Dokumentation des Kongresses 1995 in Bonn - Landschaftsverband ...
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Schulverweigerung<br />
<strong>Dokumentation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kongresses</strong><br />
Schule: statt Pflicht –<br />
<strong>Bonn</strong> 26./27. 9. <strong>1995</strong><br />
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<strong>Landschaftsverband</strong> Rhe<strong>in</strong>land<br />
Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />
Amt 43<br />
50633 Köln<br />
Federführung für Vorbereitung,<br />
Durchführung und Auswertung <strong>des</strong> <strong>Kongresses</strong>:<br />
Hans Peter Schaefer,<br />
Tel: 0221/8096234, Fax: 0221/8096252, E-Mail: hp.schaefer@lvr.de<br />
April 1996
Schulverweigerung<br />
– e<strong>in</strong> Kongreß, e<strong>in</strong> Thema<br />
Schulverweigerung. Den Medien, die über den Kongreß berichteten, fiel dazu<br />
Schulschwänzen e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Kavaliersdelikt, das eher wehmütig er<strong>in</strong>nern läßt an<br />
die Schulzeit, als daß es mit sozialen Problemlagen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht wird.<br />
Doch die aktuelle Diskussion um Schulverweigerung hat wenig zu tun mit dem<br />
Reiz <strong>des</strong> Verbotenen. Zu gravierend s<strong>in</strong>d die Folgen beharrlicher Abwesenheit<br />
von der Schule, zu gravierend die Folgen fehlender schulischer Qualifizierung.<br />
Den Betroffenen droht dauerhafte soziale Ausgrenzung. Maßnahmen der Jugendhilfe<br />
und der Arbeitsverwaltung, die sich gezielt an benachteiligte Jugendliche<br />
zum Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf wenden, greifen bei hartnäckigen<br />
Schulverweigerern selten, setzen sie doch meist zu spät an.<br />
E<strong>in</strong>e Erfahrung auch <strong>in</strong> der Jugendsozialarbeit. Beratungsstellen <strong>des</strong> NRW–Lan<strong>des</strong>jugendplanprogramms<br />
„Sozialpädagogische Hilfen für junge Menschen im<br />
Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf“ wenden sich seit vielen Jahren an Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler, die aus dem Regelschulsystem herausfallen. Sozialpädagogische<br />
Beratung und Begleitung alle<strong>in</strong> reichen allerd<strong>in</strong>gs nicht aus.<br />
Es fehlen alternative Angebote zur Schule, die Lernen für diese Jugendlichenwieder<br />
attraktiv machen. Jugendwerkstätten, ebenfalls aus dem NRW–Lan<strong>des</strong>jugendprogramm<br />
gefördert und für arbeitslose Jugendliche konzipiert, widmeten<br />
sich vere<strong>in</strong>zelt dieser Zielgruppe. Sie konnten Erfolge vorzeigen mit ihrem<br />
handwerklich und sozialpädagogisch orientierten Angebot. Jugendliche, von der<br />
Schule schon aufgegeben, schon im Abseits geglaubt, konnten wieder fürs Lernen<br />
gewonnen werden.<br />
Sechs Modellversuche <strong>in</strong> NRW, davon drei im Rhe<strong>in</strong>land, betreuen seit Schuljahresbeg<strong>in</strong>n<br />
1994/96 jeweils acht Schüler/<strong>in</strong>nen; Schulverweigerer, die zum Teil<br />
schon zwei bis drei Jahre der Schule fernbleiben. Die Werkstätten arbeiten werkund<br />
sozialpädagogisch mit ihnen, die Schule ist durch e<strong>in</strong>e Lehrkraft vertreten.<br />
Die Ergebnisse werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Endbericht ausgewertet.<br />
Heute aber schon läßt sich feststellen: Der außerschulische Lernort, Praxislernen<br />
und die sozialpädagogische Orientierung motivieren die Schulpflichtigen<br />
zum Lernen.<br />
In diesem Zusammenhang lag es nah, bun<strong>des</strong>weit die Projekte zusammenzuführen,<br />
die am gleichen Thema arbeiten. Auf dieser Veranstaltung wurden daher<br />
Konzeption und Praxis unterschiedlicher E<strong>in</strong>richtungen mite<strong>in</strong>ander verglichen –<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Projektmesse und <strong>in</strong> Foren mit unterschiedlichen Schwerpunkten.<br />
Vorträge aus Theorie und Praxis, aus E<strong>in</strong>richtungen und M<strong>in</strong>isterien brachten die<br />
Problematik Schulverweigerung auf den Punkt.<br />
E<strong>in</strong>e Lösung, die generell Hilfeformen <strong>in</strong>stitutionalisiert, ist allerd<strong>in</strong>gs auch<br />
jetzt noch nicht <strong>in</strong> Sicht. So drängend das Schicksal der betroffen jungen Menschen<br />
auch ist, knappe Kassen, Schwierigkeiten Ressorts abzugrenzen und mite<strong>in</strong>ander<br />
zu kooperieren s<strong>in</strong>d ebenso H<strong>in</strong>dernisse wie e<strong>in</strong>gefahrene Gleise<br />
<strong>in</strong> Jugendhilfe und Schule.<br />
Dabei muß die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule weiter vertieft werden<br />
– auch unorthodoxe Lösungen dürfen nicht tabu se<strong>in</strong>. Und: Die Prävention<br />
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muß ebenso wie die Betroffenheit von Mädchen stärker <strong>in</strong>s Blickfeld<br />
geraten. Ist <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen auch der Impuls von der Jugendsozialarbeit<br />
ausgegangen, es muß früher angesetzt werden. Denn dar<strong>in</strong> stimmten die Expert<strong>in</strong>nen<br />
und Experten übere<strong>in</strong>: Die Grundlagen für schulisches Scheitern zeigen<br />
sich oft beim Übergang von der Grund- <strong>in</strong> die Hauptschule, häufig haben ungünstige<br />
familiale und soziale Bed<strong>in</strong>gungen E<strong>in</strong>fluß. Hier s<strong>in</strong>d nicht nur Jugendsozialarbeit<br />
und Schule gefordert. In der Jugendhilfe müssen auch andere Dienste,<br />
die früher ansetzen als die Jugendsozialarbeit Verantwortung übernehmen, Netzwerke<br />
der Prävention bilden. Hieran muß Schule mitwirken. Gleichzeitig stehen <strong>in</strong> der<br />
Schule viele überkommene Ansätze und Strukturen auf dem Prüfstand.<br />
Gilt es, Schule <strong>in</strong> Richtung von mehr Ganzheitlichkeit und Lebensweltorientierung<br />
zu entwickeln, kann Jugendhilfe mit ihrer sozialpädagogischen Orientierung<br />
wichtige Beiträge liefern – Partner<strong>in</strong> se<strong>in</strong>.<br />
Hartmut Schulz
Inhaltsverzeichnis<br />
Vorab: Das Resumée .................................................................... 7<br />
Steffen Hildebrand (Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln):<br />
Schulverweigerung: Zielgruppen, Problemlagen ......................... 9<br />
Schulwechsel und Schulverweigerung .............................................................. 10<br />
Häufigkeit der Schulverweigerung.....................................................................11<br />
Ergebnisse: ........................................................................................................11<br />
Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule ......................................11<br />
1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen nicht mehr durchsetzbar ............ 12<br />
2. Die Erziehung zur „Pflicht“ bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise ................................. 13<br />
3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler mit den derzeitigen<br />
Unterrichts<strong>in</strong>halten zu lange ........................................................................ 13<br />
4. Für viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler ist das Erreichen <strong>des</strong><br />
Hauptschulabschlusses unrealistisch ............................................................ 13<br />
5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen<br />
schulische Zwischenwelten .......................................................................... 14<br />
6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker um<br />
handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen erweitert werden ....... 14<br />
7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß zielgruppenbezogen auf<br />
den verschiedenen Handlungs- und Planungsebenen <strong>in</strong>tensiviert werden ..... 15<br />
Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski (Hauptschullehrer<strong>in</strong>, Essen):<br />
Zum Beispiel Franzi ..................................................................... 17<br />
Von Franzi zurück zum Allgeme<strong>in</strong>en ................................................................. 24<br />
Karlhe<strong>in</strong>z Thimm (Hennickendorf):<br />
Wenn Schulverweigerer Schule machen…<br />
Schule <strong>des</strong> Lebens im Überschneidungsbereich von Jugendhilfe und Schule .... 29<br />
Schule im Gegenw<strong>in</strong>d ....................................................................................... 29<br />
Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule ...................................................... 31<br />
Schulverweigerung ........................................................................................... 35<br />
Verweigererschule: „Schule <strong>des</strong> Lebens“ .......................................................... 39<br />
Bilanz ................................................................................................................ 45<br />
Literatur: ........................................................................................................... 47<br />
Anhang ............................................................................................................. 47<br />
Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung .......................................... 47<br />
Zum Projekt Schule <strong>des</strong> Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen ............... 49<br />
Ulrich Thünken (M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung NRW):<br />
Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Schule ....... 53<br />
Berufsvorbereitungsklasse (BVK) für überalterte und schulmüde Schüler ......... 56<br />
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6<br />
Klaus Schäfer (M<strong>in</strong>isterium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)<br />
Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe ............. 61<br />
Podiumsdiskussion:<br />
Brauchen wir e<strong>in</strong> neues Regelsystem für Schüler und<br />
Schüler<strong>in</strong>nen, die sich der Schulpflicht entziehen?...................... 67<br />
Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)<br />
Kar<strong>in</strong> Joswig-von Bothmer (Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />
E<strong>in</strong> Nachtrag:<br />
Auffällig unauffällig: Mädchen und Schulverweigerung.............. 71<br />
Die familiäre Situation ...................................................................................... 71<br />
Die psychosoziale Situation der Mädchen ......................................................... 72<br />
Die Rolle der Schule .......................................................................................... 73<br />
Anhang: Projekte stellen sich vor ................................................ 77<br />
Städtische Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstr. 12, 50996 Köln...................................... 78<br />
Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong>....................................................................................... 80<br />
KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH <strong>des</strong> Landkreises Aurich .............................. 84<br />
Werkhof Scharnhorst, Dortmund ..................................................................... 91<br />
Lernwerkstatt für Schulverweigerer im Internationalen Jugendzentrum der<br />
Stadt Frankfurt a. M. ......................................................................................... 97<br />
Jugendsozialarbeit <strong>in</strong>form, Ausgabe 4/<strong>1995</strong>............................................... 103<br />
Beispiele aus der Medienresonanz ............................................................. 109
Vorab:<br />
Das Resumée<br />
Kar<strong>in</strong> Joswig–von Bothmer, Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land, faßte <strong>in</strong> ihrem Schlußwort<br />
die Ergebnisse und die <strong>in</strong> den Beiträgen vom Podium , den Arbeitsgruppen<br />
und Diskussionsbeiträgen erarbeiteten Aufträge für die Zukunft zusammen:<br />
am Ende e<strong>in</strong>er Fachveranstaltung ist es angebracht, noch e<strong>in</strong>mal Revue passieren<br />
zu lassen, was <strong>in</strong> diesen zwei Tagen alles geschehen ist.<br />
Im Mittelpunkt der Fachveranstaltung stand e<strong>in</strong>e Personengruppe, die sich der<br />
Schulpflicht entzieht, und die Frage nach den Zuständigkeiten von Schule und<br />
Jugendhilfe – zwischen Grauzonen und neuen Regelsystemen. Die Durchführung<br />
war mit e<strong>in</strong>em Blick über den Tellerrand verbunden, denn schließlich waren hier<br />
Projekte und Personen aus dem gesamten Bun<strong>des</strong>gebiet vertreten.<br />
Den Auftakt machte e<strong>in</strong>e Ausstellung, bei der die Projekte ihren konzeptionellen<br />
Ansatz <strong>in</strong> der Arbeit mit schulpflichtigen aber schulmüden Jugendlichen präsentierten.<br />
Die Ausstellung bot e<strong>in</strong> respektables Bild der vielseitigen und kompetenten<br />
Arbeitsansätze. Allen Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen sei herzlich gedankt, die<br />
die Mühe nicht gescheut haben, mit Materialien anzureisen, z. T. mit erheblichem<br />
technischen Aufwand, um sich hier vorzustellen.<br />
Am Nachmittag machte Steffen Hildebrand mit se<strong>in</strong>em Beitrag den Auftakt, die<br />
H<strong>in</strong>tergründe von Schulverweigerung aus schulpsychologischer Sicht zu beleuchten.<br />
Häufiger Schulwechsel kann dabei e<strong>in</strong> wichtiger Faktor neben zahlreichen<br />
Begleitumständen se<strong>in</strong>, die sich aus dem häuslichen und familiären Milieu ergeben,<br />
aber auch <strong>in</strong> der Organisation von Schulalltag begründet se<strong>in</strong> können.<br />
Am Beispiel der Schüler<strong>in</strong> Franzi beschrieb Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski anschaulich<br />
die Kette von widrigen Umständen, die zur<br />
Leistungsverweigerung führen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spirale von<br />
Mißerfolg und Perspektivlosigkeit e<strong>in</strong>münden.<br />
Karl–He<strong>in</strong>z Thimm stellte die „Schule <strong>des</strong> Lebens“<br />
vor, und es wurde beispielhaft deutlich, wie e<strong>in</strong> Maschennetz<br />
geknüpft werden kann, um niemanden zu<br />
verlieren oder aufgeben zu müssen.<br />
In den Foren gab es schließlich Gelegenheit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />
Erfahrungsaustausch zu treten. Dabei traten<br />
Hemmschwellen zutage, die die Projekte <strong>in</strong> ihrer Ent- Eröffnung der Ausstellung<br />
stehung zu überw<strong>in</strong>den hatten – im P<strong>in</strong>g–Pong der<br />
Zuständigkeiten zwischen Jugendhilfe und Schule.<br />
Nicht vergessen werden soll der <strong>in</strong>offizielle Teil am<br />
Podiumsdiskussion<br />
Abend <strong>des</strong> ersten Tages; es gab e<strong>in</strong> hohes Informationsbedürfnis<br />
und möglicherweise führt der Austausch<br />
dazu, daß Kontakte bestehen bleiben und e<strong>in</strong> Schritt<br />
<strong>in</strong> die Richtung e<strong>in</strong>er Vernetzung getan werden konnte.<br />
Der zweite Tag stand im Zeichen e<strong>in</strong>er politischen,<br />
strategischen Diskussion. Was tun mit Jugendlichen,<br />
die sich der Schulpflicht entziehen? Herr Thünken vom<br />
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8<br />
M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung und Klaus Schäfer vom M<strong>in</strong>isterium für<br />
Arbeit Gesundheit und Soziales waren sich e<strong>in</strong>ig: Neue Regelsysteme ne<strong>in</strong>, aber<br />
e<strong>in</strong>e Verpflichtung zur Kooperation für beide Seiten.<br />
Das Schlußlicht setzte e<strong>in</strong>e Podiumsdiskussion, moderiert von Markus Schnapka,<br />
Lan<strong>des</strong>jugendamt. Vertreter/<strong>in</strong>nen von Schule und Jugendhilfe hatten die Gelegenheit<br />
zur Standpunktabklärung – unter lebhafter Beteiligung <strong>des</strong> Plenums.<br />
E<strong>in</strong>ig waren sich alle Beteiligten über den Handlungsbedarf, über das „wie“ gab es<br />
naturgemäß unterschiedliche Me<strong>in</strong>ungen.<br />
Zu e<strong>in</strong>er Bilanz gehören auch kritische Töne. Diese Veranstaltung be<strong>in</strong>haltete<br />
die Chance, professionell übergreifend mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Gespräch zu kommen. Bedauerlicherweise<br />
waren relativ wenige Praktiker/<strong>in</strong>nen aus dem schulischen Bereich<br />
vertreten, von denen, die hier waren, gab es e<strong>in</strong>e positive Resonanz. Zukünftig<br />
sollten solche auf Kooperation ausgerichtete Tagungen dieses auch <strong>in</strong> der<br />
geme<strong>in</strong>samen Verantwortung als Veranstalter verdeutlichen.<br />
E<strong>in</strong>e zweite kritische Bemerkung bezieht sich auf das Nichtzustandekommen<br />
der Arbeitsgruppe „Mädchen, die Schule verweigern“. Daß es sie gibt, ist unbestritten,<br />
aber offensichtlich fallen sie weniger auf. Im Ersche<strong>in</strong>ungsbild dom<strong>in</strong>ieren<br />
die Jungen, weshalb <strong>in</strong> der Folge sich die Unterstützungsangebote vorrangig<br />
bis ausschließlich an sie richten.<br />
In diesem Zusammenhang kann ich ankündigen, daß wir e<strong>in</strong>e <strong>Dokumentation</strong><br />
erstellen werden, der um e<strong>in</strong>en Beitrag über Gründe und Ersche<strong>in</strong>ungsformen der<br />
Schulverweigerung bei Mädchen ergänzt wird.<br />
Das Lan<strong>des</strong>jugendamt beabsichtigte mit der Fachveranstaltung, e<strong>in</strong>en Erfahrungsaustausch<br />
über die Lan<strong>des</strong>grenzen h<strong>in</strong>aus zu <strong>in</strong>itiieren. Das ist gelungen. Daß<br />
das Thema Zündstoff enthält, wurde nicht nur durch kontroverse Standpunkte<br />
deutlich, sondern auch durch das enorme Medien<strong>in</strong>teresse. E<strong>in</strong> Anfang ist gemacht<br />
und der Dialog wird weitergehen. Das Verständnis über Strukturen, Chancen und<br />
Grenzen bei den Institutionen Schule und Jugendhilfe muß noch wachsen.<br />
Das Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land wird se<strong>in</strong>en Beitrag dazu leisten.<br />
Zum Schluß bleibt mir nur, Ihnen für die Teilnahme und Ihre engagierte Mitarbeit<br />
zu danken. Ich hoffe, daß Sie e<strong>in</strong>iges an Anregungen für Ihre Praxis wie auch<br />
für Entscheidungen, die <strong>in</strong> Ihren Zuständigkeitsbereich fallen, mitnehmen konnten.
Schulverweigerung:<br />
Zielgruppen, Problemlagen<br />
Steffen Hildebrand<br />
(Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln)<br />
Schulverweigerung wird als Verstoß gegen das Schulpflichtgesetz zunächst aus<br />
der diszipl<strong>in</strong>arischen Sicht beurteilt. Die Schuld liegt beim Schüler bzw. den Eltern,<br />
die für den geregelten Schulbesuch ihrer K<strong>in</strong>der die Verantwortung tragen. Schulverweigerung<br />
kann danach zu Maßnahmen wie Zuführung <strong>des</strong> Schülers oder der<br />
Schüler<strong>in</strong> oder zu Strafen wie Bußgeld für die Erziehungsberechtigten führen. Beide<br />
Sanktionen werden bezüglich ihrer pädagogischen Wirkung angezweifelt und<br />
werden <strong>in</strong> der Praxis meistens nicht konsequent durchgeführt. Oft s<strong>in</strong>d sie schlicht<br />
Ausdruck von Ratlosigkeit.<br />
Wir arbeiten an diesen beiden Tagen weitgehend <strong>in</strong> der Übere<strong>in</strong>stimmung zusammen,<br />
daß Schulverweigerung als Symptom zu verstehen ist und die betreffenden<br />
K<strong>in</strong>der und Jugendlichen Unterstützung brauchen. Wir werden von Kooperation<br />
und Vernetzung sprechen, auch von Zuständigkeiten. Vor allem aber werden<br />
wir Erfahrungen austauschen über Projekte und Initiativen, die den Jugendlichen<br />
vermitteln, etwas zu können und nicht aufgegeben zu se<strong>in</strong>. Die Ausstellung heute<br />
morgen hat bee<strong>in</strong>druckend bewiesen, daß geeignete Angebote „auf dem Markt“<br />
s<strong>in</strong>d. Die nachfolgenden Referate werden es bestätigen.<br />
Es wird aber ebenso deutlich werden, daß die Arbeit mit diesen Jugendlichen<br />
anstrengt. Der Erfolg ist nicht so leicht kalkulierbar und oft nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Schritten<br />
zu erreichen – und der Erfolg will erst mal def<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong>. Dabei ist die öffentliche<br />
Anerkennung nicht selbstverständlich.<br />
Wir alle wissen, daß die Zielgruppe dieser Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler ke<strong>in</strong>e Lobby hat. Und wenn wir<br />
z. B. Unterstützungen brauchen, die <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er<br />
H<strong>in</strong>sicht nicht gänzlich kostenneutral ist, können wir<br />
sicher se<strong>in</strong>, daß e<strong>in</strong>ige denken, daß die eh schon knappen<br />
Mittel im Erziehungs- und Bildungsbereich besser<br />
für K<strong>in</strong>der und Jugendliche e<strong>in</strong>gesetzt werden sollen,<br />
die lernen wollen und sich Mühe geben.<br />
E<strong>in</strong>e weitere Argumentation zielt <strong>in</strong> die gleiche<br />
Richtung: Die Mittel sollten doch besser für Prävention<br />
ausgegeben werden, denn: Je<strong>des</strong> präventive Förderkonzept<br />
zielt auf e<strong>in</strong>e möglichst frühzeitige Unterstützung,<br />
damit die schulischen Probleme erst gar<br />
nicht entstehen bzw. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr jungen Stadium<br />
erkannt und rechtzeitig bearbeitet werden können.<br />
Damit weisen solche Konzepte aber ebenso auf die<br />
Schwierigkeit – und manchmal auch Aussichtslosigkeit<br />
– der eigentlich noch notwendigen Förderungen<br />
h<strong>in</strong>, hier der angemessenen Unterrichtung von Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schülern mit sehr belasteten Schulkar-<br />
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rieren <strong>in</strong> den letzten Schulbesuchsjahren. Implizit wird häufig das „Zu spät“ mitgedacht,<br />
ohne jedoch e<strong>in</strong>en Ansatz ableiten zu können, was <strong>in</strong>sbesondere mit den<br />
Jugendlichen geschehen soll, denen man diese pessimistische Perspektive zuschreibt.<br />
Auch Sonderschulen für Erziehungshilfe oder Lernbeh<strong>in</strong>derte können <strong>in</strong> solchen<br />
Fällen auf die schlechte Prognose bei eigentlich <strong>in</strong>dizierter Sonderbeschulung von<br />
Jugendlichen verweisen – auch unter Rücksichtnahme auf ihre eigenen Lerngruppen<br />
– und lehnen e<strong>in</strong>e Aufnahme begründet ab: E<strong>in</strong>e Umschulung hätte s<strong>in</strong>nvollerweise<br />
früher stattf<strong>in</strong>den sollen.<br />
Diese Negativbewertung wird nur selten offen ausgesprochen und vertreten.<br />
Sie wirkt jedoch <strong>in</strong> der Regel <strong>des</strong><strong>in</strong>tegrierend und koppelt den Schüler leicht aus<br />
der Beziehung zur Schule ab. E<strong>in</strong>e bedarfsgerechte, strukturell verankerte Lösung<br />
fehlt für ältere Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die zu scheitern drohen.<br />
So drücken sich s<strong>in</strong>kende Motivation dieser Jugendlichen und häufig mangelnde<br />
S<strong>in</strong>nhaftigkeit <strong>des</strong> Schulbesuchs oft <strong>in</strong> massivem Schwänzen aus, das weder familiäre<br />
Erziehungsbemühungen noch behördliche E<strong>in</strong>griffsmöglichkeiten direkt zu<br />
bee<strong>in</strong>flussen vermögen.<br />
Oft verstricken sich im Verlauf die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, ihre Eltern und die<br />
Schule <strong>in</strong> Konfliktkreisläufen ohne realistische Lösungsaussichten und handeln meistens<br />
lediglich ihre wechselseitigen Verantwortlichkeiten bzw. auch Hilflosigkeiten<br />
aus. Besonders verwirrend und paradox entwickelt sich das Problem, wenn<br />
sich eklatante Leistungs- und Motivationsdefizite mit sozialen Auffälligkeiten und<br />
Gefährdungen verknüpfen: So s<strong>in</strong>d Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer e<strong>in</strong>erseits verpflichtet,<br />
ihre fehlenden Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler wieder <strong>in</strong> den Unterricht zu bekommen;<br />
andererseits müßten sie <strong>in</strong>sgeheim hoffen, daß gerade manche der schwänzenden<br />
Jugendlichen wegen der zu großen unzumutbaren Belastungen wegbleiben;<br />
denn die Schwierigkeiten s<strong>in</strong>d mit der Wiederaufnahme <strong>des</strong> Schulbesuchs natürlich<br />
nicht automatisch erledigt, sondern es können neue Krisen und Konflikte auftreten.<br />
Die Hauptschule ist die e<strong>in</strong>zige Schulform im Sekundarbereich I die die Beschulungspflicht<br />
sichern muß, ohne sich durch Umschulung von Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Schulform qualifiziert entlasten zu können. Aus dieser Konstellation<br />
heraus haben sich spezifische verdeckte „Lösungsformen“ entwickelt, die<br />
zwar für e<strong>in</strong>zelne Schulen und Klassen Erleichterungen mit sich br<strong>in</strong>gen, das Gesamtsystem<br />
jedoch nach wie vor belasten.<br />
Schulwechsel und Schulverweigerung<br />
Im Rahmen der E<strong>in</strong>zelfallarbeit mit jugendlichen Schulverweigerern fiel vermehrt<br />
auf, daß kurz vor dem E<strong>in</strong>setzen <strong>des</strong> Fehlens e<strong>in</strong> Schulwechsel stattgefunden hatte<br />
(im übrigen werden Schulwechsel <strong>in</strong>nerhalb der Hauptschule <strong>in</strong> Krisenfällen so<br />
oft durchgeführt, daß dafür der Begriff „Hauptschultourismus“ gefunden wurde).<br />
Es stellte sich die Frage nach den möglichen Wechselwirkungen zwischen Schulwechsel<br />
und Schulverweigerung.<br />
Um über die Analyse der E<strong>in</strong>zelfälle h<strong>in</strong>aus Material zu erhalten, wurden die Bußgeldbescheide<br />
e<strong>in</strong>es Jahres sowie e<strong>in</strong>e Klientenstichprobe <strong>des</strong> Jugendamtes e<strong>in</strong>es<br />
Stadtteils ausgewertet. Zwar gaben beide Quellen ke<strong>in</strong>e bzw. nur unzureichende<br />
Informationen her h<strong>in</strong>sichtlich der Zusammenhänge beider Ereignisse – auch
Schwänzen kann zum Schulwechsel führen –, ermöglichten jedoch Annahmen bezüglich<br />
e<strong>in</strong>iger Merkmale von Schulverweigerern.<br />
Es handelt sich überwiegend um Hauptschüler<strong>in</strong>nen und Hauptschüler<br />
Ihr Alter liegt <strong>in</strong> der Regel zwischen 14 und 16 Jahren. Nebenbei deutete sich an,<br />
daß Hauptschüler<strong>in</strong>nen und Hauptschüler im Vergleich zu Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern<br />
anderer Schulformen vermehrt Leistungen öffentlicher Erziehung erhalten.<br />
Diese Annahmen müßten allerd<strong>in</strong>gs durch weitere Untersuchungen erhärtet<br />
werden.<br />
Häufigkeit der Schulverweigerung<br />
Die Anzahl der Bußgeldbescheide bildet nicht die tatsächliche Häufigkeit <strong>des</strong><br />
Schwänzens ab. Deshalb wurde e<strong>in</strong> Schülerjahrgang von zwei Hauptschulen diesbezüglich<br />
untersucht. Es wurden diejenigen Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler erfaßt, die<br />
an 10 oder mehr Tagen im Schuljahr unentschuldigt gefehlt hatten. Diese Fehlquote<br />
(unentschuldigt) ist e<strong>in</strong> Indikator für höchste Gefährdung <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses.<br />
Ergebnisse:<br />
14,9% aller Schüler der ersten Hauptschule und 22% der zweiten Hauptschule<br />
haben zehn und mehr Tage im Schuljahr unentschuldigt gefehlt.<br />
Je höher die Jahrgangsstufe war, <strong>des</strong>to mehr Jugendliche schwänzten: So fehlten<br />
z. B. 34% aller Schüler der neunten Jahrgangsstufe zehn und mehr Tage im Schuljahr<br />
unentschuldigt.<br />
Es bestand e<strong>in</strong> hoher Zusammenhang zwischen unentschuldigtem Fehlen und<br />
Überalterung der Schüler: Je älter die Jugendlichen im Vergleich zum Durchschnittsalter<br />
ihrer Klasse waren, <strong>des</strong>to häufiger schwänzten sie.<br />
Das Ausmaß <strong>des</strong> Schwänzens erlaubt nicht mehr nur e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfall<strong>in</strong>terpretation,<br />
sondern verweist auf e<strong>in</strong>e Zielgruppe, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit<br />
bedarf. Weiterh<strong>in</strong> offenbart es e<strong>in</strong> strukturelles Problem besonders der Hauptschule,<br />
auch für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zuständig zu se<strong>in</strong> und sie <strong>in</strong>tegrieren zu<br />
müssen, die sich bereits weitgehend von der Schule und ihren Angeboten entfernt<br />
haben und nur noch wegen der Schulpflicht formal mit ihr verbunden bleiben.<br />
Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule<br />
Die Hauptschule hat de facto für e<strong>in</strong>en großen Teil ihrer Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />
die Funktion e<strong>in</strong>er Förderschule mit e<strong>in</strong>em rehabilitativen Auftrag erhalten für<br />
die Aufarbeitung von Leistungsdefiziten und Verhaltensauffälligkeiten sowie für<br />
die Kompensation von Schwierigkeiten aus dem sozialen Umfeld.<br />
Die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die <strong>in</strong> die 5. Klasse der Hauptschule kommen,<br />
erfüllen <strong>in</strong> der Regel die Lernvoraussetzungen dieser Schulform nicht. Sie haben<br />
die Lernziele der Grundschule nicht erreicht. Die Hauptschule kann jedoch die<br />
Beschulung dieser K<strong>in</strong>der nicht – anders als Realschulen und Gymnasien – an andere<br />
Allgeme<strong>in</strong>e Schulen abgeben und ist gezwungen, ihre neuen Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler fördernd da „abzuholen, wo sie sich bef<strong>in</strong>den“, d. h. oft, daß sie fundamentalen<br />
Grundschulstoff <strong>in</strong>tensiv nachschulen muß.<br />
11
12<br />
Die Hauptschule ist verpflichtet, den ihr <strong>in</strong> den Lehrplänen vorgegebenen Stoff<br />
<strong>in</strong> sechs Schuljahren zu vermitteln. Muß sie zusätzlich die zum Teil immensen Lernund<br />
Leistungsdefizite vieler Fünftklässler abbauen, um e<strong>in</strong> Fundament für den erfolgreichen<br />
Besuch der Hauptschule zu legen, hat sie <strong>in</strong>sgesamt dafür nicht mehr<br />
Zeit zur Verfügung. Die Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer müssen also mehr Lern<strong>in</strong>halte <strong>in</strong><br />
derselben Zeit unterrichten – vor allem komprimiert <strong>in</strong> der 5. und 6. Jahrgangsstufe;<br />
das bedeutet e<strong>in</strong>e faktische Schulzeitverkürzung nach dem Schulwechsel<br />
gerade für solche Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die besonders förderbedürftig s<strong>in</strong>d –<br />
e<strong>in</strong>e paradoxe, kaum lösbare Aufgabe.<br />
Die Hauptschule muß als e<strong>in</strong>zige Schulform der Sekundarstufe I die Beschulungspflicht<br />
der Allgeme<strong>in</strong>en Schule garantieren und <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />
auch die gescheiterten K<strong>in</strong>der und Jugendlichen der anderen weiterführenden Schulen<br />
– auch der Gesamtschule – übernehmen, denn viele schwierige Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler von anderen Schulformen hatten Probleme und Mißerfolge und kommen<br />
aus diesem Grund später zur Hauptschule.<br />
Damit erhält sie e<strong>in</strong>e wichtige gleichsam „hygienische“ Funktion für die anderen<br />
Schulen der Sekundarstufe I – allerd<strong>in</strong>gs auch für die Primarstufe, die sich ebenfalls<br />
durch die verdeckte Förderdef<strong>in</strong>ition der Hauptschule entlasten kann. Es besteht<br />
vielfach die Hoffnung <strong>in</strong> der Grundschule, daß die Hauptschule die Förderung<br />
dieser K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> ihren homogenen Lerngruppen, bezogen auf die Leistungen, besser<br />
realisieren kann.<br />
Im Rahmen der Beschulungspflicht fällt im Sekundarbereich I überwiegend der<br />
Hauptschule die Aufgabe zu, ausländische Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu <strong>in</strong>tegrieren.<br />
Mehr als die Hälfte aller Kölner Hauptschüler<strong>in</strong>nen und -schüler s<strong>in</strong>d ausländische<br />
K<strong>in</strong>der und Jugendliche. Das Ausmaß dieses Auftrages führt oft zu konfliktträchtigen<br />
Konstellationen und sozialen Lernbed<strong>in</strong>gungen, die sowohl Vorurteile<br />
und Ablehnungen bis h<strong>in</strong> zum Ausländerhaß begünstigen oder verstärken als auch<br />
manifestes Ause<strong>in</strong>andersetzen auslösen können.<br />
Die Hauptschule hat sich zu e<strong>in</strong>er Schulform mit hohem Integrationsauftrag entwickelt.<br />
So muß sie auch Jugendliche an der Schwelle zu Sonderschulen für Lernbeh<strong>in</strong>derte<br />
und Erziehungshilfe beschulen. Wechsel <strong>in</strong> diese Schulformen bleiben<br />
Ausnahmen und können vor allem <strong>in</strong> den oberen Klassen praktisch nicht mehr<br />
durchgeführt werden, da die Sonderschulen <strong>in</strong> der Regel die Erfolgsaussichten bei<br />
e<strong>in</strong>er verspäteten Maßnahme als sehr ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>schätzen. H<strong>in</strong>zu kommt, daß die<br />
Hauptschule die Zielgruppe der schulmüden Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>in</strong>tegrieren<br />
soll, die zwar noch schulpflichtig s<strong>in</strong>d, für die jedoch aufgrund meist chronifizierter<br />
Mißerfolgskarrieren kaum noch positive Schulaussichten bestehen.<br />
In der Schulverweigerung spiegeln und verknüpfen sich Teilprobleme, die dazu<br />
anregen, die Frage der Schulpflicht und ihrer <strong>in</strong>haltlichen Ausgestaltung für diese<br />
Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu überdenken:<br />
1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen<br />
nicht mehr durchsetzbar<br />
Viele Eltern s<strong>in</strong>d nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, ihre heranwachsenden Söhne und Töchter<br />
zum Schulbesuch zu veranlassen. Sie suchen oft nach e<strong>in</strong>greifender externer<br />
Unterstützung und s<strong>in</strong>d enttäuscht, wenn dieser erhoffte Zwang nicht mehr aus-
geübt wird/werden kann. So wird dem Jugendamt oft – auch von Schulen – die<br />
Funktion e<strong>in</strong>er für das Durchsetzen der Schulpflicht zuständigen E<strong>in</strong>greifbehörde<br />
zugeschrieben, was aber nicht se<strong>in</strong> Auftrag ist.<br />
2. Die Erziehung zur „Pflicht“ bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise<br />
E<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil demokratischer Erziehung ist, dem Heranwachsenden<br />
geeignete Handlungsräume für die Entwicklung persönlicher Freiheit, Autonomie<br />
und geme<strong>in</strong>schaftsbezogener Verantwortung zu öffnen. In vielen Bereichen der<br />
Lebensgestaltung können K<strong>in</strong>der und Jugendliche selbst entscheiden und ihr Handeln<br />
selbst bestimmen.<br />
Die gesellschaftliche Erziehung zur „Pflichterfüllung“ ist auf diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />
mit Unsicherheit verbunden, zumal wenn bei Jugendlichen das Lustpr<strong>in</strong>zip zu dom<strong>in</strong>ieren<br />
sche<strong>in</strong>t.<br />
So wird die Notwendigkeit, auch „Grenzen setzen“ zu müssen, zwar allgeme<strong>in</strong><br />
anerkannt. Die konkrete Umsetzung verliert jedoch an Prägnanz und Klarheit, zumal<br />
es den an der Erziehung der K<strong>in</strong>der und Jugendlichen Beteiligten u. a. schwerfällt,<br />
bezüglich der Inhalte von Regeln und Normen sowie der Art ihrer Durchsetzung<br />
Übere<strong>in</strong>stimmung zu erzielen.<br />
In diesem Zusammenhang entsteht vor allem auch im Konfliktfall der Schulverweigerung<br />
die Frage nach der Durchsetzung und nach der Institution bzw. Person,<br />
die dafür zuständig ist.<br />
3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler<br />
mit den derzeitigen Unterrichts<strong>in</strong>halten zu lange<br />
Die Verlängerung der Schulpflicht auf zehn Jahre brachte für die Hauptschule<br />
e<strong>in</strong>e aufwertende Angleichung an die anderen weiterführenden Schulen mit sich<br />
und damit e<strong>in</strong>e standardmäßige Anhebung der Bildungschancen für ihre Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler. Außerdem entlastete diese Regelung den damals angespannten<br />
Lehrstellenmarkt.<br />
Durch die dramatische Entwicklung der Schulwahlen im Anschluß an die Primarstufe<br />
stimmt jedoch die aktuelle Schülerschaft mit der damals angesprochenen<br />
Zielgruppe nur noch zu e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil übere<strong>in</strong>. So paßt die zehnjährige Schulpflicht<br />
mit dem derzeitigen Unterricht nicht mehr für viele gescheiterte Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schüler und h<strong>in</strong>dert manche sogar daran, an e<strong>in</strong>e ihrem Leistungsstand,<br />
ihren Neigungen und Begabungen gemäße berufsbezogene Förderung heranzukommen.<br />
4. Für viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler ist das Erreichen<br />
<strong>des</strong> Hauptschulabschlusses unrealistisch<br />
E<strong>in</strong>zelfallanalysen ergaben, daß bei vielen älteren schwänzenden Hauptschüler<strong>in</strong>nen<br />
und Hauptschülern e<strong>in</strong> Schulbesuch mit den derzeitigen Lernbed<strong>in</strong>gungen,<br />
Zielen und Methoden nicht mehr s<strong>in</strong>nvoll ist: Die Leistungsrückstände s<strong>in</strong>d dermaßen<br />
groß, daß sie nicht mehr aufholbar s<strong>in</strong>d. Damit korrespondieren <strong>in</strong> der Regel<br />
große Defizite im Arbeitsverhalten auf dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er <strong>des</strong>olaten Motivati-<br />
13
14<br />
on. Die Jugendlichen gehörten, gemessen an ihren Fachkenntnissen, eigentlich <strong>in</strong><br />
viel jüngere Jahrgangsstufen, die aber wiederum nicht zu dem sozialen und körperlichen<br />
Entwicklungsstand dieser Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler passen. Für die Aufgabe,<br />
sie da abzuholen, wo sie stehen, ist die Hauptschule derzeit nicht ausreichend<br />
ausgerüstet.<br />
5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen<br />
schulische Zwischenwelten<br />
Da viele Jugendliche jedoch oft noch zwei Jahre schulpflichtig s<strong>in</strong>d, bleiben sie<br />
an für sie völlig ungeeignete Strukturen gebunden, die sogar kontraproduktiv wirken,<br />
wenn z. B. die notwendige Analyse der bedarfsgerechten Förderung durch<br />
diszipl<strong>in</strong>are Konflikte z. B. im Zusammenhang mit der Schulpflichterfüllung überdeckt<br />
wird. So rutschen diese Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler leicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zwischenwelt<br />
ab, <strong>in</strong> der sie zwar formal noch Schüler s<strong>in</strong>d, aber jeden s<strong>in</strong>nerfüllten Bezug<br />
zur Schule verloren haben. Schwänzen kann dann die Manifestation dieser Krise<br />
se<strong>in</strong>. Viele Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer erkennen diese perspektivlose Konstellation<br />
an. Viele wissen um die hohe Zahl von schulmüden Jugendlichen und sehen die<br />
Problematik, e<strong>in</strong> angemessenes Unterrichtsangebot zu machen.<br />
Diese Zwischenwelt mit der faktischen Aussetzung der Ausbildung bleibt so lange<br />
bestehen, bis die Schulpflicht erfüllt ist; und das geschieht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensphase,<br />
<strong>in</strong> der die Jugendlichen nach Identität streben und ihre eigenen sozialen Rollen<br />
zu f<strong>in</strong>den versuchen. Die häufige Unfähigkeit, sich für e<strong>in</strong>e Berufsidentität zu entscheiden,<br />
ist jedem Berufsberater bekannt, der h<strong>in</strong>länglich weiß, daß die endgültige<br />
Wahl <strong>des</strong> Ratsuchenden nur zum Teil e<strong>in</strong>e Frage ausreichender Informationen<br />
ist. Es ist zu befürchten, daß manche Jugendlichen bereits <strong>in</strong> dieser Zeit e<strong>in</strong>e Form<br />
psychischer Arbeitslosigkeit entwickeln, die charakterisiert werden kann durch Perspektivlosigkeit,<br />
Resignation und mangeln<strong>des</strong> Vertrauen <strong>in</strong> die eigene Leistungsfähigkeit.<br />
6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker<br />
um handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen<br />
erweitert werden.<br />
Auf der Ebene der Jugendberufshilfe hat sich e<strong>in</strong>e Anzahl von Jugendwerkstätten<br />
gerade der oben aufgezeigten Problematik angenommen und Konzepte für die<br />
Berufsmotivierung bzw. -orientierung erarbeitet. Hier wurden die Situation und<br />
der Förderbedarf der mißerfolgsorientierten Jugendlichen explizit anerkannt und<br />
notwendige Ausbildungs- und Unterstützungsstrategien entwickelt, die jedoch erst<br />
im nachschulischen Bereich greifen dürfen.<br />
Deshalb muß überprüft werden, wie diese Ansätze bereits vorher <strong>in</strong> den Rahmen<br />
der Schulpflicht e<strong>in</strong>zubeziehen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> der noch alle Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />
angesprochen werden können, während nach der Schulpflicht das Angebot<br />
aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme nur vergleichsweise wenige erreicht.<br />
1990 schlug die Unabhängige Gewaltkommission zur Verh<strong>in</strong>derung und Bekämpfung<br />
von Gewalt <strong>in</strong> der Schule vor:
„Bei sehr stark schulunwilligen Jugendlichen über 14 Jahren sollten die Ausgestaltung<br />
der Schulpflicht und die lan<strong>des</strong>gesetzlichen Regelungen zur Befreiung von<br />
der Schulpflicht neu überdacht werden. Insoweit empfehlen sich berufspraktische<br />
Programme, <strong>in</strong> denen u. a. Leistungs- und Durchhaltevermögen am Arbeitsplatz<br />
gefördert werden und Erfolgserlebnisse wahrsche<strong>in</strong>licher s<strong>in</strong>d.“<br />
Insofern könnte diese Tagung auch e<strong>in</strong> Bauste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe zur Gewaltprävention<br />
se<strong>in</strong>.<br />
7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß<br />
zielgruppenbezogen auf den verschiedenen Handlungs- und<br />
Planungsebenen <strong>in</strong>tensiviert werden.<br />
Unterschiedliche gesellschaftliche Aufträge von Schule und Jugendhilfe, ihre spezifischen<br />
Standpunkte und Blickw<strong>in</strong>kel trennen häufig und können zu gegenseitigen<br />
Zuständigkeitszuschreibungen und Konzeptionsprojektionen verführen – vor<br />
allem bei Zielgruppen mit e<strong>in</strong>er derart schwierigen Betreuungsperspektive.<br />
Viele Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer sehen sich mit Aufgaben der Sozialarbeit und der<br />
Sozialpädagogik konfrontiert. Das Arbeitsplatzprofil der Lehrer<strong>in</strong> und <strong>des</strong> Lehrers<br />
hat sich verändert.<br />
Entsprechend der Feststellung <strong>des</strong> sonderpädagogischen Förderbedarfs, der <strong>in</strong><br />
Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen das bisherige Sonderschulaufnahmeverfahren ablöst, müßte<br />
ergänzend der sozialpädagogische Förderbedarf anerkannt und entsprechende<br />
Angebote entwickelt werden.<br />
Andererseits bietet die geme<strong>in</strong>same Zuständigkeit beider Institutionen für schulmüde,<br />
h<strong>in</strong>sichtlich ihrer weiteren Ausbildung gefährdeten und benachteiligten<br />
Jugendlichen die Gelegenheit zur Entwicklung sich ergänzender schul<strong>in</strong>terner und<br />
-externer Förderungen und Unterstützungen.<br />
In den letzten Jahren ist <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen wie <strong>in</strong> anderen Ländern auf<br />
m<strong>in</strong>isterieller Ebene der Dialog zwischen Jugendhilfe und Schule <strong>in</strong>tensiviert worden.<br />
Der spezifische Förderbedarf für abschlußgefährdete benachteiligte Jugendliche<br />
wurde anerkannt und entsprechende kooperative Verbundmodelle zwischen den<br />
Maßnahmeträgern Schule, Jugendhilfe und auch Arbeitsverwaltung zugelassen.<br />
Das sollte Anlaß zur Hoffnung geben, daß diese Initiativen ke<strong>in</strong>e pädagogischen<br />
E<strong>in</strong>tagsfliegen bleiben. Sie können wichtige bedarfsgerechte Entwicklungsimpulse<br />
für die Schule darstellen und Konzepte wie „Öffnung von Schule“, „Autonomie“<br />
und „Integration“ mit zusätzlichen Anregungen versehen.<br />
Dann kann Schulpflicht als Chance und als Pflicht der Gesellschaft zur angemessenen<br />
Betreuung aller Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>in</strong> jedem Stadium ihrer Schullaufbahn<br />
verstanden werden, <strong>in</strong> der sie sich immer wieder bewähren können.<br />
15
Zum Beispiel Franzi<br />
Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski<br />
(Hauptschullehrer<strong>in</strong>, Essen)<br />
„Je<strong>des</strong> menschliche Wesen besitzt das geheimnisvolle Etwas, das wir Persönlichkeit<br />
nennen. Wenn wir von e<strong>in</strong>er ‘e<strong>in</strong>drucksvollen Persönlichkeit’ sprechen, dann<br />
me<strong>in</strong>en wir immer e<strong>in</strong>en Menschen, der im vollen E<strong>in</strong>klang mit se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nerlichen<br />
Anlagen und Fähigkeiten lebt, der anderen nichts vormacht, der nicht mehr sche<strong>in</strong>en<br />
will, als er ist.<br />
E<strong>in</strong>e schwächliche Persönlichkeit ist gleichzeitig e<strong>in</strong>e gehemmte, nicht voll entwickelte<br />
Persönlichkeit und entspricht e<strong>in</strong>em Menschen, der se<strong>in</strong> schöpferisches<br />
Ich <strong>in</strong> sich vergraben hält, der nicht ‘aus sich herauskommt’, sich nicht entwickelt.<br />
E<strong>in</strong> solcher Mensch hat se<strong>in</strong> Selbst e<strong>in</strong>geschlossen. In Fesseln gelegt und den Schlüssel<br />
zur Seelenzelle obendre<strong>in</strong> noch weggeworfen.“<br />
(Maxwell Maltz: Erfolg kommt nicht von ungefähr)<br />
Viele K<strong>in</strong>der und Jugendliche leiden darunter, daß sie ke<strong>in</strong>e allzu große Hochachtung<br />
vor sich selber haben. Sie s<strong>in</strong>d kaum <strong>in</strong> der Lage, ihre Begabungen voll zu<br />
entwickeln und ihre <strong>in</strong>dividuellen Möglichkeiten auszuschöpfen.<br />
Schulbesuch und Schulerfolg s<strong>in</strong>d für fast jeden Heranwachsenden von großer<br />
Wichtigkeit. Heutzutage wird der soziale Status immer seltener als ‘erhebliche<br />
Größe’ und immer häufiger als persönliche Errungenschaft angesehen. Entscheidend<br />
s<strong>in</strong>d erreichter Schulabschluß sowie beruflicher Erfolg und damit verbundener<br />
Verdienst und Lebensstandard. Das bedeutet, daß künftige Lebenswege und<br />
Lebensmöglichkeiten oft schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr frühen Alter erschlossen oder versperrt<br />
werden.<br />
Nur sche<strong>in</strong>bar hat jeder Schüler gleiche Lern- und<br />
Leistungschancen. Unterschiedliche <strong>in</strong>tellektuelle<br />
Lernvoraussetzungen, nicht vergleichbare soziale und<br />
materielle Lebenslagen der Familien und die Schulund<br />
Unterrichtsorganisation führen sehr schnell dazu,<br />
daß die e<strong>in</strong>en bessere und die anderen schlechtere<br />
Lernfortschritte machen.<br />
Es wird also stets Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler geben,<br />
die früh und langfristig die Erfahrung machen, langsamer<br />
zu lernen, weniger zu wissen, größere Schwierigkeiten<br />
zu haben und schlechtere Leistungen zu erzielen<br />
als andere. Der auf den Durchschnittsschüler<br />
zugeschnittene Unterricht wird zu e<strong>in</strong>er persönlichen<br />
Bewährungssituation, <strong>in</strong> der der Schüler ständig eigene<br />
Leistungen und Leistungsschwierigkeiten im<br />
Vergleich zu denen der Mitschüler und im Verhältnis<br />
zu den gestellten Anforderungen wahrnimmt.<br />
Erleben wir also mit, was aus Franzi wird, wenn sie<br />
<strong>in</strong> die Schule geht:<br />
17
18<br />
Franzi ist e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong>, mit<br />
e<strong>in</strong>er im Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong>takten, aber<br />
nicht auf die existierenden<br />
schulischen Leistungsanforderungen<br />
zugeschnittenen und<br />
e<strong>in</strong>gestellten Lernfähigkeit.<br />
In der Schule soll sie lesen.<br />
Sie hat Schwierigkeiten und macht, obwohl sie so lange braucht, auch noch viele<br />
Fehler. Hat sie e<strong>in</strong>en Text noch frisch im Gedächtnis oder kann den Inhalt erraten,<br />
liest sie flott und richtig.<br />
Und manchmal, da muß es<br />
schneller gehen. Sie darf sich<br />
nicht zu lange an e<strong>in</strong>em Wort<br />
aufhalten. Dann ergänzt sie<br />
e<strong>in</strong>fach ganze Wörter falsch<br />
oder liest, so wie sie es eben<br />
raten kann.<br />
Nun ist Franzi im schulischen<br />
Alltag nicht alle<strong>in</strong> im<br />
Klassenzimmer, sondern mit<br />
25 und mehr Schülern arbeitet<br />
sie gleichzeitig im selben<br />
Stoffgebiet.<br />
Die anderen K<strong>in</strong>der machen<br />
auch Fehler, aber viel<br />
seltener als Franzi. Die<br />
Unterrichtsabläufe s<strong>in</strong>d<br />
eher auf diese Schüler und<br />
Schüler<strong>in</strong>nen zugeschnitten.
Franzi ist <strong>in</strong>telligent genug,<br />
um zu merken, daß die Mitschüler<br />
etwas können, was sie nicht<br />
kann.<br />
Sie hat e<strong>in</strong>en Defekt.<br />
Für die übrigen Schüler und<br />
Schüler<strong>in</strong>nen, die für die schulische<br />
Lernarbeit die geforderten<br />
Voraussetzungen mitgebracht<br />
haben, ist das Verhalten von<br />
Franzi auch rätselhaft.<br />
Wie e<strong>in</strong> Wort gelesen wird,<br />
das sieht man doch!!!!!!!!!!!!<br />
Auch der Lehrer<strong>in</strong> geht es<br />
nicht anders. Sie wird also tun, was Sie und ich <strong>in</strong> der gleichen Situation auch<br />
machen würden:<br />
Die Lehrer<strong>in</strong> gibt sich alle erdenkliche Mühe!<br />
Offenbar muß die Franzi mehr unterstützt und gefördert werden. Sie wird<br />
von jetzt an z. B. besonders<br />
oft drangenommen.<br />
Franzi jedoch <strong>in</strong>terpretiert diese „besondere<br />
Förderung“ nicht als Hilfe.<br />
19
20<br />
Und Franzi wird immer<br />
kle<strong>in</strong>er. Wer ständig erfährt,<br />
zu der Gruppe, der<br />
schlechten Schüler zu gehören<br />
und als Versager<strong>in</strong> gilt, verliert langsam<br />
se<strong>in</strong> Selbstwertgefühl.<br />
Franzi empf<strong>in</strong>det die Schulsituation als<br />
solche oder wesentliche Abschnitte (z. B.<br />
Deutschunterricht) als e<strong>in</strong>e permanente Bedrohung.<br />
Also sucht sie nach Erklärungen, die sie nicht<br />
abwerten, sondern sie besser dastehen lassen.<br />
– Sie ist halt unkonzentriert<br />
– Sie will gar nicht lesen und schreiben<br />
– Sie ist krank<br />
Die Lehrer<strong>in</strong> ist verzweifelt. Sie ist doch <strong>in</strong>tensiv<br />
auf den E<strong>in</strong>zelfall e<strong>in</strong>gegangen und wollte pädagogisch<br />
helfen.<br />
Alles probiert – nichts passiert.<br />
Liegt möglicherweise e<strong>in</strong> kaum bee<strong>in</strong>flußbarer Defekt<br />
<strong>in</strong> Franzis Lern- und Leistungsvermögen vor?<br />
Auch die Eltern s<strong>in</strong>d enttäuscht. Machen die Lehrer<strong>in</strong><br />
verantwortlich und vielfach zum „Sündenbock“.<br />
Drohen ihren K<strong>in</strong>dern mit schlechten Berufsaussichten<br />
bei Schulversagen. Verlangen e<strong>in</strong>e Anpassung an<br />
die schulischen Anforderungen.
Und Franzi verhält sich entsprechend, damit die Erklärungen auch stimmen.<br />
– Sie wird unkonzentriert<br />
– Sie kann tatsächlich kaum noch richtig lesen und schreiben<br />
– Sie wird bei Bedarf krank<br />
Wie jeder von uns, braucht auch Franzi Anerkennung. Sie wird jetzt auf anderem<br />
Wege erstritten. Die Nichterfüllung der Normleistungen <strong>des</strong> schulischen<br />
Systems wird kompensiert durch die Rolle der Abweichler<strong>in</strong> und Normverletzer<strong>in</strong>.<br />
Nun beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong> sozialer<br />
Hickhack. Es entsteht e<strong>in</strong><br />
Kreisprozeß. Die soziale Reaktion,<br />
die von Franzi ausgeht,<br />
führt wieder zu verstärkten<br />
Reaktionen und<br />
diese kehren zu ihr zurück.<br />
21
22<br />
Franzi resigniert. Leidet immer mehr an e<strong>in</strong>em lädierten Selbstgefühl.<br />
Sieht Mißerfolge als Beweis ihrer Unfähigkeit an.<br />
Führt gelegentliche Erfolge eher auf Zufall oder Glück zurück.<br />
Franzi bekommt e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dselige E<strong>in</strong>stellung<br />
gegenüber Schule/Lehrern.<br />
Druck und Verzweiflung werden immer<br />
größer.<br />
Franzi sieht nur <strong>in</strong> der Flucht e<strong>in</strong>e Lösung.<br />
Was bedeuten kann:<br />
Gleichzeitig wächst mit der<br />
Leistungsangst die soziale<br />
Angst. Franzi ist blockiert. Frühzeitiges<br />
Aufgeben, Selbstbeschuldigung,<br />
Abf<strong>in</strong>den mit der<br />
Situation, Selbstabwertung<br />
s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige Folgen, die ihr<br />
Leistungsverhalten wiederum<br />
ungünstig bee<strong>in</strong>flussen.<br />
– tatsächliches Weglaufen<br />
– Krankheit<br />
– Tagträume<br />
Vermeidung<br />
E<strong>in</strong> neuer Kreislauf von Angst und Blockierung entsteht.
Der Schulbetrieb geht jedoch weiter. Es gibt auch<br />
e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>gegrenzten Handlungsspielraum, wenn Lehrer<br />
und Lehrer<strong>in</strong>nen Schüler<strong>in</strong>nen wie Franzi Lern- und<br />
Entwicklungsperspektiven erschließen wollen. Die Zeit<br />
vergeht, es entstehen immer neue Lücken. Die Rückwirkung der Lükken<br />
auf das Selbstvertrauen ist unausweichlich: Franzi weiß, daß sie nicht alles<br />
gelernt hat, was sie sollte und kann sich ausrechnen, daß sie wieder versagen<br />
wird. Vielmehr, wartet sie schon auf den Mißerfolg.<br />
Wenn wir zusammenzählen, was Franzi bisher erfahren hat, dann kommen folgende<br />
D<strong>in</strong>ge zusammen:<br />
– Defekt<br />
– Unkonzentriertheit<br />
– Angst<br />
– Blockierung<br />
– Versager<strong>in</strong><br />
– Isolation<br />
– Vorwürfe<br />
– Lücken<br />
– Mißerfolge<br />
Die Waage bleibt im Ungleichgewicht.<br />
In der anderen Waagschale<br />
fehlt etwas Positives:<br />
E i n E r f o l g ! ! ! ! !<br />
für mich<br />
s<strong>in</strong>d da nur Sechsen dr<strong>in</strong><br />
23
24<br />
Herausgekommen ist e<strong>in</strong>e Franzi, die unglücklich ist,<br />
am liebsten fliehen möchte, wenig überzeugt von eigenen<br />
Fähigkeiten ist, später auch <strong>in</strong> anderen<br />
Fächern möglicher- weise versagt, sitzenbleibt<br />
und irgend- wann die Schule<br />
frühzeitig und ohne Abschluß verläßt.<br />
Eben e<strong>in</strong> schwieriges Mädchen.<br />
Von Franzi zurück zum Allgeme<strong>in</strong>en<br />
Wenn man davon ausgeht, daß frühe Versagensergebnisse E<strong>in</strong>fluß auf die spätere<br />
Schul- und Ausbildungskarriere der Heranwachsenden haben, leitet sich die<br />
Notwendigkeit ab, so früh wie möglich mit pädagogischen Maßnahmen zur Prävention<br />
und zur Korrektur von Schulversagen anzufangen.<br />
Die folgenden Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d Anregungen für die Suche nach Änderungsmöglichkeiten<br />
und für die Erprobung bereits bewährter Handlungsformen.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 1:<br />
Alle vertrauensbildenden Maßnahmen <strong>des</strong> Lehrers/der Lehrer<strong>in</strong>, die das Vertrauen<br />
<strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong> zu sich selbst, zu se<strong>in</strong>en Fähigkeiten und zu den Mitschülern,<br />
kurz zum Lebensraum Schule verstärken.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 2:<br />
E<strong>in</strong> emotional befriedigen<strong>des</strong> Unterrichts- und Schulklima.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 3:<br />
E<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichen<strong>des</strong> Maß an Klarheit, Geordnetheit und Durchschaubarkeit <strong>des</strong><br />
Unterrichts.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 4:<br />
Sachgerechte und transparente Verfahren bei der Überprüfung von<br />
Lernfortschritten.
Bed<strong>in</strong>gung 5:<br />
Ermutigung, Lob und Anerkennung nicht <strong>in</strong>flationär, sondern im H<strong>in</strong>blick auf<br />
wirkliche Leistungsentwicklungen.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 6:<br />
Förderung besonderer Interessensgebiete <strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong>.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 7:<br />
Schule als Erfahrungsraum oder Erfahrungslernen.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 8:<br />
Vermittlung von Verhaltensweisen, um mit Schwierigkeiten besser umgehen<br />
zu können. Lernen, daß Irrtum ke<strong>in</strong>e Schande ist.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 9:<br />
E<strong>in</strong> kooperatives Lehrer-System, Intensivierung der Elternkontakte und<br />
Gestaltung der sozialen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.<br />
Bed<strong>in</strong>gung 10:<br />
Sozialpädagogische Jugendarbeit und soziale Beratung <strong>in</strong> der Schule.<br />
Die eigentliche Wirksamkeit der genannten schulischen Maßnahmen liegt<br />
jedoch <strong>in</strong> ihrem „Doppelcharakter“. Das heißt, die Präventionskonzepte müssen<br />
kompensierend und korrigierend auf ungünstige außerschulische – familiale Bed<strong>in</strong>gungen<br />
e<strong>in</strong>wirken, aber auch auf die schulischen Handlungs- und Leistungsanforderungen<br />
abgestellt se<strong>in</strong>.<br />
Die Darlegung der Handlungsmöglichkeiten wäre allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e völlig e<strong>in</strong>seitige<br />
Betrachtungsweise, wenn man nicht zugleich auch die Grenzen der pädagogischen<br />
E<strong>in</strong>flußnahme im Unterricht aufzeigt.<br />
Es s<strong>in</strong>d vor allem nachstehende Gründe, die die pädagogische Wirksamkeit der<br />
Lehrer begrenzen:<br />
– Schule nimmt im Alltag vieler Familien ke<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert e<strong>in</strong>. Sie ist<br />
etwas, was eben se<strong>in</strong> muß und wo das K<strong>in</strong>d eben durch muß oder auch nicht.<br />
Oft bestimmen der unmittelbare Vergleich mit der Peergroup im Umfeld Werte,<br />
E<strong>in</strong>stellungen und Verhalten der Eltern. Erziehung läuft als etwas Selbstverständliches<br />
neben den aktuellen Alltagsbelastungen her. Aus Zeit-, Raum-, F<strong>in</strong>anz- und<br />
Kompetenzgründen verfügen sie über ger<strong>in</strong>ge Förderungsmöglichkeiten, um ihre<br />
K<strong>in</strong>der zu unterstützen und deren persönliche Leistungsfähigkeit günstig zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />
In vielen Fällen s<strong>in</strong>d die Schüler und Schüler<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> ihren Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />
und familiären Verhältnissen mehrfach belastet.<br />
Besonders Mädchen werden schon früh <strong>in</strong> die Rolle der Person gedrängt, die<br />
häusliche Pflichten zu übernehmen haben.<br />
25
26<br />
Die Möglichkeiten von Schule <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen durch speziellen Förderunterricht<br />
für Schüler<strong>in</strong>nen wie Franzi die Lücken zu schließen, dürfen als begrenzt angesehen<br />
werden. Normalerweise s<strong>in</strong>d Schulen personell so knapp besetzt, daß Sondermaßnahmen<br />
kaum regelmäßig durchgeführt werden können.<br />
Insbesondere dann nicht, wenn dauernde Verletzungen <strong>des</strong> Schulpflichtgesetzes<br />
und daraus resultierende längere Fehlzeiten vorliegen.<br />
Orientiert man sich an e<strong>in</strong>em realistischen Schulmodell, so kommt h<strong>in</strong>zu, daß<br />
Gesprächskreise von Eltern, Lehrern und Schülern, die Zusammenarbeit mit außerschulischen<br />
E<strong>in</strong>richtungen, Kontakte mit Kollegen etc. sicherlich auch e<strong>in</strong>en<br />
hohen zusätzlichen Zeitaufwand be<strong>in</strong>halten.<br />
Ferner ist zu berücksichtigen, daß Lehrer weder von ihrer Ausbildung, noch von<br />
ihren alltäglichen Aufgaben her, Therapeuten s<strong>in</strong>d. Der Lehrer, der <strong>in</strong>tensiv auf<br />
den E<strong>in</strong>zelfall e<strong>in</strong>geht, um pädagogisch helfen zu können, ist auch auf die Unterstützung<br />
von Fachleuten angewiesen.<br />
Häufig s<strong>in</strong>d pädagogische Präventionskonzepte besonders aussichtslos, wenn<br />
die Befürchtung besteht, daß sie schulische Leistungen, Anforderungen und Stoffpläne<br />
<strong>in</strong> Frage stellen.<br />
Zu e<strong>in</strong>er erfolgreichen Förderung gehören jedoch auch Möglichkeiten zur nachträglichen<br />
Korrektur von Schulversagen. Diese Modelle betreffen besonders Schüler<br />
und Schüler<strong>in</strong>nen, die sich schon früh dem Bildungssystem entzogen bzw. auch<br />
nach Durchlaufen von Zusatzmaßnahmen den Hauptschulabschluß nicht geschafft<br />
haben. Darunter s<strong>in</strong>d jene Heranwachsende zu verstehen, die die Schule vor Erreichen<br />
e<strong>in</strong>es Abschlusses verlassen und deren Erziehungs- und Förderungsansprüche<br />
weder durch die Familie noch durch die Schule ausreichend sichergestellt werden<br />
konnten. Für diese Jugendlichen ist es notwendig, „ihnen angemessene Formen<br />
der Entfaltung schulisch relevanter Leistungen sowie Möglichkeiten der beruflichen<br />
und sozialen Integration zu gewährleisten“ (Hurrelmann, S. 178).<br />
Die Jugendwerkstatt für Mädchen der Stadt Essen, ist e<strong>in</strong>e Maßnahme, die sich<br />
stärker als bisher üblich an den außerschulischen Lebenserfahrungen und -<br />
bedürfnissen von jungen Mädchen orientiert.<br />
In der Jugendwerkstatt besitzt „Schule“ wesentlich mehr Kapazitäten, um Lernfreude,<br />
gesun<strong>des</strong> Selbstvertrauen und realistische Erfolgszuversicht zu fördern und<br />
immer wieder kompensierend und aufbauend zu wirken.<br />
Welche Voraussetzungen waren dafür im ersten Jahr <strong>des</strong> Modellversuches notwendig?<br />
– Es wurde nicht im 45–M<strong>in</strong>. Rhythmus unterrichtet. Das zeitliche Limit wurde<br />
bestimmt, durch das Lern- und Leistungsvermögen bzw. das Arbeitstempo und<br />
die Interessenlage der Mädchen.<br />
– Die Beurteilung erfolgte nicht auf der Basis von Noten, vielmehr erhielten die<br />
Schüler<strong>in</strong>nen alle 4 – 6 Wochen <strong>in</strong>dividuelle mündliche oder schriftliche Beurteilungen.<br />
Zum 1. und 2. Halbjahresende wurden Wortgutachten erstellt. Diese<br />
Schülerberichte hatten e<strong>in</strong>en besonderen pädagogischen Wert für die Teilnehmer<strong>in</strong>nen.<br />
Sie charakterisierten die persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten,<br />
die gezeigt worden waren. Ferner ermöglichten sie Schule, <strong>in</strong> differenzierter Form<br />
über den schulischen Leistungsstand zu berichten und zusätzlich konnten <strong>in</strong>dividuelle<br />
soziale und andere Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mädchen vermittelt<br />
werden.
– Solche Profilbereiche können <strong>in</strong> drei Richtungen wirken:<br />
Sie dienen als Hilfe und Anregung zur persönlichen Lern- und Leistungsverbesserung.<br />
Sie würdigen auch Leistungen der Schüler<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> alternativen Arbeitsbereichen<br />
und stützen das Selbstwertgefühl.<br />
Sie tragen dazu bei, über e<strong>in</strong>en Bildungsgang zu <strong>in</strong>formieren, <strong>in</strong> dem zwar bestimmte<br />
schulische Qualifikationen <strong>in</strong> nicht immer ausreichendem Maße erworben<br />
wurden, aber andere <strong>in</strong>sbesondere im beruflichen Bereich verwertbare Fertigkeiten<br />
und Fähigkeiten nachgewiesen werden können. Zusätzlich tragen sie<br />
zu e<strong>in</strong>er Aufwertung von Abgabezeugnissen bei.<br />
– Die Materialien für den Unterricht wurden nach schüler- und mädchengerechten<br />
Kriterien zu den e<strong>in</strong>zelnen Fächern ausgewählt und zu Arbeitsmappen zusammengestellt.<br />
– Die Arbeitsmappen ermöglichten, die schrittweise Bewältigung von Anforderungen<br />
und trugen dazu bei, Lernkapazitäten freizusetzen. Die Mädchen konnten<br />
je nach Interesse <strong>in</strong>dividuell arbeiten, ihre eigenen Arbeitsschwerpunkte erkennen<br />
und mit Unterstützung zu e<strong>in</strong>er qualitativen Fehleranalyse gelangen.<br />
– Auf längerer Sicht hatten unterschiedliche Konstellationen die Entstehung massiver<br />
Schulängste, das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten und die Ausbildung<br />
von Blockierungs- und Vermeidungsverhalten als Überforderungssymptome<br />
bewirkt. Somit stand im Vordergrund, diesen Mädchen mit<br />
problematischen Familienverhältnissen, fehlgelaufener Sozialisation und e<strong>in</strong>er<br />
tiefen Erschütterung <strong>des</strong> seelischen Gleichgewichts das Gefühl zu vermitteln,<br />
daß sie den Absichten und Handlungen der Lehrer<strong>in</strong> vertrauen können, von ihr<br />
als Person akzeptiert werden und <strong>in</strong> kritischen Situationen von ihr Hilfe erbitten<br />
und erwarten können.<br />
Vertrauen zu erwecken ist das Ergebnis täglichen Bemühens gewesen, als Person<br />
und als Lehrende <strong>in</strong> den Augen der Schüler<strong>in</strong>nen zuverlässig, ehrlich und hilfsbereit<br />
zu se<strong>in</strong>. Dies mag etwas banal kl<strong>in</strong>gen, stellt aber nicht <strong>des</strong>toweniger die<br />
Grundlage aller Versuche dar, im Unterricht Angst abzubauen.<br />
Die Mädchen fühlen sich jetzt durch Verständnis, Akzeptanz, Zuwendung, Zutrauen,<br />
Anerkennung, Geduld und Unterstützung ermutigt und wagen sich immer<br />
mehr an die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten heran.<br />
Reaktionen wie Angst, Abwehr, Verweigerung, Vermeidung, Rückzug, Passivität<br />
und vornehmlich depressive Haltungen werden nicht mehr begünstigt und das<br />
positive Bef<strong>in</strong>den wird immer bewußter erlebt und gelebt, mit dem Ergebnis der<br />
größeren Bereitschaft, aktiv an der eigenen Lebens- und Berufsplanung mitzuarbeiten.<br />
Die Geschichte von Franzi und die dazu gehörenden Karikaturen haben wir<br />
mit freundlicher Genehmigung der Psychologie–Verlags–Union, We<strong>in</strong>heim,<br />
dem Buch „Teufelskreis Lernstörungen“, D. Betz und H. Breun<strong>in</strong>ger, 1993,<br />
3. Auflage, entnommen.<br />
27
Wenn Schulverweigerer Schule machen…<br />
Schule <strong>des</strong> Lebens im Überschneidungsbereich von<br />
Jugendhilfe und Schule<br />
Karlhe<strong>in</strong>z Thimm (Hennickendorf)<br />
Schule im Gegenw<strong>in</strong>d<br />
„Manchmal sitze ich am Schreibtisch und könnte nur noch heulen”, sagt Sab<strong>in</strong>e<br />
Gärtner. Ich kenne diese Lehrer<strong>in</strong> nur aus der Zeitschrift „Brigitte“. Mag se<strong>in</strong>, sie ist<br />
Fiktion, e<strong>in</strong> Retortenprodukt aus professioneller Schreibtischperspektive. Aber ihre<br />
niedergeschriebenen Sorgen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e erdachte Räuberpistole. Montag morgen,<br />
Hauptschule <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er süddeutschen Kle<strong>in</strong>stadt, 14jährige Jungen und Mädchen,<br />
E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Klasse. Frau Gärtners Klagen:<br />
– Pflanzen von der Fensterbank auf dem Boden<br />
– Klasse überdreht<br />
– 3 Jugendliche mit glasigen Augen<br />
– 4 kommen zu spät: „Hab verpennt“<br />
– 7 Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler fehlen<br />
– 10 M<strong>in</strong>uten, bis Ruhe e<strong>in</strong>kehrt<br />
– Die Hälfte ohne Hausaufgaben<br />
– Fast alle haben ke<strong>in</strong>en Bock auf Sozialkunde: „Das parlamentarische System<br />
und die Parteien“<br />
– O–Ton vom Elternabend: „Me<strong>in</strong> Junge säuft nicht,<br />
der tr<strong>in</strong>kt mal ne Flasche“; „Dann tun Sie doch was.<br />
Sie s<strong>in</strong>d doch die Lehrer<strong>in</strong>“; „Die Intelligenz für den<br />
Abschluß hat er“<br />
„Zum Schluß wollen wir basteln. Nur sechs haben<br />
etwas dafür mitgebracht. Ingo zieht Bett<strong>in</strong>a mal<br />
eben aus Jux an den Haaren. Sie schreit. Ich schmeiße<br />
ihn raus. Dann mache ich den Bastelschrank auf.<br />
Vor e<strong>in</strong>er Woche aufgeräumt, nun ist alles wieder<br />
durche<strong>in</strong>ander. Klebstoff ist über den Stapel<br />
Zeichenkarton gelaufen; von 24 Scheren s<strong>in</strong>d noch<br />
vier da.<br />
Die Jugendlichen lachen albern h<strong>in</strong>ter me<strong>in</strong>em Rükken.<br />
Ich raste total aus. Brülle und drohe mit e<strong>in</strong>er<br />
Klassenarbeit und dem Elternabend.<br />
Nachmittags über den Klassenarbeiten. Wie wenig<br />
selbst im Kurzzeitgedächtnis hängen bleibt. 18 Fehler<br />
<strong>in</strong> fünf Sätzen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Ausnahme. Deutsche<br />
Aufsätze von Schülern, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr die Schule<br />
verlassen werden. Was soll aus jemandem werden,<br />
29
30<br />
der nicht mal das Wort „Stuhl“ richtig schreiben kann?! Stil und auch Inhalt spielen<br />
sowieso ke<strong>in</strong>e große Rolle an der Hauptschule.<br />
Es kl<strong>in</strong>gelt. Vier me<strong>in</strong>er Schüler und Schüler<strong>in</strong>nen stehen vor der Tür. Mark drückt<br />
mir verlegen e<strong>in</strong>e Rose <strong>in</strong> die Hand. Wir sitzen den Nachmittag im Wohnzimmer,<br />
hören Musik, reden über Eltern, Liebe, Schule. Sie wollen sich Mühe geben.<br />
Ich denke, ich b<strong>in</strong> zur Hälfte Sozialpädagog<strong>in</strong>. Und die andere Hälfte...?“<br />
– Klassenfahrt: Ausgelassenheit, Spielen, Grillen, Anvertrauen, Rührung...<br />
Schule ist nicht schuld. Aber die Institution hat, ob sie will oder nicht, elementare<br />
Sozialisationsleistungen zu vollbr<strong>in</strong>gen, weil sich vieles nicht mehr von alle<strong>in</strong><br />
versteht. Sie ist<br />
– Lernort und Lebensraum<br />
– Platz für Bildung und Beziehung, Geselligkeit, Freundschaft<br />
– Kontext für Zertifikationserwerb und jugendlichen Ausdruckselan<br />
– Milieu für Selektionsstreß und freundliche Umgangserwartung.<br />
Schule muß also bis Klasse 10 Primärerfahrungen ermöglichen, etwa: Zuhören<br />
und Resonanz spürbar werden lassen, Dase<strong>in</strong>sberechtigung und Werterleben abstützen,<br />
mangelnde Beheimatung und Geborgenheitsdefizite kompensieren,<br />
Konfliktkultur <strong>in</strong>stallieren und Zukunftsoptimismus miterzeugen u. a. m.. Nicht<br />
zuletzt, das wollen auch Eltern: Schule soll traditionell qualifizieren, muß beurteilen,<br />
sieben, letztlich plazieren und doch immer auch Randständigkeit und Ausgrenzung<br />
verh<strong>in</strong>dern, <strong>in</strong>tegrieren etc..<br />
Das bedeutet unter dem Strich manchmal Quadratur <strong>des</strong> Kreises, aber allemal:<br />
Selbstverständnis, Sichtweisen und Raum–Zeit–Sach–Strukturen, Gesellungsformen<br />
und methodische und didaktische Pr<strong>in</strong>zipien stehen auf dem Prüfstand.<br />
Gäbe es Schule nicht, würde niemand, der Bildung heute völlig neu entwerfen<br />
und organisieren dürfte, auf die mit Abstand betrachtet recht absurde Idee kommen,<br />
30 K<strong>in</strong>der oder Jugendlichen mit e<strong>in</strong>em Erwachsenen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Raum zu sperren,<br />
20 solcher Gebilde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus zu vere<strong>in</strong>en und alle 45 M<strong>in</strong>uten die Erwachsenen<br />
rotieren zu lassen. Dieses anachronistische Verfahren ist allerd<strong>in</strong>gs<br />
kostengünstig und verwaltungsfreundlich. Jedoch, Schule neu denken ist leichter<br />
als Schule schülergerecht und lehrerverträglich, gesellschaftsdienlich und als eigenberechtigte<br />
Gegenwartszeit, bunt und lebendig, s<strong>in</strong>nhaft und akzeptiert zu gestalten<br />
und machen. Aber richtig bleibt – und <strong>in</strong> dem durch mich vertretenen Projekt<br />
versuchshalber, <strong>in</strong> der Arbeit mit leistungsschwachen Schülern etabliert – das,<br />
was <strong>in</strong>nere Schulreform heute beansprucht und auf Länderebene auch<br />
schulgesetzlich absichert:<br />
– Auf der Organisationsebene: Selbständigkeit, Profilbildung, dezentrale<br />
Mittelverwendung, Öffnung: zur Nachbarschaft, zum Stadtteil zum Beispiel<br />
– Auf der Ebene <strong>des</strong> Unterrichtens, <strong>des</strong> Bildens, <strong>des</strong> Lernens:<br />
– B<strong>in</strong>nendifferenzierung, Förderung der Langsamen und Herausforderung der<br />
Flotten<br />
– Neigungsbezüge durch flexible Stundentafel, also Kerncurriculum (z. B. 60%) plus<br />
fakultative Elemente<br />
– Offensive Vertretung von exemplarischem Lernverständnis<br />
– Freiarbeit und Wochenplanarbeit
– Erfahrungs-, Erlebens-, Jetzigkeitsorientierung<br />
– Fächerübergreifender Unterricht, Lernbereichsdidaktik, Projekte<br />
– Produkt- und Handlungsausrichtung<br />
– Ganztagsschule und Stärkung außerunterrichtlicher Aktivitäten<br />
– Lernentwicklungsberichte<br />
– Realitätsbezüge, zur Arbeitswelt, zu außerschulischen Lernorten, E<strong>in</strong>bezug<br />
externer Expert<strong>in</strong>nen und Experten u. ä.<br />
Schule be<strong>in</strong>haltet und umfaßt – das ist das ABC der Aufgaben- und Funktionsbestimmung<br />
— Wissenserwerb<br />
— Schon- und Schutzraumfunktion<br />
— E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> Kultur und Gesellschaft<br />
— Ergänzung zur Familienerziehung<br />
— Berechtigungverteilung, Lebenschancenzuteilung, Plätzezuweisung für das<br />
Morgen<br />
Neu ist nunmehr, daß neben dem Lehren (Schüler als Objekt) und Lernen (Schüler<strong>in</strong><br />
als Subjekt) drei andere Modalitäten auch jenseits <strong>des</strong> Grundschulbereichs<br />
zunehmend Legitimation erlangen:<br />
1. Begleiten, Unterstützen, Beraten oder modern: Hilfe zur Selbstsozialisation,<br />
2. Spiel und Arbeit als berechtigte Bildungspr<strong>in</strong>zipien und -medien<br />
3. Leben (zulassen), also auch unterrichts- und erziehungsfreie Zeit <strong>in</strong> Schule<br />
erlauben<br />
Schule ist nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Das entspricht nicht ihrem<br />
Auftrag – und es würde die Institution überfordern. Aber sie muß außerschulische<br />
Erfahrungen ernstnehmen und veränderte Bildungsverständnisse ermöglichen.<br />
Sonst wird der Vorwurf, daß Schule hochwissenschaftlich bzw. bildungsbürgerlich–<br />
zeitwidrig das Falsche anbiete, von Jugendlichen <strong>in</strong> der Sekundarstufe I so gefüllt,<br />
daß ihre Leiber und Seelen sich mehr und mehr <strong>in</strong> Totstellreflexe, <strong>in</strong> Emigration, <strong>in</strong><br />
Widerständigkeit flüchten.<br />
Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule<br />
Kann die Jugendhilfe, die Sozialpädagogik hier beispr<strong>in</strong>gen? Untersuchen wir<br />
die Gesetzeslage (aber z. B. auch die Indikationen für Heimerziehung), so fällt zunächst<br />
auf, daß für die Jugendhilfe Schule zentral ist, umgekehrt fällt <strong>in</strong> der Regel<br />
kaum e<strong>in</strong> Nebensatz ab.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs, wenn Jugendhilfe sich selbst wahrnimmt und präsentiert und Schule<br />
etikettiert, dann erhalten wir schnell die Polarität <strong>des</strong> „gut“ versus „böse“. Ich rezitiere,<br />
Schule <strong>in</strong> erster und Sozialpädagogik <strong>in</strong> zweiter Nennung:<br />
– Pflicht, Zwang – Kür, Selbstbestimmung<br />
– Leistung – Beziehung: Vertrauen, Unterstützung, Hilfe, daraus mehr oder<br />
wenigerableitbar:<br />
– Monologisch–direktive Kultur – Dialogische Aushandlungskultur<br />
31
32<br />
– Konkurrenz – Kooperation<br />
– Selektion – Förderung<br />
– Kognitiver Schwerpunkt – Ganzheitlichkeit<br />
– Berufsrolle und Selbstbild: Wissensvermittler – Berufsrolle und Selbstbild: Helfer<br />
– Zukunft, Vorbereitung auf Leben – Gegenwart, Hier–und–Jetzt–Thematiken<br />
– Unparteilichkeit, ohne Ansehen der Person – Parteilichkeit<br />
– Äußerliche Ziele und Produkte – Prozesse<br />
– Fremdbestimmte Sache, Stoff – Zweckfreie Kommunikation, Spiel, selbstdef<strong>in</strong>ierte<br />
Probleme<br />
– Streß, Spannung – Entspannung, Spontaneität<br />
– Hierarchie – Partnerschaft<br />
Diese zugespitzten Gegensätze s<strong>in</strong>d nicht beliebig auflösbar; für Unterschiede<br />
und Verständigungsprobleme gibt es also strukturelle Gründe. Ich frage – gemäß<br />
me<strong>in</strong>es Themas und Auftrages – zunächst von der Seite der Sozialpädagogik her<br />
nach Schule und b<strong>in</strong> mir der Schieflage bzw. E<strong>in</strong>seitigkeit bewußt. Ich weiß: Von<br />
der Schule und der Jugendhilfe zu reden, greift zu kurz. Denn selbst Institutionen<br />
gleicher Art s<strong>in</strong>d hochvariant, geprägt von Klima, Kultur, vor allem jenen Pädagog<strong>in</strong>nen<br />
und Pädagogen, die mit ihren unterschiedlichen persönlichen Möglichkeiten<br />
und ihrem unterschiedlichen Engagement dort tätig s<strong>in</strong>d und Qualität entscheidend<br />
prägen.<br />
Dennoch, es gibt Möglichkeiten und Berechtigungen zur Pauschalisierung, es<br />
existieren Unterschiede, die <strong>in</strong> Auftrag und Funktion, Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und<br />
Geschichte, diszipl<strong>in</strong>ären und <strong>in</strong>stitutionellen Identitäten, B<strong>in</strong>nenstrukturen, Status,<br />
E<strong>in</strong>kommen angelegt s<strong>in</strong>d und demzufolge Blickrichtungen und Vorgehensweisen<br />
weich determ<strong>in</strong>ieren. Erlauben Sie mir noch e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zum Verhältnis<br />
von Jugendhilfe und Schule, Bildung und Sozialpädagogik.<br />
Schule – so Hans Thiersch – ist trotz der Vielgestaltigkeit der empirischen<br />
Institutionen e<strong>in</strong> <strong>in</strong> staatlicher Zuständigkeit weith<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlich strukturierter Bereich,<br />
bestimmt von durchgehenden Aufgaben, repräsentiert <strong>in</strong> gesettelten<br />
Institutionen, begründet und gestützt <strong>in</strong> festen und öffentlich akzeptierten Traditionen<br />
ohne existenzbedrohende Rechtfertigungsnöte. Jugendhilfe organisiert sich<br />
dagegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Buntheit von Trägerschaften, Konzepten und Profilen. E<strong>in</strong>richtungen<br />
geraten zu Recht häufig nicht groß, Traditionen s<strong>in</strong>d unübersichtlich und<br />
öffentlich nur bed<strong>in</strong>gt respektiert. Oft s<strong>in</strong>d die Sozialen aus der Position der selbsterlebten<br />
Drittklassigkeit und zudiktierten M<strong>in</strong>derwertigkeit nach wie vor <strong>in</strong> Beweisnöte,<br />
Legitimations- und Reputationsgefechte verstrickt. Die Vielgestaltigkeit und<br />
Offenheit aber gibt Chancen und birgt Gefahren. Die Chancenseite be<strong>in</strong>haltet u.<br />
a. die Profilierung als humane Veranstaltung mit e<strong>in</strong>em hohen Maß an Akzeptanzorientierung,<br />
ritualarmer Kreativität und großen <strong>in</strong>dividuellen Verfügungs- und<br />
Gestaltungsspielräumen.<br />
In den auch hier und heute <strong>in</strong> Rede stehenden Vorhaben der Kooperation zwischen<br />
Bildung und Jugendhilfe wird mit jungen Menschen gearbeitet, deren Schwierigkeiten<br />
häufig durch Schule verstärkt, nicht selten mitproduziert worden s<strong>in</strong>d.<br />
Aus sozialpädagogischer Sicht wirkt, z. T. noch e<strong>in</strong>mal nach Thiersch – für die<br />
Zielgruppe der Schulmüden, nur exemplarisch unterfüttert, folgen<strong>des</strong> kontraproduktiv:
– In der Schule gelten Regeln und Aufgaben, Ansprüche und Leistungskriterien<br />
allgeme<strong>in</strong>, ohne Ansehen der Geschichte und Lage der E<strong>in</strong>zelnen. Das schulische<br />
Alltagsgeschäft wird durchgesetzt gegen Gleichgültigkeit, Öde, Widerstände<br />
– bei Lehrkräften und Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern.<br />
– In der Schule zählen Wissen, Stoff. Praktische und soziale Erfahrungen bleiben<br />
randständig.<br />
Provokant Thiersch: Schule verspiele die Chance zum Bildungsabenteuer <strong>in</strong> der<br />
Anstrengung um Wissensplunder.<br />
– Noten und Beurteilungen wirken zentral. Der Prüfstand ist selbstverständlich<br />
und allgegenwärtig. Dadurch ausgelösten Prozessen von Mißerfolg, Demütigung,<br />
Scheitern steht die Institution Schule mehr oder weniger achselzuckend h<strong>in</strong>nehmend<br />
gegenüber.<br />
Sozialpädagogik sieht e<strong>in</strong>e Schule, die mit ihrem Bildungsauftrag Schwierigkeiten<br />
hat und den Erziehungsauftrag nur viertelherzig annimmt.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs: S<strong>in</strong>d Sozialpädagog<strong>in</strong>nen Pädagog<strong>in</strong>nen, die ke<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong>nen werden<br />
wollten, – nicht unüblich –, dann mischen sich <strong>in</strong> die analytische Sachlichkeit<br />
eigene Er<strong>in</strong>nerungen, Enttäuschungen und Abrechnungen.<br />
Manche Soziale def<strong>in</strong>ieren sich dann identifikatorisch womöglich als Rächer der<br />
Entrechteten. Jedoch, sich im Loft der lupenre<strong>in</strong>en, bedürfnisorientierten, alle<strong>in</strong><br />
auf Selbstbestimmung fußenden Menschenfreundlichkeit zu bewegen bzw. dies<br />
zu beanspruchen, ist e<strong>in</strong>e Selbsttäuschung bzw. e<strong>in</strong>e endliche Identität, die im<br />
Fegefeuer der Undankbarkeit verbrennt. Auch Sozialpädagogik, auch Jugendhilfe<br />
– mißt Jugendliche an generellen Durchschnittsnormen, verwaltet Zwänge und<br />
paßt an,<br />
– kann im Alltagsdruck eigenen, selbstauferlegten Maßstäben und Ansprüchen<br />
nicht immer gerecht werden, wird auch bestimmt durch Müdigkeit, Enttäuschung,<br />
Feigheit, Genügsamkeit,<br />
– grenzt aus und schiebt ab, zwischen Heim, Straße, Psychiatrie und Gefängnis<br />
etwa,<br />
– hat bereichs<strong>in</strong>tern Schwierigkeit mit Kollegialität, Partizipationsorientierung,<br />
Transparenz und anderem mehr.<br />
Es fiel schon immer leichter, eigene Sorgen am anderen, am Gegenüber zu bekämpfen.<br />
Nur darf diese Selbstkritik nicht den nüchternen Blick auf die Sache verstellen.<br />
Jedoch, für Bildungsprojekte, nicht zuletzt mit schulflüchtigen Jugendlichen, s<strong>in</strong>d<br />
sozialpädagogische Perspektiven unerläßlich. Zum Beispiel:<br />
1. Jugendhilfe berücksichtigt Biographie und aktuelle Lebenssituation von K<strong>in</strong>dern<br />
und Jugendlichen und ist pr<strong>in</strong>zipiell verstehend orientiert. Ihr zentrales Medium<br />
ist die Herstellung und Stabilisierung von Kontakt und Beziehung zwischen Professionellen<br />
und Adressaten. Für viele Jugendhilfejugendliche s<strong>in</strong>d Sozialpädagog<strong>in</strong>nen<br />
und Sozialpädagogen die Menschen, zu denen sie das meiste Vertrauen<br />
haben.<br />
Soziale s<strong>in</strong>d jedoch – nach me<strong>in</strong>er Vorstellung – nicht die Alimentierer und<br />
Alibisierer, die Tanzmariechen, die mechanisch auf jugendlichen Pfiff reagieren.<br />
Sozialpädagogik darf nicht mechanisch immer Verständnis haben. Das hat mit<br />
33
34<br />
Verstehen als Aufspürung und Ressourcenerweiterung nicht unbed<strong>in</strong>gt etwas zu<br />
tun. Jugendhilfe wird damit <strong>in</strong>tern und extern unglaubwürdig. Gegen e<strong>in</strong>engende<br />
Modernismen sollte Jugendhilfe sich m.E. die gesamte Breite möglicher pädagogischer<br />
Kontaktmodalitäten erlauben.<br />
Sie ist jedoch ke<strong>in</strong>esfalls – zur anderen Seite gesprochen – der verlängerte Arm,<br />
das Dienstmädchen von Schule, oder auch nicht: Der Speck, mit dem man Mäuse<br />
fängt.<br />
Forderung 1: Schulische Bildung muß die Beziehungsebene stärken.<br />
2. Jugendhilfe mit ihren Erfahrungen von Rand und Krise sieht mit greller Deutlichkeit<br />
strukturelle Veränderungen <strong>in</strong> der Gesellschaft und die Auswirkungen auf<br />
junge Menschen.<br />
So erlebt zum Beispiel die Helferschaft sehr viel unmittelbarer e<strong>in</strong>e Jugendkultur,<br />
die geprägt ist durch Eigenwilligkeit, Gegenwärtigkeit, Expressivität. Jugendhilfe<br />
hat e<strong>in</strong>en ganz anderen Blick auf Gesellung, auf Gruppengrößen, auf jugendliche<br />
Bewegkräfte, auf Erfolgskriterien und Belohnungssysteme, auf Kommunikation<br />
und Dialog, auf Angebotsorientierung jenseits von Sanktion und Gratifikation.<br />
Sie versteht zu werben, sich <strong>in</strong> offenen Situationen zu verhalten, Geist,<br />
Körper und Seele zusammenzuschauen und sich – manche bedauern das – <strong>in</strong><br />
der Zielsicherheit immer wieder zu relativieren. Und Jugendhilfe kennt beglükkende<br />
Erfahrungen von Leidenschaft, Durchhaltekraft und Eigens<strong>in</strong>n <strong>in</strong> bester<br />
Wortbedeutung.<br />
Forderung 2: Schule muß sich mehr als angebotsorientierter Dienstleistungsbetrieb<br />
verstehen und dabei den ganzen Menschen wiederentdecken.<br />
3. Jugendhilfe weiß um die Unabd<strong>in</strong>gbarkeit von Teamarbeit, Kollegialberatung<br />
und angeleiteter Selbstreflexion. Tradition und Berufsverständnis machen Lehrkräfte<br />
zu E<strong>in</strong>zelkämpfern.<br />
Forderung 3: Schule muß auch ihrem Personal das abnötigen, was sie ihren Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schülern abverlangt: Den S<strong>in</strong>n für das Ganze, für schulische Geme<strong>in</strong>schaft<br />
und enge kollegiale Kooperation.<br />
4. Jugendhilfe zentriert ihr Bemühen um den unverwechselbaren E<strong>in</strong>zelnen und<br />
bemüht sich um Kompetenzorientierung. Schule favorisiert das reibungslose<br />
Funktionieren <strong>des</strong> Großbetriebs, sieht das System, fokussiert Neben- und Folgewirkungen<br />
<strong>in</strong>dividualisierender, besondernder Schritte. Aus Sicht von Schule wird<br />
immer die Lernproblematik bzw. die Schulstörung akzentuiert, verbunden mit<br />
Abhilfeverlangen, auch mit Blick auf die Lerngruppe, Schulaufsicht, Schulleitung,<br />
Eltern, Nachbar-, Über-, Unterschulen.<br />
Forderung 4: Schule muß schemasprengende Individualisierung zulassen und Unterstützungsprämissen<br />
prioritär setzen.<br />
Nun kann es nicht gehen, daß Schule <strong>in</strong> der Sekundarstufe I Sozialpädagogik pur<br />
betreibt. Zusammenwirken <strong>in</strong> Koexistenz ist angesagt, und zwar auch, weil der<br />
Zusammenhang von Schul- und Sozialkarriere im positiven wie im S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Mißl<strong>in</strong>gens<br />
bekannt ist. Wer <strong>in</strong> Schule scheitert, hat durchschnittlich perspektivisch kaum
Chancen. Beide – Schule und Jugendhilfe – haben e<strong>in</strong>en der elterlichen Erziehung<br />
zu- und nachgeordneten Auftrag. Beide s<strong>in</strong>d dem Zweck verpflichtet, dem Wohl,<br />
der Persönlichkeitsentwicklung und der Gesellschaftsfähigkeit junger Menschen<br />
zu dienen.<br />
Aus Sicht von Schule könnte man mit gewissem Recht zum Beispiel e<strong>in</strong>wenden:<br />
1. Schule gibt ehrlicherweise nicht vor, über etwas verhandeln zu können, was nicht<br />
offen ist.<br />
Mit ihrem Bildungsauftrag verliert sie sich nicht <strong>in</strong> bedürfnisabhängiger Zufälligkeit<br />
und spontaner Beliebigkeit. Schule betreibt das notwendige und schwere<br />
Geschäft der Forderung, der Grenzsetzung und Reibung. Sie steht für das Morgen<br />
als Anwalt von Zukunft und verwaltet den Ernst <strong>des</strong> Lebens mit.<br />
2.Schule hat Absichten und Ziele auf Grund übergreifender Wertsetzung, möchte<br />
und muß diese gesellschaftlich hochumstrittenen Def<strong>in</strong>itionen <strong>in</strong> Bildung organisieren<br />
und für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler letztlich sicht- und meßbare Produkte<br />
hervorbr<strong>in</strong>gen.<br />
3.Dabei geht es um nicht weniger als z. B. um Selbstverpflichtung aus E<strong>in</strong>sicht,<br />
Sozialität als Haltungsset, „Allgeme<strong>in</strong>bildung“, „Kulturgüter“, „M<strong>in</strong>imalkonsens“<br />
– im Interesse der Etablierung von Zivilgesellschaft und der verb<strong>in</strong>dlichen Thematisierung<br />
der Überlebensfragen von Planet und Gattung.<br />
Diese nicht h<strong>in</strong>tergehbaren, unverzichtbaren Erwartungen und Funktionsanforderungen<br />
eignen sich nicht zur Denunziation. Über das “Wie” muß und wird zu<br />
streiten se<strong>in</strong>. Für die komplexen, widersprüchlichen Aufgaben quittiert Schule u.<br />
a. über begrenzte Zeit und stagnierende Mittelzuflüsse.<br />
Nun wissen wir auch aus Sek. I–Reformschulen vom Allerfe<strong>in</strong>sten von Schulmüdigkeitsquoten<br />
von 20%; 10% (plus/m<strong>in</strong>us) schwänzen mehr oder weniger regelmäßig,<br />
je nach Schultyp und damit korrespondierendem Bildungselan und Zukunftschancen;<br />
e<strong>in</strong> ähnlich hoher Prozentsatz verläßt die E<strong>in</strong>richtungen ohne<br />
Abschluß; Raten radikaler Schulverweigerung liegen – je nach Def<strong>in</strong>ition und Maßstab<br />
– zwischen 0,5 und 2%.<br />
Schulverweigerung<br />
Diese Jugendlichen auf ihrem Weg <strong>in</strong>s schulische und gesellschaftliche Totalabseits<br />
– sie kennen sie alle – zeigen erwartungswidriges, unangepaßtes, erfolgsarmes<br />
Verhalten <strong>in</strong> Schule: Symptomatisch s<strong>in</strong>d sie leistungsschwach oder aggressiv,<br />
resigniert oder gar depressiv, regelunwillig und provokant, ängstlich oder<br />
unkontrolliert, enttäuschbar oder konzentrationsarm, mutlos und kurzatmig, massiv<br />
kontaktbee<strong>in</strong>trächtigt oder jenseits jeglicher Planungsfähigkeit – und sie ersche<strong>in</strong>en<br />
häufig als kaum belastbar und leicht verunsicherbar und kränkbar. Ich<br />
will nur kurz über das weite Feld von Schulmüdigkeit und Schulaversion unserer<br />
Zielgruppe sprechen.<br />
Alterstypisches Schwänzen wurde auch <strong>in</strong> Brandenburg zu e<strong>in</strong>er durchaus alterstypischen<br />
Modalität <strong>des</strong> Umgangs mit der Institution. Tagesschwänzen imponiert<br />
gemäß e<strong>in</strong>er Studie <strong>des</strong> Brandenburger Instituts für K<strong>in</strong>dheits-, Jugend- und Fami-<br />
35
36<br />
lienforschung (1993) mit etwa 5% <strong>des</strong> Schüleranteils an Gesamtschulen. Das „Kavaliersdelikt“<br />
Eckstundenschwänzen brachte es auf stattliche 25% junger Menschen<br />
<strong>in</strong> der Sekundarstufe I, die zielgerichtet „zu anstrengende“ bzw. „s<strong>in</strong>nlose“ Stunden<br />
flüchten, „unsympathische“ Lehrkräfte bestreiken bzw. dann und dort agieren,<br />
wo ke<strong>in</strong>e Sanktionen befürchtet werden. Nur wenige verweigern Schule massiver.<br />
Ex negativo: Schulverweigerung <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Verständnis ist nicht identisch mit<br />
Schwänzen, unregelmäßigem Schulbesuch, unentschuldigtem bzw. entschuldigten<br />
Fehlen/Krankschreibung bzw. Schulphobie. Und: Jegliche Form der <strong>in</strong>ternen<br />
oder externen Schul- und Lernflucht ist allemal e<strong>in</strong> komplexes Geflecht von bed<strong>in</strong>genden<br />
Momenten, Begleit- und Folgeersche<strong>in</strong>ungen. In me<strong>in</strong>em Zusammenhang<br />
unterscheide ich zunächst zwischen passiver und aktiver Schulflucht:<br />
– Die passive Form be<strong>in</strong>haltet alle Formen der nachhaltigen <strong>in</strong>neren Emigration<br />
im Unterricht: Inaktivität, Abschalten, Träumen etc..<br />
– Aktive Schulverweigerung impliziert entweder Destruktion bzw. Provokation über<br />
normalisierbares Stören (Ablehnung, Nichterfüllung, Lehrkräfte ärgern, Protest,<br />
Beleidigungen etc.) h<strong>in</strong>aus, und zwar im Unterricht, oder dauerhafte, tendenziell<br />
irreversible Absenz, um während der Schulzeit anderen Beschäftigungen nachzugehen.<br />
Die aktiven SchulverweigerInnen zeigen Autonomie gegenüber den<br />
Erwartungen der Umwelt und nehmen – nicht immer so erlebte – Nachteile konsequent<br />
<strong>in</strong> Kauf.<br />
Letztere Form der aktivistischen, agierten und dennoch regressiven „Schulkritik“<br />
wird besonders deutlich wahrgenommen, weil hier die Flucht auf die Spitze getrieben<br />
und e<strong>in</strong>e gültige gesellschaftliche Zentralnorm ohne Rücksicht auf Folgen verletzt<br />
wird.<br />
In der Literatur – besonders oben genannter Studie – wird unterschieden zwischen:<br />
– Notorischen, irreversiblen Schulverweigerern mit e<strong>in</strong>em hohen Widerstand gegenüber<br />
Lernen, e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Haltung gegenüber Schule und Lehrkräften.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs wird durch diese Fokussierung der Brandenburger Kollegen der Typus<br />
<strong>des</strong> depressiven Schulverweigerers nicht erfaßt.<br />
– Permanenten Langzeitschulverweigerern, die dennoch mit Schule bzw. e<strong>in</strong>zelnen<br />
Unterrichtenden noch nicht völlig gebrochen haben. Sie tauchen sporadisch<br />
<strong>in</strong> der Schule oder <strong>in</strong> der Nähe auf, haben noch Kontakt zu SchulbesucherInnen<br />
und zeigen weniger starke Devianztendenzen.<br />
– Intervallverweigerern, die besonders nach nicht bewältigten Konflikten mit Lehrkräften<br />
oder Mitschülern längere Zeit nicht gehen.<br />
– Kurzzeitverweigerern, die e<strong>in</strong>e exzessive Form <strong>des</strong> Schwänzens betreiben und<br />
mit Regelmäßigkeit e<strong>in</strong>en oder mehrere Tage fehlen.<br />
Je spezifische Charakteristika, Dynamik bzw. Verlaufsformen, Anlässe, ursächliche<br />
Entstehungszusammenhänge sowie Interventionsmöglichkeiten s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs<br />
noch unerforscht.
Interessant wäre es sicherlich, zum Beispiel zu untersuchen:<br />
– Klassifizierungskriterien<br />
– Ersche<strong>in</strong>ungformen von Schulverweigerung und Typisierungen<br />
– Quantitative Ausprägung der jeweiligen Formen<br />
– Ursachen<br />
– Art und Ausmaß <strong>in</strong> Abhängigkeit von Alter, Schulart und Geschlecht bzw. Leistungsvermögen<br />
und Persönlichkeitsspezifik <strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong> bzw. der<br />
Unterrichtsfähigkeiten, <strong>des</strong> Selbstverständnisses von Lehrkräften<br />
Die Gründe der Schulflucht lassen sich z. B. klassifizieren <strong>in</strong><br />
Schulische Bed<strong>in</strong>gungen<br />
– Häufige Schulwechsel/Schultourismus<br />
– Probleme mit der Institution und dem S<strong>in</strong>n der Veranstaltung<br />
– Probleme rund um die Lehrerpersönlichkeit (Variablen etwa: Verständnis für<br />
Jugendliche, Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n, Führungsstil/Verhalten <strong>in</strong> Machtkämpfen u. a.)<br />
– Probleme rund um die Haltung zur und Reaktion von Lehrkraft und Institution<br />
auf Schulaversion<br />
– Unterrichtsqualität (Fach- und didaktische Kompetenz, Anregungsgehalt,<br />
Schülere<strong>in</strong>bezug, Tempo, E<strong>in</strong>hilfen für Schwächere (Kard<strong>in</strong>althematiken für manifeste<br />
Verweigerung, im folgenden kursiv)<br />
– Überalterung<br />
– Angst, vor Blamage, Versagen etc.<br />
Schulische Bed<strong>in</strong>gungen/Schülerseite<br />
– Klima <strong>in</strong> der Klasse<br />
– Normen <strong>in</strong> der Lerngruppe<br />
– Isolation und Randständigkeit<br />
– Opfer von Gewalt<br />
– Subgruppenzugehörigkeit<br />
Schulexterne Bed<strong>in</strong>gungen<br />
– Abweichen<strong>des</strong> Verhalten als<br />
Cliquennorm/Modelle von Verweigerung<br />
im Nahraum<br />
– Familiale Faktoren (Schulaversion<br />
der Eltern, eigenes Scheitern,<br />
Funktionsverlust der Eltern, Indifferenz,<br />
symbiotische Verstrikkung<br />
etc.)<br />
– Biographische Faktoren/Versager-<br />
und Störeridentität als frühe<br />
lebensgeschichtliche Thematiken.<br />
In den Foren: Vertiefung<br />
37
38<br />
In ihrer Selbste<strong>in</strong>schätzung erstellen SchulschwänzerInnen gemäß Forschungs<strong>in</strong>stitut<br />
–wieder nur Eckstunden- und Tagesschwänzer – diese Rangfolge an Gründen,<br />
wobei Gefahren der Verschleierung, Rationalisierung, „Veredelung“ (Institut)<br />
mitbedacht werden müssen:<br />
1. Langeweileerwartung (36,9%)<br />
2. Animation durch Gleichaltrige (27,5%)<br />
3. Leistungskontrollen (19,5%)<br />
4. Erwartung von Konflikten mit Lehrkräften (14,7%)<br />
5. Erwartung von Konflikten mit Schülern (10,7%)<br />
Mädchen begründen ihre Abwesenheit eher mit Angst vor Leistungsversagen,<br />
Jungen mit drohenden Konflikten.<br />
Bevor ich am Ende e<strong>in</strong>ige Auswertungsgesichtspunkte zu der Arbeit im<br />
Schulversuch „Schule <strong>des</strong> Lebens“ vortrage, der <strong>in</strong> der Vorbereitungsmappe ja<br />
ausreichend dokumentiert ist, noch e<strong>in</strong>ige Leitl<strong>in</strong>ien zur Flucht-, Schwänz-,<br />
Verweigerungsprävention für Regelschule <strong>in</strong> Anlehnung an die Brandenburger<br />
Forschungsergebnisse:<br />
1. Unterricht muß mehr Spaß machen. Das fordert die Lehrkräfte, den Unterricht<br />
didaktisch–methodisch offener und schülerzentrierter, überraschender und animierender<br />
zu gestalten.<br />
2.Bildungs<strong>in</strong>halte s<strong>in</strong>d auf Nützlichkeit und Lebensweltbezug zu überprüfen.<br />
3.Brüchen <strong>in</strong> Bildungsbiographien ist Aufmerksamkeit zu widmen. (Für mehr als<br />
60% der Schüler aus dem Projekt “Schule <strong>des</strong> Lebens” begann der Aus- und Abstieg<br />
nach der Grundschulzeit <strong>in</strong> Klasse 7)<br />
4.B<strong>in</strong>nendifferenzierung muß Leistungsschwächere, Langsamere, Unmotiviertere<br />
besonders <strong>in</strong>s Auge nehmen und fördern.<br />
5.Tagesschwänzen ist ernst zu nehmen und muß E<strong>in</strong>hilfen zeitigen.<br />
6.Angst von SchülerInnen vor Mitschülern ist auf die Spur zu kommen, Repression<br />
ist zu unterb<strong>in</strong>den.<br />
7. Dem Klassenklima, den offenen und heimlichen Normen muß Aufmerksamkeit<br />
gewidmet werden.<br />
8.Leistungskontrollen dürfen nicht irreversible Angst generieren.<br />
Im Schulversuch lernen drei genu<strong>in</strong>e Störer, sieben „Flüchtl<strong>in</strong>ge“ und zwei „Mischtypen“.<br />
In der sicherlich ke<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Evaluierung<br />
<strong>des</strong> schulischen Scheiterns der Projektjugendlichen <strong>in</strong> der “Schule <strong>des</strong> Lebens” zeigen<br />
sich als Primärfaktoren (mit folgender Sekundärsymptomatik) <strong>in</strong> der Rangordnung<br />
der Bedeutsamkeit:<br />
1. Leistungsthematiken<br />
2.Repression und Isolation <strong>in</strong> der Schülergeme<strong>in</strong>schaft<br />
3.Machtkämpfe mit Lehrern bzw. Übernahme von Lehrererwartungen
4.Ausfall elterlicher Unterstützung, Orientierung, Kontrolle (erhebungsproblematisch<br />
h<strong>in</strong>sichtlich der ursächlichen Ebene, nicht verstanden und nachgewiesen<br />
als quasiautomatische Folgeersche<strong>in</strong>ung)<br />
Zirkulär dynamisierend bei allen drei Typen wirken – und letztlich ist nicht mehr<br />
unterscheidbar, was Ursache, Wirkung und damit erneut kausal prägend wurde:<br />
– Des<strong>in</strong>teresse bzw. Aufgeben und Fraternisieren im Elternhaus,<br />
– das Gefühl, <strong>in</strong> der Lehrerschaft abgeschrieben zu se<strong>in</strong>,<br />
– Gewöhnung an Ablehnung und demzufolge Resistenz gegenüber Sanktionierung,<br />
– ger<strong>in</strong>ge Kompetenzerwartungen und neue Furcht vor Versagen sowie dann auch<br />
reale erneute Mißerfolgserfahrung,<br />
– ke<strong>in</strong>e Chance mehr zu haben und dann letztlich aufzugeben und völlig fern zu<br />
bleiben.<br />
Verweigererschule: „Schule <strong>des</strong> Lebens“<br />
In diesen Kontexten <strong>des</strong> Totalausstiegs ohne Rückfahrsche<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den wir die Klientel<br />
der „Schule <strong>des</strong> Lebens“ mit durchschnittlich siebenmonatiger Schulabwesenheit.<br />
Was passiert <strong>in</strong> der Schule <strong>des</strong> Lebens? Vielleicht zur Illustrierung e<strong>in</strong><br />
ausschnitthafter E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> den Tagesablauf.<br />
Morgens rollt der schuleigene VW–Bus 90 M<strong>in</strong>uten durch den Landkreis, um die<br />
Jugendlichen an vere<strong>in</strong>barten Treffpunkten abzuholen. Auch Lehrkräfte nehmen<br />
auf ihrem Weg zur Schule e<strong>in</strong>zelne Jugendliche mit. Schwänzen gibt es bei uns<br />
nicht; der Krankenstand ist <strong>in</strong> der Regel niedrig. Selten muß man jemanden aus<br />
dem Bett kl<strong>in</strong>geln. Im Auto wird palavert; man startet mit dichtem Kontakt und<br />
gew<strong>in</strong>nt E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Verfassung der Jugendlichen. Der Erwachsene ist Vertrauensperson,<br />
man duzt sich, kann erste Absprachen für den Tag treffen. Spätestens<br />
beim E<strong>in</strong>treffen <strong>in</strong> der Waldvilla wird die erste Zigarette gequalmt. Sie begrüßen<br />
die anderen und wir merken: Viele kommen nicht zuletzt <strong>des</strong>halb, weil sie die Geme<strong>in</strong>schaft<br />
suchen und brauchen. Am Vormittag gibt es e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Pause, die die<br />
PädagogInnen nach dem Stand der Arbeit und der Verfassung der Jugendlichen<br />
festlegen. Nach den 90m<strong>in</strong>ütigen Blöcken ist Aktivitäten- bzw. Fachwechsel angesagt.<br />
Die Atmosphäre entwickelt sich unterschiedlich. Manchmal herrscht fast gespenstische<br />
Ruhe, dann gibt es Lachen, Schreien, Toben.<br />
Oft sieht man <strong>in</strong> der Arbeitszeit ke<strong>in</strong>e<br />
Jugendlichen, dann wieder versuchen e<strong>in</strong>zelne, unentschieden<br />
zu pendeln. Sie werden sofort angesprochen.<br />
Vorbildlich, ohne jede Unregelmäßigkeit<br />
und Beanstandungen wird <strong>in</strong> der Werkstatt geschafft.<br />
Die Arbeit <strong>in</strong> den Lernbereichen und den AGs verläuft<br />
mit wechselndem Engagement. Wir erleben H<strong>in</strong>gabe<br />
und Des<strong>in</strong>teresse, Ausweichverhalten und Leidenschaft,<br />
Talentiertheit und lahme Suche, starke und<br />
schwache Arbeitsergebnisse.<br />
39
40<br />
In den Pausen gibt es lustige oder ernste Gespräche mit den Erwachsenen oder<br />
Tischtennis-, Fußball-, Basketball-, Federballspiel; e<strong>in</strong>ige Jugendliche werden durch<br />
den “Bauwagenobmann“ <strong>in</strong> den eigenen Pausenbereich gelassen, andere lümmeln<br />
am Raucherpilz rum, wieder andere müssen zum wiederholten Mal aus dem Lehrerzimmer<br />
komplimentiert werden.<br />
Der abschlußorientierte Unterricht f<strong>in</strong>det Vormittags statt. Um 12.30 Uhr beg<strong>in</strong>nt<br />
das Nachmittagsprogramm, mit e<strong>in</strong>em Wechsel nach dem ersten Block um<br />
14.00 Uhr. Um 15.30 Uhr beg<strong>in</strong>nt der Rücktransport. Viele wollen nach Hause,<br />
manche nicht. H<strong>in</strong> und wieder putzt e<strong>in</strong> Jugendlicher die Schule oder re<strong>in</strong>igt das<br />
Gelände und bessert sich dadurch das Taschengeld auf. Mittwochs ist nunmehr im<br />
zweiten, dem Brückenjahr h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die ungeschütztere Realität kont<strong>in</strong>uierlich zehn<br />
Monate h<strong>in</strong>durch Betriebspraktikum mit Praxislernen angesagt.<br />
Die Schule <strong>des</strong> Lebens ist e<strong>in</strong> erfolgreiches Bildungsangebot. E<strong>in</strong>e entschulte<br />
„Schule <strong>des</strong> Lebens“ als ebenfalls durchaus zeitfressen<strong>des</strong> Arrangement möchte<br />
Wirklichkeit aus erster Hand bejahen und nicht nur Zukunft simulieren. Sie will<br />
mit den Gegenwartserfahrungen arbeiten, mit solchen aus dem B<strong>in</strong>nenraum und<br />
jenen von draußen. Sie beansprucht also, für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler aktuell<br />
bedeutsam se<strong>in</strong>. Sie beansprucht, Verstehens- und Gestaltungshilfe zu offerieren.<br />
Gerade für 13– bis 16jährige ist Schule be<strong>in</strong>ahe generell Qual, richtet durchschnittlich<br />
– gemessen am Verhältnis von Aufwand und Ertrag, Absicht und Wirkung –<br />
wenig aus. Das ist e<strong>in</strong> uraltes Thema, ke<strong>in</strong> Produkt der Postmoderne.<br />
Des<strong>in</strong>teresse wird nicht zuletzt auch <strong>des</strong>halb generiert, weil die Institution die<br />
Lebensthematiken der Altersgruppe <strong>in</strong> den <strong>in</strong>formellen Bereich abdrängt, also ignoriert:<br />
Selbsterprobung, Beziehungshunger im Peerbereich, Emanzipation von Bevormundung,<br />
Erlebnis- und Abenteuerdrang, produktives Tun, Körperlichkeit und<br />
S<strong>in</strong>nlichkeit.<br />
Dialog, Begleitung, Verstehen von Lebenswelten und Bewältigungspolkas heißen<br />
die Säulen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Betreuungsansatz, der Beziehung vor Erziehung setzt.<br />
Wir siedeln diese Beziehungspädagogik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alltag mit klar strukturierten,<br />
regelmäßigen, überschaubaren und nachvollziehbaren Tagesabläufen im Rahmen<br />
e<strong>in</strong>es handlungs- und erlebnisorientierten Konzepts an.<br />
Der Erlebnis- und Werkbereich s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Anhängsel. Die Erlebnispädagogik –<br />
für manche Jugendliche echte, hürdenreiche Herausforderung – ist u. a. diagnostisch<br />
relevant, ermöglicht Persönlichkeitsstabilisierung und Zuwachs an Gruppenselbststeuerung.<br />
Beide Bereiche werden mit dem unterrichtlichen Geschehen verknüpft. Motivation<br />
über Produktorientierung, Bezugsstiftung über das „verb<strong>in</strong>dende Dritte“ jenseits<br />
von Verbalität s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesen Kontexten besonders möglich. Im Werkbereich<br />
gehen wir zentral von den Fähigkeiten der Jungen aus und ermöglichen Erfahrungen<br />
<strong>des</strong> Gel<strong>in</strong>gens. Ziel ist, die gestörte Beziehung der Jugendlichen zu sich selbst<br />
zu verbessern und e<strong>in</strong> positiveres Weltbild zu begünstigen.<br />
Doch die eigene Position der Erwachsenen und ihre Vertretung bzw. Spiegelung<br />
von Realität ist damit nicht obsolet. Wir haben ke<strong>in</strong>e Unvere<strong>in</strong>barkeitsbeschlüsse:<br />
Entweder dialogisch–partnerschaftlich oder lenkend–setzend; entweder störungsdiagnostische<br />
oder kompetenz- und ressourcenorientierte Sichtweisen; entweder<br />
Konfrontieren oder Unterstützen oder zulassende Symptomtoleranz etc.. Unsere<br />
Fähigkeit und Bereitschaft zum „Sowohl als auch“ konkretisiert sich <strong>in</strong> jedem Fall
neu, auf der Grundlage von Kontaktakzeptanz hier (Jugendlichenseite) und von<br />
Dase<strong>in</strong>, Dabeise<strong>in</strong>, von H<strong>in</strong>sehen, aber auch sozialpädagogischer Diagnose und<br />
Förderplanung (Professionellenseite) dort.<br />
Aus dem Verstehen folgt nicht seriell die automatische Bedienung von Impulsen<br />
der Jugendlichen. Wir arbeiten auch sozialpädagogisch hochdifferenziert. Das, was<br />
fehlt, gebraucht wird und <strong>in</strong>diziert ersche<strong>in</strong>t, ist für Peter, Paul und Mario unterschiedlich.<br />
Teilschritte und -ziele für e<strong>in</strong>zelne Jugendliche variieren, z. B.:<br />
Erleben von exklusiver Beziehung im “Solo“ und Lernen an Modellen, Ruhe und<br />
Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g von Standardsituationen, Übung lebenspraktischer Fertigkeiten und Fremdwahrnehmung<br />
und Rückmeldung, Übernahme von Verantwortung und Erregungsabbau<br />
durch Ausagieren, E<strong>in</strong>übung von Grenzsetzung und Durchbeißen statt Flucht<br />
und/oder Aufgabe, Platzf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefüge von Unter- und Überlegenheit<br />
und Kümmern und Zuwendung (aber auch dosierte Abkehr), Beachtung der Basisbedürfnisse<br />
(Zugehörigkeit, Sicherheit, Werterleben etc.) und Gruppenversammlungen,<br />
die die Themen <strong>des</strong> Zusammense<strong>in</strong>s auf die Tagesordnung setzen<br />
(Schlagen, Klauen – bei<strong>des</strong> <strong>in</strong>zwischen bei Null, Demütigen, Geld, Putzen,<br />
Verreisen, Eifersucht, Angst), Mitbestimmung und orientierende Normierung etc..<br />
Die im Konzept vorgesehenen pädagogischen Mittel und Ebenen stammen nicht<br />
vom anderen Stern: Es geht um Entlastung von Druck, um Arbeit mit Niveaus der<br />
Selbstbesorgung und Versorgung, um Auszeiten/Time out und abnehmen<strong>des</strong> <strong>in</strong><br />
Ordnung br<strong>in</strong>gen; wir arbeiten mit vorsichtigem Körperkontakt und gemäß <strong>des</strong><br />
Pr<strong>in</strong>zips ”dicht halten”, wir ignorieren oder/und forcieren das Motivverstehen im<br />
Plenum durch andere, wir greifen e<strong>in</strong> und halten ab, wir belohnen und vermitteln<br />
mit Nachdruck Verhaltensregeln. Und immer fragen wir nach dem biographischen<br />
S<strong>in</strong>n und der sozialen Funktion ihres Tuns und Unterlassens. Im Pr<strong>in</strong>zip geht es –<br />
variiert nach E<strong>in</strong>zelfall – um Ermutigung, Selbstwertstärkung, Abbau von Angst,<br />
Orientierung, Unterdrückung von Störverhalten bzw. Entwicklung von funktionalen<br />
Äquivalenten für symptomatisches Verhalten.<br />
Was wurde erreicht?<br />
E<strong>in</strong>ige Stichworte: In diesem Bildungsvorhaben herrscht gute Stimmung! Schwänzen<br />
ist im Projekt Fremdwort. Es gibt ke<strong>in</strong>e Gewalt. Unterricht f<strong>in</strong>det – wenn auch<br />
mit wechselnden Erfolgen – regelmäßig statt. Die Deliktbelastung – immerh<strong>in</strong> hatten<br />
alle damit <strong>in</strong> unterschiedlichem Ausmaß etwas zu tun – tendiert gen Null.<br />
Psychosoziale Fortschritte s<strong>in</strong>d unterschiedlich ausgeprägt, die Gruppenselbstregulierung<br />
verbessert sich millimeterschrittig.<br />
Berufstätigkeit ist für die Jugendlichen<br />
zunehmend positiv besetzt.<br />
Es ist schwer zu formulieren, was <strong>in</strong> der<br />
Schule <strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> welchem Ausmaß Spuren<br />
h<strong>in</strong>terläßt. Es ist die Summe der Faktoren<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wohldurchdachten Arrangement.<br />
Zum Wirkungspotential gehören die Plena<br />
und die Wochenauswertungen, der <strong>in</strong>dividuelle<br />
Stundenplan und die Reisen, die Raucher-<br />
Projekte stellen sich vor:<br />
Wie wird was erreicht?<br />
41
42<br />
pausen und das Schlauchboot, die Projektfahrräder und der Transportservice, die<br />
Verköstigung und der Mopedführersche<strong>in</strong>, das menschengemäße Haus und das<br />
animierende Gelände im Freien.<br />
Zum Schluß noch e<strong>in</strong>ige systematisierende Bemerkungen, um Elemente <strong>des</strong> Gel<strong>in</strong>gens<br />
zu durchleuchten:<br />
1. Das Projekt verfügt über Macht:<br />
– Sanktionsmacht – hier rausgeschmissen oder auch nur nach Hause geschickt<br />
zu werden, ist nachteilig und tut weh.<br />
– Belohnungsmacht – die Professionellen verfügen über materielle Mittel, die sie<br />
auch <strong>in</strong>diziert e<strong>in</strong>setzen.<br />
– Macht über die Verteilung <strong>des</strong> Schulabschlusses („e<strong>in</strong>facher“ Hauptschulabschluß<br />
Berufsbildungsreife)<br />
– Und man verfügt über E<strong>in</strong>fluß, per Nützlichkeit und Identifikationsmacht.<br />
2.Das ist e<strong>in</strong> Zentralfaktor: In dem Vorhaben arbeiten Erwachsene, die für Jugendliche<br />
attraktive, glaubhafte und nahbare Orientierungspersonen s<strong>in</strong>d, dabei hochmotiviert<br />
und engagiert, e<strong>in</strong>fühlsam, vertrauenswürdig und humorvoll, optimistisch<br />
und zuverlässig. Die PädagogInnen haben sich <strong>in</strong> Herzen und Köpfe<br />
e<strong>in</strong>gemogelt und e<strong>in</strong>genistet, sicherlich <strong>in</strong> je unterschiedlicher Intensität, aber<br />
mit Prägekraft. Und die Erwachsenen – nicht zuletzt der Leiter – s<strong>in</strong>d die „guten<br />
Autoritäten“, die mit den Themen Grenze, Versagung, Reibung etc. emphatisch,<br />
partnerschaftlich, liebevoll und solidarisch, aber klar und ggf. streng umgehen.<br />
Für die Arbeit mit K<strong>in</strong>dern mit Vaterhunger, mit Vaterlöchern bzw. Mutter – Sohn<br />
– Verstrickungen als biographischem Basisgepäck e<strong>in</strong> notwendiges Wirkkapital!<br />
3.Das Projekt ist schlicht nützlich:<br />
Sie wollen ihren Abschluß. Sie brauchen Taschengeld. Sie möchten den Mopedführersche<strong>in</strong><br />
und benötigen „e<strong>in</strong>e Karre“. Dabei assistieren die Ansprechpartner.<br />
Diese begleiten sie zu Polizei und Gericht, wenn es um Vergangenheitsbewältigung<br />
geht.<br />
Die PädagogInnen transportieren im Auto, Mann und Maus, Sofa und Mopedwrack.<br />
Sie sorgen sich um die Renovierung <strong>des</strong> häuslichen Elendsquartiers. Sie<br />
s<strong>in</strong>d manchmal auch nach der Schule für die Jugendlichen da. Sie geben sporadisch<br />
Kredit und spendieren mal was beim Bäcker oder an der Imbißbude. Sie<br />
wirken auf Eltern e<strong>in</strong> und verreisen mit den jungen Menschen.<br />
Und vieles mehr. Man muß als Jugendlicher nur kalkulieren – und bleibt auch<br />
<strong>des</strong>halb bei der Stange.<br />
4.Aber auch das ist es nicht ausschließlich.<br />
Das Projekt beantwortet ihre basalen existentiellen Grundanliegen (Wer braucht<br />
mich? Was kann ich? Wofür b<strong>in</strong> ich nützlich?) – und nicht zuletzt <strong>des</strong>halb wollen<br />
sie etwas von den Erwachsenen.<br />
– Sie haben Erfolge (statt Mißl<strong>in</strong>gen und Scheitern konstatieren zu müssen)!<br />
– Sie fühlen sich sicher (nicht bedroht).<br />
– Sie erfahren, daß sie den Lauf der D<strong>in</strong>ge bee<strong>in</strong>flussen können und wirksams<strong>in</strong>d,<br />
und zwar <strong>in</strong> ihren Kompetenzbereichen (nicht wirkungslos, ohnmächtig, verzichtbar:<br />
”unnütze Sauerstoffverbraucher”).
– Sie erleben sich als zugehörig (statt e<strong>in</strong>sam, randständig, isoliert) – die Gesamtgruppe<br />
fungiert fast analog zu e<strong>in</strong>er großen ”Zweitfamilie”, im besten S<strong>in</strong>n, d.<br />
h. überschaubar, dicht und doch mit Ausweich- und Wechselmöglichkeiten, kle<strong>in</strong>,<br />
stabil.<br />
– Vielleicht das an vorderster Stelle und damit jenseits von Magie, besonderem<br />
Können, Geheimnis: Das Projekt ist kle<strong>in</strong> und überschaubar, mit gutem Personalschlüssel<br />
ausgestattet. Es ist fast immer jemand für sie da.<br />
E<strong>in</strong>fach: Das Projekt macht ihnen, den Versagern von gestern, e<strong>in</strong> bißchen mehr<br />
Mut und Lust auf Leben.<br />
5. Dieses Vorhaben ist <strong>in</strong> den neuen Ländern angesiedelt. Ich will nicht behaupten,<br />
es wäre so <strong>in</strong> den alten Ländern nicht möglich. Aber ich will schildern, was ich als<br />
Produktivitätsfaktoren erlebt habe:<br />
– Schulaufsichtlich kaum bürokratische Nadelöhre und e<strong>in</strong>e Bereitschaft, Rechtsspielräume<br />
auszunutzen;<br />
– Multitalentierte Professionelle, die zwischen Angebotsbereichen wechseln können;<br />
– Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter, die eher das Medium <strong>des</strong> Tuns favorisieren<br />
statt <strong>in</strong> sprachüberlastige Pädagogik zu verfallen;<br />
– Ke<strong>in</strong>e Bereichsrivalität, ke<strong>in</strong>e Kämpfe um Bedeutsamkeit zwischen Schul-, Sozialund<br />
Werkpädagogik;<br />
– Akzeptanz von unterschiedlichen Mentalitäten, Energien, Modalitäten im Kontakt<br />
zu den Jugendlichen; Konstruktivität im Nebene<strong>in</strong>ander verschiedener<br />
Beziehungsfähigkeiten;<br />
– Aufgaben- und Sachorientierung statt Dauerkreiseln um eigene Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />
und Beziehungsthemen;<br />
– Sehr langer Atem, dehnbare Geduldsfäden bei gleichzeitiger Bereitschaft, auch<br />
<strong>in</strong>struktiv und direktiv mit diesen Jungen zu arbeiten<br />
Echte Mißerfolge? Zwei durch uns forcierte Abbrüche von Jugendlichen, e<strong>in</strong>e<br />
große Enttäuschung, denn die Devise hieß: Ke<strong>in</strong>er darf verloren gehen. Allerd<strong>in</strong>gs,<br />
das Projekt hat sich dadurch entscheidend stabilisiert. Für drei, vier Jugendliche<br />
ersche<strong>in</strong>t der Schulabschluß fern. Viele, alle mühen sich – und manche kommen<br />
nur sehr langsam voran.<br />
Probleme <strong>des</strong> Unterrichts mit dieser Zielgruppe – das erstaunt nicht – s<strong>in</strong>d u. a.<br />
Sach- und Aufgabenbezug ohne Ausweichen, Kompensation und Ersatzhandlungen,<br />
das Durchhalten von längeren Arbeitssequenzen (Konzentration, Leistungsbereitschaft<br />
trotz Hürden etc.), die Steigerung der Niveaus (vom Konkreten zum<br />
Abstrakteren etc.).<br />
Die jungen Menschen ersche<strong>in</strong>en phasenweise kaum belastbar. Wie kle<strong>in</strong>schrittig<br />
und mühselig die Arbeit ist, und daß auch wir vor Stagnation und Enttäuschungen<br />
nicht gefeit s<strong>in</strong>d, möchte ich abschließend verdeutlichen. Aus dem<br />
Auswertungstagebuch <strong>des</strong> Sozialpädagogen bei der zwölftägigen erlebnispädagogischen<br />
Unternehmung im Sommer <strong>1995</strong> <strong>in</strong> Österreich, <strong>des</strong>sen Konsequenzen<br />
am Schluß man teilen mag oder auch nicht. “Schule <strong>des</strong> Lebens” “von unten”:<br />
„Es war den Jugendlichen aus der Schule <strong>des</strong> Lebens z. T. nicht möglich, sich<br />
regel- und erwartungsgerecht <strong>in</strong> Ordnungen zu fügen (Hausordnung, Dienste,<br />
43
44<br />
Küche). Rauchverbote, Alkoholkonsum, Nachtruhe waren ähnlich problematische<br />
Bereiche wie <strong>in</strong> anderen Jugendgruppen auch.(...)<br />
Es war schmerzlich mitanzusehen, wie unbeholfen, l<strong>in</strong>kisch sich e<strong>in</strong>ige Jugendliche<br />
<strong>in</strong> Anforderungssituationen verhielten. Trotz unserer <strong>in</strong>tensiven Vorbereitung:<br />
Nicht wenige behaupteten, sie hätten Abseilen, Sichern, E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den <strong>in</strong>s Kletterzeug,<br />
Trapez, Seilbrücken noch nie gemacht. Ich war teilweise schockiert. Ursachen?<br />
Angst, ke<strong>in</strong>e Lust, zu ger<strong>in</strong>ges Selbstvertrauen... Sie wirken <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung und<br />
Umsetzung kognitiv unbeweglich!(...)<br />
Zum Beispiel Thomas: War e<strong>in</strong>e echte Stütze. Er nahm bereitwillig alle übertragenen<br />
Aufgaben an. Er zieht <strong>in</strong>zwischen für sich genau und deutlich Grenzen, und<br />
das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sozialverträglichen, offenen und ehrlichen, sich selbst gegenüber<br />
verkraftbaren Form. Fast unbemerkt übernahm er Führungsaufgaben, war bemüht<br />
zu helfen und auszugleichen. Unter Streß s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>erlei Überreaktionen zu verzeichnen,<br />
er ist ruhig und besonnen. Er konnte sich immer wieder mobilisieren<br />
und mobilisiert werden.<br />
Zum Beispiel Ronny: Er belastete die Gruppe und war e<strong>in</strong>e Last für sich selbst! Er<br />
lag bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten im Bett und schlief. Se<strong>in</strong><br />
Phlegma als Kompensationsstrategie für erlernte und körperliche manifeste Hilflosigkeit<br />
und Unbeweglichkeit lähmte se<strong>in</strong>e Kameraden. Er schien durch nichts<br />
berührbar. Soviel Gleichgültigkeit als Panzer habe ich selten gesehen. Logisch wurde<br />
er zum Blitzableiter.<br />
Zum Beispiel Marcel: Er tat immer das Notwendige; aber ihm e<strong>in</strong>e Äußerung zu<br />
entlocken, war schier unmöglich. Er gab ke<strong>in</strong>en Anlaß zur Kritik. Auf wohlgeme<strong>in</strong>te<br />
Aufmunterungen reagierte er nicht. Ich b<strong>in</strong> stundenlang h<strong>in</strong>ter ihm her gelaufen<br />
– und es ist mir nicht gelungen, mehr als vier Worte im Stück aus ihm herauszuzaubern.“<br />
Zum Beispiel David: Man kann ihn motivieren – und er ist leistungsfähig. Aber er<br />
kann Situationen kaum e<strong>in</strong>schätzen, ist nur auf sich bezogen, nimmt se<strong>in</strong>e Umgebung<br />
kaum wahr. Er macht, was ihm e<strong>in</strong>fällt, ohne Konsequenzen zu bedenken. Er<br />
reagiert plötzlich, unerwartet, zeigt aktionistische Zerstörungswut. Er verweigert<br />
Flüssigkeitsaufnahme bei drohendem Hitzschlag; er latscht durch abrutschgefährdete<br />
Eisfelder, obwohl auch noch andere am Seil hängen; er tritt aus Frust<br />
gegen Ste<strong>in</strong>e, die dann auf unter ihm laufende Jugendliche fallen können. Er tritt<br />
die Tür zur Gasversorgung im Haus e<strong>in</strong>, wenn er sich ärgert. Er klaut. Ansonsten<br />
ersche<strong>in</strong>t er k<strong>in</strong>dlich, scheffelt bei den Erwachsenen damit Rührung und demzufolge<br />
Hilfsbereitschaft. Wenn man ihn <strong>in</strong> Reichweite hat, geht es. Und wenn er e<strong>in</strong><br />
für sich lohnen<strong>des</strong> Ziel sieht – selten e<strong>in</strong>es, das wir mit ihm teilen –, dann zieht er<br />
los wie e<strong>in</strong>e Dampflok, ist nicht zu halten.“<br />
Dieser Jugendliche ist prototypisch für e<strong>in</strong>e Teilklientel, die uns zunehmend ratlos<br />
macht. Ich zitiere s<strong>in</strong>ngemäß dazu zwei Stimmen aus der Jugendhilfeszene:<br />
„Das Problem ist, daß die K<strong>in</strong>der und Jugendlichen zunächst nicht den E<strong>in</strong>druck<br />
machen, als wäre bei ihnen etwas nicht <strong>in</strong> Ordnung. Du denkst: „Die s<strong>in</strong>d gut drauf“.<br />
Die Probleme s<strong>in</strong>d anfangs h<strong>in</strong>ter der Fassade aus Willigkeitspose, Sche<strong>in</strong>kompetenz,<br />
E<strong>in</strong>sichtsattitüde versteckt. Wie kann man das nennen, was bei denen<br />
los ist? Irgendetwas ist mit dem oder der. Aber was? Der schlägt auf andere e<strong>in</strong>.<br />
Der tut sich was an. Das passiert be<strong>in</strong>ahe gleichzeitig. Aber du kannst nicht sagen,<br />
was war der Impuls. Das kommt alles sche<strong>in</strong>bar ohne S<strong>in</strong>n und Ziel. Du merkst
zwar, daß der mal depressiv ist oder zwanghaft oder fahnenflüchtig oder ungeordnet.<br />
Und dann sche<strong>in</strong>t der oder die wieder ganz klar. Und plötzlich, ganz unerwartet,<br />
da bricht alles zusammen. Da kommt die ganze Labilität zum Vorsche<strong>in</strong> und<br />
die Strukturlosigkeit, die Angst. Also, das bricht aus denen heraus, ohne daß da<br />
e<strong>in</strong> Grund erkennbar wäre.“<br />
„Und der Jugendliche antwortet überhaupt nicht auf das, was du ihm sagst, ihm<br />
durch Verhalten, Impulse vorsetzt, sondern reagiert auf Assoziationen, die sich<br />
aus se<strong>in</strong>em mehr oder weniger diffusen Innenleben entwickeln, aus Phantasie und<br />
Träumen, Bildern aus Filmen und gepumpten Szenen, aus erlittenen Kränkungen<br />
und frühen Traumata. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wieso der mir mit diesem<br />
Verhalten begegnet. Und es ist ke<strong>in</strong> „Meta“ möglich, du kannst das nicht<br />
thematisieren, besprechen, durcharbeiten. Schon überhaupt nicht <strong>in</strong> der Akutsituation<br />
und auch nicht etwas oder sehr viel später danach. Du rennst dann gegen<br />
Beton“<br />
Zurück zur Reise: „Insgesamt war ich enttäuscht: Sie können und/oder wollen<br />
nicht zuhören. Ich erlebe sie nicht als belastbar, und ich vermißte Ehrgeiz. Me<strong>in</strong>e<br />
Schlußfolgerungen für unsere Arbeit im zweiten Jahr:<br />
– Situationen diversifizieren, zergliedern, <strong>in</strong>dividualisieren und differenzieren. Und<br />
dann Sackgassen und Knoten festhalten, wahrnehmen lassen und als Dilemmata<br />
erlebbar machen. Verschiedenartige Anforderungssituationen müssen Lösungsstrategien<br />
sachlogisch erfordern. Ich empfehle: Situationen immer wieder besprechen,<br />
jeden E<strong>in</strong>zelnen se<strong>in</strong> Verhalten überprüfen lassen.<br />
– Überraschungen schaffen. Aber dann kommt es auf die E<strong>in</strong>hilfen an.<br />
– Körperliche und geistige Kondition und Beweglichkeit tra<strong>in</strong>ieren.<br />
– Subjektive Haltungen wachsen lassen und festigen: „Selbstwertgefühl („Ich kann<br />
das!“); Wille („Ich will das! Ich brauche das!“). Entschuldigung: Sie müssen mehr<br />
leiden, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n „Wenn ich das und das will, dann stört mich jenes nicht<br />
entscheidend, dann ertrage ich dieses oder jenes.“ Sie müssen mehr von sich<br />
verlangen, weil sie mehr könn(t)en.<br />
– Sie müssen ihre Körper positiv erleben: „Ich habe Kraft. Ich habe <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> wunderbares<br />
Instrument. Me<strong>in</strong>e Füße s<strong>in</strong>d nicht nur dazu da, um Gas zu geben oder<br />
Pedale zu treten. Me<strong>in</strong>e Hände können viel mehr, als e<strong>in</strong>e Zigarette zu halten.<br />
Me<strong>in</strong> Körper empf<strong>in</strong>det mit mir Freude und Qualen. Und nicht zuletzt: Ich muß<br />
auf mich aufpassen.“<br />
– Team: „Es gibt jemanden, mit dem ich zusammenarbeite. Er ist auf mich, ich b<strong>in</strong><br />
auf ihn verwiesen. Er hilft mir, wenn ich bereit b<strong>in</strong>, ihm zu helfen.“<br />
Bilanz<br />
In der ”Schule <strong>des</strong> Lebens” wird exemplarisch nachgewiesen, daß der KJHG–Katalog<br />
der Hilfen zur Erziehung ke<strong>in</strong>e abgeschlossene Aufzählung be<strong>in</strong>haltet, sondern<br />
tragfähige Alternativen zur Heimerziehung auch und gerade durch Grenzüberschreitungen<br />
möglich s<strong>in</strong>d.<br />
Für die Jugendhilfe s<strong>in</strong>d wir e<strong>in</strong> Geschenk <strong>des</strong> Himmels. Die E<strong>in</strong>mischungsstrategie<br />
<strong>in</strong> den Bildungsbereich gelang, Ressourcenbündelung führt zu vertretbaren Ko-<br />
45
46<br />
sten, das Angebot hat fachliche Qualität, es wirkt und ist jugendhilfepolitisch <strong>in</strong>novativ.<br />
Ausstiegskanäle verbreitern oder eng halten – das ist die grundsätzliche Frage!<br />
Bildungspolitik und -verwaltung mögen nicht daran denken, e<strong>in</strong>e größere Zahl dieser<br />
Schulen besonderer Prägung zu erlauben. Auch, nicht nur, weil dies kaum kostenneutral<br />
wäre. Schule tut sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit ihrem monopolartigen Alle<strong>in</strong>vertretungsanspruch<br />
schwer. Sie mag Schulpflicht nicht auch als Unterrichts- und<br />
Lernpflicht zu denken, die an anderen Lernorten mit spezifischen Akzenten absolviert<br />
werden könnte. Handlungsalternativen <strong>in</strong>nerhalb <strong>des</strong> Regelsystems haben<br />
Vorrang! Ich behaupte jedoch, daß manifeste Schulverweigerer ab 15 Jahren nur<br />
ausnahmsweise “rückführbar” s<strong>in</strong>d. Und ich behaupte weiter, daß für e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />
M<strong>in</strong>derheit auch reformierte Schulen qualvolle Mißerfolgsterra<strong>in</strong>s se<strong>in</strong> können und<br />
werden. Sie nicht alle<strong>in</strong> zu lassen, ihnen Brücken h<strong>in</strong> zu anderen Arten von Lernen<br />
auch schon im Rahmen ihrer Schulpflicht zu bauen und sie dabei zunächst als Kundschaft<br />
von Schule und erst sekundär von Jugendhilfe zu betrachten, muß politisch<br />
offensichtlich noch durchgesetzt werden. Es ist schlicht absurd, daß Jugendhilfe<br />
und nicht Schule selbst das Thema der Schulmüdigkeit offensiv und selbstreflexiv<br />
– statt <strong>in</strong>dividualisierend und schuldzuschreibend an die Adresse der unwilligen<br />
K<strong>in</strong>der und Jugendlichen - <strong>in</strong> die Fachdebatte und Öffentlichkeit lanciert. Attraktive<br />
Schule mit (Teil)Erfolgen für alle ist e<strong>in</strong> Auftrag an Bildung, nicht für die Jugendhilfe!<br />
E<strong>in</strong>e organisierte Wahrnehmung und Bearbeitung von Schulmüdigkeit als<br />
Manifestation e<strong>in</strong>er Krise <strong>des</strong> Systems und e<strong>in</strong>er Krise von und bei Schüler<strong>in</strong>nen<br />
und Schülern existiert bisher nicht!<br />
Richtig bleibt aber, daß sich je<strong>des</strong> Sondersystem neue, nicht ungefährliche Bedarfe<br />
kreiert: <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> vorhandenes Angebote potentiell unbegrenzbare Nachfrage<br />
schafft und Abschieben, Ausgrenzen, Ausweichen und Aufgeben <strong>in</strong> Normalkontexten<br />
befördert. Primär bleibt, Regelschule zu stärken. Wer belohnt Schulen,<br />
die ke<strong>in</strong>e „drop outs“ produzieren?<br />
Dreh- und Angelpunkt aus unserer Sicht ist e<strong>in</strong>e harte Selbstevaluierung <strong>des</strong> eigenen<br />
Vorgehens. Werden postulierte Ziele erreicht? Mit welchen Mitteln und auf<br />
welchen Wegen? Was s<strong>in</strong>d Nebeneffekte? Und: Ergibt sich e<strong>in</strong>e langfristige Stabilisierung<br />
und Integration der Jugendlichen (Deliktbereich; Erwerbsleben, trotz der<br />
Reservearmee der Viermillionen; Beziehungsfähigkeit) auch nach Verlassen <strong>des</strong><br />
Projektes? Hier werden wir unsere Jugendlichen mittelfristig im Auge behalten,<br />
um gegenüber F<strong>in</strong>anziers und Fachöffentlichkeit fundiert über die Wirksamkeit,<br />
Nichtwirksamkeit bzw. beschränkte Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können.<br />
Für die Zukunft dieses Modells wird – neben der Notwendigkeit e<strong>in</strong>es gel<strong>in</strong>genden<br />
zweiten Jahres im laufenden Durchgang und der Wiederholbarkeit der Erfolge<br />
im zweiten zweijährigen Durchgang – entscheidend se<strong>in</strong>, ob der<br />
Bildungssektor <strong>in</strong> diesem Schulversuch nur e<strong>in</strong> Ventil sieht, das Druckablaß ermöglicht<br />
und letztlich nur suggerieren will, neue Lernangebote für diese Zielgruppe zu<br />
unterbreiten. Dann würde man nach vier Jahren für die geleistete Arbeit und wertvolle<br />
Erkenntnisse danken, ohne zweifellos brisante bildungspolitische und<br />
schulpädagagogische Folgedebatten <strong>in</strong> Kauf zu nehmen. Man würde an Regelschule<br />
appellieren, sich zu qualifizieren (dieser zentrale Tagesordnungspunkt hat zurecht<br />
höchste Priorität!) – und (zu spät und nicht im adressatengerechten Design) auf<br />
Leistungen der Jugendberufshilfe setzen bzw. Schulsozialarbeit mit dem Verweis
auf diese ”Problemschüler” <strong>in</strong> die Spur zu br<strong>in</strong>gen versuchen. E<strong>in</strong>e solche denkbare<br />
Entscheidung läßt sich derzeit zwar nicht absehen, kann aber nicht ausgeschlossen<br />
werden. Sie wäre dann jedoch – e<strong>in</strong>e Konsolidierung <strong>des</strong> Erreichten vorausgesetzt<br />
– nicht dem Verlauf und den bisherigen, vorläufigen Ergebnissen <strong>des</strong><br />
Modellversuchs zuzurechnen.<br />
Literatur:<br />
Daschner, P. u. a.: Schulautonomie – Chancen und Grenzen. We<strong>in</strong>heim und München<br />
<strong>1995</strong><br />
Dietrich, P./Institut für angewandte Familien, K<strong>in</strong>dheits- und Jugendforschung e.V.<br />
an der Universität Potsdam: Schulverweigerung von Jugendlichen <strong>in</strong> Brandenburg.<br />
Potsdam 1993<br />
Thiersch, H.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. We<strong>in</strong>heim und München <strong>1995</strong><br />
(2. Auflage)<br />
Thimm, K.: Risiko – Jugend <strong>in</strong> der Großstadt. In: Unsere Jugend 11/<strong>1995</strong><br />
Anhang<br />
Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung<br />
Folgende ursächlichen Faktoren können für Schulverweigerung, Schulflucht Bedeutung<br />
erlangen, wobei die <strong>in</strong> dem Projekt „Schule <strong>des</strong> Lebens“ deutlich markierbaren<br />
zentralen Wirkfaktoren fett gedruckt bzw. gesondert <strong>in</strong> Klammern numeriert<br />
werden:<br />
Schulische Bed<strong>in</strong>gungen (a)<br />
1. S<strong>in</strong>n von Schule <strong>in</strong> ihrer organisatorisch–strukturellen Verfaßtheit für diesen Jugendlichen<br />
(Bündelfaktor, <strong>in</strong> der Listung der Schule <strong>des</strong> Lebens Faktor 1)<br />
2. Probleme im Zusammenhang mit der Lehrerpersönlichkeit<br />
– Akzeptanz, Glaubwürdigkeit<br />
– Verständnis für Jugendliche<br />
– Hilfsbereitschaft<br />
– Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n<br />
– Führungsstil, Verhalten <strong>in</strong> Machtkämpfen (Faktor 4)<br />
3. Haltung gegenüber Schulverweigerung bzw. SchulverweigerInnen (Faktor 5, z.<br />
T. überlappend mit Verständnis und Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n)<br />
47
48<br />
4. Unterrichtsqualität<br />
– Fachkompetenz<br />
– Didaktisch–methodische Organisation von Unterricht<br />
– Motivation, Anregungsgehalt, Spannung<br />
– E<strong>in</strong>beziehung von SchülerInnenwünschen/-<strong>in</strong>teressen<br />
– Tempo der Stoffbearbeitung (Faktor 2)<br />
– E<strong>in</strong>hilfen für Lernschwächere (Faktor 2/identisch mit Hilfsbereitschaft aus dem<br />
Faktorenbündel „Lehrerpersönlichkeit“)<br />
5. Überalterung, dadurch <strong>in</strong>adäquate psychosoziale Entwicklungskontexte<br />
(Faktor 3)<br />
6. Leistungsstand und -zufriedenheit bzw. Umgang der SchülerInnen mit Defiziten<br />
(progressiv/regressiv) (Faktor 2)<br />
7. Angst <strong>in</strong> der Schule als Angst vor Schule<br />
– Angst vor Blamage durch Lehrkräfte (Faktor 6)<br />
– Angst vor Leistungsversagen (Faktor 6)<br />
– Generelle Schulangst<br />
Schulische Bed<strong>in</strong>gungen/SchülerInnenseite (b)<br />
8. Soziale Beziehungen der SchülerInnen<br />
– Klima <strong>in</strong> der Klasse<br />
– Normen <strong>in</strong> der Lerngruppe: Akzeptanz von Leistung, Integration, Rebellion etc.<br />
– Untergruppenzugehörigkeit bzw. (Selbst)Ausgrenzung/Isolation/Demütigung<br />
durch andere Schüler<br />
(Faktor 9)<br />
– Opfer von Gewalt (Faktor 7)<br />
Schulexterne Bed<strong>in</strong>gungen<br />
9. Soziale Peerbeziehungen<br />
– Abweichen<strong>des</strong> Verhalten als Cliquennorm (Faktor 8)<br />
– Modelle von Schulverweigerung <strong>in</strong> Gleichaltrigenkontexten (Faktor 8)<br />
10. Familiale Faktoren (Faktor 10)<br />
– Schulaversion der Eltern durch ungelöste Aktualkonflikte mit Lehrkräften und<br />
Übertragung/Projektion bzw.<br />
„Infektion“<br />
– Schulbiographisches eigenes Scheitern<br />
– Kontakt- und Funktionsverlust als Ansprechpartner<br />
– Indifferenz als Reaktionsform im Rahmen der gescheiterten Eltern – K<strong>in</strong>d – Beziehung<br />
– Symbiotische Verstrickung, Hilflosigkeit
Biographische Faktoren<br />
11. Persönlichkeitsfaktoren, psychische Defizite bzw. Mangel an sozialen Strategien<br />
(Faktor 12)<br />
– Planungsfähigkeiten, Zukunftsperspektivität<br />
– Leistungsmotivation<br />
– Kontrollfähigkeiten<br />
– Selbstdiszipl<strong>in</strong>ierungs-, E<strong>in</strong>ordnungsbereitschaft<br />
12. Störeridentität (Faktor 11)<br />
Sonstiges<br />
13. Häufige Schulwechsel<br />
Zum Projekt Schule <strong>des</strong> Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen<br />
Schulkritisch markierten die Jugendlichen selbst <strong>in</strong> Interviews <strong>in</strong> je unterschiedlicher<br />
Gewichtung und Komb<strong>in</strong>ation folgende Belastungsposten:<br />
– Zu große Klassen und zu große Schulen<br />
– Künstlichkeit von Lehren und Lernen: sie mochten sich nicht „ausquetschen“<br />
und belehren lassen (auch,<br />
nicht nur, weil sie dabei schlecht abschnitten)<br />
– Abstrakte und im S<strong>in</strong>n nicht nachvollziehbare Lern<strong>in</strong>halte <strong>in</strong> Fächerzergliederung<br />
– Hoher Selektionsstreß, ständiger Bewertungsdruck: Beurteilung be<strong>in</strong>haltete für<br />
sie Entwertung, Beschämung<br />
und Blamage<br />
– Exkommunikation von Lebensproblemen; Verständnisarmut gegenüber Jugendlichen<br />
– Lernniederlagen ohne E<strong>in</strong>hilfen<br />
– Bedürfnis-, Lustferne: ihre Talente waren un<strong>in</strong>teressant, nicht gefragt; <strong>in</strong> der „Dr<strong>in</strong>nen“–Schule<br />
kam ihr<br />
”wirkliches Leben“ nicht vor; symbolische bzw. verbale Niveaus dom<strong>in</strong>ierten die<br />
Orientierung an praktischen<br />
Erfahrungen<br />
– Angst vor Mitschülern<br />
– Sture und humorlose LehrerInnen: Autoritätskonflikte degenerierten zu Machtkämpfen<br />
nach dem Gew<strong>in</strong>ner<br />
– Besiegten–Pr<strong>in</strong>zip.<br />
Wir selbst versuchten, Schulflucht systematisch zu verstehen. Vorweg: Erleben<br />
Jugendliche das Schwänzen subjektiv als s<strong>in</strong>nvoll und lohnend, spannungsmildernd,<br />
statussteigernd, erfolgreich h<strong>in</strong>sichtlich von Angstbewältigung etc., kann aus<br />
Schwänzen Verweigerung werden. Geschlechtsspezifisch gilt: Jungen machen „statt<br />
Schule“ <strong>in</strong> der Regel subjektiv befriedigendere Erfahrungen im öffentlichen Raum<br />
als Mädchen. Nicht zuletzt <strong>des</strong>halb s<strong>in</strong>d sie stärker vertreten. Doch e<strong>in</strong>e weitere<br />
49
50<br />
Differenzierung <strong>des</strong> Phänomens Schulverweigerung ist unverzichtbar. E<strong>in</strong>e<br />
ursachenbezogene Typologie umfaßt folgende Dimensionen:<br />
1) Schulverweigerung als Schulproblem: S<strong>in</strong>n und Attraktion im jenseitigen Milieu<br />
2) Schulverweigerung als Leistungsproblematik („zuviel, zuviele, zu schnell...”),<br />
als Phänomen im Kontext von (Teil)Leistungsschwächen<br />
3) Schulverweigerung als Symptom von Überalterung (”1,85 m groß, 16 Jahre, zum<br />
dritten Mal <strong>in</strong> der 7. Klasse”...)<br />
4) Schulverweigerung als Problem der mißl<strong>in</strong>genden Bewältigung von Belastungen<br />
im Kontext von Autoritätsproblematik und Machtkampf mit Lehrkräften<br />
(auch Übertragung bzw. Resonanzphänomene aus der familialen Sozialisation)<br />
5) Schulverweigerung als Übernahme von Lehrerwünschen, ”er möge doch weg<br />
se<strong>in</strong>”<br />
6) Schulverweigerung als Angstsyndrom, als Folge von z. T. sehr subtiler Demütigung<br />
und Blamage durch Lehrkräfte<br />
7) Schulverweigerung als Resultante der Bedrohung und Repression durch Gleichaltrige/Schüler<br />
8) Schulverweigerung als Konsequenz von cliquenbezogenen Zugehörigkeitswünschen,<br />
als freundschaftlicher Loyalitätsbeweis, Bed<strong>in</strong>gung und Ausdruck von<br />
Kohäsion <strong>in</strong> Gruppen, mit der Funktion <strong>des</strong> Statusgew<strong>in</strong>ns <strong>in</strong> „Outlaw“–Kreisen<br />
9) Schulverweigerung als Folge der Unbeliebtheit bei Peers, als Indiz für und Folge<br />
von E<strong>in</strong>samkeit, Isolation, Freundschaftsdefizit, Randständigkeit <strong>in</strong> der Klassengeme<strong>in</strong>schaft<br />
10) Schulverweigerung als Familienproblematik, zentriert um die Themen Orientierung<br />
– Kontrolle – Unterstützung – Ablösungskampf / Autonomiebeweis –<br />
Rache; Tendenzen: Symbiotisch–hilflose Mütter – abwesende bzw. unempathische<br />
Väter. Z. T. Übernahme elterlicher Schulaversion, motiviert <strong>in</strong> deren<br />
Streit mit Lehrkräften oder eigene, elterliche schulische Abbrüche<br />
Dazu kommen <strong>in</strong> der Schule <strong>des</strong> Lebens zwei ursächliche Scheiternskomplexe,<br />
die <strong>in</strong> der ”Identität als Störer” begründet liegen bzw. sich als erhebliche psychische<br />
Defizite <strong>in</strong> den Bereichen der Steuerung, Kontrolle, Planungskompetenzen<br />
etc. zeigen.<br />
Insgesamt standen und stehen bei diesen Jugendlichen <strong>in</strong> besonderer Ausprägung<br />
Lebens- vor Lernfragen. Ohne Anklage: Die regulären Fragen von Schule s<strong>in</strong>d<br />
weniger: „Wie können wir zu e<strong>in</strong>er für beide befriedigenden Beziehung kommen?“<br />
und „Was <strong>in</strong>teressiert dich wirklich?“, sondern: „Wie bekomme ich jemanden umstandslos<br />
dazu, das reproduzieren zu wollen, was sie/er soll?“.<br />
Mehr denn andere erlebten diese Jugendlichen subjektiv: „Man lernt, Antworten<br />
dahersagen, auf Erwartungen, <strong>in</strong> Bezug auf Probleme, Fragen, die man nicht<br />
kennt und die man ohne Schule nicht hätte.“ (H. von Hentig) Gerade autonomiebedürftige<br />
Jugendliche – aus welcher Wurzel auch angetrieben – verachten Schule,<br />
so unsere Erfahrungen aus Interviews, für „Gefangenschaft“, Zeitraub, Pseudokommunikation.<br />
Gemäß unserer Beobachtungen und Deutungen bedeutet gerade<br />
für den aktionistischen Störertyp ihr „Ich mache, was ich will“ zunächst nur: „Ich
mache nicht, was du willst!“ bzw. ”Ich mache nur, was ich kann!”. Sie haben <strong>in</strong> der<br />
Regel sensible Empf<strong>in</strong>dungskanäle dafür, was ihre Würde und Selbstachtung verletzt.<br />
Nach unseren Feldstudien lassen sich grob folgende Typen differenzieren:<br />
– Lernverstörte bzw. -demotivierte Jugendliche im Zirkel von Scheitern –<br />
Unfähigkeitserleben – Angst – Vermeidung – Scheitern – Ersatzbefriedigung etc.,<br />
die „eigentlich willig“ s<strong>in</strong>d, jedoch nicht „mitkamen“, resignierten, durch ”Sitzenbleiben”<br />
neben dem Stigma auch noch über altersunangemessene<br />
Gleichaltrigenbezüge quittierten (”Schulproblem”);<br />
– Soziale Norm- und Regelverletzer bzw. sozialstrategisch Erfolglose – auftretend<br />
als Mitglieder <strong>in</strong> Cliquen mit abweichenden Verhaltenstrends oder als E<strong>in</strong>zelgänger<br />
–, deren „Heimat außer der Reihe ist“, auf Grund von erfahrener Willkür,<br />
Destruktivität bzw. Orientierungslosigkeit u.a. als lebensgeschichtliche Themen<br />
(”biographische Probleme”);<br />
– Lebensgeschichtlich weniger benachteiligte Jugendliche mit Autoritätsthematiken,<br />
die stärker als andere den alterstypischen Kampf gegen Bevormundung<br />
führen und Lehrerhandeln schnell als <strong>in</strong>tolerablen E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> persönliche<br />
Entscheidungs- und Handlungsspielräume erleben bzw. die sich nicht/schlecht<br />
anpassen können oder wollen (”Kompetenz- und Interaktionsproblem”).<br />
51
Schulverweigerung und dann?<br />
Zum Erziehungsauftrag der Schule<br />
Ulrich Thünken<br />
(M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung NRW)<br />
Die Schulpflicht ist e<strong>in</strong>e historische Errungenschaft, die z. B. im Lande Preußen<br />
1717 e<strong>in</strong>geführt wurde. Im geschichtlichen Kontext be<strong>in</strong>haltete sie eigentlich nicht<br />
e<strong>in</strong>e Anforderung an die Jugendlichen, sondern verpflichtete die Erwachsenen,<br />
Jugendlichen den Schulbesuch zu ermöglichen. In e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>der und<br />
Jugendliche regelmäßig zur Erwerbsarbeit herangezogen wurden, war e<strong>in</strong>e Vorschrift<br />
zum Schutz der Jugend.<br />
Soviel zur Vergangenheit. Heute gibt es Probleme mit der Schulpflicht.<br />
Doch zunächst e<strong>in</strong>ige Gedanken zum Bildungsauftrag der Schule:<br />
1. Die Schule erhält ihren Auftrag, K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu bilden, von der Gesellschaft.<br />
Sie soll u. a. Wissen vermitteln, zu verantwortlichen E<strong>in</strong>stellungen<br />
und Werthaltungen erziehen, zur praktischen Bewältigung <strong>in</strong>dividueller Lebenslagen<br />
h<strong>in</strong>führen. Die Anforderungen der Gesellschaft s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs sehr vielfältig:<br />
Kaum e<strong>in</strong> Tag vergeht, ohne daß e<strong>in</strong> Interessenverband an das M<strong>in</strong>isterium<br />
für Schule und Weiterbildung se<strong>in</strong>e Forderung nach e<strong>in</strong>er verstärkten Berücksichtigung<br />
der eigenen Belange durch die Schule anmeldet. Kurz: Anforderungen<br />
an die Schule aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen s<strong>in</strong>d so vielfältig,<br />
daß die Schule sie ke<strong>in</strong>esfalls gleichzeitig erfüllen kann.<br />
2.Die Gesellschaft gibt der Schule den speziellen Auftrag, Berechtigungen zu vergeben.<br />
Die Schule entscheidet darüber, welche<br />
Schulabschlüsse der e<strong>in</strong>zelne Jugendliche erreicht<br />
und welche Berufszugänge ihm damit offenstehen.<br />
Damit wird der Schule - ob sie es will oder nicht -<br />
e<strong>in</strong>e Selektionsfunktion zugewiesen: Sie muß Jugendlichen<br />
bestimmte Bildungsgänge verschließen,<br />
wegen Leistungsmängeln Klassen wiederholen lassen,<br />
Versagen dokumentieren und als Folge solchen<br />
Versagens Berufsmöglichkeiten beschneiden.<br />
Natürlich fordert die Gesellschaft neben dieser<br />
Selektionsfunktion auch Integration von der Schule:<br />
Sie erwartet, daß K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu<br />
Klassengeme<strong>in</strong>schaften zusammengeführt werden,<br />
daß solidarisches Verhalten e<strong>in</strong>geübt wird, daß<br />
Randgruppen und Benachteiligte über die Schule<br />
<strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert werden. Diese widersprüchlichen<br />
Rollen von Schule machen es der Schule<br />
als System und auch vielen Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrern<br />
nicht leicht, wirklich pädagogisch und als<br />
Anwälte der K<strong>in</strong>der und Jugendlichen zu handeln.<br />
53
54<br />
3.Wie wird die Schule von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen selbst gesehen?<br />
Von den Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern wird heute mehr denn je an die Schule der<br />
Anspruch gestellt, Lebensraum zu se<strong>in</strong>. In Familien, <strong>in</strong> denen nur wenige Begegnungen<br />
mit anderen K<strong>in</strong>dern möglich s<strong>in</strong>d, die durch Medienkonsum und oft<br />
mangelhaft ausgeprägte Kommunikation gekennzeichnet s<strong>in</strong>d, wird für die Jugendlichen<br />
die Schule als Begegnungsraum mit Gleichaltrigen immer wichtiger.<br />
Nach e<strong>in</strong>er Befragung von Kölner Schülern durch andere Schüler ihrer Schule<br />
geben etwa 50 % an, sich <strong>in</strong> der Schule sehr oder meistens wohl zu fühlen, 42 %<br />
antworten mit mal ja, mal ne<strong>in</strong> und nur 8 % fühlen sich häufiger nicht oder gar<br />
nicht wohl <strong>in</strong> der Schule. Analysiert man die Untersuchungsergebnisse näher, so<br />
zeigt sich, daß dieses Wohlbef<strong>in</strong>den hauptsächlich auf außerunterrichtlichen Begegnungen<br />
beruht. Fachliches Lernen ist zwar aus Sicht der Schüler wichtig, wird<br />
aber nicht une<strong>in</strong>geschränkt als positiv gesehen. In der Befragung gaben <strong>in</strong>sbesondere<br />
die jüngeren Schüler an, daß sie lieber längere Pausen hätten und damit längere<br />
Zeit <strong>in</strong> der Schule verbr<strong>in</strong>gen möchten.<br />
Eigentlich, so kann man jedenfalls dieser Schüleruntersuchung entnehmen, hat<br />
die Schule gute Chancen, bei K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen Akzeptanz zu f<strong>in</strong>den. Trotzdem<br />
wird sie <strong>in</strong> ihren Methoden und Organisationsformen als erneuerungsbedürftig<br />
empfunden. So würden z. B. sehr viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler anstelle von<br />
frontalen Unterrichtsmethoden und Lehrervorträgen lieber selbst aktiv werden,<br />
mit Mitschüler<strong>in</strong>nen und Mitschülern zusammenarbeiten und stärker an <strong>in</strong>nerschulischen<br />
Entscheidungen sowohl im fachlichen Bereich als auch beim Leben <strong>in</strong><br />
der Schule beteiligt werden. Sicher e<strong>in</strong> Appell an die Schule, sich zu ändern!<br />
Wenn ich nun vor diesem H<strong>in</strong>tergrund der Aufgaben von Schule heute zum Problem<br />
der Schulverweigerer, der Jugendlichen, die von Schule nicht mehr erreicht<br />
werden, komme, so möchte ich hierzu e<strong>in</strong>ige Thesen formulieren.<br />
1. Schulversagen ist <strong>in</strong>sgesamt eher seltener geworden, im E<strong>in</strong>zelfall für den betroffenen<br />
Jugendlichen aber viel massiver und folgenreicher.<br />
Heute verlassen <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen nur noch etwa 6 % der Schüler e<strong>in</strong>es<br />
Jahrgangs die allgeme<strong>in</strong>bildende Schule ohne e<strong>in</strong>en Schulabschluß. Diese Quote<br />
ist ständig gesunken, noch vor 20 Jahren war sie mehr als doppelt so hoch. Für die<br />
Jugendlichen, die am Ende ihrer Pflichtschulzeit ke<strong>in</strong>en Schulabschluß erreichen,<br />
weil ihre Leistungen nicht ausreichten oder weil sie den Schulbesuch ohneh<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
den letzten Jahren versäumt hatten, s<strong>in</strong>d jedoch die Chancen, e<strong>in</strong>en Arbeitsplatz<br />
zu f<strong>in</strong>den und damit dauerhaft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen,<br />
drastisch gesunken.<br />
E<strong>in</strong>fache Arbeitsplätze, die ke<strong>in</strong>e qualifizierte Ausbildung erfordern, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>folge<br />
der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung so drastisch reduziert worden,<br />
daß für viele leistungsgem<strong>in</strong>derte Jugendliche kaum e<strong>in</strong>e reale Chance besteht,<br />
sich mit e<strong>in</strong>igermaßen stabilen Aussichten <strong>in</strong>s Arbeitsleben zu <strong>in</strong>tegrieren. H<strong>in</strong>zu<br />
kommt, daß z. Zt. auch Jugendliche mit guten Schulabschlüssen auf dem engen<br />
Ausbildungsstellenmarkt unter erheblichen Druck geraten und leistungsgem<strong>in</strong>derte<br />
Jugendliche an den Rand drängen.<br />
2.„Schulschwänzen“ hat <strong>in</strong> den massiven Fällen, von denen hier die Rede ist, selten<br />
die Ursache <strong>in</strong> der Schule, die Schule verstärkt jedoch häufig die negative<br />
Entwicklung.
Der Jugendliche, der wegen fehlender Unterstützung <strong>des</strong> Elternhauses Schulunterricht<br />
versäumt, gerät leicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spirale <strong>des</strong> Mißerfolgs: Durch versäumten<br />
Unterricht bleibt positive Bestätigung aus, Schule wird mißerfolgsbesetzt, Ausweichen<br />
davor führt zu e<strong>in</strong>er Massierung von weiteren Schulproblemen. Aufmerksamkeit<br />
<strong>in</strong> der Schule können solche Jugendlichen hauptsächlich durch Störungen erreichen,<br />
diese wiederum verstärken den Negativtrend. Durch daraus folgen<strong>des</strong><br />
Sitzenbleiben wird dem Jugendlichen die Bezugsgruppe, die vielleicht den Schulbesuch<br />
noch attraktiv machte, entzogen, die Spirale dreht sich weiter. Es liegt auf<br />
der Hand, daß e<strong>in</strong>e solche Entwicklung vom Jugendlichen alle<strong>in</strong>, wenn sie denn<br />
e<strong>in</strong>mal massiv e<strong>in</strong>gesetzt hat, schwer zu durchbrechen ist. Wenn Elternhaus und<br />
Schule ke<strong>in</strong>e geeignete Interventionsmöglichkeit f<strong>in</strong>den, ist das Desaster vorprogrammiert.<br />
3.Schule ist als System nicht drauf angelegt, ihre Ressourcen auf die Drop-Outs zu<br />
konzentrieren. Leider erhält sie hierzu auch ke<strong>in</strong>e gesellschaftlichen Anreizsysteme.<br />
Nach wie vor wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit eher die Schule als e<strong>in</strong>e gute<br />
Schule angesehen, die gute Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler hat. E<strong>in</strong>e Schule, der es gel<strong>in</strong>gt,<br />
K<strong>in</strong>der und Jugendliche aus besonderen Problemsituationen herauszuführen<br />
und ihnen Unterstützung zu geben, f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der Öffentlichkeit kaum Resonanz.<br />
Sie muß sich dagegen häufig noch den Vorwurf gefallen lassen, daß sie schwierige<br />
Schüler habe, daß Gewalt und Krim<strong>in</strong>alität an der Tagesordnung seien, daß ihre<br />
Schüler weniger leisteten als andere o. ä. Diese Wahrnehmung kann man bis <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>zelne Klassen, bei Elternabenden oder <strong>in</strong> Lehrerkonferenzen verfolgen: Die Lehrer<strong>in</strong>/der<br />
Lehrer, der sich darauf konzentriert, Jugendlichen <strong>in</strong> besonderen Problemsituationen<br />
<strong>in</strong>tensiv nachzugehen, muß sich oft der Kritik stellen, er vernachlässige<br />
die anderen K<strong>in</strong>der und Jugendlichen se<strong>in</strong>er Klasse. E<strong>in</strong>e Schule, die viele<br />
Jugendliche mit Problemen an andere Schulen abgibt, muß sich <strong>des</strong>halb kaum der<br />
Kritik stellen, sie wird eher als besonders leistungsstark und anspruchsvoll geachtet.<br />
Auch die Gliederung unseres Schulsystems <strong>in</strong> höhere und niedere Schulen, <strong>in</strong><br />
Gymnasien und Hauptschulen, trägt zu dieser Wahrnehmung bei.<br />
4.Am Ende der Negativentwicklung e<strong>in</strong>es Jugendlichen stößt die Schule sehr schnell<br />
an ihre Grenzen. Daher müssen Wege gefunden werden, Schule so zu verändern,<br />
daß die Schule früher auf Probleme der Jugendlichen reagieren kann.<br />
Dies kann hier nur schlagwortartig dargestellt werden: E<strong>in</strong>e k<strong>in</strong>dgerechte Grundschule,<br />
e<strong>in</strong>e Jugendschule, die, wie es Hartmut von Hentig sagt, Lebensraum für<br />
Jugendliche ist, verständnisvoller und professioneller Umgang von Lehrer<strong>in</strong>nen und<br />
Lehrern mit Krisen im häuslichen Umfeld der Jugendlichen, verbesserte Kooperation<br />
unter Schülern, Abbau von Konkurrenz zugunsten von Kooperation könnten<br />
hier Stichworte se<strong>in</strong>. Wenn man sich <strong>in</strong> der Realität unserer Schulen genauer umschaut,<br />
kann man hierzu schon viele positive Beispiele entdecken: Ungezählte K<strong>in</strong>der<br />
und Jugendliche beschäftigen uns <strong>in</strong> diesem Kongreß nicht, weil sie frühzeitig<br />
sensible Erwachsene trafen, die ihre Problemlage erkannten, die als Vertrauenspersonen<br />
angenommen wurden, die Hilfen gaben, stabilisierten, Mut machten und<br />
über Durststrecken h<strong>in</strong>weghalfen und die im Endeffekt dafür sorgten, daß e<strong>in</strong>e<br />
Negativspirale erst gar nicht <strong>in</strong> Gang kam, sondern e<strong>in</strong> ganz normaler Schulbesuch<br />
wieder erreicht werden konnte.<br />
55
56<br />
5.Schule als Teil e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die Drop-Outs nicht nur h<strong>in</strong>nimmt, sondern im<br />
Zustandekommen teils noch begünstigt, bedarf unbed<strong>in</strong>gt externer Unterstützungs-<br />
und Auffangsysteme. Die Jugendhilfe ist e<strong>in</strong>es davon.<br />
Wenn die Schule bei den durchaus widersprüchlichen Anforderungen, die die<br />
Gesellschaft an sie stellt, dar<strong>in</strong> stabilisiert werden soll, Schulverweigerung,<br />
Schulversagen und Schulpflichtverletzungen frühzeitig zu begegnen, dann bedarf<br />
sie vielfältiger Rückmeldungen über ihre Wirkungen, über Negativentwicklungen,<br />
aber vor allem auch darüber, was sie <strong>in</strong> diesem Bereich zu leisten vermag und welche<br />
Chancen noch nicht genutzt werden. Die Jugendhilfe aus ihrer speziellen Sicht<br />
der Problemlagen junger Menschen sollte daher nicht nur e<strong>in</strong>e Auffangfunktion<br />
am Ende e<strong>in</strong>er von der Schule nicht mehr zu lösenden Negativentwicklung haben.<br />
Sie kann im Dialog mit den Schulen dazu beitragen, daß Probleme frühzeitiger<br />
gesehen werden, Lösungsstrategien gefunden und die Sensibilität aller an Schule<br />
Beteiligten für die Probleme von Jugendlichen geschärft werden.<br />
Wenn wir alle im S<strong>in</strong>ne der Jugendlichen, die durch den Rost zu fallen drohen,<br />
mehr erreichen wollen, gibt es ke<strong>in</strong>e Alternative zu e<strong>in</strong>er Bündelung aller Kräfte<br />
und trotz oder vielleicht auch gerade wegen der begrenzten Ressourcen zu e<strong>in</strong>er<br />
verbesserten Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe.<br />
Ber Beruf Ber uf ufsv uf sv svorber svorber<br />
orber orbereitungsklasse orber eitungsklasse (B (BVK) (B VK)<br />
für für über über überalt über über alt alter alt er erte er e und und und sc schulmüde sc hulmüde Sc Schüler Sc hüler<br />
1. Die Die Die Situation<br />
Situation<br />
Für e<strong>in</strong>e nicht ger<strong>in</strong>ge Zahl von Jugendlichen wird das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses<br />
immer unrealistischer.<br />
Es handelt sich <strong>in</strong>sbesondere um überalterte SchülerInnen, die teilweise erst mit<br />
12 Jahren die Grundschule verlassen und dort schon Mißerfolgserlebnisse hatten,<br />
um SchülerInnen, die Klassen anderer Schulformen der Sek. I wiederholt haben<br />
und dann zur Hauptschule gewechselt s<strong>in</strong>d und auch um Seitene<strong>in</strong>steiger, die nach<br />
anfänglicher Beschulung <strong>in</strong> Auffang- oder Vorbereitungsklassen bemerken, daß<br />
sie den Anforderungen <strong>in</strong> den Regelklassen nicht gewachsen se<strong>in</strong> werden.<br />
Zu dieser Klientel gesellt sich die Schar der Schulverweigerer, deren Leistungsrückstände<br />
aufgrund von Langzeitschwänzen so groß geworden s<strong>in</strong>d, daß sie kaum<br />
noch oder bereits nicht mehr aufholbar s<strong>in</strong>d.<br />
Diese SchülerInnen s<strong>in</strong>d durch differenzierende Maßnahmen und alternative<br />
Methoden welcher Art auch immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Regelklasse nicht mehr erreichbar.<br />
2. 2. 2. Die Die Entsc Entscheidung<br />
Entsc Entscheidung<br />
heidung<br />
Trotz der derzeit stark betriebenen Integrationsdiskussion entschied sich die<br />
Lehrerkonferenz der Schule zur Bildung e<strong>in</strong>er besonderen Klasse für diese<br />
SchülerInnen. Mit <strong>in</strong>neren Differenzierungsmaßnahmen, wo auch immer angesetzt,<br />
war Mißerfolg vorprogrammiert. Das Argument, die <strong>in</strong> Frage stehenden SchülerInnen<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Klasse zusammenzufassen, werde sie lediglich stigmatisieren,<br />
wurde überwiegend als sekundär betrachtet.
Die Schulkonferenz stimmte dem Antrag, e<strong>in</strong>e „Berufsvorbereitungsklasse“ zu<br />
bilden, zu.<br />
3. 3. 3. Ziele<br />
Ziele<br />
In dieser Klasse sollen die SchülerInnen den Hauptschulabschluß nach der Klasse<br />
9 erreichen. Die Berufsvorbereitungsklasse (BVK) wird im Schuljahr 1994/95 <strong>in</strong><br />
der Stufe 8 e<strong>in</strong>gerichtet.<br />
– Sie erhält e<strong>in</strong> vermehrtes Angebot aus dem Bereich AW.<br />
– Es wird e<strong>in</strong> Betriebspraktikum durchgeführt.<br />
– Berufswahl und Berufsvorbereitung stehen im Vordergrund.<br />
– Die Klasse soll die Maximalschülerzahl von 16 nicht überschreiten, um e<strong>in</strong>e Teilung<br />
<strong>in</strong> bestimmten Fächern, z. B. dem Fach AT, zu vermeiden. Der Klassenverband<br />
soll <strong>in</strong> allen Unterrichtsbereichen aufrechterhalten werden.<br />
4. 4. Die Die B BBVK<br />
B BVK<br />
VK im im Sc Schuljahr Sc huljahr 11<br />
199 11<br />
99 994/95 99 4/95<br />
Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Schuljahres besuchen 15 Schüler die BVK:<br />
– E<strong>in</strong> Schüler aus e<strong>in</strong>er Vorbereitungsklasse<br />
– Zwei Schüler, die e<strong>in</strong>e Klasse 7 <strong>des</strong> laufenden Schuljahres besuchen müßten<br />
– Drei im 8. Jahrgang nicht versetzte Schüler<br />
– Neun reguläre Schüler <strong>des</strong> 8. Jahrgangs<br />
E<strong>in</strong> Schüler hat zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Schuljahres acht Schulbesuchsjahre absolviert.<br />
Acht Schüler bef<strong>in</strong>den sich im 9. Schulbesuchsjahr, und sechs Schüler besuchen<br />
die Schule im 10. Schulbesuchsjahr. – Es handelt sich um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Jungenklasse.<br />
Die Probleme der Jungen werden als vorrangig betrachtet. Während <strong>des</strong> Schuljahres<br />
verläßt e<strong>in</strong> Schüler die Klasse: Umzug.<br />
5. 5. Lehr Lehr Lehrer Lehr Lehrer<br />
er<br />
E<strong>in</strong>e Klassenlehrer<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> Klassenlehrer leiten die Klasse geme<strong>in</strong>sam. Sie erteilen<br />
bis auf 5 Stunden (3 GP und 2 SP) den gesamten Unterricht der Klasse. Notwendiges<br />
Teamteach<strong>in</strong>g ist aufgrund der Lehrerbesetzung der Schule nicht möglich.<br />
Das Team der drei Lehrer trifft sich bis auf Ausnahmen wöchentlich. Im<br />
Vordergrund steht die Besprechung sozialer und organisatorischer Probleme.<br />
6. 6. U UUnt<br />
U nt nter nter<br />
er erric er ic icht ic ht<br />
Projektorientierte Verfahren und Projektunterricht stehen im Vordergrund. Zur<br />
Zusammenarbeit mehrerer Lehrer bei e<strong>in</strong>em Projekt kommt es nicht. Deutlich wird<br />
die Vorliebe der Schüler für die Arbeit mit dem Computer. Das Fachwissen der<br />
Klassenlehrer<strong>in</strong> und ihre vielfältigen Angebote werden von den Schülern angenommen.<br />
Die eigenen Fertigkeiten auf diesem Gebiet nehmen deutlich zu. Das ist e<strong>in</strong><br />
wesentlicher Bereich, <strong>in</strong> dem sie Sicherheit und damit Selbstbewußtse<strong>in</strong> erlangen.<br />
Unsicherheit herrscht im Lehrerteam bezüglich e<strong>in</strong>er angemessenen Reaktion<br />
auf Unpünktlichkeit und unregelmäßigen Schulbesuch. Individuelle Reaktionen<br />
57
58<br />
werden von den Schülern akzeptiert. Es entsteht e<strong>in</strong>e Basis von Vertrautheit auf<br />
der trotz weiter bestehender vielfältiger Probleme aufgebaut werden kann.<br />
E<strong>in</strong> Hauptproblem bleibt: Jeder braucht den Lehrer unbed<strong>in</strong>gt „jetzt“.<br />
7. . V VVer<br />
V er erhältnis er hältnis der der Sc Schüler Sc hüler unt unter unt er ere<strong>in</strong>ander er e<strong>in</strong>ander und und gegenüber gegenüber gegenüber ander anderen ander en<br />
Erfreulich zu beobachten ist, daß die Schüler bald e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Klassengeme<strong>in</strong>schaft<br />
entwickeln. Aggressionen untere<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d nahezu nicht vorhanden.<br />
Es entwickelt sich Kameradschaftlichkeit. Die Klasse tritt als selbstbewußte<br />
E<strong>in</strong>heit nach außen auf. Für die Schüler aus anderen Klassen s<strong>in</strong>d das die aus der<br />
BVK, und das ohne Unterton.<br />
8. 8. 8. Sc Schuljahr Sc huljahr huljahresende huljahr esende 11<br />
199 11<br />
99 994/95 99 4/95<br />
E<strong>in</strong>em Schüler wird angeboten, im kommenden Schuljahr aufgrund se<strong>in</strong>er Leistungen<br />
die Klasse 10 A zu besuchen. Er verzichtet, um <strong>in</strong> dieser Klasse bleiben zu<br />
können.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Schüler absolviert erfolgreich e<strong>in</strong>e Nachprüfung. Er hat sich <strong>in</strong> den<br />
Ferien mit den gestellten Aufgaben beschäftigt. E<strong>in</strong> durchaus erstaunlicher Vorgang.<br />
Vier Schüler gehen ab:<br />
– Zwei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vorklasse zum BVJ/wahrsche<strong>in</strong>lich ohne Erfolg<br />
– E<strong>in</strong>er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e berufsvorbereitende Maßnahme beim IB<br />
– E<strong>in</strong>er erhält e<strong>in</strong>en Lehrvertrag als Fleischer<br />
9. 9. Sc Schuljahr Sc huljahr huljahresbeg<strong>in</strong>n huljahr esbeg<strong>in</strong>n 1 1<strong>1995</strong>/96<br />
1 995/96<br />
Die BVK wird als Klasse 8/9 weitergeführt. E<strong>in</strong>er der verbleibenden 10 Schüler<br />
erreicht das Versetzungsziel nicht.<br />
In die Stufe 9 kommen aus regulären Klassen h<strong>in</strong>zu:<br />
– E<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> als Sitzenbleiber<strong>in</strong> im 9. Jahrgang<br />
– E<strong>in</strong> Schüler als Sitzenbleiber im 9. Jahrgang<br />
In die Stufe 8 kommen aus regulären Klassen h<strong>in</strong>zu:<br />
– E<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> als Sitzenbleiber<strong>in</strong> aus dem 8. Jahrgang<br />
– Zwei Schüler als Sitzenbleiber aus dem 8. Jahrgang<br />
– E<strong>in</strong> Schüler aus dem 6. Jahrgang<br />
Die BVK besteht nun aus 14 Schülern und zwei Schüler<strong>in</strong>nen. Die Gruppe der<br />
Schüler aus dem Vorjahr hat sich so stabilisiert, daß die Integration der neuen Schüler<br />
und besonders auch der beiden Schüler<strong>in</strong>nen problemlos erfolgt ist.<br />
10. 0. 0. Be Be Bewer Be Be er ertung ertung<br />
tung<br />
Nach Auffassung der beteiligten LehrerInnen kann der Versuch, selbstverständlich<br />
mit den notwendigen Abstrichen, wenn man z. B. an die vier Abgänger denkt,<br />
als Erfolg bis zu diesem Zeitpunkt gewertet werden. Mit an Sicherheit grenzender
Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit hätten sich etliche Schüler, wären sie <strong>in</strong> Regelklassen verblieben,<br />
zwischenzeitlich aus der Schule verabschiedet. Alle<strong>in</strong> die Tatsache der teilweise<br />
sogar starken Anb<strong>in</strong>dung an die Schule kann als Erfolg gewertet werden. Das<br />
eigentliche Ziel, das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses, steht noch aus. Das<br />
weitere Ziel, die Vermittlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ausbildungsberuf, soll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen, wie<br />
<strong>in</strong> der Klasse 10 A, auf dem Weg über e<strong>in</strong> Jahrespraktikum erfolgen.<br />
Deutlich geworden ist jedenfalls, daß viele dieser Jugendlichen nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />
abgeschrieben werden müssen, auch wenn sie die <strong>in</strong>nere Emigration aus der Schule<br />
schon teilweise vollzogen haben.<br />
59
Schulverweigerung und dann?<br />
Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe<br />
Klaus Schäfer<br />
(M<strong>in</strong>isterium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)<br />
Der Rechtsanspruch auf Erziehung e<strong>in</strong>es jeden Jugendlichen ist das herausragende<br />
Merkmal und der Ausgangspunkt der Jugendhilfe. Deshalb ist es eigentlich<br />
selbstverständlich, den Erziehungsauftrag <strong>in</strong> der Jugendhilfe zu sprechen. Aber das<br />
Verständnis, was denn Erziehung der Jugendhilfe se<strong>in</strong> soll und vor allem, mit welchen<br />
Angeboten und mit welchen Methoden dieser Erziehungsauftrag realisiert<br />
werden soll, ist – historisch betrachtet – sehr verschieden gewesen. Deshalb möchte<br />
ich, ähnlich wie Herr Thünken, e<strong>in</strong>leitend e<strong>in</strong>en kurzen historischen Blick auf diesen<br />
Aspekt der Jugendhilfe richten.<br />
Jugendhilfe war, sowohl <strong>in</strong> ihrer Entstehungsphase, wie auch bis weit <strong>in</strong> die 60er<br />
Jahre dieses Jahrhunderts h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, vorwiegend ordnungspolitisch motiviert. Vorrangig<br />
g<strong>in</strong>g es – die Jugendarbeit/Jugendpflege e<strong>in</strong>mal ausgenommen – um e<strong>in</strong><br />
Regelsystem, welches abweichen<strong>des</strong> Verhalten von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen verh<strong>in</strong>dern<br />
bzw. sanktionieren sollte und zwar überwiegend durch repressive Maßnahmen.<br />
Kennzeichen der erzieherischen Hilfen war <strong>des</strong>halb die Heimerziehung,<br />
als das klassische Instrument <strong>des</strong> E<strong>in</strong>griffes e<strong>in</strong>er staatlich reglementierten Jugendfürsorge.<br />
Dies war auch gesetzlich verankert. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem<br />
Jahre 1922 und auch später das seit 1961 geltende Jugendwohlfahrtsgesetz waren<br />
von ihrem Grundsatz her von diesem Verständnis geprägt. Erst mit der Reformdiskussion<br />
Anfang der 70er Jahre begann e<strong>in</strong>e Neuorientierung<br />
<strong>in</strong> der Jugendhilfe sich breit zu machen.<br />
E<strong>in</strong> demokratisches Verständnis von Erziehung entwickelte<br />
sich, und vor allem die Erkenntnis, daß e<strong>in</strong>e<br />
gesetzliche Reform notwendig ist, die diesem neuen<br />
Verständnis e<strong>in</strong>e entsprechende Perspektive gibt.<br />
Mit dem K<strong>in</strong>der- und Jugendhilfegesetz aus dem<br />
Jahre 1991, wurde denn auch dieses offensive Verständnis<br />
von Erziehung und Bildung <strong>in</strong> der Jugendhilfe<br />
gesetzlich normiert. Zentrale Aufgabe der<br />
Jugendhilfe ist es danach:<br />
– junge Menschen <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>dividuellen und sozialen<br />
Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen<br />
zu vermeiden und abzubauen;<br />
– Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der<br />
Erziehung beraten und unterstützen;<br />
– K<strong>in</strong>der und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl<br />
zu schützen;<br />
– dazu beitragen, positive Lebensbed<strong>in</strong>gungen für<br />
junge Menschen und ihre Familien sowie e<strong>in</strong>e<br />
61
62<br />
k<strong>in</strong>der- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. (§ 1 Abs. 3<br />
SGB VIII)<br />
Dieser Gesamtauftrag der Jugendhilfe spiegelt sich auch <strong>in</strong> der Normierung der<br />
Jugendsozialarbeit im § 13 Abs. 1 SGB VIII wieder, wenn danach die Jugendsozialarbeit<br />
gefordert ist, Angebote für Jugendliche bereitzuhalten, die soziale<br />
Benachteiligung ausgleichen können oder <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelle Bee<strong>in</strong>trächtigungen überw<strong>in</strong>den<br />
helfen.<br />
In diesem Kontext ist auch die Förderung von jungen Menschen, die im Regelsystem<br />
Schule erhebliche Probleme haben, zu sehen. Schulverweigerung „ist <strong>des</strong>halb<br />
ke<strong>in</strong> neues Thema für die Jugendhilfe. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung der Jugendhilfe<br />
mit K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen (wollen) –<br />
wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – und <strong>des</strong>halb z. B. den Schulunterricht<br />
verweigern“, war immer schon <strong>in</strong> der Praxis vorhanden. Nur, Jugendhilfe löste“<br />
dies im wesentlichen dadurch, daß sie <strong>in</strong> Aufgabe auf das zuführen von jungen<br />
Menschen, die mehr als dreimal fehlten, zur Schule sah.<br />
Erste Ansätze der Schulsozialarbeit Mitte der 70er Jahre machte deutlich, daß<br />
junge Menschen auch für den Schulunterricht und das Absolvieren der Schulpflicht<br />
motiviert werden konnten, aber mit den Methoden und Handlungsmöglichkeiten<br />
der Sozialpädagogik. Allerd<strong>in</strong>gs – und dies zieht sich bis heute wie e<strong>in</strong> roter Faden<br />
durch – g<strong>in</strong>gen diese neuen Ansätze nicht von e<strong>in</strong>em alle<strong>in</strong>igen Schulversagen von<br />
Schülern aus, sondern sahen auch die Rolle der Schule und das soziale Umfeld“ bei<br />
dem Entstehen von Schulproblemen junger Menschen.<br />
Hier setzt auch me<strong>in</strong>e Kritik an dem Begriff Schulverweigerer an. Er impliziert,<br />
als sei Schulverweigerung eher ausschließlich e<strong>in</strong> subjektiv zu verantworten<strong>des</strong><br />
Problem, geprägt durch e<strong>in</strong> aktives Handeln, die Schule verlassen zu wollen. Gerade<br />
die Entwicklung von K<strong>in</strong>dheit und Jugendphase und die zu beobachtenden Veränderungen<br />
<strong>in</strong> ihrem Alltag s<strong>in</strong>d jedoch e<strong>in</strong> Beispiel dafür, daß über vorhandenes<br />
subjektives Verschulden h<strong>in</strong>aus, auch die objektiven gesellschaftlichen und strukturellen<br />
Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen, die Schulmüdigkeit prägen, e<strong>in</strong>bezogen werden<br />
müssen.<br />
Diese strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen müssen beachtet werden, wenn wirksame<br />
Lösungsperspektiven entwickelt werden sollen.<br />
Ich will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Feststellungen aus der Sicht <strong>des</strong> MAGS zentrale Aspekte zur<br />
Aufgabenstellung der Jugendhilfe h<strong>in</strong>sichtlich der Bewältigung dieses Problems<br />
skizzieren:<br />
1. Wenn man sich die Entwicklungen und Herausforderungen der letzten Jahre <strong>in</strong><br />
der Jugendhilfe vergegenwärtigt, so fällt auf, daß gerade <strong>in</strong> den letzten Jahren<br />
sich die Jugendphase <strong>in</strong> erheblichem Maße verändert hat. Herausragende<br />
Entwicklungsl<strong>in</strong>ie ist, daß bestehende Institutionen der Erziehung und Bildung<br />
wie Elternhaus und Schule nicht mehr <strong>in</strong> dem Maße, wie von ihnen erwartet,<br />
oder wie gewünscht, die Erziehung alle<strong>in</strong> sicherstellen können und die<br />
Integrationskraft der Gesellschaft <strong>in</strong>sbesondere im Übergang von der Jugendphase<br />
<strong>in</strong> das Erwachsenenalter nachläßt. Damit steigt die <strong>in</strong>dividuelle Verantwortung<br />
für die persönliche Zukunft bei den Jugendlichen selbst. Jung se<strong>in</strong> ist<br />
<strong>des</strong>halb heute eher e<strong>in</strong>e Lebensphase mit großen Ambivalenzen – versehen mit<br />
vielen Chancen und Möglichkeiten, aber auch mit vielen Risiken – <strong>in</strong> der Jugend
versucht, ihren Weg zu gehen und reglementierende Vorgaben und E<strong>in</strong>griffe<br />
der Gesellschaft immer weniger akzeptiert. Gleichzeitig wird aber Jugend auch<br />
mit neuen Anforderungen an Alltagsbewältigung konfrontiert, die im wesentlichen<br />
dadurch verursacht werden, daß sie <strong>in</strong> ihrer Entwicklungsphase immer mehr<br />
Brüche erfahren werden und e<strong>in</strong> nahtloser Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf<br />
und dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dauerhafte, auf Zukunft abgesicherte berufliche Tätigkeit<br />
nicht mehr für alle gegeben ist.<br />
2.Die Veränderungsprozesse <strong>in</strong> der Gesellschaft, begleitet mit Des<strong>in</strong>tegrationsperspektiven<br />
für e<strong>in</strong>en Teil der Bevölkerung schlagen sich <strong>in</strong>sbesondere negativ<br />
auf die Jugendlichen nieder, die aus sozial–benachteiligten oder bildungs–benachteiligten<br />
Milieus kommen und die kaum über breite Chancen und Möglichkeiten<br />
verfügen, der damit verbundenen Schwierigkeiten zu entgehen. Gerade<br />
weil ergänzend h<strong>in</strong>zukommt, daß ihnen der Arbeitsmarkt nicht die entsprechenden<br />
verb<strong>in</strong>dliche Perspektive sichert und ihre Lernbed<strong>in</strong>gungen im Lebensumfeld<br />
schlechter geworden s<strong>in</strong>d, entwickeln sich zunehmend Zweifel, ob der Schulbesuch<br />
für sie überhaupt gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend se<strong>in</strong> kann. Deshalb wundert es nicht,<br />
daß Jugendhilfe mit e<strong>in</strong>er deutlichen Zunahme der Zahl der betroffenen K<strong>in</strong>der<br />
und Jugendlichen konfrontiert ist.<br />
3.Besonders s<strong>in</strong>d es die Strukturprobleme <strong>in</strong> Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt<br />
und die damit e<strong>in</strong>hergehende Arbeitslosigkeit sowie die steigende Langzeitarbeitslosigkeit,<br />
die vor allem denjenigen jungen Menschen die Hoffnung, durch<br />
schulische Bildung e<strong>in</strong>e ausreichende berufliche Perspektive zu erreichen, die<br />
die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern erfahren und sich selbst wenig Entwicklungschancen<br />
zutrauen.<br />
4.Dabei fällt auf, daß die Schule traditioneller Prägung ebenfalls den Herausforderungen<br />
an Erziehung und Bildung durch diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse<br />
kaum gewachsen ist. Es wundert daher nicht, daß sie häufig diesen<br />
jungen Menschen nicht die notwendigen Impulse geben kann bzw. Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
zu setzen <strong>in</strong> der Lage ist, die diese Motivationsschwäche bei Jugendlichen<br />
überw<strong>in</strong>den hilft.<br />
Dabei spielen mehrere Ursachen/Entwicklungen im Schulbereich e<strong>in</strong>e bedeutende<br />
Rolle:<br />
– Schule selbst hat <strong>in</strong> ihrer Gestalt als Lernort kaum die Möglichkeiten – <strong>in</strong> personeller<br />
und räumlicher H<strong>in</strong>sicht – auf soziale Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse bei Jugendlichen<br />
e<strong>in</strong>e adäquate pädagogische Antwort zu geben. Sie wird <strong>des</strong>halb immer<br />
mehr für Jugendliche zu e<strong>in</strong>em Ort für E<strong>in</strong>zelkämpfer, auch, weil zum Teil auch<br />
Eltern dies so wollen und den Druck auf die Schule erhöhen.<br />
– Erkennbar ist, daß e<strong>in</strong> Teil der jungen Menschen nicht mehr über re<strong>in</strong>e Lernmotivation<br />
aufgefangen werden kann. Dort wo die eigentliche Aufgabe der Schule,<br />
nämlich über Noten Perspektiven zu entwickeln, immer weniger funktioniert,<br />
leuchtet auch immer weniger die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es langen Schulbesuchs e<strong>in</strong>.<br />
Die bereits erfahrenen Belastungen und E<strong>in</strong>schränkungen wirken tief, e<strong>in</strong>e positive<br />
Sichtweise von Schule, im S<strong>in</strong>ne von Zukunftsorientierung und Chancenverbesserung,<br />
entwickelt sich kaum.<br />
63
64<br />
– Andererseits wirkt Schule gehemmt, wenn es darum geht, neue Komb<strong>in</strong>ationen<br />
<strong>in</strong> dem Wirken von Erziehung von unterschiedlichen Erziehungs<strong>in</strong>stitutionen zu<br />
nutzen und e<strong>in</strong>e offensive Kooperation mit der Jugendhilfe e<strong>in</strong>zuklagen und<br />
umzusetzen. Erfahrungen mit Jugendlichen, die Schulschwierigkeiten haben und<br />
sich an Projekten beteiligen, die praktisches Können voraussetzen, zeigen, daß<br />
Jugendliche über andere Tätigkeiten als kognitives Lernen durchaus motivierbar<br />
wären.<br />
Hat sich Jugendhilfe <strong>in</strong> der Vergangenheit immer sehr stark dagegen gewehrt,<br />
die Funktionen/Aufgaben anderer gesellschaftlicher Bereiche zu erfüllen und vor<br />
allem e<strong>in</strong>e dezidierte Haltung gegen die Auffassung e<strong>in</strong>genommen, auch Angebote<br />
an junge Menschen im Rahmen der Schulpflichterfüllung zu machen, so zeigt<br />
sich im Wandel <strong>des</strong> Aufgabenverständnisses, daß Jugendhilfe mehr und mehr bereit<br />
ist, diejenigen Jugendlichen <strong>in</strong> ihrer Arbeit e<strong>in</strong>zubeziehen, die zur Überw<strong>in</strong>dung<br />
von Schulschwierigkeiten gerade für e<strong>in</strong>en bestimmten Zeitraum e<strong>in</strong>e Alternative<br />
außerhalb von Schule <strong>in</strong> anderen Lebenszusammenhängen haben müssen,<br />
damit sie dort mit Werkstoffen und anderen Möglichkeiten qualifiziert und emotional<br />
zufriedener lernen und sich Fähigkeiten aneignen können, die für sie von<br />
größerem und e<strong>in</strong>sichtigem Wert s<strong>in</strong>d.<br />
Mit dem Projekt „Schulmüde Jugendliche“ haben wir <strong>des</strong>halb e<strong>in</strong>en neuen<br />
Erprobungsweg entwickelt, der S<strong>in</strong>n macht. Wir wollen nämlich erproben, ob es<br />
möglich ist, junge Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – <strong>in</strong> der<br />
Schule immer weniger ihre Chancen sehen, e<strong>in</strong>e entsprechende Perspektive zu<br />
entwickeln, durch andere Lernorte neu zu motivieren und sie wieder zum Lernen<br />
<strong>in</strong> die Schule zurückführen zu können. Dieser Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er neuen S<strong>in</strong>nhaftigkeit<br />
<strong>des</strong> Lernens und <strong>des</strong> Begreifens von der Bedeutung e<strong>in</strong>es schulischen Abschlusses,<br />
ist die Chance von Jugendwerke<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong> Kooperation mit der Schule neue<br />
Wege gehen können.<br />
Erkennbar aber ist heute schon, daß e<strong>in</strong> zentrales Paradigma dieses Projektes <strong>in</strong><br />
sehr widersprüchlicher Weise ausgeprägt ist: Die zw<strong>in</strong>gende Bed<strong>in</strong>gung, das Jugendliche,<br />
die über e<strong>in</strong>en bestimmten Zeitraum ihre Schulpflicht <strong>in</strong> Werke<strong>in</strong>richtungen<br />
der Jugendhilfe erfüllen <strong>in</strong> die Schule rückgeführt“ werden müssen und<br />
Schule von daher sich selbst verändern muß. Genauer gesagt: Es ist nicht das Ziel<br />
dieses Projektes, schulmüde Jugendliche aus der Schule herauszunehmen und Schule<br />
aus dem Obligo zu entlassen. Es geht darum, durch Jugendhilfe Motivationsstrukturen<br />
zurückzugew<strong>in</strong>nen und durch Förderung von Reflektionsprozessen <strong>in</strong><br />
der Schule, Veränderung <strong>des</strong> Schulalltags zu ermöglichen.<br />
Denn, e<strong>in</strong> Grundpr<strong>in</strong>zip muß erhalten bleiben: Die Schulpflicht ist e<strong>in</strong> hohes gesellschaftliches,<br />
soziales und bildungspolitisches Gut. Es dürfen ke<strong>in</strong>e Diskussionen<br />
über solche Projekte gefördert werden, die auf e<strong>in</strong>e tendenzielle Abkehr von<br />
der Schulpflicht abzielen. Jugendhilfe und <strong>in</strong>sbesondere Jugendsozialarbeit darf<br />
<strong>des</strong>halb auch ke<strong>in</strong>e Alternative zur Schule se<strong>in</strong> und gewissermaßen Ersatzlernort<br />
werden. Sie hätte dann auch ihre Funktion als die schulischen Prozesse ergänzende<br />
Erziehungs<strong>in</strong>stanz für diejenigen jungen Menschen, die entsprechend gefördert<br />
werden müssen, verloren.<br />
Die Chancen und Möglichkeiten der Jugendhilfe, im Kontext der Jugend- bzw.<br />
Schulsozialarbeit liegen <strong>des</strong>halb dar<strong>in</strong>, neue Ansätze und Räume anzubieten, die<br />
e<strong>in</strong> weiteres Abgleiten verh<strong>in</strong>dern und soziale Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse abmildern
läßt. Hierzu verfügt Jugendhilfe – anders als Schule – über weichere und für junge<br />
Menschen häufig akzeptablere Rahmenbed<strong>in</strong>gungen:<br />
– Sie hat e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen und weitgehenden Erziehungs-, sozialen Gestaltungsund<br />
politischen E<strong>in</strong>wirkungsauftrag. § 1 und § 13 <strong>des</strong> K<strong>in</strong>der- und Jugendhilfegesetzes<br />
regeln dies e<strong>in</strong>deutig. Jugendhilfe ist <strong>des</strong>halb auch geeignet, auf die<br />
spezifischen Interessen und Bedürfnisse junger Menschen e<strong>in</strong>zugehen und ihre<br />
Interessen gegenüber anderen Politikbereichen und gegenüber der Gesellschaft<br />
wahrzunehmen. Dies fördert Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit von<br />
Jugendhilfe.<br />
– Jugendsozialarbeit verfügt zudem über geeignete Formen, E<strong>in</strong>richtungen und<br />
Ansätze, um lebenweltorientiert handeln zu können und junge Menschen dort<br />
aufzufangen, wo sie wohnen, kurz, wo ihr Lebensumfeld ist.<br />
– Jugendsozialarbeit ist auch entsprechend flexibel <strong>in</strong> den Handlungsformen. Sie<br />
f<strong>in</strong>det nicht nur <strong>in</strong> Räumen statt, wie dies <strong>in</strong> der Schule klassischerweise der Fall<br />
ist, sondern ihr Beziehungsfeld ist sowohl die E<strong>in</strong>richtung, wie das Lebensumfeld,<br />
wie der soziale Raum <strong>in</strong> dem junge Menschen sich aufhalten. Ihre Ansprechpartner<br />
s<strong>in</strong>d junge Menschen wie Eltern gleichermaßen.<br />
– Jugendsozialarbeit hat die erforderliche sozialpädagogische Kompetenz, andere<br />
Methoden, sowie weitgehende Bündelungs- bzw. Vernetzungsmöglichkeiten.<br />
Ihren Erziehungsauftrag wahrzunehmen setzt nämlich e<strong>in</strong>e solche Handlungsbreite<br />
voraus.<br />
Dies darf aber nicht dazu führen, daß Jugendhilfe verantwortlich gemacht werden<br />
kann für das Ausbleiben notwendiger Veränderungsprozesse. Auch sie ist abhängig<br />
und wird geprägt von den gesellschaftlichen Entwicklungen und den politischen<br />
Entscheidungsprozessen. Der Erziehungsauftrag <strong>in</strong> der Jugendhilfe<br />
impliziert <strong>des</strong>halb, vor allem dann, wenn er bestehende Defizite <strong>in</strong>dividueller und<br />
sozialer Art überw<strong>in</strong>den will, daß Jugendhilfe nicht auf die Rolle als „Ausfallbürge“<br />
für das Versagen anderer gesellschaftlicher Bereich reduziert werden darf. In diesem<br />
Fall wäre sie auf Dauer e<strong>in</strong> wenig hilfreicher Partner bei der Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong><br />
Problems der Schulmüdigkeit. Sie muß ihren Erziehungsauftrag <strong>des</strong>halb auch gesellschaftlich<br />
und <strong>in</strong>frastrukturell verstehen und:<br />
– Darauf drängen, daß durch frühzeitige Kooperation zwischen Jugendhilfe und<br />
Schule früher als bisher präventive Ansätze greifen und dadurch Ausgrenzungsund<br />
Demotivationsprozesse abgebaut werden können und<br />
– sie muß darauf drängen, daß auch Schule sich verändert und e<strong>in</strong> Lebens- und<br />
Lernort wird, der der spezifischen Situation dieser Zielgruppe Rechnung trägt<br />
und durch neue Formen und durch e<strong>in</strong> neues Grundverständnis, Orte <strong>des</strong> Lernens<br />
und <strong>des</strong> Lebens wird.<br />
Bei der Überw<strong>in</strong>dung dieser Problematik der Schulmüdigkeit kann <strong>des</strong>halb auf<br />
Jugendhilfe gesetzt werden. Hierzu benötigt sie aber auch die stabilen Ressourcen,<br />
hier gilt – wie <strong>in</strong> anderen Bereichen der Jugendhilfe auch: Früh <strong>in</strong>vestiert ist<br />
für die Zukunft mehr als halb gewonnen. Die gesellschaftlichen Kosten, die<br />
Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse mit sich br<strong>in</strong>gen, werden durch solche offensive Herangehensweisen<br />
deutlich reduziert. Auch das ist e<strong>in</strong> Ziel der Modellprojekte.<br />
65
Podiumsdiskussion<br />
Brauchen wir e<strong>in</strong> neues Regelsystem für Schüler und<br />
Schüler<strong>in</strong>nen, die sich der Schulpflicht entziehen?<br />
das war die Fragestellung, mit der sich das Podium ause<strong>in</strong>anderzusetzen hatte.<br />
Schulpflicht hieße nicht nur, daß K<strong>in</strong>der und Jugendliche verpflichtet s<strong>in</strong>d, die Schule<br />
zu besuchen; sie verpflichte auch die Eltern und vor allem die Schule, das <strong>in</strong>dividuelle<br />
Recht auf Bildung zu verwirklichen.<br />
Dies schiene bei e<strong>in</strong>er beträchtlichen Zahl von jungen Schulverweigerern nicht<br />
zu funktionieren, stellte Markus Schnapka <strong>in</strong> der Anmoderation fest. Und ergänzend<br />
fügte er h<strong>in</strong>zu, die Bildungs- und Jugendhilfeverantwortlichen reagierten auf<br />
das Phänomen der Schulmüdigkeit mit Modellprojekten oder vor Ort mit <strong>in</strong>dividuellen<br />
Initiativen. E<strong>in</strong> Regulativ gäbe es nicht. Es sei von Zufällen abhängig, ob vor<br />
der Schule Geflüchtete wahrgenommen werden, Kooperationen von Jugendhilfe,<br />
Schule und Arbeitsverwaltung koord<strong>in</strong>iert werden und sich daraus Chancen für<br />
junge Menschen ergeben. Und bewußt provokant setzte er h<strong>in</strong>zu: Schule kann<br />
offensichtlich alle<strong>in</strong>e nicht mehr weiter!<br />
Wer aber sucht und f<strong>in</strong>det die Schulflüchtigen und wo sehen Sie Ihre Verantwortlichkeiten,<br />
war die erste Frage an Andreas Henseler, Schuldezernent der Stadt<br />
Köln. Henseler konzidierte, daß es e<strong>in</strong>e organisierte Bearbeitung dieses Problemfel<strong>des</strong><br />
aus se<strong>in</strong>er Sicht <strong>in</strong> Schule nicht gäbe, und beklagte den Umstand, daß e<strong>in</strong><br />
frühzeitiges Reagieren vernachlässigt würde. Statt <strong>des</strong>sen käme es sehr schnell zu<br />
e<strong>in</strong>em Prozeß der Ausgrenzung. Es sei aber an der Zeit, daß Schule das Problem<br />
wahrnähme und entsprechende präventive Strategien entwickelte. Schließlich<br />
müsse sich Schule darauf bes<strong>in</strong>nen, daß sie strukturell<br />
darauf angelegt ist, Ausgrenzung zu verh<strong>in</strong>dern.<br />
Es sei und bliebe e<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>äre Aufgabe von Schule,<br />
aus dem System heraus, Schulmüdigkeit und -<br />
verweigerung gar nicht erst aufkommen zu lassen.<br />
Dr<strong>in</strong>gend warnte Henseler davor, e<strong>in</strong>en Ausstiegskanal<br />
aus der Schulpflicht zu etablieren. E<strong>in</strong> neues<br />
Regelsystem zwischen Schule und Jugendhilfe würde<br />
nicht gebraucht.<br />
Daß es nicht darum gehe, e<strong>in</strong>en Ausstiegskanal zu<br />
<strong>in</strong>stallieren, machte auch Ulrich Thünken vom M<strong>in</strong>isterium<br />
für Schule und Weiterbildung <strong>in</strong> NRW klar. Er<br />
gab aber zu bedenken, daß zur Betrachtung der Frage,<br />
warum Jugendliche <strong>in</strong> die Schule gehen oder nicht,<br />
auch gesehen werden müßte, welche Chancen sie im<br />
Anschluß eigentlich noch haben. E<strong>in</strong>e beträchtliche<br />
Anzahl von jungen Leuten, auch von denen, die brav<br />
zur Schule gehen, haben ke<strong>in</strong>e Perspektiven, weil sie<br />
den Konkurrenzanforderungen <strong>in</strong> den normalen Berufen<br />
nicht gewachsen s<strong>in</strong>d. Darauf müsse die gesamte<br />
Gesellschaft reagieren, nicht nur die Schule, forder-<br />
67
68<br />
te er. Schule habe grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu verändern und damit den<br />
Lebensbedürfnissen von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen gerechter zu werden. Dazu müsse<br />
sie aber ihren Blick verändern: Prämiert als beste Schulen würden z.Zt.. jene,<br />
die „Pr<strong>in</strong>zenerziehung“ (Henseler) betreiben. Thünken charakterisierte die Schule<br />
als e<strong>in</strong>e Institution <strong>in</strong> der Zwickmühle zweier gegensätzlicher Interessenslagen,<br />
zwischen Integration und Selektion. Er plädierte nachhaltig<br />
für Anstöße von außen, um geme<strong>in</strong>sam Schule<br />
Moderation:<br />
Markus Schnapka<br />
Inge Mewes-Turz, Dortmund<br />
Andreas Henseler, Köln<br />
zu verändern, warnte jedoch davor, Schule aus ihrer<br />
Pflicht zu entlassen und neue Regelsysteme zu entwickeln.<br />
Wenn aber doch Schule den Schwachen wenig zu<br />
bieten hat, muß diesem Problem mit neuen Projekten<br />
aus der Jugendhilfe begegnet werden, war die Frage<br />
an Klaus Schäfer als Jugendhilfevertreter vom M<strong>in</strong>isterium<br />
für Arbeit, Gesundheit und Soziales.<br />
Auch Klaus Schäfer warnte e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich vor e<strong>in</strong>em<br />
neuen Regelsystem, bezeichnete dies sogar als e<strong>in</strong>e<br />
bildungs- und jugendpolitische Katastrophe. Die Katastrophe<br />
läge dar<strong>in</strong>, daß Jugendhilfe e<strong>in</strong>e Zuständigkeit<br />
übernähme, die sie nicht habe. Jugendhilfe könne<br />
ke<strong>in</strong>e Bildungspolitik im klassischen S<strong>in</strong>ne machen.<br />
Statt <strong>des</strong>sen müsse es gel<strong>in</strong>gen, durch engere Kooperation,<br />
neue Selbstverständnisse und Abbau von Eitelkeiten<br />
e<strong>in</strong> Handlungssystem zu f<strong>in</strong>den, das durch<br />
verpflichtende Vernetzungsformen funktioniert. Die<br />
Schaffung neuer Modellprojekte für Schulverweigerung<br />
sei e<strong>in</strong> Indiz für die Vernachlässigung dieser Klientel,<br />
deren Existenz der Schule und Jugendhilfe<br />
bereits im Vorfeld bekannt sei. Die bisherigen Handlungsspielräume,<br />
zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t seitens <strong>des</strong> K<strong>in</strong>der- und<br />
Jugendhilfegesetzes, seien ausreichend. Was nicht<br />
angehe ist, daß Schule als System nicht handele, und<br />
es dem Zufall überbliebe, ob Lehrer<strong>in</strong>nen oder Lehrer<br />
Kooperationen mit der Jugendhilfe e<strong>in</strong>gehen oder<br />
nicht.<br />
Welche Funktion denn e<strong>in</strong> Lan<strong>des</strong>jugendamt habe,<br />
Verb<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>in</strong> der Kooperation für die Seite<br />
der Jugendhilfe herzustellen, dazu nahm<br />
Hans Peter Schaefer vom Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />
Rhe<strong>in</strong>land Stellung. Da es aus<br />
se<strong>in</strong>er Sicht auch nicht darum gehen<br />
kann, neue Regelsysteme herzustellen,<br />
müßten die bestehenden sich ändern.<br />
Dazu würden von Seiten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>jugendamtes<br />
die bestehenden Beziehungen<br />
zu den Bezirksregierungen <strong>in</strong>tensiviert.<br />
Für die Fortbildungen sei der
Kooperationsgedanke e<strong>in</strong> wichtiger Inhalt, geme<strong>in</strong>same Fortbildungen für Lehrer/<br />
<strong>in</strong>nen und Fachkräften der Jugendhilfe der richtige Weg. Weiterh<strong>in</strong> verwies Schaefer<br />
auf die Modellprojekte an sechs Standorten <strong>in</strong> NRW, die vom Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />
fachlich begleitet und ausgewertet werden. Von ihnen s<strong>in</strong>d wichtige Anstöße zu<br />
erwarten, die auf e<strong>in</strong>e verbesserte Kooperation <strong>in</strong>nerhalb der Jugendhilfe und gegenüber<br />
der Schule zielen.<br />
An die Vertreter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es freien Trägers, Frau Mewes–Turz, wurde die Frage gerichtet,<br />
welche Forderungen sie an Schule und Jugendhilfe habe. Mehr Phantasie<br />
auf beiden Seiten, war die Antwort, mehr Parteilichkeit und Engagement für die<br />
Jugendlichen. Verkrustete Strukturen aufbrechen, neue Bündnispartner/<strong>in</strong>nen suchen,<br />
z. B. <strong>in</strong> der Wirtschaft, seien durchaus denkbare Wege, die aber voraussetzen,<br />
daß auch e<strong>in</strong>mal „quergedacht“ werden dürfe. Im Rückblick auf ihre eigene<br />
Tätigkeit <strong>in</strong> der Schule äußerte Mewes–Turz die Überzeugung, daß es immer auf<br />
die e<strong>in</strong>zelnen Personen ankäme, wieweit sie aus eigener Kraft Kooperationen suchten<br />
und diese ausbauten. Schule als Ganzes zu verändern, sei schon sehr schwierig,<br />
me<strong>in</strong>te sie abschließend und sprach sich ausdrücklich für e<strong>in</strong>e Vielfalt von Projekten<br />
aus, die durchaus <strong>in</strong> der Lage seien, Lernen mit<br />
Leben zu füllen und daher geeignete Orte zur Beschulung<br />
von Schulmüden darstellten.<br />
In der folgenden Diskussion, die unter lebhafter<br />
Beteiligung <strong>des</strong> Plenums vonstatten g<strong>in</strong>g, war e<strong>in</strong>e<br />
zentrale Überlegung die der F<strong>in</strong>anzierung von Hilfsangeboten.<br />
Daß präventive Arbeit <strong>in</strong> Schule nicht kostenneutral<br />
abzuwickeln sei, liege auf der Hand, hieß es. Zusätzli-<br />
che Mittel stünden aber nicht zur Verfügung, war die<br />
durchaus realistische Prognose. Also, kurzfristige,<br />
kostenneutrale Lösungen müßten her, durch e<strong>in</strong>e<br />
Veränderung <strong>des</strong> Lehrpersonalzuweisungsschlüssel,<br />
me<strong>in</strong>te der Schuldezernent. Kurzfristig realisierbar sei<br />
auch der E<strong>in</strong>satz von Beratungslehrer/<strong>in</strong>nen, war das<br />
Votum vom Vertreter <strong>des</strong> M<strong>in</strong>isteriums für Schule und<br />
Weiterbildung, die mit der Aufgabe betraut werden,<br />
vermehrte Aufmerksamkeit auf Schulmüdigkeitstendenzen<br />
zu legen. Wert gelegt wurde auch auf die<br />
Unterscheidung, daß es sich schließlich um zwei verschiedene<br />
Gruppen handele: Die, die durch präventive<br />
Arbeit <strong>in</strong> der Schule noch erreicht werden könnte,<br />
was aber mit denen, die bereits konsequent der Schule<br />
fernbleiben?<br />
Als absolute Ausnahme wurde erklärt, daß Schulpflichtige<br />
an e<strong>in</strong>en anderen Lernort gehen können.<br />
Auch dieses unter dem Gesichtspunkt der Bezahlbarkeit.<br />
Aus Jugendhilfeseite wurde noch e<strong>in</strong>mal gefordert,<br />
das Thema zum Gegenstand <strong>in</strong> den örtlichen<br />
Jugendhilfeausschüssen und <strong>in</strong> den Schulausschüssen<br />
zu machen.<br />
Klaus Schäfer, MAGS<br />
Hans Peter Schaefer,<br />
Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land<br />
Ulrich Thünken, M<strong>in</strong>isterium<br />
für Schule und Weiterbildung<br />
69
70<br />
Das Versprechen zum Schluß: Zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t <strong>in</strong> NRW werden die M<strong>in</strong>isterien, die für<br />
Schule und Jugendhilfe zuständig s<strong>in</strong>d, sehr eng zusammenarbeiten und klare Vere<strong>in</strong>barungen<br />
zur Kooperation treffen. Die Chancen, die dar<strong>in</strong> liegen: Kooperation<br />
ist schwer zu verordnen. Sie muß vorgelebt werden. Dafür gibt es schon gute Beispiele,<br />
aber es müssen mehr werden, um die Selbstverständlichkeit herbeizuführen.<br />
(Kar<strong>in</strong> Joswig–von Bothmer, Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />
Diskussion unter 'Beteiligung <strong>des</strong> Plenums
E<strong>in</strong> Nachtrag:<br />
Auffällig unauffällig:<br />
Mädchen und Schulverweigerung<br />
Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)<br />
Kar<strong>in</strong> Joswig-von Bothmer (Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />
Vorbemerkung:<br />
Wenn von 11 Projekten, die mit schulmüden Jugendlichen arbeiten, <strong>in</strong> 10 Projektbeschreibungen<br />
nur von Jungen die Rede ist, dann gibt das zu denken. Und zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t<br />
stellt sich die Frage: Wie sieht es bei den Mädchen aus? Gibt es da auch<br />
Verweigerung? Es gibt und nicht zu wenig. Allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Ersche<strong>in</strong>ungsform<br />
und auch die Gründe unterscheiden sich von denen, die über Jungen<br />
bekannt wurden. E<strong>in</strong>ige Erkenntnisse liegen vor, weil es <strong>in</strong> Essen e<strong>in</strong>en Modellversuch<br />
für schulmüde Mädchen gibt. Dieser zweijährige Modellversuch <strong>in</strong> Kooperation<br />
von Schule, Jugendhilfe und Arbeitsverwaltung war von vorne here<strong>in</strong> als e<strong>in</strong><br />
re<strong>in</strong>es Mädchenprojekt geplant. Die Beschulung an e<strong>in</strong>em anderen Ort f<strong>in</strong>det <strong>in</strong><br />
diesem Fall <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Werkstatt für Mädchen statt.<br />
Die Ausführungen gliedern sich <strong>in</strong> zwei Teile. Teil I beschreibt den sozialen H<strong>in</strong>tergrund<br />
der Mädchen. Gründe der Schulverweigerung werden so vielleicht deutlicher.<br />
Allerd<strong>in</strong>gs sollte hierbei beachtet werden, daß nicht alle gemachten Aussagen<br />
auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen können zwar<br />
beschrieben werden, der E<strong>in</strong>zelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge zu verlieren.<br />
Im Anschluß daran folgt e<strong>in</strong> Förderkonzept, das auf die soziale bzw. geschlechtsspezifische<br />
Ausgangslage der Mädchen e<strong>in</strong>geht.<br />
Die familiäre Situation<br />
Alle bisher befragten Mädchen stammen aus relativ<br />
k<strong>in</strong>derreichen Familien (3 - 6 K<strong>in</strong>der), <strong>in</strong> der <strong>in</strong> der<br />
Regel auch noch jüngere Geschwister vorhanden s<strong>in</strong>d.<br />
Regelmäßig und häufig s<strong>in</strong>d die Familien zusätzlich<br />
Aufenthaltsort von Freunden, Nachbarn, Verwandten<br />
etc. und deren K<strong>in</strong>dern. Ruhe und die <strong>in</strong>tensive<br />
Beschäftigung mit e<strong>in</strong>er Person ist so gut wie unmöglich.<br />
Aggressivität, autoritäre Strukturen, Diszipl<strong>in</strong>ierungen,<br />
Kontrolle und widersprüchliche Anordnungen<br />
s<strong>in</strong>d stark ausgeprägt. Pflichten, nicht Rechte<br />
haben den Vorrang. Auch wenn Eltern (vordergründig)<br />
den Anspruch haben, daß ihre Töchter “etwas lernen”<br />
sollen, unterstützen sie diesen Anspruch jedoch<br />
häufig nicht, sondern glauben eher an das Versagen<br />
als an den Erfolg ihrer Tochter: „Das schaffst Du ja<br />
doch nicht!“ oder „Du könntest es ja schaffen, aber<br />
71
72<br />
...!“ Die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und das daraus resultierende<br />
reduzierte Selbstbewußtse<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d wohl der Grund für solche Äußerungen. Langzeitarbeitslosigkeit,<br />
Sozialhilfebezug, Scheidung, ke<strong>in</strong>e abgeschlossene Berufsausbildung,<br />
Suchtstrukturen (z. B. Alkoholismus) und wenig bzw. unrealistische Zukunftspläne<br />
s<strong>in</strong>d die Themen bzw. die Vorbilder, mit denen sich die Mädchen<br />
ause<strong>in</strong>andersetzen müssen. Alle<strong>in</strong> diese Vielzahl der geschilderten Problembereiche<br />
haben eher beh<strong>in</strong>dernde als unterstützende Wirkung. Die Weitergabe von tradierten<br />
Geschlechterrollenzuweisungen, die Reduktion auf die Versorgungsfunktion<br />
der Frau für Mann und K<strong>in</strong>der sowie Gewalt gegen Frauen und sexueller Mißbrauch<br />
gehören ebenso dazu. . Auch wenn die betroffenen Familien ihre Unzulänglichkeiten<br />
und Schwierigkeiten nur ungern e<strong>in</strong>gestehen bzw. nicht wahrhaben wollen<br />
(der Sche<strong>in</strong> nach außen wird grundsätzlich gewahrt), so sehen sie sich doch spätestens<br />
dann damit konfrontiert, wenn die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen der sozialen Dienste<br />
der Familie wieder e<strong>in</strong>en Besuch abstatten. Gründe der Schulverweigerung werden<br />
so vielleicht deutlicher. Allerd<strong>in</strong>gs sollte hierbei beachtet werden, daß nicht<br />
alle gemachten Aussagen auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen<br />
können zwar beschrieben werden, der E<strong>in</strong>zelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge<br />
zu verlieren. Im Anschluß daran folgt e<strong>in</strong> Förderkonzept, das auf die soziale bzw.<br />
geschlechtsspezifische Ausgangslage der Mädchen e<strong>in</strong>geht.<br />
Die psychosoziale Situation der Mädchen<br />
... ist geprägt durch die Widersprüche, die sie zu Hause erleben und den Vorstellungen<br />
von der eigenen Zukunft, die größtenteils zwar sehr klar, aber zumeist genauso<br />
unrealistisch s<strong>in</strong>d, wie die ihrer Eltern („heile Welt“- Vorstellungen von Beruf,<br />
Partnerschaft und Familie).<br />
Zukunft wird eher erlebt als etwas, was sich <strong>in</strong> weiter Ferne abspielt und was<br />
man nicht heute schon leben bzw. bee<strong>in</strong>flussen kann: Die Zukunft wird geträumt<br />
– gelebt wird eher zufällig. Dieser Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit,<br />
das ständige Scheitern an den eigenen überhöhten Ansprüchen hat Resignation<br />
zur Folge und bee<strong>in</strong>flußt auch das Verhältnis zur Zeit. Zeit wird als etwas erlebt,<br />
von dem man unendlich viel zur Verfügung hat. Anstrengungen zur Realisierung<br />
der eigenen Ziele bzw. zur Veränderung unbefriedigender Situationen, werden „irgendwann<br />
demnächst“ <strong>in</strong> Angriff genommen, weil man jetzt ja doch nichts verändern<br />
kann.<br />
So wird zum Thema Berufs- und Lebensplanung der Zugang fast ausschließlich<br />
über Träumen gefunden und nicht über realistische Planung und dementsprechen<strong>des</strong><br />
Verhalten. Da über Leistungen im Bereich Schule und Berufsausbildung aktuell<br />
ke<strong>in</strong>e Anerkennung bezogen werden kann, versuchen die Mädchen, sich dies <strong>in</strong><br />
anderen Bereichen zu holen. Dies manifestiert sich tendenziell <strong>in</strong> zwei Verhaltensweisen<br />
Zum e<strong>in</strong>en über sehr rollenkonformes Verhalten, d. h. z. B. die Reduktion<br />
über die weibliche Versorgungsfunktion wird gerne angenommen, <strong>in</strong>dem häufig<br />
sehr liebevoll und verantwortungsbewußt, aber vor allen D<strong>in</strong>gen mit e<strong>in</strong>em hohen<br />
Maß an Selbständigkeit für kle<strong>in</strong>e Geschwister (oder Nachbarsk<strong>in</strong>der etc.) gesorgt<br />
wird.<br />
Dabei ist der Aspekt <strong>des</strong>-Drucks durch die Familie nicht zu unterschätzen. Viele<br />
Mädchen beziehen nur durch diese Familienarbeit ihre Anerkennung von Seiten
der Eltern und die Zuneigung der K<strong>in</strong>der als emotionale Stütze. Dies gilt ebenso im<br />
Umgang mit Partnerschaften. Eigene Ansprüche und Interessen werden stark<br />
zurückgeschraubt, um ganz für den Anderen da zu se<strong>in</strong> und ihm zu gefallen.<br />
Die Fürsorge, die sie anderen zuteil werden lassen, f<strong>in</strong>det selten Anwendung auf<br />
sie selbst. Die zweite, relativ häufig zu beobachtende Verhaltensweise, ist Rebellion.<br />
Die Ablehnung jeglicher Kontrolle und Reglementierung, gepaart mit zum Teil<br />
sehr aggressivem Verhalten, stehen hier im Vordergrund. Obwohl mit diesem Verhalten<br />
eher negative als positive Aufmerksamkeit errungen wird, ist dies doch e<strong>in</strong>e<br />
Möglichkeit für die Mädchen, sich abzugrenzen bzw. “auf gar ke<strong>in</strong>en Fall so zu<br />
werden wie die anderen oder sogar ihre Eltern”. Die bisher beschriebene Situation<br />
der Mädchen hat aber nicht zur Folge, daß vorhandene Energien dazu verwandt<br />
werden, ihre Situation zu verändern, sondern vielmehr e<strong>in</strong> “nicht wahr haben wollen“.<br />
E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die eigene Situation würde e<strong>in</strong> gewisses Maß an Selbstbewußtse<strong>in</strong><br />
voraussetzen, d. h. Kenntnis über eigene Fähigkeiten, Stärken und Schwierigkeiten<br />
zu haben-.<br />
Dieses Selbstbewußtse<strong>in</strong> ist bei den meisten Mädchen nur ansatzweise bzw. nur<br />
vordergründig vorhanden. Schließlich geht es ja meistens irgendwie - und manchmal<br />
auch gar nicht nur schlecht, und dann kommt ja auch irgendwann der ´„Traumpr<strong>in</strong>z“,<br />
der sie auf Händen trägt und sie aus ihrem Dilemma erlöst. Hier wird deutlich,<br />
daß die Mädchen ihr Leben eher passiv, d. h. <strong>in</strong> Abgängigkeit von anderen<br />
bzw. von äußeren Umstanden, als aktiv, kreativ und als selbständig bee<strong>in</strong>flußbar<br />
erleben.<br />
Die Rolle der Schule<br />
Auch das Verhältnis zur Schule ist ebenfalls widersprüchlich besetzt. E<strong>in</strong>erseits<br />
ist die Schule der Weg, der beschritten werden muß <strong>in</strong> Richtung Berufsausbildung<br />
und e<strong>in</strong> eigenständiges Leben. Andererseits ist es den Mädchen fast unmöglich,<br />
ohne entsprechende Hilfen und Unterstützung (siehe familiäre Situation), den Leistungsanforderungen<br />
und Strukturen der Schule so gerecht zu werden, um hierüber<br />
ihre Anerkennung zu beziehen. Intensive E<strong>in</strong>zelförderung ist hier wohl eher<br />
die engagierte Ausnahmen als die Regel, und <strong>in</strong> dem Maße, <strong>in</strong> dem die stattf<strong>in</strong>den<br />
müßte, häufig auch nicht leistbar. H<strong>in</strong>zu kommt hier noch häufig die zunehmende<br />
Bedrohung von Gewalt bzw. sexueller Gewalt durch Mitschüler, der auch Lehrer<br />
zunehmend hilflos gegenüber stehen. Verlust <strong>des</strong> Vertrauens <strong>in</strong> die Handlungsbereitschaft<br />
der Lehrer/<strong>in</strong>nen, das Gefühl alle<strong>in</strong> gelassen und nicht ernst genommen<br />
zu werden, als Mädchen nicht über geeignete Durchsetzungsstrategien<br />
zu verfügen und aus eigener Kraft die Situation nicht verändern zu können, läßt<br />
den Mädchen kaum e<strong>in</strong>e andere Wahl als gelernte Konfliktlösungsmuster anzuwenden:<br />
Aggression und/oder Rückzug. Hat sich die „Negativ-Spirale“ e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong><br />
Gang gesetzt (je weniger Spaß die Schule macht, je schlechter die Leistungen werden,<br />
je weniger Anerkennung, <strong>des</strong>to seltener geht man überhaupt noch h<strong>in</strong>), sche<strong>in</strong>t<br />
die Schule nicht die geeigneten Kapazitäten zu besitzen, hier wieder kompensierend<br />
und aufbauend zu wirken.<br />
Daß die Mädchen trotzdem immer mal wieder an der Schule „auftauchen“, hat<br />
Signalkraft <strong>in</strong> unterschiedliche Richtungen: Das Spektrum reicht von „Auch, wenn<br />
ihr mich nicht wollt, müßt ihr trotzdem noch mit mir rechnen!“ über „Mal sehen<br />
73
74<br />
was hier noch so los ist!?“ bis „Eigentlich ist Schule gar nicht so schlecht - vielleicht<br />
versuche ich es doch noch e<strong>in</strong>mal! “. Wird dieses „ab und zu mal auftauchen“ auch<br />
noch negativ sanktioniert <strong>in</strong> Form von Aussagen wie z. B.: „Was willst Du denn<br />
hier?“ oder: „Wer bist Du denn? Muß ich Dich kennen?“, wird der Glaube <strong>in</strong> die<br />
Institution Schule, an mögliche Hilfen und Unterstützung, sicherlich nicht bestärkt.<br />
Die vorausgegangenen Ausführungen machen e<strong>in</strong>en Handlungsbedarf deutlich<br />
der sich an folgenden Zielsetzungen orientiert:<br />
1. Lernziele bezogen auf e<strong>in</strong>e Stärkung <strong>des</strong> Selbstwertgefühls<br />
Zu e<strong>in</strong>er erfolgreichen Förderung von Mädchen ist neben der schulischen und<br />
werkpraktischen Ausbildung auch der Erwerb von Durchsetzung- und Selbstbehauptungsstrategien<br />
unumgänglich, um sich vor Übergriffen verbaler und körperlichen<br />
Art wirksam zur Wehr zu setzen und e<strong>in</strong> positives Selbstbild zu entwikkeln<br />
und zu stabilisieren. Dazu gehören neben der Ause<strong>in</strong>andersetzung der<br />
eigenen Lebensbiographie, den weiblichen Vorbildern, der Selbstreflektion ebenso<br />
Körperarbeit, Selbstverteidigung und die Erschließung weiterer Bewegungsräume.<br />
Umsetzung: Kurse, Wochenendsem<strong>in</strong>are: JBH e.V., e.V.. unter Beteiligung e<strong>in</strong>er<br />
Fachfrau (Wen-Do).<br />
2. Lernziele bezogen auf das Sozialverhalten<br />
Entwicklung von Konfliktfähigkeit, Gesprächs- und Kooperationsfähigkeit Als E<strong>in</strong>stieg<br />
soll hierbei die Verschiedenartigkeit der Menschen, ihre Individualität und<br />
E<strong>in</strong>zigartigkeit verdeutlicht werden. Die Umsetzung dieser Lernziele erfolgt<br />
schwerpunktmäßig <strong>in</strong> der Jugendwerke<strong>in</strong>richtung (JWE). So geht die Arbeit nach<br />
festen Regeln vonstatten, die grundlegende soziale Qualifikationen für das Arbeitsleben<br />
darstellen: a) Regelmäßiges Kommen b) Diszipl<strong>in</strong>iertes Verhalten c)<br />
E<strong>in</strong>fügen <strong>in</strong> die Gruppe. Weiterh<strong>in</strong> werden durch die Werkpraxis Erfolgserlebnisse<br />
möglich, die ansonsten <strong>in</strong> ihrem Leben selten s<strong>in</strong>d (Kompetenzgew<strong>in</strong>n und<br />
Steigung <strong>des</strong> Selbstwertgefühls).<br />
Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit (E<strong>in</strong>satz von Medien und Rollenspielen): JWE.<br />
3. Lernziele bezogen auf schulische Leistungen<br />
Der allgeme<strong>in</strong>bildende Unterricht seitens der Lehrer<strong>in</strong> bildet e<strong>in</strong>e wichtige Grundlage,<br />
um e<strong>in</strong>e Verbesserung der (schulischen) Lern- und Leistungsmotivation aufzubauen.<br />
Der außerschulische Lernort bietet die Möglichkeit, “Lernen neu zu lernen” und<br />
eröffnet Chancen im Aufbau e<strong>in</strong>er vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung<br />
zwischen Schüler<strong>in</strong> und Lehrer<strong>in</strong>. In der Folge kann e<strong>in</strong>e andere Sicht auf Schule<br />
entstehen. Im Kontext mit sozialer Gruppenarbeit und E<strong>in</strong>zelhilfe können Gründe<br />
für das Schulverweigerungsverhalten offengelegt, bearbeitet und im E<strong>in</strong>zelfall<br />
Chancen e<strong>in</strong>er Re<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Schule eröffnet werden .<br />
Umsetzung: Unterricht <strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>bildenden Fächern, E<strong>in</strong>zel- und Gruppenarbeit.
4. Lernziele bezogen auf geschlechtsspezifische Verhaltensmuster<br />
Im Mittelpunkt steht die Reflexion über weibliche Rollenmuster und die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />
mit der gesellschaftlichen Rolle von Frauen. Die Erwartungen gegenüber<br />
Mädchen s<strong>in</strong>d widersprüchlich: Elterliche Fürsorge und Kontrolle, Normen<br />
der Gleichaltrigengruppe, Ansprüche <strong>des</strong> Freun<strong>des</strong>/Partners usw.. Arbeit<br />
mit Mädchen muß ihren Mut machen zur Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den Erwartungen<br />
von außen und e<strong>in</strong>en für sie akzeptablen Weg zu f<strong>in</strong>den. Dazu gehört<br />
unter anderem: - Unterschiedliche Rollenbilder zu bearbeiten - Mit ihren Strategien<br />
zu erarbeiten, wie sie mit widersprüchlichen Erwartungen umgehen und<br />
e<strong>in</strong>e eigenständige Entscheidungs- und-Handlungskompetenz aufbauen können.<br />
Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit: JWE, Sem<strong>in</strong>are zur Lebensplanung: JBH e.V.<br />
5. Lernziele bezogen auf die Aufnahme e<strong>in</strong>er qualifizierten Berufsausbildung<br />
(Information über Berufsbereiche und -felder, Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen und Verdienstmöglichkeiten)<br />
Mädchen wollen bei<strong>des</strong>: Beruf und Familie. Ihr Lebensentwurf ist geprägt durch<br />
die Suche nach der Vere<strong>in</strong>barkeit. Ziel ist es, e<strong>in</strong>e tragfähige berufliche Motivation<br />
aufzubauen, <strong>in</strong>dem die Mädchen Informationen über Berufe, Verdienstmöglichkeiten,<br />
Vor- und Nachteile der typischen Frauenberufe und das Wissen über<br />
e<strong>in</strong>en beruflichen Alltag vermittelt werden. Praktika können e<strong>in</strong>en solchen E<strong>in</strong>blick<br />
<strong>in</strong> die Arbeitswelt geben und möglicherweise Chancen für e<strong>in</strong>en betrieblichen<br />
Ausbildungs- oder Arbeitsplatz eröffnen.<br />
Umsetzung: Sem<strong>in</strong>are zur Lebens- und Berufsplanung: BB/JBH e.V. Praktika: Vorbereitung,<br />
Begleitung und Nachbereitung (unter sorgfältiger Auswahl der <strong>in</strong> Frage<br />
kommenden Betriebe): JWE/JBH e.V./BB E<strong>in</strong>zelgespräche: BB/JBH e.V./JWE. Besuche<br />
im BIZ: BB/JBH e.V. Bewerbungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g: JBH e.V./Unterricht Kooperation<br />
mit außenbetrieblichen Ausbildungsstätten<br />
6. Lernziele bezogen auf den gewerblich- technischen Bereich und<br />
Neue Technologien<br />
E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die Arbeitsfelder Holz, Metall, Elektro (Materialarten, Werkzeuge),<br />
Vermittlung von Grundkenntnissen im Umgang mit Computern<br />
Zur Erweiterung <strong>des</strong> Ausbildungs- und Berufswahlspektrums müssen oftmals<br />
Hemmschwellen überwunden werden, um den Umgang mit den ungewohnten<br />
Materialien und Geräten e<strong>in</strong>zuüben. Diese Hemmschwellen abzubauen, verlangt<br />
neben den Informationen über die gewerblich-technischen Berufe auch die Möglichkeit,<br />
mit den Werkstoffen und Werkzeugen praktische Erfahrungen zu sammeln.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus kommt Kenntnissen im Umgang mit Computern, die heutzutage<br />
<strong>in</strong> immer mehr Berufen gefragt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e große Bedeutung zu.<br />
Umsetzung: Berufserprobung (Probier- oder Schnuppertage) <strong>in</strong> Werkstätten<br />
(Förderlehrgänge): BB/JBH e.V. Computerkurse; JBH e.V./Schule (unter Anleitung<br />
e<strong>in</strong>er Fachfrau).<br />
75
Anhang<br />
Projekte stellen sich vor<br />
Auszüge aus der Vorabdokumentation, <strong>in</strong> der die sich auf dem Kongreß während<br />
der Projektmesse vorstellenden Maßnahmen mit Konzeptionen oder Erfahrungsberichten<br />
vorgestellt wurden.<br />
77
78<br />
Städtische Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstr. 12, 50996 Köln<br />
Jahrespraktikum für die Klasse 10A<br />
– Kurz<strong>in</strong>formation –<br />
E<strong>in</strong> erheblicher Anteil von Schülern/<strong>in</strong>nen f<strong>in</strong>det nach dem Abschluß der Klasse<br />
1OA nicht den Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ausbildungsberuf. Nach e<strong>in</strong>er Erhebung <strong>des</strong> Schulamtes<br />
für die Stadt Köln begannen am Ende <strong>des</strong> Schuljahres 1992/93 lediglich 48,2%<br />
der Abgänger aus Klasse 10A e<strong>in</strong> Ausbildungsverhältnis. Dieser Prozentsatz würde<br />
sich noch weiter verr<strong>in</strong>gern, wenn es e<strong>in</strong>e Kontrollerhebung nach ca. drei Monaten<br />
gäbe.<br />
Die Ursachen für dieses negative Ergebnis s<strong>in</strong>d vielfältig. Trotz gezielter<br />
Berufswahlvorbereitung im herkömmlichen S<strong>in</strong>n, das heißt gem. Richtl<strong>in</strong>ien, Lehrplänen,<br />
Erlassen und den damit verbundenen Maßnahmen, bleiben die angestrebten<br />
Ergebnisse weit h<strong>in</strong>ter den Erwartungen zurück.<br />
Um den Schülern/<strong>in</strong>nen der Klasse 1OA die Lebensrealität „Beruf“‘ über das dreiwöchige<br />
Betriebspraktikum h<strong>in</strong>aus näherzubr<strong>in</strong>gen, ist für diese Zielgruppe e<strong>in</strong><br />
“Jahrespraktikum” e<strong>in</strong>gerichtet worden. Das bedeutet, daß die Jugendlichen der<br />
Klasse 1OA an e<strong>in</strong>em bestimmten Wochentag, zur Zeit ist das der Donnerstag,<br />
e<strong>in</strong>en Teil ihres Unterrichts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Betrieb absolvieren. In der Regel ist das der<br />
Betrieb, <strong>in</strong> dem die Schüler/<strong>in</strong>nen ihr Betriebspraktikum, das an den Schuljahresbeg<strong>in</strong>n<br />
gelegt worden ist, abgeleistet haben.<br />
Neben e<strong>in</strong>er Reihe von anderen Vorteilen, etwa unter dem Gesichtspunkt <strong>des</strong><br />
sich Öffnens von Schule, wird durch dieses Jahrespraktikum e<strong>in</strong>e Erleichterung h<strong>in</strong>sichtlich<br />
<strong>des</strong> Übergangs von der Schule <strong>in</strong> den Beruf angestrebt:<br />
Nach wie vor bestehende Unsicherheiten können weiterh<strong>in</strong> ausgeräumt werden,<br />
die Lernmotivation unter dem Gesichtspunkt e<strong>in</strong>er sich noch konkreter gestaltenden<br />
Berufsorientierung soll gesteigert werden, und nicht zuletzt, so bleibt zu hoffen,<br />
wird dieser oder jener Ausbildungsvertrag auf diese Weise angebahnt werden<br />
können.<br />
Für dieses Jahrespraktikum wird die Stundentafel für die Klasse 1OA um den mit<br />
vier Stunden angesetzten Wahlpflichtunterricht gekürzt. Die im Betrieb gezeigten<br />
Leistungen werden auf dem Zeugnis ausgewiesen. Berufsqualifizierende Merkmale<br />
wie Beobachtungsfähigkeit, Ausdauer, Sorgfalt, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit<br />
und anderes mehr (s. dazu Anlage) werden von den Betrieben beurteilt. Auf dieser<br />
Grundlage erteilt der Klassenlehrer dann die Note im Wahlpflichtbereich.<br />
Anlage: Berufvorbereitungsklasse ( BVK ) / zur Zeit 8. Jahrgangsstufe<br />
– Kurz<strong>in</strong>formation –<br />
Die Problematik der Überalterten / schulmüden Schüler/<strong>in</strong>nen, zunehmend vor<br />
allen D<strong>in</strong>gen ab Klasse 8, ist h<strong>in</strong>reichend bekannt. Solange diese Schülergruppe<br />
die Vollzeitschulpflicht noch nicht erfüllt hat, gibt es kaum geeignete Möglichkeiten,<br />
die Gefahr der Abkoppelung von der Schule verh<strong>in</strong>dern.<br />
Die Möglichkeiten <strong>des</strong> § 6a SchPflG, das zehnte Pflichtschuljahr an e<strong>in</strong>er berufsbildenden<br />
Schule abzuleisten, ist <strong>in</strong> bei weitem nicht allen Fällen e<strong>in</strong>e geeignete
Ersatzlösung. Die Beschulung dieser Schüler an außerschulischen Lernorten, wie<br />
das <strong>in</strong> Köln zur Zeit versucht wird, eröffnet <strong>in</strong> der Tat s<strong>in</strong>nvolle Alternativen. Da<br />
aber die Aufnahmekapazität sehr begrenzt ist, bedeutet diese Maßnahme e<strong>in</strong>e<br />
Chance für lediglich wenige Jugendliche.<br />
Die Maßnahme der Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstraße, die überalterten/ schulmüden<br />
Schüler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen Klasse zusammenzufassen, geht von der Überlegung<br />
aus, daß diese Schülergruppe durch differenzierende Maßnahmen welcher<br />
Art auch immer im Verband e<strong>in</strong>er Regelklasse nicht mehr erreichbar ist. Die Zusammenfassung<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen Klasse dient dem Ziel der Berufsforderung.<br />
Die Gefahr <strong>des</strong> sich völligen Ablösens von Schule soll verh<strong>in</strong>dert werden durch<br />
– e<strong>in</strong> vermehrtes handlungsorientiertes Angebot aus dem Bereich AW.<br />
– Berufswahlvorbereitung.<br />
– Betriebspraktika bereits <strong>in</strong> Stufe 8.<br />
Das Ziel ist das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses nach der Klasse 9. Zwei<br />
Lehrer<strong>in</strong>nen und e<strong>in</strong> Fachlehrer mit wenigen Stunden decken das Unterrichtsangebot<br />
für die Klasse ab. Geplantes Teamteach<strong>in</strong>g ist aufgrund der derzeitigen Lehrerbesetzung<br />
leider nicht möglich.<br />
Bei zwei Abgängen durch Umzug umfaßt die Klasse zur Zeit 14 Schüler. Konkrete<br />
Erwägungen führten bei der Zusammensetzung zur Bildung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Jungenklasse.<br />
Absehbar ist, daß drei bis vier Schüler dem Hauptschulabschluß nach<br />
Klasse 9 nicht mehr nähergebracht werden können. Sie werden die Schule am Ende<br />
dieses Schuljahres verlassen. Über geeignete Anschlußmaßnahmen wird derzeit<br />
nachgedacht.<br />
Im kommenden Schuljahr wird die Klasse durch weitere Schüler dieser Zielgruppe<br />
aufgefüllt und als Klasse 8/9 weitergeführt.<br />
79
80<br />
Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong><br />
Kurzdarstellung der konzeptionellen Grundlagen der Bildungsform<br />
„Praxislernen“ <strong>in</strong> der Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong><br />
Ziel nach Konzeption der Bildungsform der Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong> ist es, Schülern,<br />
die mit Formen traditionellen Bildungserwerbs <strong>in</strong> Konflikt geraten s<strong>in</strong>d, durch<br />
lebensverbundenes selbsttätiges Lernen mit „Ernstcharakter“ e<strong>in</strong>en Neuzugang<br />
zu Bildung zu eröffnen. Bildung soll kurz- wie langfristig als subjektiv bedeutsam<br />
erlebt werden. Bildung muß somit an <strong>in</strong>dividuellen Bildungs<strong>in</strong>teressen anknüpfen<br />
und soll längerfristig zur Entwicklung von beruflichen und persönlichen Perspektiven<br />
führen. Es soll die Fähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung entwickelt werden.<br />
Bildung soll gleichermaßen e<strong>in</strong>e objektive Bedeutsamkeit haben, d. h. sie soll die<br />
Aneignung der für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß erforderlichen<br />
Kenntnisse und Kompetenzen ermöglichen. Die Bereitschaft dazu von K<strong>in</strong>dern und<br />
Jugendlichen ist um so größer, je unmittelbarer ihnen der Gebrauchswert e<strong>in</strong>es<br />
von ihnen bearbeiteten Produkts bzw. der persönliche oder gesellschaftliche Nutzen<br />
ihrer Tätigkeit e<strong>in</strong>sichtig ist.<br />
„Praxislernen“ als Bildungsansatz geht aus von e<strong>in</strong>em erweiterten Verständnis<br />
von Allgeme<strong>in</strong>bildung. Darunter faßt die Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong> folgen<strong>des</strong>:<br />
– die Vermittlung von Faktenwissen<br />
– die Aneignung und Erweiterung von Fertigkeiten den Ausbau von Methodenkompetenzen<br />
(z. B. Informationsgew<strong>in</strong>nung und -verarbeitung) die Weiterentwicklung<br />
von Sozialkompetenzen (z. B. Kritik- und Konfliktfähigkeit, Teamfähigkeit,<br />
Kommunikationsfähigkeit)<br />
– die Stärkung von Selbstkompetenzen (z. B. Interessenentwicklung, Kreativität,<br />
Selbständigkeit und Verantwortung)<br />
– die Entwicklung konkreter Lebens- und Berufsperspektiven.<br />
Deshalb ist „Praxislernen“ auf e<strong>in</strong>e Verzahnung von <strong>in</strong>teressengeleitetem produktivem<br />
Handeln, fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Inhalten, kulturellen<br />
Traditionen, Lebensbezug, Berufsorientierung, partizipatorischer Tätigkeit <strong>in</strong> Schule<br />
und Gesellschaft angelegt. Die Schüler der Stadt-als-Schule durchlaufen somit e<strong>in</strong><br />
dem Regelschulangebot gleichwertiges, aber nicht gleichartiges Allgeme<strong>in</strong>bildungsangebot.<br />
Der Bedarf für e<strong>in</strong>en derartigen Bildungsansatz wird daraus abgeleitet, daß es<br />
weder für die Erfordernisse der modernen Arbeitswelt noch für die eigene Lebensgestaltung<br />
im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich ausreicht,<br />
vor allem unverbundenes enzyklopädisches Wissen vermittelt zu bekommen, um<br />
dann letztlich unvorbereitet und übergangslos <strong>in</strong> die Welt der Erwachsenen entlassen<br />
zu werden. Zum e<strong>in</strong>en verändern sich zur Zeit Qualifikationsanforderungen<br />
weg von „<strong>in</strong>dividueller Wissensbevorratung“ h<strong>in</strong> zu mehr Sozial- und Methodenkompetenz.<br />
Zum anderen nehmen <strong>in</strong> der Informationsgesellschaft“ außerschulische<br />
Informationsmöglichkeiten <strong>in</strong> unüberschaubarer und unbewältigbarer Weise<br />
zu, eigene Handlungs- und Erfahrungsspielräume dagegen schw<strong>in</strong>den. Diese<br />
aber brauchen K<strong>in</strong>der und Jugendliche, um sich Kenntnisse und Kompetenzen wirk-
lich anzueignen, um ihre Persönlichkeit zu entfalten und ihren Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />
zu f<strong>in</strong>den. Viele Jugendliche verweigern sich heutzutage dem schulischen<br />
Lernen <strong>in</strong> aktiver („Schule schwänzen“) oder passiver Form (z. B. Rückzug <strong>in</strong> die<br />
<strong>in</strong>nere Emigration). Die Gründe dafür s<strong>in</strong>d vielfältig. Schulverweigerung bzw. schulisches<br />
Scheitern ist u. a. <strong>in</strong> der familialen Sozialisation zu suchen, deren veränderte<br />
Bed<strong>in</strong>gungen ihrerseits wiederum Folge gesellschaftlichen Wandels s<strong>in</strong>d. Schulverweigerung<br />
ist oft Ausdruck von Gefühlen der S<strong>in</strong>n- und Perspektivlosigkeit oder<br />
auch der Über- bzw. Unterforderung - und damit Streß bzw. Langeweile - und der<br />
Nicht-Anerkennung. Schule kann nicht zum Reparaturbetrieb der Gesellschaft<br />
werden, das würde sie nicht nur überfordern, sondern sie schlicht <strong>in</strong> ihrem Auftrag<br />
mißverstehen. Aber als Institution muß sie beweglicher werden, muß sie veränderte<br />
Bildungs-, Handlungs- und Erfahrungsbedürfnisse berücksichtigen, will sie<br />
ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechen.<br />
„Praxsislernen“ ist e<strong>in</strong> Reformansatz von Allgeme<strong>in</strong>bildung, der es Jugendlichen<br />
ermöglichen will, durch produkt- und prozeßorientiertes Handeln <strong>in</strong> realen Arbeitsund<br />
Alltagssituationen zu lernen. Der Bildungsansatz setzt sich zusammen aus dem<br />
„Lernen <strong>in</strong> der Stadt“ (LIST) und dem „Lernen im Schulprojekt“ (LISP).<br />
Mit dem „Lernen <strong>in</strong> der Stadt“, dem Kernstück der Bildungsform „Praxislernen“,<br />
öffnet sich Schule dem Leben, der Arbeitswelt, der Stadt. Diese Öffnung von Schule<br />
schafft Partizipationsmöglichkeit für Jugendliche und mehr Authentizität beim<br />
Lernen. Der Name “Die Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong>” ist Programm: Die Stadt mit ihren<br />
vielfältigen Lerngelegenheiten und Lernanlässen wird für Jugendliche während der<br />
Hälfte ihrer wöchentlichen Schulzeit zum außerschulischen Lernort. Während ihres<br />
zweijährigen Bildungsganges wählen die Schüler sechs mehrmonatige „Praxislernprojekte“<br />
<strong>in</strong> verschiedenen Berl<strong>in</strong>er Betrieben, Verwaltungen, sozialen und<br />
kulturellen E<strong>in</strong>richtungen.<br />
Mit jedem der gewählten Praxislernprojekte begeben sich die Schüler für die<br />
Dauer e<strong>in</strong>es Trimesters <strong>in</strong> für sie neue soziale Zusammenhänge. Je besser diese<br />
Integrationsleistung (von beiden Seiten gel<strong>in</strong>gt, je mehr sich auch der Schüler angenommen<br />
fühlt, umso größer wird auch die mit dem Bildungsansatz <strong>in</strong>tendierte<br />
Bereitschaft, über praktisches Lernen h<strong>in</strong>aus Erfahrungen zu reflektieren. Erst die<br />
Aneignung von Kultur durch Tätigkeit mit „Ernstcharakter“ und die Bereitschaft,<br />
Erfahrung zu reflektieren, grenzen „Praxislernen“ zu „praktischem Lernen“ h<strong>in</strong>reichend<br />
ab.<br />
Die Situation am jeweiligen Praxisplatz mit den dort tätigen Menschen, den konkreten<br />
Arbeitsaufträgen, den für Schüler potentiellen Betätigungsmöglichkeiten<br />
soll e<strong>in</strong>en möglichst großen Aufforderungscharakter zum Handeln haben, sie soll<br />
Fragen provozieren und anregen, e<strong>in</strong> an eigenen Bildungs<strong>in</strong>teressen orientiertes<br />
Vorhaben zu verfolgen.<br />
Im Verlauf ihres Praxislernprojekts planen und reflektieren die Schüler ihre Tätigkeit,<br />
erkunden und klären sie als fragwürdig und nachdenkenswert erlebte Sachverhalte<br />
und Zusammenhänge, bearbeiten sie Erkundungsaufgaben, eignen sie<br />
sich Kenntnisse und Fertigkeiten, Arbeits- und Lernmethoden sowie Sozialkompetenz<br />
an. Auf dem (Bildungs-) Weg zu e<strong>in</strong>em möglichst von ihnen selbst def<strong>in</strong>ierten<br />
Ziel ihres Praxislernprojekts, z. B. e<strong>in</strong>em materiellen oder ideellen Produkt,<br />
der Lösung e<strong>in</strong>er umfangreicheren Aufgabe, werden die Schüler von ihren<br />
Pädagogen (Experten für Lernprozesse und Bildungssituationen) und Praxis-<br />
81
82<br />
mentoren (Experten für das Fachgebiet am Praxisplatz) beratend bzw. fachlich<br />
anleitend begleitet und unterstützt.<br />
Anders lernen heißt auch anders lehren und setzt demzufolge e<strong>in</strong>e veränderte<br />
Pädagogenrolle voraus. Die zuständigen Pädagogen werden im wesentlichen zu<br />
Organisatoren von Bildungssituationen, zu Initiatoren und Moderatoren von<br />
Bildungsprozessen. Mit ihren Schülern geme<strong>in</strong>sam erschließen sie die Praxissituation<br />
für Bildung. Ausgehend von den konkreten Praxissituationen an den außerschulischen<br />
Lernorten, dem <strong>in</strong>dividuellen Bildungsstand, dem Tätigkeits- und<br />
Bildungs<strong>in</strong>teresse sowie <strong>in</strong>dividuellen sozialen und emotionalen Bedürfnissen der<br />
Jugendlichen entwickeln sie <strong>in</strong> Absprache mit ihnen und den Praxismentoren jeweils<br />
<strong>in</strong>dividuelle Lernpläne.<br />
Die Bildungs<strong>in</strong>tentionen, vor allem auch die <strong>in</strong>haltlichen, gelten ke<strong>in</strong>eswegs nur<br />
für das Lernen <strong>in</strong> Unterrichtsangeboten <strong>in</strong>nerhalb der Schule. Sie gelten gleichermaßen<br />
für das Lernen vor Ort <strong>in</strong> den Praxislernprojekten. Dies unterscheidet das<br />
Bildungsangebot der Stadt-als-Schule konzeptionell z. B. von berufsbefähigenden<br />
Maßnahmen und von beruflichen Bildungsgängen, bei denen e<strong>in</strong>e Trennung von<br />
allgeme<strong>in</strong>bildenden und fachlichen bzw. fachpraktischen Inhalten überwiegt.<br />
Das Bildungsangebot <strong>in</strong>nerhalb <strong>des</strong> Schulprojekts („Lernen im Schulprojekt“; LISP)<br />
hat e<strong>in</strong>e Aufarbeitung, Vertiefung und Ergänzung der Erfahrungen aus den Praxislernprojekten<br />
sowie e<strong>in</strong>e Erarbeitung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten zum<br />
Ziel.<br />
Im LISP-Bereich ist auch der Ort für das Lernen <strong>in</strong> der Gruppe der Gleichaltrigen.<br />
In der Arbeit <strong>in</strong> den schul<strong>in</strong>ternen Lerngruppen werden - neben entsprechenden<br />
Möglichkeiten an Praxisplätzen - Teamarbeit und soziales Verhalten gefördert. Hier<br />
kann auch Geborgenheit und Sicherheit gegeben werden, aus der heraus die Schüler<br />
Praxislernprojekte entwickeln und <strong>in</strong> die Tat umsetzen.<br />
Entsprechend diesen vielfältigen Ansprüchen setzt sich das <strong>in</strong>nerschulische Angebot<br />
aus <strong>in</strong> Inhalt und methodischem Ansatz unterschiedlich arbeitenden Gruppen<br />
zusammen: Zum LISP-Bereich gehören die Kommunikationsgruppen, die fächerübergreifenden<br />
Lernbereiche „Sprache, Kunst, Kommunikation“, „Natur und<br />
Technik“, „Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie die thematischen Gruppen (Englisch,<br />
Mathematik, Wahlpflicht). Darüber h<strong>in</strong>aus haben die Schüler während ihrer<br />
Schulzeit und ihrer freien Zeit die Möglichkeit, die projekteigenen Materialien und<br />
Ressourcen zu nutzen und zusätzliche Angebote im offenen Ganztagsbetrieb wahrzunehmen.<br />
Wichtig für das verb<strong>in</strong>dliche Bildungsangebot im Schulprojekt aber auch als<br />
Ausgleich für das <strong>in</strong>dividuelle und an wechselnden Orten stattf<strong>in</strong>dende „Lernen <strong>in</strong><br />
der Stadt“ ist es, mit den Schulräumen und dem „Schulleben“ e<strong>in</strong>en „Lebensort<br />
Schule“ zu schaffen, an dem sich mite<strong>in</strong>ander vertraute Menschen begegnen.<br />
Dazu gehört auch die Gestaltung der Räumlichkeiten, an der die Schüler beteiligt<br />
se<strong>in</strong> sollten, damit sie von ihnen angenommen werden. E<strong>in</strong>e eher<br />
schuluntypische Lernumgebung verbessert die Lernatmosphäre und bietet vielleicht<br />
den Anreiz, die „Schulräume“ als Treffpunkt anzusehen, der auch noch nach<br />
dem „Lernen <strong>in</strong> der Stadt“ angesteuert wird (ganztägig offene Schule). Dies entspricht<br />
auch den Erfahrungen aus dem Jugendbildungsprojekt. Hierzu gehört auch,<br />
daß die Pädagogen die Räume über ihre Unterrichtsverpflichtungen h<strong>in</strong>aus als<br />
Arbeitsort ansehen und nutzen. Dies dient der Kooperation und dem - auch spon-
tanen gedanklichen Austausch im Team und eröffnet Schülern gleichzeitig die<br />
Möglichkeit, Pädagogen als Ansprechpartner zu empf<strong>in</strong>den und vorzuf<strong>in</strong>den.<br />
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84<br />
KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH<br />
<strong>des</strong> Landkreises Aurich<br />
Schulverweigerer <strong>in</strong> den Jugendprojektwerkstätten<br />
der Kreisvolkshochschule Aurich<br />
E<strong>in</strong>ordnung <strong>des</strong> Modellversuchs SiJu <strong>in</strong> Niedersachsen<br />
Mit Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> 2. Schulhalbjahres 1993 führt die Kreisvolkshochschule Aurich <strong>in</strong><br />
ihren Jugendprojektwerkstätten den Schulmodellversuch SiJu („Schulpflichterfüllung<br />
<strong>in</strong> Jugendwerkstätten“) mit bisher 25 Jugendlichen (s. Anlage) durch. Der<br />
Modellversuch ist bis zum Ende <strong>des</strong> Schuljahres <strong>1995</strong>/96 term<strong>in</strong>iert. Durch das<br />
Land Niedersachsen wird e<strong>in</strong>e sozialpädagogische Stelle sowie Sachausgaben f<strong>in</strong>anziert.<br />
Der Modellversuch f<strong>in</strong>det an <strong>in</strong>sgesamt fünf niedersächsischen<br />
Jugendwerkstätten statt. Grundlage ist der § 67, Abs. 5 <strong>des</strong> novellierten Schulgesetzes:<br />
„Jugendliche, die nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Berufsausbildungsverhältnis stehen und <strong>in</strong> besonderem<br />
Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen s<strong>in</strong>d, können ihre Schulpflicht<br />
durch den Besuch e<strong>in</strong>er Jugendwerkstatt erfüllen, die auf e<strong>in</strong>e Berufsausbildung<br />
oder e<strong>in</strong>e berufliche Tätigkeit vorbereitet.“<br />
Der Kommentar <strong>des</strong> vorangegangenen Referentenentwurfes führte dazu aus:<br />
„Im Absatz 5 wird die Möglichkeit geschaffen, auch <strong>in</strong> Jugendwerkstätten die<br />
Schulpflicht zu erfüllen. E<strong>in</strong> Teil der Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, der zunächst das<br />
Berufsvorbereitungsjahr zu besuchen hätte, kann dort besser gefördert werden,<br />
weil er durch schulische Arbeitsformen nur schwer anzusprechen ist und aufgrund<br />
sozialer und <strong>in</strong>dividueller Benachteiligungen im besonderen Maße e<strong>in</strong>er sozialpädagogischen<br />
Förderung bedarf.“ Damit ist die Zielgruppe als benachteiligte Schulverweigerer<br />
beschrieben, die <strong>in</strong>s Berufsvorbereitungsjahr nicht aussichtsreich aufgenommen<br />
werden können<br />
Die Konzeption <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Niedersachsen formulierte e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelfallbezogene,<br />
durch e<strong>in</strong>en Förderplan zu dokumentierende, soziale und berufliche Qualifizierung<br />
als Ziel <strong>des</strong> Modellversuchs, möglichst bis zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>führung zu e<strong>in</strong>er qualifizierten<br />
Ausbildung. Dafür seien Verbundmaßnahmen s<strong>in</strong>nvoll, die im Anschluß an das<br />
SiJuJahr weitere vorberufliche Qualifizierungswege und überbetriebliche Ausbildungsgänge<br />
bereithielten. Grundlage für das konsequent außerschulisch strukturierte<br />
Angebot seien die für die über 70 anerkannten niedersächsischen<br />
Jugendwerkstätten verb<strong>in</strong>dlichen „Grundsätze zur arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit<br />
<strong>in</strong> Niedersachsen“ (MK-Erlaß vom 14.06.1991).<br />
Die Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich<br />
Da die Gruppe der Schulverweigerer <strong>in</strong> den Rahmen der Jugendprojektwerkstätten<br />
e<strong>in</strong>gebunden werden, wird dieser im folgenden skizziert<br />
Unter dem Dach der Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich<br />
arbeiten und lernen ca. 215 junge Menschen von 15 bis 25 Jahren <strong>in</strong> vier verschie-
denen Häusern und <strong>in</strong> acht Arbeitsfeldern (Holz, Metall, Elektrotechnik/Elektronik,<br />
Büro und Verwaltung, Garten und Landschaftsbau, Hoch- und Tiefbau, Hauswirtschaft).<br />
Die jungen Leute sollen <strong>in</strong> berufsvorbereitenden und Arbeitenund-Lernen-Gruppen<br />
<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die Aufnahme e<strong>in</strong>es Arbeits- oder<br />
Berufsausbildungsverhältnisses auf dem ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden.<br />
Dabei spielt die enge sozialpädagogische Betreuung <strong>in</strong> den Projektgruppen durch<br />
die zuständigen Teams e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Die Arbeiten <strong>in</strong> den Werkstätten, Büros<br />
und auf den Baustellen s<strong>in</strong>d an der Wirklichkeit orientiert. In erster L<strong>in</strong>ie werden<br />
umfangreiche Auftragsarbeiten erledigt, die geme<strong>in</strong>nützig und gesellschaftlich<br />
s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d. Die Praxis aus den Arbeitsfeldern soll im S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> Theorie – Praxis –<br />
Bezugs der Projektmethode die Inhalte der Theorieangebote weitgehend prägen.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus bietet die Kreisvolkshochschule Aurich überbetriebliche Ausbildungsgänge<br />
(Holz, Metall, Bau, Hauswirtschaft, Hoga ) an.<br />
Die Erfahrungen aus dem Modellversuch „Schulpflichterfüllung <strong>in</strong> Jugendwerkstätten“<br />
verdeutlichen, daß Schulverweigerer nicht alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong> erhöhtes Maß an<br />
qualifizierter sozialpädagogischer Betreuung benötigen, sondern zudem Rahmenbed<strong>in</strong>gungen,<br />
die ihnen wieder e<strong>in</strong>e Perspektive aufzeigen, sich mit e<strong>in</strong>er gewissen<br />
Motivation Lern- und Arbeitsanforderungen zu stellen. Diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach durch e<strong>in</strong> Mehr an Betreuung zu bewerkstelligen, sondern<br />
durch e<strong>in</strong> Zusammenspiel verschiedener Faktoren, deren Wirkung gegenseitig<br />
abhängig ist.<br />
Auf der Basis e<strong>in</strong>es niedrigen Schlüssels Betreuer/Schülerteilnehmer hat der Betreuer<br />
den jungen Leuten e<strong>in</strong>e Zuwendung zu geben, die ihnen vermittelt: „Ich<br />
nehme dich ernst und wichtig.“ Das ist nur möglich <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen, die die Jugendlichen<br />
<strong>in</strong> den Mittelpunkt ihrer Konzeptionen und Handlungen stellen und<br />
se<strong>in</strong>e Stärken und Note zum Ausgangspunkt ihrer Instrumentarien machen. Die<br />
weitgehende Unterordnung anderer Belange (etwa von Auftragszwängen) unter<br />
die Interessen der jungen benachteiligten Menschen erfordert B<strong>in</strong>nenstrukturen,<br />
die den verschiedenen Mitarbeiter-<strong>in</strong>nen der E<strong>in</strong>zelprojekte trotz klarer<br />
Schwerpunktbildung ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Rolle als Nur–Sozialpädagoge, Nur–Lehrkraft,<br />
Nur-Projektleiter oder Nur–Anleiter zuschreibt: Pädagogen arbeiten <strong>in</strong> den Werkstatten<br />
und auf den Baustellen mit, handwerkliche Anleiter nehmen sozialpädagogische<br />
Aufgaben wahr und tragen Lerne<strong>in</strong>heiten mit. E<strong>in</strong>e vielseitigere Funktionswahrnehmung<br />
anstelle von Fachlehrerpr<strong>in</strong>zip und Statusbewußtse<strong>in</strong> ermöglicht<br />
e<strong>in</strong>e fruchtbare, gegenseitig korrigierende Debatte über die E<strong>in</strong>schätzung der Jugendlichen<br />
bei der Erarbeitung der Förderpläne und deren Umsetzung. Schließlich<br />
relativiert e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Diskussion der eigenen alltäglichen Arbeit, <strong>des</strong> Selbstverständnisses<br />
und von pädagogischen Entscheidungen <strong>in</strong> Arbeitsgruppen, gemischten<br />
Teamsitzungen und E<strong>in</strong>zelhilfen unter Kollegen/-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Entfernung<br />
der Alltagsarbeit vom Anspruch der Teilnehmerorientierung. Diese Teilnehmerorientierung<br />
me<strong>in</strong>t – um e<strong>in</strong>em weit verbreiteten Vorurteil vorzubeugen – nicht,<br />
daß alle anderen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen unbeachtet bleiben und den jungen Menschen<br />
e<strong>in</strong> „Schonraum“ ohne Realitätsbezug bereitet werde, sondern daß die Teilnehmer<br />
durch die Teilhabe an e<strong>in</strong>em besonders formierten Arbeitsverhältnis ihre<br />
personalen, sozialen und fachlichen Kompetenzen auszubauen lernen.<br />
Die Koord<strong>in</strong>ation der verschiedenen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Alltagskonflikte<br />
erfordert e<strong>in</strong> sehr hohes Maß an Flexibilität aller beteiligten Mitarbeiter/-<strong>in</strong>nen.<br />
85
86<br />
Auf die Probleme der Jugendlichen kann im relativ autonom entscheidenden Team<br />
flexibel und zügig reagiert werden, unterschiedlichen Leistungsanforderungen kann<br />
mit externen und <strong>in</strong>ternen Differenzierungen begegnet werden, ohne daß der mit<br />
dem geme<strong>in</strong>samen Projektverfahren und mit der ganzheitlichen Betreuung durch<br />
e<strong>in</strong> Team ermöglichten „Geborgenheit“ <strong>in</strong> den auch äußerlich überschaubaren<br />
Verhältnissen (Gebäudegröße und Beschäftigungszahlen) Abbruch getan würde.<br />
Es beherrschen ke<strong>in</strong> gew<strong>in</strong>ndom<strong>in</strong>ierter Produktionszwang, ke<strong>in</strong> entmotivierender<br />
Stundentakt und ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>engenden Rechtsvorschriften die Lage. Zudem besteht<br />
die Möglichkeit, Jugendliche, für deren Fortkommen es von Bedeutung ist, die Arbeitsbereiche<br />
auch über die Projektgrenzen h<strong>in</strong>aus flexibel wechseln zu lassen,<br />
ohne dabei die Integrationschancen der Jugendlichen zu vernachlässigen. Diese<br />
Möglichkeit sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e zentrale Rolle bei der E<strong>in</strong>leitung persönlicher<br />
Stabilisierungsprozesse gerade dieser jungen, oftmals überdurchschnittlich <strong>des</strong>orientierten<br />
Jugendlichen zu spielen. E<strong>in</strong>e solide Berufsf<strong>in</strong>dung im weitesten S<strong>in</strong>ne,<br />
bestehend aus Informationen zu den (regionalen) Berufsbildungswegen, aus<br />
Reflexionen <strong>des</strong> eigenen Selbstbilds und <strong>des</strong> (beruflichen) Zukunftsentwurfs, aus<br />
Kontroll- und Selbstkontrollverfahren zu den eigenen Fähigkeiten, aus Wegen zu<br />
deren Weiterentwicklung, aus- sozialpädagogischen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gselementen und ggf.<br />
Betriebspraktika, schließt selbstverständlich auch mit e<strong>in</strong>, daß den Jugendlichen<br />
die Chance e<strong>in</strong>geräumt werden muß, <strong>in</strong> verschiedenen Arbeitsfeldern Erfahrungen<br />
sammeln und ihre Stärken und: Grenzen erleben zu können. Flexibilität me<strong>in</strong>t<br />
auch, daß es pr<strong>in</strong>zipiell möglich se<strong>in</strong> muß, jedem der wenigen Schülerteilnehmer/<br />
-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Förderung zukommen zu lassen, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mehrmals<br />
anzupassenden, ggf. durchaus von allen anderen „Stundenplänen“ abweichenden<br />
Wochenarbeitsplan niederschlagen muß.<br />
In den Projektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich werden Lernprozesse<br />
nach der Projektmethode organisiert. Wir verstehen unter Projektmethode zum<br />
e<strong>in</strong>en die Durchführung e<strong>in</strong>es i. d. R. Jahres–Projektverfahren und zum anderen<br />
die Durchführung von E<strong>in</strong>zelprojekten außerhalb oder mit Anb<strong>in</strong>dung an das Jahresprojekt.<br />
Das Jahresprojekt ist im allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Projektgruppe <strong>in</strong> Auftrag gegebenes<br />
oder von dieser ermitteltes und nach den Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen der Projektgruppe<br />
entsprechenden Kriterien ausgewähltes Objekt. Dieses Projekt wird im e<strong>in</strong>zelnen<br />
je nach Leistungsvermögen von den Teilnehmer-<strong>in</strong>nen geplant, errichtet<br />
und an den Auftraggeber <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es bestimmten vere<strong>in</strong>barten und also e<strong>in</strong>zuhaltenden<br />
Zeitrahmens übergeben. Es dom<strong>in</strong>iert den Lehrplan für die theoretischen<br />
Anteile, deren Notwendigkeit den oftmals „lernmüden“ jungen Menschen<br />
e<strong>in</strong>sichtiger ist, soweit sie am eigenen Objekt nachvollzogen werden können. Darüber<br />
h<strong>in</strong>aus ist die Möglichkeit gegeben, den Lernprozeß konkreter, anschaulicher<br />
zu gestalten als anhand von Objekten und Aufgabenstellungen außerhalb <strong>des</strong> eigenen<br />
Arbeitsbereichs. Dazu zählt auch e<strong>in</strong> Verständnis <strong>des</strong> Bildungsprozesses,<br />
das Theorie nicht von Praxis trennt und sich Bildung auch <strong>in</strong> Werkstätten, Büros<br />
und auf Baustellen vorstellen kann, wo der Stoff unmittelbar vorgeführt, praktisch<br />
umgesetzt und e<strong>in</strong>geübt werden kann.<br />
Von zentraler Bedeutung für die jungen Menschen ist der Ernstfallcharakter der<br />
Projekte: sie beteiligen sich an gesellschaftlich nützlicher Arbeit, für deren Erledigung<br />
sie gewisse Ansprüche e<strong>in</strong>halten müssen. Sie arbeiten im wesentlichen nicht
an Objekten für sieh selber (das ist allerd<strong>in</strong>gs im Rahmen freier Kapazitäten möglich)<br />
und nicht für den Papierkorb (Übungsstücke nur als nachvollziehbare Vorübung<br />
für Beiträge zum Projekt und möglichst als nutzbare Objekte). Kurz: es wird<br />
nicht gewerkelt, sondern gebaut.<br />
H<strong>in</strong>zu treten Praxis und Theorie verknüpfende E<strong>in</strong>zelprojekte für die gesamte<br />
Projektgruppe oder – häufiger – für Teile davon oder für gar aus verschiedenen<br />
Projekten gemischte Teilnehmergruppen. Sie sollten – dem klassischen Projektgedanken<br />
entsprechend – <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är, methodisch vielfältig, produktorientiert<br />
(d. h., immer mit werkstattpraktischen Aufgaben und/oder anderen zu veröffentlichenden<br />
Produkten verbunden) und teilnehmerorientiert angelegt se<strong>in</strong>.<br />
Das SiJu–Aufnahmeverfahren<br />
Die Teilnahme an diesem Angebot der Jugendprojektwerkstätten ist für die betreffenden<br />
Schüler/-<strong>in</strong>nen freiwillig. Sie müssen diese Entscheidung mittragen. Dazu<br />
ist es erforderlich, den Zweck e<strong>in</strong>er möglichen Schulpflichterfüllung <strong>in</strong> der<br />
Jugendwerkstatt zu kennen und die E<strong>in</strong>richtung durch e<strong>in</strong>en Besuch, möglichst<br />
auch durch e<strong>in</strong> paar Schnuppertage im Frühsommer kennenzulernen<br />
Über die Aufnahme <strong>in</strong> die Modellversuchsgruppe entscheidet e<strong>in</strong>e mehrmals im<br />
Jahr tagende Kommission aus Schulaufsichtsamt, Berufsberatung, Jugendamt,<br />
Berufsbildender Schule, Kreisvolkshochschule und Bezirksregierung. Die nach<br />
Konsenspr<strong>in</strong>zip entscheidende Kommission orientiert sich dabei an folgenden<br />
Aufnahmekriterien:<br />
A. Die Jugendlichen müssen M<strong>in</strong>imalvoraussetzungen für e<strong>in</strong>e Aufnahme mitbr<strong>in</strong>gen.<br />
Diese M<strong>in</strong><strong>des</strong>tansprüche s<strong>in</strong>d:<br />
– die berechtigte Annahme, daß der Betreffende angesichts der neuen<br />
Beschäftigungs- und Qualifizierungsperspektiven zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t auf mittlere Sicht<br />
zu e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen Mitarbeit bereit se<strong>in</strong> wird und<br />
– daß der Betreffende m<strong>in</strong>imale Interaktionsfähigkeiten <strong>in</strong> der Gruppe mitbr<strong>in</strong>gt.<br />
B. Die Jugendlichen haben ihre Schulunlust durch manifeste Verhaltensweisen<br />
über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum deutlich werden lassen. Erhebliche Schulversäumnisse<br />
<strong>in</strong> den letzten zwei zuruckliegenden Jahren bzw. nicht unerhebliche<br />
Schulversäumnisse gepaart mit massiven Störungen <strong>des</strong> Unterrichts oder durchgängigen<br />
passiven Verweigerungen s<strong>in</strong>d dafür ausschlaggebende Indizien. Davon<br />
abweichend kann e<strong>in</strong>e verläßliche Prognose e<strong>in</strong>er mit dem Schulbesuch an der<br />
BBS e<strong>in</strong>setzenden Schulverweigerung herangezogen werden.<br />
C. Auf die Jugendlichen trifft e<strong>in</strong>es oder mehrere der üblichen sozialen Unterprivilegierung<br />
zu:<br />
– materiell unterprivilegierte häusliche Verhältnisse (Sozialhilfeempfänger, längere<br />
bzw. regelmäßig wiederkehrende Arbeitslosigkeit bzw. schlecht entlohnte<br />
E<strong>in</strong>facharbeit, Verschuldung, enge Wohnverhältnisse), - geschiedene oder getrennt<br />
lebende Eltern bzw. vielköpfige Familie (natürlich nur <strong>in</strong>sofern, als dies<br />
offensichtlich soziale Benachteiligung bed<strong>in</strong>gt),<br />
– krim<strong>in</strong>elles bzw. gewalttätiges Milieu (ohne verfestigten krim<strong>in</strong>ellen Karrierebeg<strong>in</strong>n<br />
bzw. hohe, unkalkulierbare Gewaltbereitschaft <strong>des</strong> Jugendlichen);<br />
87
88<br />
– Drogenmilieu (ohne Drogenabhängigkeit bzw. Alkoholismus <strong>des</strong> Jugendlichen),<br />
– bildungsbenachteiligtes Milieu.<br />
D. Auf die Jugendlichen trifft <strong>des</strong> weiteren e<strong>in</strong>es oder mehrere Kriterien <strong>in</strong>dividueller<br />
Benachteiligung zu:<br />
– kognitive Lernbee<strong>in</strong>trächtigung (ohne geistige Beh<strong>in</strong>derung),<br />
– emotional unreife Persönlichkeitsstrukturen,<br />
– unangepaßte soziale Verhaltensdispositionen,<br />
– Entscheidungsängste/Verantwortungsflucht/Unselbständigkeit,<br />
– handwerkliche Tätigkeiten bee<strong>in</strong>trächtigende motorische Defizite (ohne erhebliche<br />
körperliche Beh<strong>in</strong>derungen).<br />
Die Auswahl der Jugendlichen durch e<strong>in</strong>e Kommission mag auf den ersten Blick<br />
als bürokratischer Aufwand ersche<strong>in</strong>en. Tatsächlich aber ist dies die Voraussetzung<br />
für e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende fachliche Diskussion, e<strong>in</strong>e Beratung und Entscheidung zugunsten<br />
der Jugendlichen, die nicht durch Entscheidungsdruck und Institutionen<strong>in</strong>teresse<br />
„abgeschoben“ werden können. Voraussetzung ist allerd<strong>in</strong>gs, daß die<br />
Kommission während der Aufnahmephase m<strong>in</strong><strong>des</strong>tens zweimal tagt.<br />
Lehrer/-<strong>in</strong>nen, die <strong>in</strong> ihren Klassen Schüler/-<strong>in</strong>nen haben, die mit Ende <strong>des</strong> laufenden<br />
Schuljahres ihre Schulpflicht an allgeme<strong>in</strong>bildenden Schulen absolviert<br />
haben, zugleich aber als Schulverweigerer und als sozial wie <strong>in</strong>dividuell Benachteiligte<br />
anzusehen s<strong>in</strong>d, wenden sich direkt oder - sofern vorhanden - über die an<br />
ihrer Schule zuständige Person an e<strong>in</strong> Mitglied der Kommission. Dies geschieht<br />
wenige Wochen nach den Halbjahreszeugnissen, um e<strong>in</strong>e solide E<strong>in</strong>schätzung <strong>des</strong>/<br />
der betreffenden Schülers/-<strong>in</strong> im Vorlauf se<strong>in</strong>er/ihrer möglichen Aufnahme <strong>in</strong> den<br />
Modellversuch und e<strong>in</strong>e sanfte Vorbereitung zu ermöglichen. Selbstverständlich<br />
ist auch die Platzzahl begrenzt (8 -10). Der/die zuständige Lehrer/-<strong>in</strong> oder Betreuer/-<strong>in</strong><br />
<strong>des</strong>/der betreffenden Schülers/-<strong>in</strong> wird zu e<strong>in</strong>em Sitzungsterm<strong>in</strong> der Kommission<br />
nach den Osterferien geladen, um zu besprechen, <strong>in</strong>wiefern das Angebot<strong>des</strong><br />
Modellversuchs auf den/die Schüler/-<strong>in</strong> zutreffen könnte. Diese Besprechung<br />
ist für e<strong>in</strong>e solide Entscheidung unabd<strong>in</strong>gbar. Selbstverständlich ist e<strong>in</strong> Vorgespräch<br />
mit dem/der betreffenden Schüler/-<strong>in</strong> sowie mit se<strong>in</strong>en Eltern/Erziehungsberechtigten<br />
erforderlich. Die Meldungen laufen immer noch nicht fristgerecht e<strong>in</strong>. Möglichst<br />
werden e<strong>in</strong>ige Plätze für Nachrücker freigehalten, die sich <strong>in</strong> der BBS angemeldet<br />
haben, sie dann aber doch nicht besuchen.<br />
Die Konzeption <strong>des</strong> Modellversuchs<br />
Kennzeichnend für die Aufnahme der Schüler/-<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> die Jugendwerkstatt ist<br />
e<strong>in</strong>e behutsame Integration <strong>in</strong> die bestehenden Arbeitszusammenhänge der anderen<br />
Projekte. Dieser Weg sche<strong>in</strong>t den Bedürfnissen der als Schulverweigerer<br />
geltenden Schüler/-<strong>in</strong>nen nach Aufgehobense<strong>in</strong> und Qualifizierungsfortschritten<br />
am ehesten zu entsprechen. E<strong>in</strong>e „Separierung“ dieser Klientel <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Jugendwerkstatt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Arbeitsgruppe ersche<strong>in</strong>t wenig s<strong>in</strong>nvoll, weil es<br />
hier mehr noch als <strong>in</strong> den Arbeitszusammenhängen der übrigen Projekte zu sich<br />
gegenseitig bestätigendem dysfunktionalen Arbeits- und Sozialverhalten kommt<br />
und e<strong>in</strong>e Absonderung bei den Betreffenden sowie Außenstehenden den tendentiell
stigmatisierenden E<strong>in</strong>druck der Besonderheit dieser Gruppe <strong>in</strong>nerhalb der<br />
Jugendwerkstatt erwecken könnte. Solch e<strong>in</strong>e mögliche äußere Selektion könnte<br />
das negative Selbstbild der Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong>nen verfestigen helfen. Die ersten<br />
Wochen der vorsichtigen Mitarbeit <strong>in</strong> verschiedenen Projekten und Kursen<br />
haben demonstriert, daß die Jugendlichen <strong>in</strong> heterogenen Gruppen zu bedeutend<br />
sozialverträglicherem Verhalten imstande s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt dabei<br />
zweifelsohne, daß sie nicht mehr die Schülerrolle übernehmen müssen und als<br />
relativ vollwertige Arbeitskraft <strong>in</strong> Projekten mit Ernstcharakter e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />
Des weiteren haben junge Erwachsene für Jugendliche e<strong>in</strong>e prägende Vorbildfunktion.<br />
Die Integration kann natürlich nur stabilisierende Auswirkungen zeitigen, soweit<br />
diese Vorbildfunktion die Jugendlichen auf ihrem Weg voranbr<strong>in</strong>gen und soweit<br />
sie am Arbeitsplatz ernstgenommen werden – e<strong>in</strong>e Vorbed<strong>in</strong>gung, die unbed<strong>in</strong>gt<br />
die E<strong>in</strong>beziehung der Projektteams, <strong>in</strong> welchen die Jugendlichen<br />
weiterarbeiten werden, erfordert, um die entsprechenden Voraussetzungen <strong>in</strong> den<br />
Werkstätten, auf den Baustellen und <strong>in</strong> den Unterrichtsräumen soweit wie möglich<br />
herstellen zu können. Die kont<strong>in</strong>uierliche Kooperation der Schüler-Betreuer/<br />
-<strong>in</strong> mit den Projektteams ist auch unerläßlich, um die Weiterentwicklung der<br />
Qualifikationsprofile zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>e komplexe<br />
Aufgabe, da die verschiedenen Projekte für 12 bis 28 junge Arbeitslose von fünf bis<br />
acht Mitarbeitern/-<strong>in</strong>nen an vier verschiedenen Standorten betreut werden. E<strong>in</strong>e<br />
Vere<strong>in</strong>barung darüber, welcher der Mitarbeiter e<strong>in</strong>e Art Patenschaft über die <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>em Projekt aufgenommenen Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong> übernimmt, sollte nach e<strong>in</strong><br />
paar Tagen getroffen werden, sofern diese Patenschaft nicht schon bei Übergabe<br />
<strong>in</strong> das Projekt naheliegt.<br />
In e<strong>in</strong>er ersten mehrwöchigen Orientierungsphase lernen die Jugendlichen ihre<br />
Gruppe, die verschiedenen Teamer <strong>in</strong> den Projektwerkstätten und die Arbeitsbereiche<br />
kennen. Diese Phase dient dem Abbau möglicher Hemmschwellen, um sich<br />
auf unbekannte Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen und wechselnde Arbeitsanleiter und Pädagogen<br />
sowie andere Teilnehmer/-<strong>in</strong>nen leichter e<strong>in</strong>lassen zu können. Zu diesem Zweck<br />
wird neben e<strong>in</strong>er Besichtigung aller E<strong>in</strong>richtungen der Projektwerkstätten an mehreren<br />
Tagen mit der ganzen Gruppe <strong>in</strong> verschiedenen Projekten der Jugendprojektwerkstätten<br />
unter Leitung <strong>des</strong> Schüler-Gruppenbetreuers gearbeitet. Dabei wird<br />
darauf geachtet, daß möglichst für die Arbeit der jeweiligen Projektgruppe s<strong>in</strong>nvolle<br />
und <strong>in</strong> dieser kurzen Zeit abschließende Arbeitsergebnisse <strong>in</strong> das Gesamtprojekt<br />
e<strong>in</strong>gebracht werden können. Diese Tage zielen auf den Ausbau e<strong>in</strong>es engen<br />
Verhältnisses zum Betreuer und auf die Stimulierung e<strong>in</strong>er Neugierde, die aus<br />
der Erfahrung nützlicher und abwechslungsreicher Arbeitsprodukte resultiert.<br />
Die anschließende Phase von acht Wochen setzt sich aus e<strong>in</strong>er Abfolge von<br />
„Schnupperkursen“ <strong>in</strong> verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen. Dort wird von<br />
verschiedenen Mitarbeitern/-<strong>in</strong>nen der Jugendprojektwerkstätten e<strong>in</strong>e jeweils zweiwöchige<br />
E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihren jeweiligen Arbeitsbereich angeboten. Diese Arbeitsfelder<br />
s<strong>in</strong>d: Hauswirtschaft, Gartenbau, Büro und Verwaltung, Metalltechnik, Holztechnik,<br />
Elektrotechnik sowie Hoch- und Tiefbau.<br />
Die „Schnupperkurse” werden so angelegt, daß den Beteiligten verschiedene,<br />
den jeweiligen Voraussetzungen angemessene eigenständige Aufgaben übertragen<br />
werden können, die - soweit im Rahmen e<strong>in</strong>es „Schnupperkurses“ möglich -<br />
89
90<br />
e<strong>in</strong>e gewisse Bandbreite <strong>des</strong> jeweiligen Arbeitsfel<strong>des</strong> repräsentieren sollen. Dabei<br />
kommt es zu diesem Zeitpunkt auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>beziehung theoretischer Themenstellungen<br />
nur an, soweit sie für die Bewältigung der Praxisanteile erforderliche<br />
s<strong>in</strong>d. Im Anschluß an die jeweiligen Kurse werden Arbeitsleistungen und die Arbeitshaltung<br />
der Schüler/-<strong>in</strong>nen seitens der Kursleiter/-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>geschätzt. Jeder/<br />
jede der Schüler/-<strong>in</strong>nen soll drei bis vier der angebotenen „Schnupperkurse” wahrnehmen.<br />
Des weiteren soll jeder/jede Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Qualifizierungsphase<br />
<strong>in</strong> den folgenden Monaten <strong>in</strong> e<strong>in</strong> bis zwei für ihn und mit ihm ausgesuchten Arbeitsfeldern<br />
arbeiten und lernen. Pr<strong>in</strong>zipiell können das die gleichen Bereiche se<strong>in</strong><br />
wie <strong>in</strong> den „Schnupperkursen“. Neben die Arbeits<strong>in</strong>halte treten Theorieangebote.<br />
Jede Projektgruppe führt neben fachkundlichem und berufskundlichem Unterricht<br />
e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>formationstechnische Grundbildung und Stützunterricht im Lesen, Schreiben<br />
und Rechnen durch. Darüber h<strong>in</strong>aus werden weitere EDV-Kurse <strong>in</strong>cl. Anwenderpaß,<br />
Hauptschulabschlußkurse, Fuhrersche<strong>in</strong>hilfen, kreatives Gestalten, Sport<br />
und Freizeitsem<strong>in</strong>are durchgeführt. Am Ende <strong>des</strong> Schuljahres erhalten die Jugendlichen,<br />
die die Jugendprojektwerkstätten relativ regelmäßig besucht haben, e<strong>in</strong>e<br />
Besche<strong>in</strong>igung ihrer Schulpflichterfüllung, der e<strong>in</strong>e spezifizierte Auflistung ihrer <strong>in</strong><br />
Theorie und Praxis erworbenen Qualifikationen beigegeben werden kann.<br />
Erste Erfahrungen<br />
Wenn auch trotz der vorrangigen Ausbildungsorientierung e<strong>in</strong>e Vermittlung <strong>in</strong><br />
Berufsausbildungen unmittelbar nach dem SiJu-Jahr <strong>in</strong>sgesamt seit 1993 (Ausnahme:<br />
1994/95) e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle spielte, ist die Erfüllung der Schulpflicht<br />
<strong>in</strong> den Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich <strong>in</strong>sgesamt für<br />
ca. 2/3 der Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne als erfolgreich anzusehen. daß<br />
sie kurz- bzw. mittelfristig (nach 1 Jahr) <strong>in</strong> Ausbildung, Arbeit oder <strong>in</strong> die Jugendprojektwerkstätten<br />
aufgenommen werden. Das restliche Drittel war weder kurznoch<br />
mittelfristig zu stabilisieren: Diese Schülerteilnehmer /-<strong>in</strong>nen brachen die Maßnahme<br />
entweder ab bzw. nahmen trotz <strong>in</strong>tensiver Bemühungen so unregelmäßig<br />
teil, daß ihnen die Schulpflichterfüllung nicht besche<strong>in</strong>igt werden konnte, oder<br />
wurden anschließend arbeitslos und blieben es bis auf weiteres oder mußten <strong>in</strong><br />
den Jugendstrafvollzug oder <strong>in</strong> die Psychiatrie.<br />
Diese Jugendlichen haben sich <strong>in</strong>adäquates Arbeits- und Sozialverhalten und<br />
abweichende Verhaltensweisen über Jahre angeeignet und zu e<strong>in</strong>em stabilen Repertoire<br />
entwickelt, das über e<strong>in</strong> gegensteuern<strong>des</strong> Alternativangebot von nur e<strong>in</strong>em<br />
Jahr nicht aufgebrochen werden kann. Während Schüler/-<strong>in</strong>nen, für die aus<br />
verschiedensten Gründen e<strong>in</strong>e Schulverweigerung an der BBS prognostiziert wird,<br />
und „durchschnittliche“ Schulverweigerer, die ggf. durchaus jahrelang über längere<br />
Zeiten der Schule fernblieben, weil ihnen der Schulbetrieb nicht zusagte, i. d. R.<br />
erfolgreich aufgefangen werden können, ist die e<strong>in</strong>jährige SiJu-Maßnahme auffällig<br />
seltener erfolgreich, wenn folgende manifeste Verhaltensweisen h<strong>in</strong>zutreten:<br />
massiver Drogen- und Alkoholmißbrauch, fortgeschrittene Del<strong>in</strong>quenz und<br />
Trebegängerei. In diesen Fällen können nur mehrjährige, früher e<strong>in</strong>greifende<br />
Betreuungsangebote weiterhelfen.
Werkhof Scharnhorst, Dortmund<br />
Konzept der Schüler/Jugendwerkstatt im Verbundmodell<br />
(orientiert an der Waldorfpädagogik)<br />
Im Schülerprojekt <strong>des</strong> Werkhofs wurden seit 1987 sogenannte schulmüde Jugendliche<br />
aus dem Stadtteil Scharnhorst halbtags betreut, seit 1992 aus dem gesamten<br />
Stadtbereich Dortmund ganztags. Insgesamt jeweils 30 schulpflichtige<br />
Jugendliche aus Real-, Gesamt-, Haupt- und Sonderschulen wurden <strong>in</strong> vier Werkstätten<br />
zu künstlerisch–handwerklich Tätigkeit angeleitet. Es handelte sich dabei<br />
um die Bereiche Holz, Metall und Klang. Die Anleiter haben sowohl e<strong>in</strong>e künstlerische–handwerkliche<br />
als auch e<strong>in</strong>e pädagogische Qualifikation. Ihr Ziel ist es, die<br />
Jugendlichen, die die Lust am Lernen verloren haben, <strong>in</strong> der Schule allenfalls noch<br />
körperlich präsent s<strong>in</strong>d oder ihr ganz fern bleiben, über manuelle schöpferische<br />
Tätigkeit von neuem zu motivieren, ihnen e<strong>in</strong> positives Selbstgefühl zu ermöglichen<br />
durch die gelungene Fertigung e<strong>in</strong>es Gegenstan<strong>des</strong>, den sie für sich oder<br />
andere herzustellen wünschen. Methodisch orientieren sich die Anleiter dabei an<br />
der Waldorf-Pädagogik. – Seit 1992 erhielten die SchülerInnen auf Wunsch zusätzlich<br />
Unterricht von e<strong>in</strong>er Hauptschullehrer<strong>in</strong>, seit 1993 von e<strong>in</strong>er Gesamtschullehrer<strong>in</strong>.<br />
Durch Erweiterung <strong>des</strong> Pädagogenteams ist es heute möglich, den<br />
Unterricht <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong> bildenden Fächern <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen zu <strong>in</strong>tensivieren<br />
und <strong>in</strong> Kooperation mit den Werkanleitern projektarbeitsbezogen e<strong>in</strong>zusetzen.<br />
Ab August 1994 wurde das Werkhofangebot- durch das Verbundmodell mit<br />
Lan<strong>des</strong>mitteln um den Garten,- Küchen-, und Textilbereich und auf nicht mehr schulpflichtige<br />
Jugendliche ausgedehnt. Dabei soll die Teilnehmerzahl von 30 nicht überschritten,<br />
sondern aufgeteilt werden <strong>in</strong> 15 Schüler im Bereich <strong>des</strong> Schülerprojekts<br />
und 15 Jugendliche im Bereich der Jugendwerkstatt. Kooperationspartner s<strong>in</strong>d<br />
weiterh<strong>in</strong> das Jugendamt und die Schulen der Stadt Dortmund<br />
Zielgruppen; Für das Schülerprojekt:<br />
Schüler der e<strong>in</strong>leitend genannten Schulen vornehmlich aus den 8. und 9. Klassen,<br />
die vom Schulunterricht nicht mehr erreicht werden, ihn nur noch passiv absitzen<br />
oder stören bzw. gar nicht mehr zur Schule gehen trotz Rücksprache und<br />
Mahnungen. (Zielgruppe für die Jugendwerkstatt: Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig<br />
s<strong>in</strong>d, jedoch aufgrund von Defiziten verschiedenster Art noch nicht reif<br />
für e<strong>in</strong>e Berufsausbildung.)<br />
Ziele<br />
Auf der persönlichen Ebene:<br />
Die Jugendlichen sollen (unbee<strong>in</strong>trächtigt von Leistungsdruck und Konkurrenz)<br />
über Erfolgserlebnisse im handwerklichen Bereich Selbstvertrauen gew<strong>in</strong>nen, zu<br />
e<strong>in</strong>er realistischen E<strong>in</strong>schätzung ihrer eigenen Fähigkeiten f<strong>in</strong>den und damit im<br />
positiven S<strong>in</strong>ne handlungsfähig werden.<br />
91
92<br />
Auf der sozialen Ebene:<br />
Hier wird angestrebt, daß sie sich <strong>in</strong> angemessener Form selbst zu behaupten<br />
vermögen und damit sowohl fähig werden zu geme<strong>in</strong>samer Arbeit, wie zu gegenseitiger<br />
und über den persönlichen Bereich h<strong>in</strong>ausgreifender Hilfeleistung.<br />
Das Erreichen dieser Ziele ist die Vorraussetzung für e<strong>in</strong>e Berufsausbildung der<br />
JUGENDLICHEN, da diese heute e<strong>in</strong> hohes Maß von Eigen<strong>in</strong>itiative von ihnen erfordert.<br />
Mittel<br />
Werkstattbereich Holz<br />
Für die Arbeit mit diesem Material gibt es im Werkhof drei Räume, <strong>in</strong> denen die<br />
Jugendlichen Gegenstände fertigen und dabei das unterschiedliche Material wie<br />
die verschiedenen Werkzeuge zu se<strong>in</strong>er Bearbeitung und die notwendigen Techniken<br />
kennen und gebrauchen lernen. Die Palette reicht dabei von freier Figurengestaltung<br />
über persönliche Gebrauchsgegenstände (CD–Ständer, Regale) zu<br />
Modellarbeiten (Segelschiff), von e<strong>in</strong>fachen Musik<strong>in</strong>strumenten (Leier, Flöte,<br />
Bambusharfe) über Spielzeug (Zwerg-Baumhäuser) für K<strong>in</strong>dergärten bis zu Massivholzmöbel,<br />
Klang- und Spielhäusern, die geme<strong>in</strong>sam mit den Schülern/Jugendlichen<br />
ausgeliefert und montiert werden.<br />
Werkstattbereich Metall<br />
Der Werkhof verfügt über zwei Räume, <strong>in</strong> denen verschiedene Metalle (Kupfer<br />
sowohl als Eisen und Silber) bearbeitet und grundlegende Techniken wie Schmieden,<br />
Schweißen und Gießen angewendet werden können. Auch hier wird den Jugendlichen<br />
die Möglichkeit geboten, ihre Wünsche bzw. Vorstellungen zu realisieren,<br />
wobei man betonen sollte, daß Mädchen wie <strong>in</strong> den anderen Werkstätten<br />
willkommen s<strong>in</strong>d. Zu den bisher gefertigten Gegenständen gehören Glockenspiele,<br />
Kerzenleuchter, Rankgerüste, Stühle, Schmuckstücke.<br />
Werkstattbereich Textil<br />
Für diesen Bereich steht e<strong>in</strong> Raum zu Verfügung <strong>in</strong> dem die Schüler und Jugendliche<br />
das Material Textil kennen lernen, die Vielseitigkeit der E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten<br />
und die Prozesse der Fertigung erlernen. Wie <strong>in</strong> allen unseren Werkstätten können<br />
die Schüler/Jugendliche auch hier selbst entscheiden, was sie herstellen wollen.<br />
Das Angebot reicht über Näharbeiten z. B. Kleidung, Patchwork und<br />
Quilarbeiten usw. Webarbeiten, z. B. Taschen, Schals, Teppiche usw. Flechtarbeiten<br />
z. B. Hängematten usw., kle<strong>in</strong>e Polsterarbeiten sowie alle Fertigkeiten im<br />
Handarbeitsbereich.<br />
Gärtnerei:<br />
Dem Werkhof angeschlossen ist e<strong>in</strong> Grünbereich mit ‘demeter’–Gemüseanbau,<br />
Garten- und Landschaftsbau und Grünpflege. Hier können unter dem Gesichts-
punkt der Erweiterung <strong>des</strong> Werkhofangebotes für Jugendliche der zweiten Zielgruppe<br />
diejenigen tätig werden, die sich besonders für den Umgang mit Lebendem,<br />
wie Erde und Pflanzen <strong>in</strong>teressieren und sich im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e spätere<br />
Berufsausbildung <strong>in</strong> diesem zukunftsträchtigen Sektor orientieren möchten.<br />
Großküche:<br />
Es ist daran gedacht, daß Angebot an Werkstätten um den Küchenbereich zu<br />
erweitern, um im Verbundsystem mit dem Arbeitsamt Förderlehrgänge anbieten<br />
zu können.<br />
Gegenwärtig können Jugendliche aus dem Schülerprojekt, wie solche aus der<br />
Jugendwerkstatt, e<strong>in</strong> Praktikum <strong>in</strong> der Küche machen, die die Dortmunder Gesamtschulen<br />
und die Fernmeldeämter mit Essen versorgen.<br />
Aufenthaltsräume:<br />
E<strong>in</strong> großer, <strong>in</strong> Eigenleistung ansprechend ausgestattet und gegliederter Mehrzweckraum<br />
ist morgendliche Anlaufstelle für die Jugendlichen, die hier frühstükken<br />
und zu Mittag essen können.<br />
An jedem Freitag wird <strong>in</strong> der dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gebauten Küche von e<strong>in</strong>er wechselnden<br />
Schülergruppe vegetarisch gekocht und anschließend geme<strong>in</strong>sam mit den anderen<br />
Jugendlichen und den Pädagogen gegessen. Ebenso wird er genutzt für die<br />
wöchentlichen Teambesprechungen der Pädagogen, außerdem dient er als Videoraum<br />
für den Stütz- und Förderunterricht, sowie für E<strong>in</strong>zel- bzw. Kle<strong>in</strong>gruppenunterricht.<br />
Der Grünbereich hat e<strong>in</strong>en Pausenraum für alle Mitarbeiter, <strong>in</strong> dem geme<strong>in</strong>sam<br />
gegessen wird. Zusätzlich wird e<strong>in</strong> Büroconta<strong>in</strong>er mit zwei Räumen aufgestellt, <strong>in</strong><br />
dem die Jugendlichen der Jugendwerkstatt fachtheoretischen Unterricht erhalten<br />
und woh<strong>in</strong> sie sich zurückziehen können.<br />
Absprachen mit der nahe gelegenen Gesamtschule erlauben es, sowohl den im<br />
Freien gelegenen Sportplatz als auch die Turnhalle für sportliche Aktivitäten der<br />
Jugendlichen zu nutzen.<br />
Beratungsstelle<br />
Für die Beratungsstelle steht e<strong>in</strong> weiter Raum für die Beratungstätigkeit zur Verfügung.<br />
Die Beratungsstelle bietet Jugendlichen und Schülern die Möglichkeit, sich<br />
zu orientieren. Sie gibt Hilfestellung für Jugendliche und junge Erwachsene von 16<br />
bis 21 Jahren, bei der Bewältigung von speziellen Problemen, zum Beispiel<br />
Lehrstellenabbruch, Probleme mit Eltern, schulisches Versagen, kulturelle Isolation,<br />
soziale Unangepaßtheit, Straffälligkeit und Drogenprobleme.<br />
Es wird e<strong>in</strong>e Übergangsperspektive geboten, wenn Jugendliche nach der Schule<br />
ke<strong>in</strong>e Lehrstelle gefunden haben oder ihre psychische Konstitution so schlecht ist,<br />
daß sie von sich aus ke<strong>in</strong>e Lehrstelle f<strong>in</strong>den oder Angebote <strong>des</strong> Arbeitsamtes wahrnehmen<br />
können. Die Beratungsstelle bietet Orientierungs- und Informationshilfen<br />
für e<strong>in</strong> breiteres Spektrum an berufsbildenden und ausbildungsfördernden Maßnahmen,<br />
die speziell auf diese Jugendlichen zugeschnitten s<strong>in</strong>d. Für die Jugendli-<br />
93
94<br />
chen im Werkhof wird e<strong>in</strong>e Persönlichkeitsstabilisierung angestrebt, die sie befähigen<br />
soll, ihr weiteres Berufsleben zu meistern.<br />
Methode<br />
Die pädagogische Arbeit umfaßt e<strong>in</strong>e ganzheitliche Persönlichkeitsförderung der<br />
e<strong>in</strong>zelnen MaßnahmeteilnehmerInnen, <strong>in</strong> der die künstlerisch–handwerkliche Betreuung<br />
e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle spielt. Um die durch Fremdbestimmung <strong>in</strong> Schule<br />
und Konsumwelt <strong>des</strong>tabilisierten und demotivierten Jugendlichen zu erreichen,<br />
setzen die Werkhofpädagogen bei dem Bedürfnis nach manueller Tätigkeit und<br />
dem Wunsch nach Herstellung s<strong>in</strong>nvoller Gegenstände an.<br />
Dabei orientiert sich ihre Vorgehensweise ganzheitlich, <strong>in</strong>dem sie die geistig–<br />
emotionalen, wie die körperlich–handwerklichen Fähigkeiten <strong>des</strong> e<strong>in</strong>zelnen Jugendlichen<br />
anspricht, berücksichtigt und fördert.<br />
Je nach den gegebenen Umständen werden <strong>in</strong>dividuelle Produkte gefertigt, oder<br />
e<strong>in</strong>e Gruppe entschließt sich zu e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Projekt, wobei die Anleiter<br />
bei Vorschlag, Auswahl und Entscheidung darauf achten, daß die Realisierung den<br />
Jugendlichen motivierende Erfolgserlebnisse ermöglicht. Manchmal ist es möglich,<br />
für die Umsetzung e<strong>in</strong>er Idee mit der Materialbeschaffung zu beg<strong>in</strong>nen - beispielsweise<br />
im Holzbereich beim Aussuchen e<strong>in</strong>es gefällten Baumes, was Gelegenheit<br />
zur Reflexion von <strong>des</strong>sen Umfeld bietet. Zur Vorbereitung e<strong>in</strong>er Arbeit mit<br />
hartem Material dient das Modellieren <strong>in</strong> Ton, wie überhaupt Plastizieren und das<br />
Bearbeiten von Speckste<strong>in</strong>, das zum Beispiel den Tasts<strong>in</strong>n übt.<br />
Bei der Gestaltung e<strong>in</strong>er Idee s<strong>in</strong>d alle S<strong>in</strong>ne gefragt, denn nicht alle<strong>in</strong> die Funktionalität<br />
und Brauchbarkeit bestimmen den Wert <strong>des</strong> Produktes. Zur Planung<br />
<strong>des</strong>sen, was hergestellt werden soll, wird Zeichen, Messen, Rechnen nötig, während<br />
bei der Ausführung die geeigneten Techniken und Geräte benutzt werden<br />
müssen.<br />
In beiden vorgenannten Phasen kann es zum E<strong>in</strong>schub von Übungen der notwendigen<br />
Fertigkeiten kommen. E<strong>in</strong>e laufende Kontrolle ermöglicht die Korrektur<br />
von Fehlern.<br />
Das Ergebnis se<strong>in</strong>es Tuns zeigt dem Jugendlichen am Ende der Projektarbeit unmittelbar,<br />
was gelungen ist. Das wiederum ist geeignet, ihn zu weiterem Tun, zur<br />
Eigen<strong>in</strong>itiative zu ermutigen.<br />
Zeitrahmen<br />
Die Werkhofmaßnahme erstreckt sich für Schüler, wie Jugendliche auf maximal<br />
9 Monate bis zu e<strong>in</strong>em Jahr. Die Ferien orientieren sich für die Schüler an denen der<br />
Schulen. Die berufschulpflichtigen Jugendlichen besuchen den Unterricht der für<br />
sie zuständigen Berufschulen. Schüler wie Jugendliche können die Werkstatt wechseln,<br />
frühestens jedoch nach vier Wochen.<br />
Verteilung der Teilnehmer auf die Werkstätten:<br />
Im Schülerprojekt werden 15 Schüler aufgenommen, die zwischen dem Bereich<br />
Holz, Metall und Textil wählen können
In der Jugendwerkstatt können 15 berufschulpflichtige Jugendliche zwischen dem<br />
Bereich Holz und Garten, Metall und Textil wählen. Für alle Werkbereiche wird mit<br />
Blick auf die Werkanleiter e<strong>in</strong>e ausgewogene Verteilung angestrebt.<br />
Zusätzliche Aktivitäten<br />
Dabei handelt es sich um Unternehmungen, die geeignet s<strong>in</strong>d, daß Gesichtsfeld<br />
der Jugendlichen zu erweitern und ihnen die Schwellenangst zu nehmen vor E<strong>in</strong>richtungen,<br />
die nicht zu ihrem alltäglichen Umfeld gehören. Als Beispiel seien genannt,<br />
der geme<strong>in</strong>same Besuch e<strong>in</strong>es Museums oder e<strong>in</strong>es Theaterstückes, die<br />
Besichtigung e<strong>in</strong>es Wasserwerkes. Auch Fuß- und Radwanderungen während geme<strong>in</strong>samer<br />
Ferientage gehören dazu.<br />
Personal<br />
Bei der Betreuung, Anleitung und Unterricht der Jugendlichen arbeiten Sozialpädagogen,<br />
Werkanleiter und Lehrer <strong>in</strong> Absprache nach geme<strong>in</strong>sam entwickeltem<br />
Konzept, daß beide Zielgruppen umfaßt. Wöchentliche Teambesprechungen helfen<br />
bei der Lösung aktueller Schwierigkeiten und sorgen für die nötige Flexibilität.<br />
E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Aufgabenteilung ergibt sich aus den E<strong>in</strong>satzbereichen Werkstatt,<br />
Unterricht, Umfeld, wobei im Blick auf den e<strong>in</strong>zelnen Jugendlichen e<strong>in</strong>e unterschiedlich<br />
<strong>in</strong>tensive Kooperation erforderlich se<strong>in</strong> wird.<br />
Zusammenfassung: Der Werkhof als Mittelpunkt.<br />
Die pädagogische Konzeption der Arbeit mit den Schülern am Werkhof<br />
Dortmund-Scharnhorst ist durch die umfassende Förderung und Entwicklung von<br />
Interesse und Motivation gekennzeichnet, welche von den MitarbeiterInnen <strong>des</strong><br />
Projekts als grundsätzliche Vorraussetzung zur Vermittlung von schulischen und<br />
beruflichen Bildungs<strong>in</strong>halten angesehen werden. Durch die praktische, handwerkliche<br />
Arbeit <strong>in</strong> den Werkstätten, den theoretischen Unterricht, sowie das Erleben<br />
von sozialem Mite<strong>in</strong>ander (z. B. bei den Mahlzeiten bzw. dem geme<strong>in</strong>samen Kochen)<br />
wird e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Förderung und Bevorzugung kognitiver Fähigkeiten überwunden.<br />
Der E<strong>in</strong>satz aller S<strong>in</strong>nesfähigkeiten bewirkt e<strong>in</strong>e Veränderung der Erlebensund<br />
Wahrnehmensweise, welche dem SchülerInnen e<strong>in</strong>en persönlichen Bezug zu<br />
sich und dem Werkhof ermöglicht.<br />
Die Erfahrung e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls, <strong>des</strong> Aufgenommense<strong>in</strong>s <strong>in</strong>nerhalb<br />
der Gruppe <strong>in</strong> Zusammenhang mit den vielseitigen Kennenlernen <strong>in</strong> den verschiedenen<br />
Werkstätten, der E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die eigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen<br />
lassen die Mechanismen der Gesellschaft transparent werden und ermöglichen<br />
die Bewältigung spezifischer Probleme wie Verhaltensstörungen, erhöhte Aggressivität,<br />
psychische Labilität, Kontaktschwäche, Hemmungen im Sozialverhalten,<br />
Lernschwäche, Bildungsmüdigkeit im allgeme<strong>in</strong>en.<br />
Praktisches Lernen am Werkhof ist somit nicht nur als zur Schule zurückführende<br />
Maßnahmen, bzw. als berufspraktische Vorbereitung ausschließlich zu betrachten;<br />
vielmehr gilt es, hervorzuheben, welche weitreichende Bedeutung es für den<br />
heranwachsenden Jugendlichen hat, durch die praktische Arbeit <strong>in</strong> der Gruppe<br />
95
96<br />
wichtige Begabungen entfalten zu können und damit zum Lernen <strong>in</strong>sgesamt wieder<br />
neue Zugänge zu f<strong>in</strong>den. Neben dem Angebot von Berufsorientierung und<br />
Förderung sozialer und berufsbefähigender Kompetenz versucht der Werkhof, neue<br />
Formen <strong>des</strong> Erfahrungsfel<strong>des</strong> ‘Lernen am Arbeitsplatz’ zu entwickeln und zu erproben.
Lernwerkstatt für Schulverweigerer im<br />
Internationalen Jugendzentrum der Stadt Frankfurt a. M.<br />
(Stadt Frankfurt a. M., Jugendamt, Abt. K<strong>in</strong>der- und Jugendförderung<br />
–Internationales Jugendzentrum–)<br />
I. Ausgangspunkt, Zielgruppe und Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
Die Lernwerkstatt als e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung <strong>des</strong> Zentrums für Erziehungshilfe (ZfE) ist<br />
e<strong>in</strong> Teil <strong>des</strong> Internationalen Jugendzentrums, e<strong>in</strong>er Freizeit-, Kultur- und<br />
Berufsbildungsstätte <strong>des</strong> Jugendamtes der Stadt Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, Abteilung K<strong>in</strong>der-<br />
und Jugendförderung.<br />
Im Zuge der Konzeptionierung <strong>des</strong> ZfE stellte sich die Frage, wie können wir die<br />
Schulverweigerer erreichen?<br />
Diese Problematik wurde an uns vom Internationalen Jugendzentrum herangetragen.<br />
Auf dem H<strong>in</strong>tergrund unserer Erfahrungen <strong>in</strong> der offenen Jugendfreizeitund<br />
Berufsbildungsarbeit mit sozial- und bildungsmäßig benachteiligten ausländischen<br />
und deutschen Jugendlichen sahen wir die Notwendigkeit e<strong>in</strong> spezifisches<br />
sozial- und berufspädagogisches Angebot für die stark verhaltensgestörten Jugendlichen<br />
ab 14 Jahren anzubieten.<br />
Es handelt sich dabei um die Jugendlichen der besonders schwierigen Gruppe<br />
der erziehungshilfebedürftigen 14jährigen Schülern, die oftmals von der herkömmlichen<br />
Schule nicht mehrerreicht werden oder dort aufgrund ihres Verhaltens nicht<br />
mehr tragbar s<strong>in</strong>d. Mit Hilfe e<strong>in</strong>es alternativen Lernangebotes sollen diese Jugendlichen<br />
neu motiviert werden.<br />
Ohne e<strong>in</strong>e Teilnahme an e<strong>in</strong>em Lernangebot besteht bei diesen Jugendlichen<br />
die Gefahr, daß sie <strong>in</strong> den Zeitraum von zwei bis drei Jahren bis zu e<strong>in</strong>em berufsvorbereitenden<br />
bzw. -bildenden Angebot endgültig den Zugang zu Bildungs- und<br />
Betreuungsangeboten verlieren.<br />
Darüber h<strong>in</strong>aus wären diese Jugendlichen <strong>in</strong> besonderem Maße den Gefährdungen<br />
<strong>in</strong> Frankfurt ausgesetzt (Beschaffungskrim<strong>in</strong>alität, Drogen und Jugendbanden).<br />
Die erste Lernwerkstattgruppe hat im Mai 1993 ihre Arbeit aufgenommen. Es ist<br />
geplant ab Herbst <strong>1995</strong> e<strong>in</strong>e zweite Lernwerkstattgruppe e<strong>in</strong>zurichten. Zur Zeit<br />
besucht die zweite Gruppe von sechs Jugendlichen im Alter von 14 Jahren die Lernwerkstatt.<br />
Die Gruppe wird von e<strong>in</strong>er Sozialarbeiter<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>em Meister und e<strong>in</strong>em<br />
Sonderschullehrer betreut und unterrichtet.<br />
Insofern streben wir e<strong>in</strong>e Integration von Sozial,- Berufs- und Schulpädagogik<br />
an. Wir nehmen die Jugendlichen im Alter von 14 Jahren auf, sie bef<strong>in</strong>den sich<br />
dann im 8. Schulbesuchsjahr.<br />
Die Betreuungszeit <strong>in</strong> der Lernwerkstatt beträgt <strong>in</strong> der Regel zwei Jahre, so daß<br />
die Jugendlichen das 8. und 9. Schulbesuchsjahr <strong>in</strong> der Lernwerkstatt absolvieren.<br />
Der Jugendhilfeteil der Lernwerkstatt, also die Arbeit der Sozialarbeiter<strong>in</strong> und<br />
<strong>des</strong> Werkpädagogen, stellt e<strong>in</strong> Tagesheim gemäß 5 27 i. V. m. § 32 KJHG dar und<br />
wird über Pflegesatz f<strong>in</strong>anziert, der derzeitige Tagessatz beträgt 248,00 DM.<br />
97
98<br />
II. Ziele und Arbeitsweise der Lernwerkstatt<br />
1. Aufnahmeverfahren<br />
Für das Gel<strong>in</strong>gen der Arbeit <strong>in</strong> der Lernwerkstatt ist es erforderlich, daß e<strong>in</strong>e<br />
<strong>in</strong>tensive Zusammenarbeit mit den Jugendlichen, den Eltern, dem Zentrum für<br />
Erziehungshilfe und den E<strong>in</strong>richtungen der Jugendhilfe (ambulante Dienste, stationäre<br />
Dienste und E<strong>in</strong>richtungen sowie <strong>des</strong> Allgeme<strong>in</strong>en Sozialdienstes) praktiziert<br />
wird.<br />
Um der Problematik entgegenzuwirken, daß der Besuch der Lernwerkstatt e<strong>in</strong>en<br />
Sanktions- oder Zwangscharakter bekommt, wickeln wir das Aufnahmeverfahren<br />
<strong>in</strong> Ruhe ab. Die Erwartungen, Befürchtungen sowie Problemh<strong>in</strong>tergründe<br />
werden ausführlich mit den Betroffenen erörtert. Die Eltern müssen sich zur Zusammenarbeit<br />
bereit erklären und damit e<strong>in</strong>verstanden se<strong>in</strong>, daß sie 14tägig zum<br />
Elterngespräch <strong>in</strong> die Lernwerkstatt kommen. Wir versuchen von Anfang an die<br />
genannten Betroffenen e<strong>in</strong>zubeziehen. Im e<strong>in</strong>zelnen gehen wir wie folgt vor:<br />
Als erstes laden wir den bzw. die Jugendliche e<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>en unverb<strong>in</strong>dlichen<br />
Schnupperbesuch <strong>in</strong> das Jugendzentrum e<strong>in</strong>, damit er/sie sich e<strong>in</strong> erstes Bild von<br />
der Lernwerkstatt machen kann. Falls er/ sie die Lernwerkstatt <strong>in</strong>teressant f<strong>in</strong>det,<br />
kommt er zu e<strong>in</strong>em zweiten Besuch <strong>in</strong> die Lernwerkstatt, bei dem der Sonderschullehrer<br />
abklärt, <strong>in</strong>wieweit er/sie für e<strong>in</strong>en Unterricht im Spektrum der Sekundarstufe<br />
I geeignet ist.<br />
Daran schließt sich e<strong>in</strong> Informationsgespräch mit dem Jugendlichen, se<strong>in</strong>en Eltern,<br />
dem Sozialarbeiter <strong>des</strong> ASD und gegebenenfalls e<strong>in</strong>em Mitarbeiter vom Zentrum<br />
für Erziehungshilfe an, falls der Jugendliche vom ZfE bereits betreut wurde.<br />
Nach e<strong>in</strong>er Bedenkzeit von ca. zwei Wochen wird dann mit dem zuvor Beteiligten<br />
e<strong>in</strong> Kontraktgespräch geführt <strong>in</strong> dem möglichst konkrete Lernziele für das erste<br />
halbe Jahr herausgearbeitet werden. Dabei legen wir Wert darauf, daß jeder der<br />
Beteiligten erklärt, wie er zur Erreichung der Lernziele beitragen kann. In diesem<br />
Gespräch wird von unserer Seite verdeutlicht, daß die Verantwortung für die Zukunft<br />
<strong>des</strong> Jugendlichen bei ihm selbst und se<strong>in</strong>en Eltern liegt. Unsere Beziehungs-,<br />
Beratungs- und Lernangebote können nur e<strong>in</strong>e Unterstützung der familiären Erziehung<br />
und der eigenen Bemühungen <strong>des</strong> Jugendlichen darstellen, damit der Jugendliche<br />
se<strong>in</strong>e Fähigkeiten ausbilden und realistische wie auch s<strong>in</strong>nvolle Zielsetzungen<br />
entwickeln kann. Nach e<strong>in</strong>em halben Jahr kommen die Betroffenen wieder<br />
zu e<strong>in</strong>em Bilanzgespräch zusammen, um Erfahrungen auszutauschen, Erreichtes<br />
zu reflektieren und neue Lernziele geme<strong>in</strong>sam herauszuarbeiten.<br />
2. Methodik und Didaktik<br />
Die Vorgeschichte der Jugendlichen ist gekennzeichnet durch Schulverweise aufgrund<br />
ihres oft hochaggressiven Verhaltens oder durch langjährige hartnäckige<br />
Verweigerung die Schule zu besuchen. Diese Jugendlichen s<strong>in</strong>d stark neurotisch,<br />
sehr verhaltensgestört und weisen erheblich dissoziale Verhaltensweisen auf. Sie<br />
s<strong>in</strong>d stark geprägt von Versagens- und Mißerfolgserlebnissen und haben e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ges<br />
Selbstwertgefühl, sie s<strong>in</strong>d kaum beziehungs- und damit auch nicht gruppenfähig,<br />
sie verfügen nur über e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Konzentrationsfähigkeit und e<strong>in</strong> schwa-
ches Durchhaltevermögen. Sie s<strong>in</strong>d mißtrauisch und weisen e<strong>in</strong>e starke motorische<br />
Unruhe auf.<br />
Um die Jugendlichen, zur Teilnahme an der Lernwerkstatt zu motivieren ist es<br />
erforderlich, sie ständig persönlich anzusprechen und tragfähige Beziehungen zu<br />
ihnen aufzubauen. Wir machen daher den Jugendlichen e<strong>in</strong> starkes positives<br />
Beziehungsangebot und geben ihnen e<strong>in</strong>en großen Raum, damit sie sich e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen<br />
können mit allen ihren Interessen, Neigungen, Eigenarten und Verhaltensweisen.<br />
Dabei wenden wir uns jedem e<strong>in</strong>zelnen persönlich zu, ermuntern ihn und<br />
geben ihnen e<strong>in</strong>e starke Anerkennung. Insofern ist Ausgangspunkt und Basis der<br />
Arbeit mit den Jugendlichen die Beziehungsarbeit im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fühlenden und<br />
akzeptierenden Haltung, die bestimmt ist durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividualisieren<strong>des</strong> E<strong>in</strong>gehen<br />
auf die Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensweisen der Jugendlichen.<br />
Wir bieten den Jugendlichen vielfältige Formen der sportlichen Betätigung und<br />
der Freizeitgestaltung an. Dazu zählen Billard, Hapkido, Volley- und Basketball, Kikker<br />
sowie Tischtennis, Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Musik und Video, Ausflüge und Erlebnisfahrten.<br />
Als e<strong>in</strong>e besonders wirkungsvolle, sozialpädagogische Arbeitsweise haben sich die<br />
werkpädagogischen Angebote erwiesen. Durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles E<strong>in</strong>gehen auf die<br />
Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen können ihnen Erfolgserlebnisse vermittelt<br />
werden, die sie <strong>in</strong> ihrer Persönlichkeit fördern und stabilisieren und auch<br />
am Aufbau von Lernmotivationen beitragen. Diese werkpädagogische Arbeit ist<br />
projekt- und produktbezogen und kann <strong>in</strong> den folgenden Bereichen angeboten<br />
werden: Weihnachtsgeschenke, Fahrradreparaturen, Metallbearbeitung und e<strong>in</strong>schließlich<br />
Gas- und Elektroschweißen, Löten, Elektrotechnik und Elektronik, Computertechnik,<br />
Zweiradmechanik, Modellbau, Kochen, Kunsthandwerk, Holzarbeiten.<br />
Mit der werkpädagogischen Arbeit ist auch e<strong>in</strong>e Berufsorientierung verbunden,<br />
die die Jugendlichen bei ihrer Berufswahl unterstützen soll. Gerade für Jugendliche<br />
mit ger<strong>in</strong>gen Schulkenntnissen und e<strong>in</strong>em wenig entwickelten schulischen Lernen<br />
bieten die werkpädagogischen Angebote die Möglichkeit zu Erfolgserlebnissen zu<br />
gelangen.<br />
Um das Kennenlernen der Jugendlichen untere<strong>in</strong>ander wie auch das zwischen<br />
Jugendlichen und Mitarbeitern zu fördern, wird ca. vier Wochen nach Beg<strong>in</strong>n der<br />
Lernwerkstatt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>wöchige Erlebnisfreizeit durchgeführt. E<strong>in</strong>e zweite Freizeit<br />
wird zu Beg<strong>in</strong>n der Sommerferien im zweiten Jahr veranstaltet. Die Arbeit mit den<br />
Jugendlichen macht es erforderlich, daß während der gesamten Arbeitszeit der<br />
Lernwerkstatt e<strong>in</strong> Betreuungs- und Beratungsangebot vorhanden ist, daß die Jugendlichen<br />
bei der Bewältigung ihrer Verhaltensstörungen und Konflikte hilft, so<br />
daß sie nicht <strong>in</strong> ihren alten Mustern verhaftet bleiben, sondern neue sozialere Verhaltensweisen,<br />
E<strong>in</strong>stellungen und Motivationen herausbilden können.<br />
Das Ziel <strong>des</strong> ersten Jahres <strong>in</strong> der Lernwerkstatt ist es, daß durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive<br />
sozial- und sonderpädagogische Betreuung die Jugendlichen gruppenfähig werden,<br />
sie Lernmotivationen aufbauen, sie <strong>in</strong> ihrer Konzentrations- und Lernfähigkeit<br />
gefördert werden und e<strong>in</strong>e Arbeitshaltung entwickeln. E<strong>in</strong>e Vorbereitung auf den<br />
Hauptschulabschluß kann erst im zweiten Förderungsjahr durchgeführt werden.<br />
Die Jugendlichen erhalten e<strong>in</strong>en stark <strong>in</strong>dividualisierenden Schulunterricht, der<br />
sich an den Rahmenplänen der Sekundarstufe 1 orientiert. Durch die E<strong>in</strong>beziehung<br />
von Computern <strong>in</strong> Form von Lernprogrammen und Computerspielen wird die<br />
Motivation der Jugendlichen gefördert. Der Unterricht wird <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen von<br />
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drei bis vier Jugendlichen erteilt. Zur Zeit erhalten zwei Jugendliche, die aufgrund<br />
ihres Sozialverhaltens und ihres Leistungsstan<strong>des</strong> nicht <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>gruppe unterrichtet<br />
werden können, e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelunterricht.<br />
Im weiteren Verlauf der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen zu e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />
mit ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Zukunftsperspektiven<br />
angeregt. Wenn bei den Jugendlichen dazu e<strong>in</strong>e Bereitschaft geweckt wurde, können<br />
wir ihnen auch helfen ihr negatives Selbstbild, ihre M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühle<br />
oder auch ihre Selbstüberschätzungen abzubauen. Neben dem Erlernen allgeme<strong>in</strong>bildender<br />
und fachpraktischer Fähigkeiten können die Jugendlichen auch Schlüsselqualifikationen<br />
wie Durchhaltevermögen, E<strong>in</strong>satzbereitschaft, Anpassungsfähigkeit,<br />
Orientierungsfähigkeit, Pünktlichkeit und Kooperationsfähigkeit herausbilden.<br />
Die Entwicklung e<strong>in</strong>er realitätsgerechten E<strong>in</strong>schätzung ihrer Fähigkeiten und e<strong>in</strong>e<br />
adäquate Berufswahl s<strong>in</strong>d dann die nächsten Schritte, bei denen wir die Jugendlichen<br />
unterstützten.<br />
Nach der Teilnahme an der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Berufsausbildung,<br />
e<strong>in</strong>e weiterführende Schule oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Berufsvorbereitungs- oder<br />
Berufsgrundbildungsjahr übergeleitet. Damit die Jugendlichen die weiteren<br />
Bildungsmaßnahmen durchhalten, führen wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive sozialpädagogische<br />
Nachbetreuung durch. Die Sozialarbeiter<strong>in</strong> ist weiterh<strong>in</strong> Ansprechpartner<strong>in</strong> für die<br />
Jugendlichen, die Eltern und die jeweiligen Bildungs- und Soziale<strong>in</strong>richtungen.<br />
III. Zusammenfassende Erfahrungen<br />
1. Die Arbeit der Lernwerkstatt ist e<strong>in</strong>e permanente Beratungs- und Beziehungsarbeit,<br />
<strong>in</strong> der ständig <strong>in</strong>dividualisiert und situativ gearbeitet werden muß, um dadurch<br />
die jeweiligen Verhaltensschwierigkeiten aufzufangen und die Jugendlichen<br />
zur Mitarbeit und zur Reflexion über ihre jeweiligen Verhaltensproblematiken zu<br />
motivieren .<br />
2. Aufgrund der genannten Persönlichkeitsstörungen ist-es erforderlich, daß die<br />
Arbeit mit den Jugendlichen sozial-, sonder- und heilpädagogisch ausgerichtet se<strong>in</strong><br />
muß, wobei alle drei Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen diese Orientierung <strong>in</strong> ihren jeweiligen<br />
Arbeitsansätzen berücksichtigen und umsetzen. Neben den fachspezifischen Qualifikationen<br />
ist e<strong>in</strong>e sehr gute Kontaktfähigkeit und e<strong>in</strong> stark entwickeltes E<strong>in</strong>fühlungsvermögen<br />
<strong>in</strong> die psychosoziale Problematik der Jugendlichen bei den Mitarbeitern<br />
erforderlich, um mit diesen Jugendlichen <strong>in</strong> sozial- und heilpädagogischer<br />
H<strong>in</strong>sicht arbeiten zu können. Die unterschiedliche Bezahlung von Sozial-, bzw.<br />
Werkpädagogen und Lehrer ist <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>erweise gerechtfertigt.<br />
3. Es ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e psychisch und physisch stark belastende Arbeit, die die<br />
Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranführt. Zum anderen ist<br />
es auch e<strong>in</strong>e sehr befriedigende Arbeit, wenn man die Fortschritte <strong>in</strong> der<br />
Persönlichkeitsentwicklung und <strong>in</strong> der Lernfähigkeit feststellen kann.
Folgende Träger/E<strong>in</strong>richtungen beteiligten sich an dem<br />
Programmteil „Projekte stellen sich vor“:<br />
Kreisvolkshochschule Aurich<br />
Jugendwerkstätten<br />
Raiffeisenstr. 8-10<br />
26603 Aurich<br />
(Tel.: 04941/64147, Frau Weber)<br />
Stadt–als–Schule<br />
Dessauer Str. 24<br />
10963 Berl<strong>in</strong><br />
(Tel.: 030/2651383, Herr Bubenzer)<br />
Werkhof <strong>in</strong> Scharnhorst<br />
Buschei 30<br />
44328 Dortmund<br />
(Tel.: 0231/23738, Frau Mewes-Turz)<br />
Lernwerkstatt<br />
im Zentrum für Erziehungshilfe<br />
Internationales Jugendzentrum<br />
Bleichstr. 8-10<br />
60313 Frankfurt<br />
(Tel.: 069/212-31768, Herr Mauer)<br />
Freie Schule Hamburg<br />
<strong>in</strong> der Honigfabrik<br />
Projekt Hauptschulabschluß<br />
Industriestr. 125<br />
21107 Hamburg<br />
(Tel.: 040/4322833, Frau Schwalbe)<br />
Schule <strong>des</strong> Lebens<br />
(WIBB gGmbH)<br />
Berl<strong>in</strong>er Str. 32<br />
15378 Hennickendorf (Brandenburg)<br />
(Tel.: 03343/445175, Herr Thimm)<br />
BuntStift e. V.<br />
Holländische Str. 208<br />
34127 Kassel<br />
(Tel.: 0561/98353-0, Frau Waasen)<br />
Städtische Hauptschule<br />
R<strong>in</strong>gelnatzstraße 12<br />
50996 Köln<br />
(Tel.: 0221/3591373)<br />
Jugendhilfe Köln e. V.<br />
Jugendwerkstatt Mülheim<br />
Berl<strong>in</strong>er Str. 31-33<br />
51063 Köln<br />
(Tel.: 0221/641064/5, Herr Kröger-Willms)<br />
Hauptschulabschlußkurse S<strong>in</strong>delf<strong>in</strong>gen<br />
Landkreis Böbl<strong>in</strong>gen<br />
Böbl<strong>in</strong>ger Str. 8<br />
71065 S<strong>in</strong>delf<strong>in</strong>gen<br />
(Tel.: 07031/94-511, Frau Bender)<br />
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