Dokumentation des Kongresses 1995 in Bonn - Landschaftsverband ...

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05.01.2013 Aufrufe

44 Küche). Rauchverbote, Alkoholkonsum, Nachtruhe waren ähnlich problematische Bereiche wie in anderen Jugendgruppen auch.(...) Es war schmerzlich mitanzusehen, wie unbeholfen, linkisch sich einige Jugendliche in Anforderungssituationen verhielten. Trotz unserer intensiven Vorbereitung: Nicht wenige behaupteten, sie hätten Abseilen, Sichern, Einbinden ins Kletterzeug, Trapez, Seilbrücken noch nie gemacht. Ich war teilweise schockiert. Ursachen? Angst, keine Lust, zu geringes Selbstvertrauen... Sie wirken in der Erinnerung und Umsetzung kognitiv unbeweglich!(...) Zum Beispiel Thomas: War eine echte Stütze. Er nahm bereitwillig alle übertragenen Aufgaben an. Er zieht inzwischen für sich genau und deutlich Grenzen, und das in einer sozialverträglichen, offenen und ehrlichen, sich selbst gegenüber verkraftbaren Form. Fast unbemerkt übernahm er Führungsaufgaben, war bemüht zu helfen und auszugleichen. Unter Streß sind keinerlei Überreaktionen zu verzeichnen, er ist ruhig und besonnen. Er konnte sich immer wieder mobilisieren und mobilisiert werden. Zum Beispiel Ronny: Er belastete die Gruppe und war eine Last für sich selbst! Er lag bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten im Bett und schlief. Sein Phlegma als Kompensationsstrategie für erlernte und körperliche manifeste Hilflosigkeit und Unbeweglichkeit lähmte seine Kameraden. Er schien durch nichts berührbar. Soviel Gleichgültigkeit als Panzer habe ich selten gesehen. Logisch wurde er zum Blitzableiter. Zum Beispiel Marcel: Er tat immer das Notwendige; aber ihm eine Äußerung zu entlocken, war schier unmöglich. Er gab keinen Anlaß zur Kritik. Auf wohlgemeinte Aufmunterungen reagierte er nicht. Ich bin stundenlang hinter ihm her gelaufen – und es ist mir nicht gelungen, mehr als vier Worte im Stück aus ihm herauszuzaubern.“ Zum Beispiel David: Man kann ihn motivieren – und er ist leistungsfähig. Aber er kann Situationen kaum einschätzen, ist nur auf sich bezogen, nimmt seine Umgebung kaum wahr. Er macht, was ihm einfällt, ohne Konsequenzen zu bedenken. Er reagiert plötzlich, unerwartet, zeigt aktionistische Zerstörungswut. Er verweigert Flüssigkeitsaufnahme bei drohendem Hitzschlag; er latscht durch abrutschgefährdete Eisfelder, obwohl auch noch andere am Seil hängen; er tritt aus Frust gegen Steine, die dann auf unter ihm laufende Jugendliche fallen können. Er tritt die Tür zur Gasversorgung im Haus ein, wenn er sich ärgert. Er klaut. Ansonsten erscheint er kindlich, scheffelt bei den Erwachsenen damit Rührung und demzufolge Hilfsbereitschaft. Wenn man ihn in Reichweite hat, geht es. Und wenn er ein für sich lohnendes Ziel sieht – selten eines, das wir mit ihm teilen –, dann zieht er los wie eine Dampflok, ist nicht zu halten.“ Dieser Jugendliche ist prototypisch für eine Teilklientel, die uns zunehmend ratlos macht. Ich zitiere sinngemäß dazu zwei Stimmen aus der Jugendhilfeszene: „Das Problem ist, daß die Kinder und Jugendlichen zunächst nicht den Eindruck machen, als wäre bei ihnen etwas nicht in Ordnung. Du denkst: „Die sind gut drauf“. Die Probleme sind anfangs hinter der Fassade aus Willigkeitspose, Scheinkompetenz, Einsichtsattitüde versteckt. Wie kann man das nennen, was bei denen los ist? Irgendetwas ist mit dem oder der. Aber was? Der schlägt auf andere ein. Der tut sich was an. Das passiert beinahe gleichzeitig. Aber du kannst nicht sagen, was war der Impuls. Das kommt alles scheinbar ohne Sinn und Ziel. Du merkst

zwar, daß der mal depressiv ist oder zwanghaft oder fahnenflüchtig oder ungeordnet. Und dann scheint der oder die wieder ganz klar. Und plötzlich, ganz unerwartet, da bricht alles zusammen. Da kommt die ganze Labilität zum Vorschein und die Strukturlosigkeit, die Angst. Also, das bricht aus denen heraus, ohne daß da ein Grund erkennbar wäre.“ „Und der Jugendliche antwortet überhaupt nicht auf das, was du ihm sagst, ihm durch Verhalten, Impulse vorsetzt, sondern reagiert auf Assoziationen, die sich aus seinem mehr oder weniger diffusen Innenleben entwickeln, aus Phantasie und Träumen, Bildern aus Filmen und gepumpten Szenen, aus erlittenen Kränkungen und frühen Traumata. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wieso der mir mit diesem Verhalten begegnet. Und es ist kein „Meta“ möglich, du kannst das nicht thematisieren, besprechen, durcharbeiten. Schon überhaupt nicht in der Akutsituation und auch nicht etwas oder sehr viel später danach. Du rennst dann gegen Beton“ Zurück zur Reise: „Insgesamt war ich enttäuscht: Sie können und/oder wollen nicht zuhören. Ich erlebe sie nicht als belastbar, und ich vermißte Ehrgeiz. Meine Schlußfolgerungen für unsere Arbeit im zweiten Jahr: – Situationen diversifizieren, zergliedern, individualisieren und differenzieren. Und dann Sackgassen und Knoten festhalten, wahrnehmen lassen und als Dilemmata erlebbar machen. Verschiedenartige Anforderungssituationen müssen Lösungsstrategien sachlogisch erfordern. Ich empfehle: Situationen immer wieder besprechen, jeden Einzelnen sein Verhalten überprüfen lassen. – Überraschungen schaffen. Aber dann kommt es auf die Einhilfen an. – Körperliche und geistige Kondition und Beweglichkeit trainieren. – Subjektive Haltungen wachsen lassen und festigen: „Selbstwertgefühl („Ich kann das!“); Wille („Ich will das! Ich brauche das!“). Entschuldigung: Sie müssen mehr leiden, in dem Sinn „Wenn ich das und das will, dann stört mich jenes nicht entscheidend, dann ertrage ich dieses oder jenes.“ Sie müssen mehr von sich verlangen, weil sie mehr könn(t)en. – Sie müssen ihre Körper positiv erleben: „Ich habe Kraft. Ich habe in mir ein wunderbares Instrument. Meine Füße sind nicht nur dazu da, um Gas zu geben oder Pedale zu treten. Meine Hände können viel mehr, als eine Zigarette zu halten. Mein Körper empfindet mit mir Freude und Qualen. Und nicht zuletzt: Ich muß auf mich aufpassen.“ – Team: „Es gibt jemanden, mit dem ich zusammenarbeite. Er ist auf mich, ich bin auf ihn verwiesen. Er hilft mir, wenn ich bereit bin, ihm zu helfen.“ Bilanz In der ”Schule des Lebens” wird exemplarisch nachgewiesen, daß der KJHG–Katalog der Hilfen zur Erziehung keine abgeschlossene Aufzählung beinhaltet, sondern tragfähige Alternativen zur Heimerziehung auch und gerade durch Grenzüberschreitungen möglich sind. Für die Jugendhilfe sind wir ein Geschenk des Himmels. Die Einmischungsstrategie in den Bildungsbereich gelang, Ressourcenbündelung führt zu vertretbaren Ko- 45

zwar, daß der mal depressiv ist oder zwanghaft oder fahnenflüchtig oder ungeordnet.<br />

Und dann sche<strong>in</strong>t der oder die wieder ganz klar. Und plötzlich, ganz unerwartet,<br />

da bricht alles zusammen. Da kommt die ganze Labilität zum Vorsche<strong>in</strong> und<br />

die Strukturlosigkeit, die Angst. Also, das bricht aus denen heraus, ohne daß da<br />

e<strong>in</strong> Grund erkennbar wäre.“<br />

„Und der Jugendliche antwortet überhaupt nicht auf das, was du ihm sagst, ihm<br />

durch Verhalten, Impulse vorsetzt, sondern reagiert auf Assoziationen, die sich<br />

aus se<strong>in</strong>em mehr oder weniger diffusen Innenleben entwickeln, aus Phantasie und<br />

Träumen, Bildern aus Filmen und gepumpten Szenen, aus erlittenen Kränkungen<br />

und frühen Traumata. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wieso der mir mit diesem<br />

Verhalten begegnet. Und es ist ke<strong>in</strong> „Meta“ möglich, du kannst das nicht<br />

thematisieren, besprechen, durcharbeiten. Schon überhaupt nicht <strong>in</strong> der Akutsituation<br />

und auch nicht etwas oder sehr viel später danach. Du rennst dann gegen<br />

Beton“<br />

Zurück zur Reise: „Insgesamt war ich enttäuscht: Sie können und/oder wollen<br />

nicht zuhören. Ich erlebe sie nicht als belastbar, und ich vermißte Ehrgeiz. Me<strong>in</strong>e<br />

Schlußfolgerungen für unsere Arbeit im zweiten Jahr:<br />

– Situationen diversifizieren, zergliedern, <strong>in</strong>dividualisieren und differenzieren. Und<br />

dann Sackgassen und Knoten festhalten, wahrnehmen lassen und als Dilemmata<br />

erlebbar machen. Verschiedenartige Anforderungssituationen müssen Lösungsstrategien<br />

sachlogisch erfordern. Ich empfehle: Situationen immer wieder besprechen,<br />

jeden E<strong>in</strong>zelnen se<strong>in</strong> Verhalten überprüfen lassen.<br />

– Überraschungen schaffen. Aber dann kommt es auf die E<strong>in</strong>hilfen an.<br />

– Körperliche und geistige Kondition und Beweglichkeit tra<strong>in</strong>ieren.<br />

– Subjektive Haltungen wachsen lassen und festigen: „Selbstwertgefühl („Ich kann<br />

das!“); Wille („Ich will das! Ich brauche das!“). Entschuldigung: Sie müssen mehr<br />

leiden, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n „Wenn ich das und das will, dann stört mich jenes nicht<br />

entscheidend, dann ertrage ich dieses oder jenes.“ Sie müssen mehr von sich<br />

verlangen, weil sie mehr könn(t)en.<br />

– Sie müssen ihre Körper positiv erleben: „Ich habe Kraft. Ich habe <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> wunderbares<br />

Instrument. Me<strong>in</strong>e Füße s<strong>in</strong>d nicht nur dazu da, um Gas zu geben oder<br />

Pedale zu treten. Me<strong>in</strong>e Hände können viel mehr, als e<strong>in</strong>e Zigarette zu halten.<br />

Me<strong>in</strong> Körper empf<strong>in</strong>det mit mir Freude und Qualen. Und nicht zuletzt: Ich muß<br />

auf mich aufpassen.“<br />

– Team: „Es gibt jemanden, mit dem ich zusammenarbeite. Er ist auf mich, ich b<strong>in</strong><br />

auf ihn verwiesen. Er hilft mir, wenn ich bereit b<strong>in</strong>, ihm zu helfen.“<br />

Bilanz<br />

In der ”Schule <strong>des</strong> Lebens” wird exemplarisch nachgewiesen, daß der KJHG–Katalog<br />

der Hilfen zur Erziehung ke<strong>in</strong>e abgeschlossene Aufzählung be<strong>in</strong>haltet, sondern<br />

tragfähige Alternativen zur Heimerziehung auch und gerade durch Grenzüberschreitungen<br />

möglich s<strong>in</strong>d.<br />

Für die Jugendhilfe s<strong>in</strong>d wir e<strong>in</strong> Geschenk <strong>des</strong> Himmels. Die E<strong>in</strong>mischungsstrategie<br />

<strong>in</strong> den Bildungsbereich gelang, Ressourcenbündelung führt zu vertretbaren Ko-<br />

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