Dokumentation des Kongresses 1995 in Bonn - Landschaftsverband ...
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30 der nicht mal das Wort „Stuhl“ richtig schreiben kann?! Stil und auch Inhalt spielen sowieso keine große Rolle an der Hauptschule. Es klingelt. Vier meiner Schüler und Schülerinnen stehen vor der Tür. Mark drückt mir verlegen eine Rose in die Hand. Wir sitzen den Nachmittag im Wohnzimmer, hören Musik, reden über Eltern, Liebe, Schule. Sie wollen sich Mühe geben. Ich denke, ich bin zur Hälfte Sozialpädagogin. Und die andere Hälfte...?“ – Klassenfahrt: Ausgelassenheit, Spielen, Grillen, Anvertrauen, Rührung... Schule ist nicht schuld. Aber die Institution hat, ob sie will oder nicht, elementare Sozialisationsleistungen zu vollbringen, weil sich vieles nicht mehr von allein versteht. Sie ist – Lernort und Lebensraum – Platz für Bildung und Beziehung, Geselligkeit, Freundschaft – Kontext für Zertifikationserwerb und jugendlichen Ausdruckselan – Milieu für Selektionsstreß und freundliche Umgangserwartung. Schule muß also bis Klasse 10 Primärerfahrungen ermöglichen, etwa: Zuhören und Resonanz spürbar werden lassen, Daseinsberechtigung und Werterleben abstützen, mangelnde Beheimatung und Geborgenheitsdefizite kompensieren, Konfliktkultur installieren und Zukunftsoptimismus miterzeugen u. a. m.. Nicht zuletzt, das wollen auch Eltern: Schule soll traditionell qualifizieren, muß beurteilen, sieben, letztlich plazieren und doch immer auch Randständigkeit und Ausgrenzung verhindern, integrieren etc.. Das bedeutet unter dem Strich manchmal Quadratur des Kreises, aber allemal: Selbstverständnis, Sichtweisen und Raum–Zeit–Sach–Strukturen, Gesellungsformen und methodische und didaktische Prinzipien stehen auf dem Prüfstand. Gäbe es Schule nicht, würde niemand, der Bildung heute völlig neu entwerfen und organisieren dürfte, auf die mit Abstand betrachtet recht absurde Idee kommen, 30 Kinder oder Jugendlichen mit einem Erwachsenen in einen Raum zu sperren, 20 solcher Gebilde in einem Haus zu vereinen und alle 45 Minuten die Erwachsenen rotieren zu lassen. Dieses anachronistische Verfahren ist allerdings kostengünstig und verwaltungsfreundlich. Jedoch, Schule neu denken ist leichter als Schule schülergerecht und lehrerverträglich, gesellschaftsdienlich und als eigenberechtigte Gegenwartszeit, bunt und lebendig, sinnhaft und akzeptiert zu gestalten und machen. Aber richtig bleibt – und in dem durch mich vertretenen Projekt versuchshalber, in der Arbeit mit leistungsschwachen Schülern etabliert – das, was innere Schulreform heute beansprucht und auf Länderebene auch schulgesetzlich absichert: – Auf der Organisationsebene: Selbständigkeit, Profilbildung, dezentrale Mittelverwendung, Öffnung: zur Nachbarschaft, zum Stadtteil zum Beispiel – Auf der Ebene des Unterrichtens, des Bildens, des Lernens: – Binnendifferenzierung, Förderung der Langsamen und Herausforderung der Flotten – Neigungsbezüge durch flexible Stundentafel, also Kerncurriculum (z. B. 60%) plus fakultative Elemente – Offensive Vertretung von exemplarischem Lernverständnis – Freiarbeit und Wochenplanarbeit
– Erfahrungs-, Erlebens-, Jetzigkeitsorientierung – Fächerübergreifender Unterricht, Lernbereichsdidaktik, Projekte – Produkt- und Handlungsausrichtung – Ganztagsschule und Stärkung außerunterrichtlicher Aktivitäten – Lernentwicklungsberichte – Realitätsbezüge, zur Arbeitswelt, zu außerschulischen Lernorten, Einbezug externer Expertinnen und Experten u. ä. Schule beinhaltet und umfaßt – das ist das ABC der Aufgaben- und Funktionsbestimmung — Wissenserwerb — Schon- und Schutzraumfunktion — Einübung in Kultur und Gesellschaft — Ergänzung zur Familienerziehung — Berechtigungverteilung, Lebenschancenzuteilung, Plätzezuweisung für das Morgen Neu ist nunmehr, daß neben dem Lehren (Schüler als Objekt) und Lernen (Schülerin als Subjekt) drei andere Modalitäten auch jenseits des Grundschulbereichs zunehmend Legitimation erlangen: 1. Begleiten, Unterstützen, Beraten oder modern: Hilfe zur Selbstsozialisation, 2. Spiel und Arbeit als berechtigte Bildungsprinzipien und -medien 3. Leben (zulassen), also auch unterrichts- und erziehungsfreie Zeit in Schule erlauben Schule ist nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Das entspricht nicht ihrem Auftrag – und es würde die Institution überfordern. Aber sie muß außerschulische Erfahrungen ernstnehmen und veränderte Bildungsverständnisse ermöglichen. Sonst wird der Vorwurf, daß Schule hochwissenschaftlich bzw. bildungsbürgerlich– zeitwidrig das Falsche anbiete, von Jugendlichen in der Sekundarstufe I so gefüllt, daß ihre Leiber und Seelen sich mehr und mehr in Totstellreflexe, in Emigration, in Widerständigkeit flüchten. Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule Kann die Jugendhilfe, die Sozialpädagogik hier beispringen? Untersuchen wir die Gesetzeslage (aber z. B. auch die Indikationen für Heimerziehung), so fällt zunächst auf, daß für die Jugendhilfe Schule zentral ist, umgekehrt fällt in der Regel kaum ein Nebensatz ab. Allerdings, wenn Jugendhilfe sich selbst wahrnimmt und präsentiert und Schule etikettiert, dann erhalten wir schnell die Polarität des „gut“ versus „böse“. Ich rezitiere, Schule in erster und Sozialpädagogik in zweiter Nennung: – Pflicht, Zwang – Kür, Selbstbestimmung – Leistung – Beziehung: Vertrauen, Unterstützung, Hilfe, daraus mehr oder wenigerableitbar: – Monologisch–direktive Kultur – Dialogische Aushandlungskultur 31
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Ich denke, ich b<strong>in</strong> zur Hälfte Sozialpädagog<strong>in</strong>. Und die andere Hälfte...?“<br />
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Schule ist nicht schuld. Aber die Institution hat, ob sie will oder nicht, elementare<br />
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Schule muß also bis Klasse 10 Primärerfahrungen ermöglichen, etwa: Zuhören<br />
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Das bedeutet unter dem Strich manchmal Quadratur <strong>des</strong> Kreises, aber allemal:<br />
Selbstverständnis, Sichtweisen und Raum–Zeit–Sach–Strukturen, Gesellungsformen<br />
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Gäbe es Schule nicht, würde niemand, der Bildung heute völlig neu entwerfen<br />
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30 K<strong>in</strong>der oder Jugendlichen mit e<strong>in</strong>em Erwachsenen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Raum zu sperren,<br />
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Gegenwartszeit, bunt und lebendig, s<strong>in</strong>nhaft und akzeptiert zu gestalten<br />
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versuchshalber, <strong>in</strong> der Arbeit mit leistungsschwachen Schülern etabliert – das,<br />
was <strong>in</strong>nere Schulreform heute beansprucht und auf Länderebene auch<br />
schulgesetzlich absichert:<br />
– Auf der Organisationsebene: Selbständigkeit, Profilbildung, dezentrale<br />
Mittelverwendung, Öffnung: zur Nachbarschaft, zum Stadtteil zum Beispiel<br />
– Auf der Ebene <strong>des</strong> Unterrichtens, <strong>des</strong> Bildens, <strong>des</strong> Lernens:<br />
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Flotten<br />
– Neigungsbezüge durch flexible Stundentafel, also Kerncurriculum (z. B. 60%) plus<br />
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