk Tübingen. Von hier fließt die Starzel zum Flusssystem des Rheins, die<br />

Fehla zum Flusssystem der Donau.<br />

Die Venusschnitzer gelangten donauaufwärts in die Albtäler<br />

Wer waren die Menschen, die soviel Kunstsinn bewiesen, dass sie schon vor 40.000 Jahren<br />

Musikinstrumente, Kultfiguren <strong>und</strong> Anhänger aus Mammut-Elfenbein schnitzten? Sogar ein<br />

steinerner Phallus von fast 20 Zentimeter Länge wurde hier schon gef<strong>und</strong>en. Nach dem<br />

Verständnis der Archäologen handelt es sich bei den F<strong>und</strong>stücken auf der Schwäbischen Alb<br />

um Werke, die der moderne Mensch, der Homo sapiens, geschaffen hat. Er war dem Lauf der<br />

Ur-Donau folgend in diese Gegend vorgedrungen. Nach heutiger Kenntnis kamen die<br />

Frühmenschen ursprünglich aus Afrika <strong>und</strong> wanderten in mehreren Wellen nach Norden.<br />

Die vielen Höhlen der Alb boten den Jägern vor allem im Winter immer wieder<br />

Unterschlupf.<br />

Der Hohle Fels mit seiner Haupthalle, die 500 Quadratmeter Gr<strong>und</strong>fläche misst, ist eine der<br />

größten Höhlen der Alb. 30 Meter lang ist der Gang, der zu dieser Halle führt, einem<br />

domgleichen Felsengewölbe. In einem kleineren Raum, der vom Tageslicht mehr ausgefüllt<br />

ist, wurden von den Eiszeitjägern die Fleischstücke erlegter Mammuts, Pferde <strong>und</strong><br />

Steinböcke gelagert <strong>und</strong> bewacht. Hier fand man einen aus Mammutelfenbein geschnitzten


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 48<br />

Wasservogel <strong>und</strong> einen abgebrochenen Pferdekopf. Außerdem eine seltsame Figur, halb<br />

Mensch, halb Tier, dem die Archäologen den Namen „Kleiner Löwenmensch“ gegeben haben.<br />

Diese Figur ist ebenfalls aus einem Mammut-Stoßzahn geschnitzt.<br />

Kunst, Gesang <strong>und</strong> Tanz der Eiszeitjäger<br />

Die Schwäbische Alb birgt archäologische Zeugnisse, die bis in die Altsteinzeit zurück<br />

reichen. Die ältesten figürlichen Darstellungen der Menschheit sind kleine Schnitzereien aus<br />

Mammutelfenbein <strong>und</strong> stammen aus dem Lonetal (Vogelherdhöhle) <strong>und</strong> dem Achtal/Blautal<br />

(Geißenklösterle, Hohle Fels) bei Ulm. Sie sind bis zu r<strong>und</strong>en 40.000 Jahren alt. Die F<strong>und</strong>e<br />

sind im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, dem Ulmer Museum <strong>und</strong> im Museum für<br />

Vor- <strong>und</strong> Frühgeschichte in Tübingen zu sehen. Sie stammen aus einer Epoche, die von den<br />

Archäologen als „Aurignacien“ bezeichnet wird. In dieser Zeit begann ganz offensichtlich die<br />

kulturelle Entwicklung des modernen Menschen <strong>und</strong> die kulturelle Modernität als solche.<br />

Der vordem hier ansässige Neandertaler befand sich allenthalben auf dem Rückzug.<br />

Die modernen Nachfahren des Neandertalers leisteten sich in der existentiell so schwierigen<br />

Epoche der Eiszeit Luxusgüter, Elfenbeinkunst <strong>und</strong> Musikinstrumente. Experimentelle<br />

Archäologen haben herausgef<strong>und</strong>en, dass man etwa 25 bis 50 Arbeitsst<strong>und</strong>en benötigt, um<br />

Figuren wie die von der Schwäbischen Alb mit einer Steinklinge zu schnitzen. Das war<br />

Knochenarbeit für lange Winterabende <strong>und</strong> äußerst anstrengend für die Hände <strong>und</strong> die<br />

Finger der Künstler.<br />

In den Eiszeithöhlen wurde offensichtlich gesungen <strong>und</strong> getanzt. Dabei dürfte es sich um<br />

schamanistische Riten gehandelt haben. Das sind die frühesten bekannten religiösen<br />

Formen. Die „Buchreligionen“ waren noch längst nicht erf<strong>und</strong>en. Es vergingen noch 40.000<br />

Jahre, ehe das Alte Testament, buddhistische Schriften oder gar der Koran etc. auftauchten.<br />

„Schamanen versuchten in Trance Transzendenz zu erreichen <strong>und</strong> sich auch im Jenseits für<br />

die Belange der Menschen einzusetzen. Es ist denkbar, dass sie dabei auch um Fruchtbarkeit<br />

oder um glückende Geburten baten“, so der Archäologe Conard. Dass die Sexualität hier<br />

ebenfalls „eine große Rolle spielt“, ist dem Wissenschaftler zufolge „offensichtlich“. Die<br />

Verbindung zu einem Fruchtbarkeitskult läge nahe.<br />

Der Begriff „Venus“ für betont weibliche Figuren sei im Übrigen einfach eine archäologische<br />

Tradition <strong>und</strong> keine inhaltliche Festlegung. – Die „Venus von Schelklingen“ aus dem „Hohle<br />

Fels“ ist vom 18. September 2009 an in der großen Landesausstellung in Stuttgart zu<br />

bew<strong>und</strong>ern.<br />

Weitere Quellen zur Eurasischen Spiritualität: EM 10-2008 „Eurasische Spiritualität – vom<br />

Heidenpfad zum Heidenschwanz“. EM 04-2009 „Geomantikart von der Wasserscheide“.<br />

EM-05-2009 „Strahlen der Seele für ein starkes Leben“.<br />

In Medizin-Welt: „Suche die Nacht auf“ <strong>und</strong> „Medizin-Welt SPEZIAL, Heilende Blicke“.<br />

Bei http://www.starkesleben.de/ <strong>und</strong> über http://www.geomantikart.de/.<br />

*


EM-INTERVIEW<br />

Schamanismus auf der Schwäbischen Alb<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 49<br />

Wie das Leben in den Höhlen <strong>und</strong> auf der Jagd der eiszeitlichen Jäger<br />

vonstatten ging, hat Jürgen Werner in einer Erzählung dargestellt. Wir<br />

sprachen mit ihm über seine Beweggründe <strong>und</strong> über die Kenntnisse, die er von<br />

den frühen Bewohnern an der Urdonau <strong>und</strong> in den Albtälern<br />

zusammengetragen hat.<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

Jürgen Werner<br />

urasisches<br />

<strong>Magazin</strong>: Sie<br />

lassen in Ihrem<br />

Buch „ Eiszeitjäger auf<br />

der Schwäbischen Alb“<br />

35.000 Jahre<br />

zurückliegende<br />

Geschehnisse lebendig<br />

werden. Wie sind Sie<br />

auf diese Idee<br />

gekommen?<br />

Jürgen Werner: Ich bin in einem Dorf in der Nähe der F<strong>und</strong>stellen aufgewachsen, schon<br />

als Kind bin ich mit dem Fahrrad zu den Höhlen gefahren <strong>und</strong> habe dort gespielt. Als<br />

Erwachsener haben mich die F<strong>und</strong>e <strong>und</strong> die Interpretation derselben dann sehr interessiert.<br />

Das Bewusstsein für die Einmaligkeit der F<strong>und</strong>e aus den Albhöhlen ist sonderbarerweise auf<br />

der Schwäbischen Alb selbst noch nicht besonders ausgeprägt, aus diesem Gr<strong>und</strong> habe ich<br />

mich dazu entschlossen, das Buch zu veröffentlichen.<br />

EM: In Ihrer Schilderung treffen als Clan-Menschen bezeichnete Jäger auf die als Erd-<br />

Menschen geschilderten alteingesessenen Bewohner der Schwäbischen Alb. Was hat es mit<br />

diesen Bezeichnungen auf sich?<br />

Werner: In erster Linie soll die Verschiedenheit der beiden Menschentypen zum Ausdruck<br />

gebracht werden. Die Clan-Menschen sind in der Erzählung die anatomisch modernen<br />

Menschen, die Erdmenschen die Neandertaler.<br />

Vor 27.000 Jahren starb der letzte Neandertaler in Südspanien<br />

Zur Person: Jürgen Werner<br />

Jürgen Werner, Jahrgang 1965,<br />

studierte Mathematik <strong>und</strong> Physik in<br />

Ulm. Neben seiner Tätigkeit als<br />

Lehrer an einer kaufmännischen<br />

Schule beschäftigt er sich schon seit<br />

vielen Jahren mit der<br />

Altsteinzeitforschung auf der<br />

Schwäbischen Alb. Er lebt in<br />

Laichingen, ist verheiratet <strong>und</strong> hat<br />

drei Kinder.<br />

EM: Warum trafen gerade hier die zugereisten modernen Menschen <strong>und</strong> die Neandertaler<br />

aufeinander?<br />

Werner: Ob dieses Zusammentreffen von Neandertalern <strong>und</strong> modernen Menschen auf der<br />

Schwäbischen Alb stattgef<strong>und</strong>en hat, ist nicht sicher. Nach dem bisherigen Stand der<br />

Forschung ist es sogar so, dass zwischen den F<strong>und</strong>schichten der letzten Neandertaler <strong>und</strong><br />

denen der ersten modernen Menschen auf der Schwäbischen Alb eine f<strong>und</strong>leere Schicht liegt.<br />

Das Verbreitungsgebiet der Neandertaler reichte von Spanien bis nach Usbekistan.<br />

Theoretisch könnte ein Zusammentreffen dieser Menschenarten an mehreren Orten<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben. Fakt ist, dass der moderne Mensch bei seinem Vordringen nach Europa<br />

den Neandertaler immer weiter zurückdrängte, bis der letzte Neandertaler vor etwa 27.000<br />

Jahren in Südspanien sein Leben beendete.


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 50<br />

EM: Die Menschen der damaligen Zeit haben Ihren Schilderungen zufolge im Schutz von<br />

Höhlen gelebt, um die harten Winter zu überstehen. In mehreren dieser heute noch<br />

bestehenden Höhlen haben Wissenschaftler sensationelle F<strong>und</strong>e gemacht. Die Venus von<br />

Schelklingen aus dem Hohlen Fels ist die neueste Entdeckung. Sechs Zentimeter klein, 33<br />

Gramm leicht, vor 35.000 Jahren mit Steinwerkzeugen aus Mammut-Elfenbein geschnitzt.<br />

Was sagen uns diese ältesten, weltweit entdeckten Menschendarstellungen?<br />

Werner: Als Jäger <strong>und</strong> Sammler waren die modernen Menschen der Altsteinzeit auf eine<br />

mobile Lebensweise angewiesen. Sehr wahrscheinlich suchten sie die Höhlen nur für kurze<br />

Zeit auf, die meiste Zeit lebten sie in zeltähnlichen Behausungen. Dass sich die F<strong>und</strong>e in den<br />

Höhlen konzentrieren, liegt nur an den besonderen Erhaltungsbedingungen dort. Die<br />

ältesten Menschendarstellungen lassen vielerlei Interpretationen zu. Sicher ist nur, dass sich<br />

vor etwa 40.000 Jahren die ersten Menschen nicht mehr mit der Herstellung von Waffen<br />

begnügt haben. Auffällig ist, dass sich die so genannten Venus-Figuren über ganz Europa<br />

verstreut finden. Neben der bekannten Venus von Willendorf gibt es noch viele weitere, so<br />

etwa eine aus dem russischen Kostienki. Neben der großen räumlichen Streuung ist auch der<br />

zeitliche Abstand der Figuren auffällig. So ist die neu gef<strong>und</strong>ene Figur aus Schelklingen etwa<br />

10.000 Jahre älter als die Figur aus Willendorf.<br />

Jäger trugen die Elfenbeinfiguren als magischen Halsschmuck<br />

EM: Waren solche Figuren in der Hauptsache Schmuckstücke oder hatten sie eine tiefere,<br />

spirituelle Bedeutung?<br />

Werner: Bei manchen Figuren lässt sich eine Öse erkennen, durch die ein Lederriemen<br />

gezogen wurde. Auch bei der Venus aus Schelklingen ist das so. Aus diesem Gr<strong>und</strong> kann man<br />

annehmen, dass die Figuren zum Teil um den Hals getragen wurden. Es gibt allerdings eine<br />

Ausnahme: den Löwenmensch aus dem Hohlenstein-Stadel im Lonetal. Diese Figur ist etwa<br />

30cm groß <strong>und</strong> wurde ebenfalls aus Mammutelfenbein geschnitzt. Schon auf Gr<strong>und</strong> ihrer<br />

Größe <strong>und</strong> ihres Gewichtes kann diese Figur nicht als Halsschmuck gedient haben.<br />

Ob diese Figuren eine spirituelle Bedeutung hatten, lässt sich nur schwer beantworten. Sicher<br />

wurden sie nicht aus einer momentanen Laune heraus geschnitzt, dazu war der zeitliche<br />

Aufwand für ihre Herstellung, wie man experimentell nachweisen konnte, viel zu hoch.<br />

EM: Die Venus von Schelklingen gilt wegen ihrer überdimensionierten Geschlechtsorgane<br />

als Fruchtbarkeitssymbol. In Ihrem Buch schildern Sie an mehreren Stellen die große<br />

Bedeutung der Menschenzahl für die damals auf der Alb lebenden Sippen <strong>und</strong> Clans. Was ist<br />

der Hintergr<strong>und</strong>?<br />

Werner: Sicher spielten die Fortpflanzung <strong>und</strong> das Überleben der Nachkommenschaft eine<br />

zentrale Rolle im Leben der Menschen. Der Bezug zur Fruchtbarkeit bei den Venus-Figuren<br />

ist augenfällig. Die Deutung reicht jedoch von steinzeitlichen Pin-Ups bis hin zu präreligiösen<br />

Kultobjekten.<br />

EM: Vor 35.000 Jahren waren die heute herrschenden Buchreligionen noch nicht erf<strong>und</strong>en.<br />

Hatten die Kunstwerke aus Mammut-Elfenbein auch eine religiöse Bedeutung?<br />

Werner: Das ist denkbar, aber nicht erwiesen.<br />

EM: Wer hat solche Schmuckstücke getragen?<br />

Werner: In meiner Erzählung werden die Figuren von Jägern getragen. Vielleicht waren die<br />

dargestellten Tiere Bestandteil einer Jagdmagie.


Frühlingsfest der Steinzeit-Clans<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 51<br />

EM: Das Frühlingsfest, an dem sich die Clans einmal im Jahr trafen, wird von Ihnen sehr<br />

eindringlich beschrieben. Hatte es wirklich diese überragende Bedeutung?<br />

Werner: Die Untersuchung jägerischer Gemeinschaften der Arktis <strong>und</strong> Subarktis hat<br />

gezeigt, dass die stabilste soziale Einheit eine sog. Lokalgruppe von etwa 25 bis 30 Personen<br />

ist. Eine Zusammenkunft von mehreren Lokalgruppen zu einer größeren Regionalgruppe<br />

wurde von Ethnologen oft beobachtet <strong>und</strong> ist von großer Bedeutung für kulturellen<br />

Austausch <strong>und</strong> Partnerwahl. Diese Erkenntnisse habe ich in meinem Buch verwendet.<br />

EM: Sie beschreiben auch eine Reihe von spirituellen Fähigkeiten bei einzelnen handelnden<br />

Figuren Ihrer Erzählung. So zum Beispiel das Erfühlen eines Tieres schon aus weiter<br />

Entfernung oder auch das schamanenartige Verlassen des Körpers, um Einblick in das Lager<br />

anderer Menschen zu nehmen. Hatte Spiritualität zur damaligen Zeit eine so große<br />

Bedeutung?<br />

Werner: Schamanismus gilt als die älteste <strong>und</strong> ursprünglichste Form religiöser Betätigung<br />

<strong>und</strong> wurde schon verschiedentlich zur Erklärung eiszeitlicher Kunst herangezogen. Von<br />

rezenten Naturvölkern ist die Verwandlung des Schamanen in ein Tier belegt. Deshalb legen<br />

die Darstellung von Mischwesen in der Höhlenkunst <strong>und</strong> verschiedene Schnitzereien aus den<br />

Höhlen der Schwäbischen Alb eine solche Deutung nahe. Auch hier möchte ich noch einmal<br />

auf den Löwenmenschen aus dem Hohlenstein-Stadel hinweisen, der einen Löwenkopf auf<br />

einem menschlichen Körper trägt.<br />

Am abendlichen Feuer erklangen Melodien auf der Elfenbein-Flöte<br />

EM: Hat es so etwas wie Liebe unter den damaligen Menschen gegeben, oder waren es reine<br />

Zweckgemeinschaften, Rudel, in denen einer auf den anderen angewiesen war <strong>und</strong> die<br />

deshalb zusammenblieben?<br />

Werner: Die Hersteller der eiszeitlichen Kunstwerke waren Menschen wie wir, Gefühle wie<br />

Liebe <strong>und</strong> Hass waren ihnen nicht fremd. Ein altsteinzeitlicher Clan war mehr als eine<br />

Zweckgemeinschaft, genauso wie das bei noch heute lebenden jägerischen Gruppen der Fall<br />

ist.<br />

EM: In Ihrer Erzählung kommen auch zwischenmenschliche, sexuelle Beziehungen vor.<br />

Demnach gab es kein wildes Paarungsverhalten, sondern Zuneigung <strong>und</strong> Gefühle, wie wir sie<br />

auch kennen. Was mag das Sexualleben <strong>und</strong> die Moral der damaligen Zeit von unserer<br />

heutigen unterschieden haben?<br />

Werner: Es gibt es sehr unterschiedliche Moralvorstellungen, je nach dem, welcher Kultur<br />

man angehört. Die Vorstellungen der altsteinzeitlichen Menschen kommen, so denke ich,<br />

denen rezenter Naturvölker mit verschiedenen Initiationsriten nahe. Verwandtschaftliche<br />

Beziehungen waren wichtig, auch eine gewisse Art der Geburtenkontrolle ist denkbar.<br />

EM: In den Höhlen der Schwäbischen Alb wurden sogar 30.000 Jahre alte<br />

Musikinstrumente aus Elfenbein gef<strong>und</strong>en. Hat der Steinzeitmann etwa seiner Gefährtin auf<br />

der Flöte vorgespielt, das Kind auf den Knien geschaukelt <strong>und</strong> sich dafür als Teilzeitvater eine<br />

Weile vom Jagdbetrieb des Clans abgemeldet?<br />

Werner: Einen Sinn für das Schöne kann man den Herstellern der Eiszeitkunstwerke nicht<br />

absprechen. Die perfekt geschnitzten Darstellungen von Mammut, Pferd <strong>und</strong> Löwe lassen<br />

uns noch heute staunen. Ich kann mir gut vorstellen, dass am abendlichen Feuer eine


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 52<br />

Melodie auf einer Flöte gespielt wurde, denn so etwas stärkte das Gefühl der<br />

Zusammengehörigkeit. Und dies war wiederum wichtig für das Überleben der Menschen.<br />

EM: Herr Werner, haben Sie herzlichen Dank für dieses Gespräch.<br />

Das Interview führte Hans Wagner


GELESEN<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 53<br />

„Eiszeitjäger auf der Schwäbischen Alb“ von Jürgen<br />

Werner<br />

Wie das Leben vor 40.000 Jahren auf der Schwäbischen Alb ausgesehen hat,<br />

wie bei Eis <strong>und</strong> Schnee Tiere gejagt wurden <strong>und</strong> wie der moderne Mensch auf<br />

den Neandertaler traf - das alles wird hier lebendig.<br />

Von Hans Wagner<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

„Eiszeitjäger auf der Schwäbischen<br />

Alb“ von Jürgen Werner<br />

„Fünf Männer blicken über einen Felsvorsprung<br />

vorsichtig hinüber an das Flussufer. Sie verständigen<br />

sich durch Zeichen <strong>und</strong> achten sorgsam darauf, jeden<br />

Laut zu vermeiden.“ So beginnt der Autor den<br />

Erzählteil seines Buches, das vor r<strong>und</strong> 40.000 Jahren<br />

spielt.<br />

Die Männer sind auf der Jagd. Sie wollen wilde Pferde<br />

erlegen <strong>und</strong> „zu Hause“ im Jägerclan warten Frauen,<br />

Kinder <strong>und</strong> alte Leute dringend auf das frische<br />

Fleisch. Es ist Winter <strong>und</strong> als Vegetarier hätten die<br />

Eiszeitmenschen keine Chance.<br />

Mensch <strong>und</strong> Löwe jagten die gleiche Beute<br />

„Die Menschen des Clans achteten den Löwen als ein<br />

ihnen ebenbürtiges Lebewesen. Denn die Löwen<br />

jagten dieselben Tiere wie die Menschen <strong>und</strong> sie jagten wie die Menschen meist im Rudel.<br />

Ein Löwenrudel war sogar in etwa so groß wie der Menschenclan.“<br />

Die Tierwelt der Eiszeit wird in Jürgen Werners Buch lebendig: Neben wilden Pferden <strong>und</strong><br />

Löwen waren es vor allem das Mammut <strong>und</strong> die Hyäne, die ihre Wege kreuzten. Hyänen<br />

trachteten nach der Beute des Eiszeitmenschen, so dass das mühsam erjagte Wild immer gut<br />

bewacht werden musste. In den Höhlen der Alb waren es ebenfalls die Hyänen, die den<br />

gleichen menschlichen Lebensraum beanspruchten. Von beiden gibt es besonders viele<br />

Spuren in den Karsthöhlen des Juras.<br />

Werner beschreibt die Unterschiede in den Jagdstrategien. Er schildert neben dem Clan der<br />

Jäger, die wie das Löwenrudel jagten, einen Clan der Sumpfmenschen. Dieser trieb das zu<br />

erlegende Tier in die Untiefen der Flüsse, wo es bis über den Bauch versank <strong>und</strong> mit den<br />

Speeren erlegt werden konnte. Und es kommt ein Clan der Fallensteller vor, der die<br />

Mammuts in Gruben fing <strong>und</strong> tötete.<br />

Das ewige Eis vor Augen<br />

Beim Frühlingsfest trafen die Clans zusammen, hielten gemeinsam eine Jagd ab. Vom<br />

Feuerberg aus war beim Blick nach Süden die Kette der eisbedeckten Alpen- <strong>und</strong><br />

Voralpenberge sichtbar. „Man sah bis in die Gegend des ewigen Eises.“<br />

Menschen mit besonderen spirituellen Fähigkeiten tauchen auf. Elfenbeinschnitzer, die aus<br />

den Stoßzähnen der Mammute Kunstwerke der Jagdmagie schufen. Und auch in der Eiszeit<br />

gab es schon das, was 40.000 Jahre später der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck so


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 54<br />

formulierte: „Es wird nie so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges <strong>und</strong> nach der<br />

Jagd.“<br />

Die Clanmenschen <strong>und</strong> die Erdmenschen<br />

Viele magische Augenblicke werden in der Erzählung lebendig. Vorahnungen <strong>und</strong><br />

Löwenzauber, die Bedeutung von Trophäen, die Angst in den Eisnächten, heilsame<br />

Birkenrinden <strong>und</strong> das Sterben von Weggefährten. Die modernen Menschen der Clans treffen<br />

immer wieder auf die Erdmenschen, womit die Neandertaler gemeint sind. Als ein Mann<br />

vom Clan bei den Erdmenschen landet, tasten die Frauen zwischen seine Beine, ob er auch so<br />

beschaffen sei wie ihre Männer.<br />

Das Höhlenleben <strong>und</strong> die vielen kleinen Dinge des Alltags eines Menschen in der Eiszeit<br />

werden lebendig, ebenso Gefühle, Schamanismus, Liebe. das ist das große Verdienst des<br />

Autors, dass er den Begriff „Eiszeitjäger“ in seiner ganzen Dramatik sichtbar werden lässt<br />

<strong>und</strong> ihn spannend <strong>und</strong> mit großer Sachk<strong>und</strong>e erzählt.<br />

Rezension zu: „“Eiszeitjäger auf der Schwäbischen Alb“ von Jürgen Werner, Gerhard Hess<br />

Verlag 2008, 172 Seiten, Zeichnungen, Grabungsberichte <strong>und</strong> Quellen im Anhang, 12,90<br />

Euro, ISBN 978-3873363595 .*<br />

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GELESEN<br />

© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 55<br />

„Die Amazonen – Töchter von Liebe <strong>und</strong> Krieg“ von<br />

Hedwig Appelt<br />

Dieses Buch handelt von kühnen Kämpferinnen, die mutig waren, stark <strong>und</strong><br />

kriegerisch: den Amazonen. Sie konnten reiten <strong>und</strong> kämpfen, waren mutig <strong>und</strong><br />

stark - <strong>und</strong> brauchten Männer nur zur gelegentlichen Fortpflanzung. Sie sind<br />

ein Mythos <strong>und</strong> haben seit jeher die Phantasie beflügelt. Jetzt diejenige von<br />

Hedwig Appelt, Literaturwissenschaftlerin, selbst leidenschaftliche Reiterin<br />

<strong>und</strong> beruflich zu Hause in der Werbebranche.<br />

Von Johann von Arnsberg<br />

EM 06-09 · 02.06.2009<br />

„Die Amazonen. Töchter von Liebe<br />

<strong>und</strong> Krieg“ von Hedwig Appelt<br />

on den Küsten des Schwarzen Meeres über<br />

Kleinasien <strong>und</strong> Griechenland bis hin nach<br />

Afrika soll es sie gegeben haben, <strong>und</strong> sogar in<br />

Südamerika. Heißt der große Strom nicht Amazonas?<br />

Überall wird von ihnen berichtet, erzählt, durch die<br />

mündliche Tradition oder die darstellende Kunst.<br />

Jedes Kind <strong>und</strong> jeder Erwachsene des griechischen<br />

Kulturkreises wird daher unweigerlich gewusst<br />

haben, wer diese sagenhaften Frauen gewesen sind.<br />

Aber niemand wird Amazonen je zu Gesicht<br />

bekommen haben, zumindest nicht so, wie sie in den<br />

Legenden beschrieben wurden. Die „Töchter des<br />

griechischen Kriegsgottes Ares“ werden sie genannt.<br />

Es sind legendäre Gestalten wie Penthesilea <strong>und</strong><br />

Hippolyte, heldenhafte Kämpferinnen, die sich auch<br />

gegen männliche Krieger behaupten konnten. Von der<br />

Archäologie wurde ihre Existenz bislang nicht bestätigt. Aber der Mythos lebt.<br />

Amazonen – die Einbrüstigen<br />

Die griechische Bezeichnung „Amazone“ wird von der Autorin auf a-mazos (brustlos)<br />

zurückgeführt. Dies ist allerdings umstritten. Nach dieser Darstellung sollen die Amazonen<br />

ihren kleinen Töchtern die rechte Brust ausgebrannt haben, damit diese später den Bogen<br />

ungehindert abschießen konnten. Hedwig Appelt spricht davon, dass Amazonen sich<br />

freiwillig die Brust abgeschnitten haben als Initiationsritual.<br />

Mit diesem Akt hätten die Frauen sich als Amazonen neu geboren. Und weshalb das Ganze?<br />

Der Amazonenmythos läge in einer Situation, als alle Männer eines Skythenstammes im<br />

Kampf gefallen waren <strong>und</strong> die Frauen sich nicht von Nachbarvölkern unterjochen lassen<br />

wollten. So hätten sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, einen eigenen Staat ohne<br />

Männer gegründet <strong>und</strong> gekämpft. Die Autorin: „Sie haben sich von der Gemeinschaft der<br />

Männer losgesagt.“<br />

Diese sagenhaften Amazonen bevölkern die griechischen Mythen, aber sie sind nicht zu<br />

fassen. Sie reiten durch die antike Männerwelt, die nicht zuletzt geprägt war von Knabenliebe<br />

<strong>und</strong> männlichen Olympischen Spielen, als hätte man ihre legendären Gestalten zur<br />

Kompensation schmerzhaft nötig gehabt.<br />

Antiker Kronzeuge Hippokrates


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 56<br />

Als das Eurasische <strong>Magazin</strong> den bekannten Archäologen <strong>und</strong> Skythenkenner Hermann<br />

Parzinger im Interview einmal fragte, ob er oder Kollegen bei ihren Ausgrabungen in den<br />

Kurganen (Grabpyramiden) der skythischen Steppe jemals auf Anhaltspunkte dafür gestoßen<br />

seien, dass es Amazonen gegeben habe, sagte er: „Es gibt zwar den Amazonenmythos, aber<br />

den darf man nicht so ernst nehmen. Sicher ist es vorgekommen, dass Frauen das Lager der<br />

Jurten verteidigt haben, wenn die Männer alle zum Kampf unterwegs waren oder neue<br />

Weidegründe gesucht haben. Es wurden auch Frauen mit männlicher Bewaffnung in den<br />

Eiskurganen des Altais gef<strong>und</strong>en. In anderen Regionen der skythischen Welt, in der Steppe<br />

sind solche F<strong>und</strong>e ebenfalls gemacht worden. Aber es gab keine archäologischen Belege für<br />

Amazonenheere – das ist eine Ausschmückung der Geschichtsschreibung.“<br />

Aber immerhin – bewaffnete Frauen <strong>und</strong> mit ihren Waffen beigesetzte Kämpferinnen hat es<br />

ganz offensichtlich gegeben. Von diesen erzählt die Autorin. Es ist ein packender Stoff, der<br />

durchaus unter die Haut geht. Und dass er nichts von seiner Faszination verloren hat, auch<br />

nicht für Frauen, zeigt unser Beitrag Moderne Amazonen in dieser Ausgabe, der in der<br />

Ukraine spielt.<br />

Der große griechische Arzt Hippokrates berichtet in einer Schilderung der benachbarten<br />

Steppenbewohner am Asowschen Meer. Dort gäbe es einen Skythenstamm, der sich von den<br />

übrigen Stämmen unterscheide. Ihre Frauen würden reiten, mit dem Bogen schießen, den<br />

Wurfspeer vom Pferd herab schleudern <strong>und</strong>, solange sie Jungfrauen seien, gegen die Feinde<br />

kämpfen. Hippokrates behauptet, sie gäben ihre Jungfrauschaft nicht auf, bevor sie drei<br />

Gegner getötet hätten. Ihnen fehle die rechte Brust.<br />

Und die Jungfrau von Orleans?<br />

Auch wenn es Hippolyte, die Königin der Amazonen, Königin Tomyris bei den skythischen<br />

Amazonen <strong>und</strong> die von Achilles getötete von Penthesilea nicht gegeben hat: ihre Legenden<br />

sind lebendig seit Jahrtausenden. Und mit der Jungfrau von Orleans, der legendären Jeanne<br />

D’Arc, ist die Legende im westlichen Europa angekommen.<br />

Heute kennen wir Filmheldinnen wie Lara Croft, die als moderne Amazonen durchgehen<br />

könnten. Die historischen Heldinnen sollen ursprünglich aus einer Affäre zwischen der<br />

verheirateten Aphrodite, der Göttin der Liebe, <strong>und</strong> dem wilden Kriegsgott Ares<br />

hervorgegangen sein. Aphrodite gebar demnach eine Tochter namens Harmonia, die Jahre<br />

später ihrem Vater Ares begegnete. Und er soll mit ihr die kriegerischen Amazonen gezeugt<br />

haben. – Aber es endete tragisch. Die Amazonenkönigin Hippolyte verliebte sich in Theseus,<br />

den König von Athen. Bei der entscheidenden Schlacht mit den Athenern stellte sie sich<br />

gegen das eigene Amazonenvolk. Penthesilea wurde getäuscht, glaubte den Helden Achill zu<br />

lieben <strong>und</strong> auch hier gab es ein tragisches Ende.<br />

Saisonale Samenspender<br />

Hedwig Appelt hat eigene Vorstellungen. Heute gälten Amazonen als Fabelwesen, damals<br />

jedoch wurde von ihnen gesprochen wie von realen Wesen. Bei den Griechen war das kaum<br />

mehr zu unterscheiden. Götter, Fabelwesen, Werwölfe etc. waren in ihrer Welt zumindest in<br />

Erzählungen allgegenwärtig –so auch die Amazonen, jene „einbrüstigen Frauen, die Männer<br />

scharenweise hingemetzelt haben“, wie die Autorin in Interviews k<strong>und</strong>tut.<br />

Das Amazonendrama Heinrich von Kleists habe die Anregung zu ihrem Buch geliefert, in<br />

dem Männer keine besondere Rolle spielten. Sie hatten ausschließlich die Voraussetzungen<br />

für den Nachwuchs zu liefern. Demnach waren die Amazonen so etwas wie antike<br />

Samenräuberinnen. Auch wenn es nicht in der Besenkammer passierte, wie angeblich beim<br />

Tennishelden Boris Becker <strong>und</strong> seiner Anna.


© Eurasischer Verlag Hans Wagner 2009<br />

<strong>Eurasisches</strong> <strong>Magazin</strong> – Mai 2009 · Seite 57<br />

Hedwig Appelt berichtet davon, dass die Amazonen „rituelle Auszeiten vom Krieg nahmen“.<br />

In diesen Zeiten hätten sie sich mit Männern gepaart, die ihnen über den Weg liefen. Nahezu<br />

tierisch, promiskuitiv möge das den Zeitgenossen erschienen sein. Angetan dazu, sich über<br />

die Maßen zu erregen. Die Autorin: Acht Wochen lang im Frühling, im April <strong>und</strong> Mai, wären<br />

die saisonalen Zeuger <strong>und</strong> Samenspender zugelassen gewesen. Die Fortpflanzung habe<br />

stattgef<strong>und</strong>en, „wahllos im Freien, auf der Wiese in Feld <strong>und</strong> Hain.“ Sex wo immer es sich<br />

auch ergab.“ Die Amazonen hatten nach Möglichkeit mit einem Mädchen schwanger zu sein,<br />

<strong>und</strong> die Erzeuger mussten wieder verschwinden <strong>und</strong> in ihre heimatlichen Gefilde<br />

zurückkehren – bis zur nächsten Saison.<br />

Rezension zu „Die Amazonen. Töchter von Liebe <strong>und</strong> Krieg“ von Hedwig Appelt, Theiss<br />

Verlag 2009, 192 Seiten mit 10 farbigen Abbildungen, 19,90. Euro, 978-3806222241.<br />

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