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Dokumentation des Kongresses 1995 in Bonn - Landschaftsverband ...

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Schulverweigerung<br />

<strong>Dokumentation</strong> <strong>des</strong> <strong>Kongresses</strong><br />

Schule: statt Pflicht –<br />

<strong>Bonn</strong> 26./27. 9. <strong>1995</strong><br />

1


2<br />

<strong>Landschaftsverband</strong> Rhe<strong>in</strong>land<br />

Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />

Amt 43<br />

50633 Köln<br />

Federführung für Vorbereitung,<br />

Durchführung und Auswertung <strong>des</strong> <strong>Kongresses</strong>:<br />

Hans Peter Schaefer,<br />

Tel: 0221/8096234, Fax: 0221/8096252, E-Mail: hp.schaefer@lvr.de<br />

April 1996


Schulverweigerung<br />

– e<strong>in</strong> Kongreß, e<strong>in</strong> Thema<br />

Schulverweigerung. Den Medien, die über den Kongreß berichteten, fiel dazu<br />

Schulschwänzen e<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Kavaliersdelikt, das eher wehmütig er<strong>in</strong>nern läßt an<br />

die Schulzeit, als daß es mit sozialen Problemlagen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht wird.<br />

Doch die aktuelle Diskussion um Schulverweigerung hat wenig zu tun mit dem<br />

Reiz <strong>des</strong> Verbotenen. Zu gravierend s<strong>in</strong>d die Folgen beharrlicher Abwesenheit<br />

von der Schule, zu gravierend die Folgen fehlender schulischer Qualifizierung.<br />

Den Betroffenen droht dauerhafte soziale Ausgrenzung. Maßnahmen der Jugendhilfe<br />

und der Arbeitsverwaltung, die sich gezielt an benachteiligte Jugendliche<br />

zum Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf wenden, greifen bei hartnäckigen<br />

Schulverweigerern selten, setzen sie doch meist zu spät an.<br />

E<strong>in</strong>e Erfahrung auch <strong>in</strong> der Jugendsozialarbeit. Beratungsstellen <strong>des</strong> NRW–Lan<strong>des</strong>jugendplanprogramms<br />

„Sozialpädagogische Hilfen für junge Menschen im<br />

Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf“ wenden sich seit vielen Jahren an Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler, die aus dem Regelschulsystem herausfallen. Sozialpädagogische<br />

Beratung und Begleitung alle<strong>in</strong> reichen allerd<strong>in</strong>gs nicht aus.<br />

Es fehlen alternative Angebote zur Schule, die Lernen für diese Jugendlichenwieder<br />

attraktiv machen. Jugendwerkstätten, ebenfalls aus dem NRW–Lan<strong>des</strong>jugendprogramm<br />

gefördert und für arbeitslose Jugendliche konzipiert, widmeten<br />

sich vere<strong>in</strong>zelt dieser Zielgruppe. Sie konnten Erfolge vorzeigen mit ihrem<br />

handwerklich und sozialpädagogisch orientierten Angebot. Jugendliche, von der<br />

Schule schon aufgegeben, schon im Abseits geglaubt, konnten wieder fürs Lernen<br />

gewonnen werden.<br />

Sechs Modellversuche <strong>in</strong> NRW, davon drei im Rhe<strong>in</strong>land, betreuen seit Schuljahresbeg<strong>in</strong>n<br />

1994/96 jeweils acht Schüler/<strong>in</strong>nen; Schulverweigerer, die zum Teil<br />

schon zwei bis drei Jahre der Schule fernbleiben. Die Werkstätten arbeiten werkund<br />

sozialpädagogisch mit ihnen, die Schule ist durch e<strong>in</strong>e Lehrkraft vertreten.<br />

Die Ergebnisse werden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Endbericht ausgewertet.<br />

Heute aber schon läßt sich feststellen: Der außerschulische Lernort, Praxislernen<br />

und die sozialpädagogische Orientierung motivieren die Schulpflichtigen<br />

zum Lernen.<br />

In diesem Zusammenhang lag es nah, bun<strong>des</strong>weit die Projekte zusammenzuführen,<br />

die am gleichen Thema arbeiten. Auf dieser Veranstaltung wurden daher<br />

Konzeption und Praxis unterschiedlicher E<strong>in</strong>richtungen mite<strong>in</strong>ander verglichen –<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Projektmesse und <strong>in</strong> Foren mit unterschiedlichen Schwerpunkten.<br />

Vorträge aus Theorie und Praxis, aus E<strong>in</strong>richtungen und M<strong>in</strong>isterien brachten die<br />

Problematik Schulverweigerung auf den Punkt.<br />

E<strong>in</strong>e Lösung, die generell Hilfeformen <strong>in</strong>stitutionalisiert, ist allerd<strong>in</strong>gs auch<br />

jetzt noch nicht <strong>in</strong> Sicht. So drängend das Schicksal der betroffen jungen Menschen<br />

auch ist, knappe Kassen, Schwierigkeiten Ressorts abzugrenzen und mite<strong>in</strong>ander<br />

zu kooperieren s<strong>in</strong>d ebenso H<strong>in</strong>dernisse wie e<strong>in</strong>gefahrene Gleise<br />

<strong>in</strong> Jugendhilfe und Schule.<br />

Dabei muß die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule weiter vertieft werden<br />

– auch unorthodoxe Lösungen dürfen nicht tabu se<strong>in</strong>. Und: Die Prävention<br />

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4<br />

muß ebenso wie die Betroffenheit von Mädchen stärker <strong>in</strong>s Blickfeld<br />

geraten. Ist <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen auch der Impuls von der Jugendsozialarbeit<br />

ausgegangen, es muß früher angesetzt werden. Denn dar<strong>in</strong> stimmten die Expert<strong>in</strong>nen<br />

und Experten übere<strong>in</strong>: Die Grundlagen für schulisches Scheitern zeigen<br />

sich oft beim Übergang von der Grund- <strong>in</strong> die Hauptschule, häufig haben ungünstige<br />

familiale und soziale Bed<strong>in</strong>gungen E<strong>in</strong>fluß. Hier s<strong>in</strong>d nicht nur Jugendsozialarbeit<br />

und Schule gefordert. In der Jugendhilfe müssen auch andere Dienste,<br />

die früher ansetzen als die Jugendsozialarbeit Verantwortung übernehmen, Netzwerke<br />

der Prävention bilden. Hieran muß Schule mitwirken. Gleichzeitig stehen <strong>in</strong> der<br />

Schule viele überkommene Ansätze und Strukturen auf dem Prüfstand.<br />

Gilt es, Schule <strong>in</strong> Richtung von mehr Ganzheitlichkeit und Lebensweltorientierung<br />

zu entwickeln, kann Jugendhilfe mit ihrer sozialpädagogischen Orientierung<br />

wichtige Beiträge liefern – Partner<strong>in</strong> se<strong>in</strong>.<br />

Hartmut Schulz


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorab: Das Resumée .................................................................... 7<br />

Steffen Hildebrand (Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln):<br />

Schulverweigerung: Zielgruppen, Problemlagen ......................... 9<br />

Schulwechsel und Schulverweigerung .............................................................. 10<br />

Häufigkeit der Schulverweigerung.....................................................................11<br />

Ergebnisse: ........................................................................................................11<br />

Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule ......................................11<br />

1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen nicht mehr durchsetzbar ............ 12<br />

2. Die Erziehung zur „Pflicht“ bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise ................................. 13<br />

3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler mit den derzeitigen<br />

Unterrichts<strong>in</strong>halten zu lange ........................................................................ 13<br />

4. Für viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler ist das Erreichen <strong>des</strong><br />

Hauptschulabschlusses unrealistisch ............................................................ 13<br />

5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen<br />

schulische Zwischenwelten .......................................................................... 14<br />

6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker um<br />

handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen erweitert werden ....... 14<br />

7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß zielgruppenbezogen auf<br />

den verschiedenen Handlungs- und Planungsebenen <strong>in</strong>tensiviert werden ..... 15<br />

Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski (Hauptschullehrer<strong>in</strong>, Essen):<br />

Zum Beispiel Franzi ..................................................................... 17<br />

Von Franzi zurück zum Allgeme<strong>in</strong>en ................................................................. 24<br />

Karlhe<strong>in</strong>z Thimm (Hennickendorf):<br />

Wenn Schulverweigerer Schule machen…<br />

Schule <strong>des</strong> Lebens im Überschneidungsbereich von Jugendhilfe und Schule .... 29<br />

Schule im Gegenw<strong>in</strong>d ....................................................................................... 29<br />

Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule ...................................................... 31<br />

Schulverweigerung ........................................................................................... 35<br />

Verweigererschule: „Schule <strong>des</strong> Lebens“ .......................................................... 39<br />

Bilanz ................................................................................................................ 45<br />

Literatur: ........................................................................................................... 47<br />

Anhang ............................................................................................................. 47<br />

Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung .......................................... 47<br />

Zum Projekt Schule <strong>des</strong> Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen ............... 49<br />

Ulrich Thünken (M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung NRW):<br />

Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Schule ....... 53<br />

Berufsvorbereitungsklasse (BVK) für überalterte und schulmüde Schüler ......... 56<br />

5


6<br />

Klaus Schäfer (M<strong>in</strong>isterium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)<br />

Schulverweigerung und dann? Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe ............. 61<br />

Podiumsdiskussion:<br />

Brauchen wir e<strong>in</strong> neues Regelsystem für Schüler und<br />

Schüler<strong>in</strong>nen, die sich der Schulpflicht entziehen?...................... 67<br />

Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)<br />

Kar<strong>in</strong> Joswig-von Bothmer (Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />

E<strong>in</strong> Nachtrag:<br />

Auffällig unauffällig: Mädchen und Schulverweigerung.............. 71<br />

Die familiäre Situation ...................................................................................... 71<br />

Die psychosoziale Situation der Mädchen ......................................................... 72<br />

Die Rolle der Schule .......................................................................................... 73<br />

Anhang: Projekte stellen sich vor ................................................ 77<br />

Städtische Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstr. 12, 50996 Köln...................................... 78<br />

Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong>....................................................................................... 80<br />

KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH <strong>des</strong> Landkreises Aurich .............................. 84<br />

Werkhof Scharnhorst, Dortmund ..................................................................... 91<br />

Lernwerkstatt für Schulverweigerer im Internationalen Jugendzentrum der<br />

Stadt Frankfurt a. M. ......................................................................................... 97<br />

Jugendsozialarbeit <strong>in</strong>form, Ausgabe 4/<strong>1995</strong>............................................... 103<br />

Beispiele aus der Medienresonanz ............................................................. 109


Vorab:<br />

Das Resumée<br />

Kar<strong>in</strong> Joswig–von Bothmer, Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land, faßte <strong>in</strong> ihrem Schlußwort<br />

die Ergebnisse und die <strong>in</strong> den Beiträgen vom Podium , den Arbeitsgruppen<br />

und Diskussionsbeiträgen erarbeiteten Aufträge für die Zukunft zusammen:<br />

am Ende e<strong>in</strong>er Fachveranstaltung ist es angebracht, noch e<strong>in</strong>mal Revue passieren<br />

zu lassen, was <strong>in</strong> diesen zwei Tagen alles geschehen ist.<br />

Im Mittelpunkt der Fachveranstaltung stand e<strong>in</strong>e Personengruppe, die sich der<br />

Schulpflicht entzieht, und die Frage nach den Zuständigkeiten von Schule und<br />

Jugendhilfe – zwischen Grauzonen und neuen Regelsystemen. Die Durchführung<br />

war mit e<strong>in</strong>em Blick über den Tellerrand verbunden, denn schließlich waren hier<br />

Projekte und Personen aus dem gesamten Bun<strong>des</strong>gebiet vertreten.<br />

Den Auftakt machte e<strong>in</strong>e Ausstellung, bei der die Projekte ihren konzeptionellen<br />

Ansatz <strong>in</strong> der Arbeit mit schulpflichtigen aber schulmüden Jugendlichen präsentierten.<br />

Die Ausstellung bot e<strong>in</strong> respektables Bild der vielseitigen und kompetenten<br />

Arbeitsansätze. Allen Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen sei herzlich gedankt, die<br />

die Mühe nicht gescheut haben, mit Materialien anzureisen, z. T. mit erheblichem<br />

technischen Aufwand, um sich hier vorzustellen.<br />

Am Nachmittag machte Steffen Hildebrand mit se<strong>in</strong>em Beitrag den Auftakt, die<br />

H<strong>in</strong>tergründe von Schulverweigerung aus schulpsychologischer Sicht zu beleuchten.<br />

Häufiger Schulwechsel kann dabei e<strong>in</strong> wichtiger Faktor neben zahlreichen<br />

Begleitumständen se<strong>in</strong>, die sich aus dem häuslichen und familiären Milieu ergeben,<br />

aber auch <strong>in</strong> der Organisation von Schulalltag begründet se<strong>in</strong> können.<br />

Am Beispiel der Schüler<strong>in</strong> Franzi beschrieb Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski anschaulich<br />

die Kette von widrigen Umständen, die zur<br />

Leistungsverweigerung führen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spirale von<br />

Mißerfolg und Perspektivlosigkeit e<strong>in</strong>münden.<br />

Karl–He<strong>in</strong>z Thimm stellte die „Schule <strong>des</strong> Lebens“<br />

vor, und es wurde beispielhaft deutlich, wie e<strong>in</strong> Maschennetz<br />

geknüpft werden kann, um niemanden zu<br />

verlieren oder aufgeben zu müssen.<br />

In den Foren gab es schließlich Gelegenheit, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

Erfahrungsaustausch zu treten. Dabei traten<br />

Hemmschwellen zutage, die die Projekte <strong>in</strong> ihrer Ent- Eröffnung der Ausstellung<br />

stehung zu überw<strong>in</strong>den hatten – im P<strong>in</strong>g–Pong der<br />

Zuständigkeiten zwischen Jugendhilfe und Schule.<br />

Nicht vergessen werden soll der <strong>in</strong>offizielle Teil am<br />

Podiumsdiskussion<br />

Abend <strong>des</strong> ersten Tages; es gab e<strong>in</strong> hohes Informationsbedürfnis<br />

und möglicherweise führt der Austausch<br />

dazu, daß Kontakte bestehen bleiben und e<strong>in</strong> Schritt<br />

<strong>in</strong> die Richtung e<strong>in</strong>er Vernetzung getan werden konnte.<br />

Der zweite Tag stand im Zeichen e<strong>in</strong>er politischen,<br />

strategischen Diskussion. Was tun mit Jugendlichen,<br />

die sich der Schulpflicht entziehen? Herr Thünken vom<br />

7


8<br />

M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung und Klaus Schäfer vom M<strong>in</strong>isterium für<br />

Arbeit Gesundheit und Soziales waren sich e<strong>in</strong>ig: Neue Regelsysteme ne<strong>in</strong>, aber<br />

e<strong>in</strong>e Verpflichtung zur Kooperation für beide Seiten.<br />

Das Schlußlicht setzte e<strong>in</strong>e Podiumsdiskussion, moderiert von Markus Schnapka,<br />

Lan<strong>des</strong>jugendamt. Vertreter/<strong>in</strong>nen von Schule und Jugendhilfe hatten die Gelegenheit<br />

zur Standpunktabklärung – unter lebhafter Beteiligung <strong>des</strong> Plenums.<br />

E<strong>in</strong>ig waren sich alle Beteiligten über den Handlungsbedarf, über das „wie“ gab es<br />

naturgemäß unterschiedliche Me<strong>in</strong>ungen.<br />

Zu e<strong>in</strong>er Bilanz gehören auch kritische Töne. Diese Veranstaltung be<strong>in</strong>haltete<br />

die Chance, professionell übergreifend mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Gespräch zu kommen. Bedauerlicherweise<br />

waren relativ wenige Praktiker/<strong>in</strong>nen aus dem schulischen Bereich<br />

vertreten, von denen, die hier waren, gab es e<strong>in</strong>e positive Resonanz. Zukünftig<br />

sollten solche auf Kooperation ausgerichtete Tagungen dieses auch <strong>in</strong> der<br />

geme<strong>in</strong>samen Verantwortung als Veranstalter verdeutlichen.<br />

E<strong>in</strong>e zweite kritische Bemerkung bezieht sich auf das Nichtzustandekommen<br />

der Arbeitsgruppe „Mädchen, die Schule verweigern“. Daß es sie gibt, ist unbestritten,<br />

aber offensichtlich fallen sie weniger auf. Im Ersche<strong>in</strong>ungsbild dom<strong>in</strong>ieren<br />

die Jungen, weshalb <strong>in</strong> der Folge sich die Unterstützungsangebote vorrangig<br />

bis ausschließlich an sie richten.<br />

In diesem Zusammenhang kann ich ankündigen, daß wir e<strong>in</strong>e <strong>Dokumentation</strong><br />

erstellen werden, der um e<strong>in</strong>en Beitrag über Gründe und Ersche<strong>in</strong>ungsformen der<br />

Schulverweigerung bei Mädchen ergänzt wird.<br />

Das Lan<strong>des</strong>jugendamt beabsichtigte mit der Fachveranstaltung, e<strong>in</strong>en Erfahrungsaustausch<br />

über die Lan<strong>des</strong>grenzen h<strong>in</strong>aus zu <strong>in</strong>itiieren. Das ist gelungen. Daß<br />

das Thema Zündstoff enthält, wurde nicht nur durch kontroverse Standpunkte<br />

deutlich, sondern auch durch das enorme Medien<strong>in</strong>teresse. E<strong>in</strong> Anfang ist gemacht<br />

und der Dialog wird weitergehen. Das Verständnis über Strukturen, Chancen und<br />

Grenzen bei den Institutionen Schule und Jugendhilfe muß noch wachsen.<br />

Das Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land wird se<strong>in</strong>en Beitrag dazu leisten.<br />

Zum Schluß bleibt mir nur, Ihnen für die Teilnahme und Ihre engagierte Mitarbeit<br />

zu danken. Ich hoffe, daß Sie e<strong>in</strong>iges an Anregungen für Ihre Praxis wie auch<br />

für Entscheidungen, die <strong>in</strong> Ihren Zuständigkeitsbereich fallen, mitnehmen konnten.


Schulverweigerung:<br />

Zielgruppen, Problemlagen<br />

Steffen Hildebrand<br />

(Schulpsychologischer Dienst der Stadt Köln)<br />

Schulverweigerung wird als Verstoß gegen das Schulpflichtgesetz zunächst aus<br />

der diszipl<strong>in</strong>arischen Sicht beurteilt. Die Schuld liegt beim Schüler bzw. den Eltern,<br />

die für den geregelten Schulbesuch ihrer K<strong>in</strong>der die Verantwortung tragen. Schulverweigerung<br />

kann danach zu Maßnahmen wie Zuführung <strong>des</strong> Schülers oder der<br />

Schüler<strong>in</strong> oder zu Strafen wie Bußgeld für die Erziehungsberechtigten führen. Beide<br />

Sanktionen werden bezüglich ihrer pädagogischen Wirkung angezweifelt und<br />

werden <strong>in</strong> der Praxis meistens nicht konsequent durchgeführt. Oft s<strong>in</strong>d sie schlicht<br />

Ausdruck von Ratlosigkeit.<br />

Wir arbeiten an diesen beiden Tagen weitgehend <strong>in</strong> der Übere<strong>in</strong>stimmung zusammen,<br />

daß Schulverweigerung als Symptom zu verstehen ist und die betreffenden<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendlichen Unterstützung brauchen. Wir werden von Kooperation<br />

und Vernetzung sprechen, auch von Zuständigkeiten. Vor allem aber werden<br />

wir Erfahrungen austauschen über Projekte und Initiativen, die den Jugendlichen<br />

vermitteln, etwas zu können und nicht aufgegeben zu se<strong>in</strong>. Die Ausstellung heute<br />

morgen hat bee<strong>in</strong>druckend bewiesen, daß geeignete Angebote „auf dem Markt“<br />

s<strong>in</strong>d. Die nachfolgenden Referate werden es bestätigen.<br />

Es wird aber ebenso deutlich werden, daß die Arbeit mit diesen Jugendlichen<br />

anstrengt. Der Erfolg ist nicht so leicht kalkulierbar und oft nur <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Schritten<br />

zu erreichen – und der Erfolg will erst mal def<strong>in</strong>iert se<strong>in</strong>. Dabei ist die öffentliche<br />

Anerkennung nicht selbstverständlich.<br />

Wir alle wissen, daß die Zielgruppe dieser Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler ke<strong>in</strong>e Lobby hat. Und wenn wir<br />

z. B. Unterstützungen brauchen, die <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er<br />

H<strong>in</strong>sicht nicht gänzlich kostenneutral ist, können wir<br />

sicher se<strong>in</strong>, daß e<strong>in</strong>ige denken, daß die eh schon knappen<br />

Mittel im Erziehungs- und Bildungsbereich besser<br />

für K<strong>in</strong>der und Jugendliche e<strong>in</strong>gesetzt werden sollen,<br />

die lernen wollen und sich Mühe geben.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Argumentation zielt <strong>in</strong> die gleiche<br />

Richtung: Die Mittel sollten doch besser für Prävention<br />

ausgegeben werden, denn: Je<strong>des</strong> präventive Förderkonzept<br />

zielt auf e<strong>in</strong>e möglichst frühzeitige Unterstützung,<br />

damit die schulischen Probleme erst gar<br />

nicht entstehen bzw. <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr jungen Stadium<br />

erkannt und rechtzeitig bearbeitet werden können.<br />

Damit weisen solche Konzepte aber ebenso auf die<br />

Schwierigkeit – und manchmal auch Aussichtslosigkeit<br />

– der eigentlich noch notwendigen Förderungen<br />

h<strong>in</strong>, hier der angemessenen Unterrichtung von Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schülern mit sehr belasteten Schulkar-<br />

9


10<br />

rieren <strong>in</strong> den letzten Schulbesuchsjahren. Implizit wird häufig das „Zu spät“ mitgedacht,<br />

ohne jedoch e<strong>in</strong>en Ansatz ableiten zu können, was <strong>in</strong>sbesondere mit den<br />

Jugendlichen geschehen soll, denen man diese pessimistische Perspektive zuschreibt.<br />

Auch Sonderschulen für Erziehungshilfe oder Lernbeh<strong>in</strong>derte können <strong>in</strong> solchen<br />

Fällen auf die schlechte Prognose bei eigentlich <strong>in</strong>dizierter Sonderbeschulung von<br />

Jugendlichen verweisen – auch unter Rücksichtnahme auf ihre eigenen Lerngruppen<br />

– und lehnen e<strong>in</strong>e Aufnahme begründet ab: E<strong>in</strong>e Umschulung hätte s<strong>in</strong>nvollerweise<br />

früher stattf<strong>in</strong>den sollen.<br />

Diese Negativbewertung wird nur selten offen ausgesprochen und vertreten.<br />

Sie wirkt jedoch <strong>in</strong> der Regel <strong>des</strong><strong>in</strong>tegrierend und koppelt den Schüler leicht aus<br />

der Beziehung zur Schule ab. E<strong>in</strong>e bedarfsgerechte, strukturell verankerte Lösung<br />

fehlt für ältere Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die zu scheitern drohen.<br />

So drücken sich s<strong>in</strong>kende Motivation dieser Jugendlichen und häufig mangelnde<br />

S<strong>in</strong>nhaftigkeit <strong>des</strong> Schulbesuchs oft <strong>in</strong> massivem Schwänzen aus, das weder familiäre<br />

Erziehungsbemühungen noch behördliche E<strong>in</strong>griffsmöglichkeiten direkt zu<br />

bee<strong>in</strong>flussen vermögen.<br />

Oft verstricken sich im Verlauf die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, ihre Eltern und die<br />

Schule <strong>in</strong> Konfliktkreisläufen ohne realistische Lösungsaussichten und handeln meistens<br />

lediglich ihre wechselseitigen Verantwortlichkeiten bzw. auch Hilflosigkeiten<br />

aus. Besonders verwirrend und paradox entwickelt sich das Problem, wenn<br />

sich eklatante Leistungs- und Motivationsdefizite mit sozialen Auffälligkeiten und<br />

Gefährdungen verknüpfen: So s<strong>in</strong>d Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer e<strong>in</strong>erseits verpflichtet,<br />

ihre fehlenden Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler wieder <strong>in</strong> den Unterricht zu bekommen;<br />

andererseits müßten sie <strong>in</strong>sgeheim hoffen, daß gerade manche der schwänzenden<br />

Jugendlichen wegen der zu großen unzumutbaren Belastungen wegbleiben;<br />

denn die Schwierigkeiten s<strong>in</strong>d mit der Wiederaufnahme <strong>des</strong> Schulbesuchs natürlich<br />

nicht automatisch erledigt, sondern es können neue Krisen und Konflikte auftreten.<br />

Die Hauptschule ist die e<strong>in</strong>zige Schulform im Sekundarbereich I die die Beschulungspflicht<br />

sichern muß, ohne sich durch Umschulung von Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Schulform qualifiziert entlasten zu können. Aus dieser Konstellation<br />

heraus haben sich spezifische verdeckte „Lösungsformen“ entwickelt, die<br />

zwar für e<strong>in</strong>zelne Schulen und Klassen Erleichterungen mit sich br<strong>in</strong>gen, das Gesamtsystem<br />

jedoch nach wie vor belasten.<br />

Schulwechsel und Schulverweigerung<br />

Im Rahmen der E<strong>in</strong>zelfallarbeit mit jugendlichen Schulverweigerern fiel vermehrt<br />

auf, daß kurz vor dem E<strong>in</strong>setzen <strong>des</strong> Fehlens e<strong>in</strong> Schulwechsel stattgefunden hatte<br />

(im übrigen werden Schulwechsel <strong>in</strong>nerhalb der Hauptschule <strong>in</strong> Krisenfällen so<br />

oft durchgeführt, daß dafür der Begriff „Hauptschultourismus“ gefunden wurde).<br />

Es stellte sich die Frage nach den möglichen Wechselwirkungen zwischen Schulwechsel<br />

und Schulverweigerung.<br />

Um über die Analyse der E<strong>in</strong>zelfälle h<strong>in</strong>aus Material zu erhalten, wurden die Bußgeldbescheide<br />

e<strong>in</strong>es Jahres sowie e<strong>in</strong>e Klientenstichprobe <strong>des</strong> Jugendamtes e<strong>in</strong>es<br />

Stadtteils ausgewertet. Zwar gaben beide Quellen ke<strong>in</strong>e bzw. nur unzureichende<br />

Informationen her h<strong>in</strong>sichtlich der Zusammenhänge beider Ereignisse – auch


Schwänzen kann zum Schulwechsel führen –, ermöglichten jedoch Annahmen bezüglich<br />

e<strong>in</strong>iger Merkmale von Schulverweigerern.<br />

Es handelt sich überwiegend um Hauptschüler<strong>in</strong>nen und Hauptschüler<br />

Ihr Alter liegt <strong>in</strong> der Regel zwischen 14 und 16 Jahren. Nebenbei deutete sich an,<br />

daß Hauptschüler<strong>in</strong>nen und Hauptschüler im Vergleich zu Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern<br />

anderer Schulformen vermehrt Leistungen öffentlicher Erziehung erhalten.<br />

Diese Annahmen müßten allerd<strong>in</strong>gs durch weitere Untersuchungen erhärtet<br />

werden.<br />

Häufigkeit der Schulverweigerung<br />

Die Anzahl der Bußgeldbescheide bildet nicht die tatsächliche Häufigkeit <strong>des</strong><br />

Schwänzens ab. Deshalb wurde e<strong>in</strong> Schülerjahrgang von zwei Hauptschulen diesbezüglich<br />

untersucht. Es wurden diejenigen Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler erfaßt, die<br />

an 10 oder mehr Tagen im Schuljahr unentschuldigt gefehlt hatten. Diese Fehlquote<br />

(unentschuldigt) ist e<strong>in</strong> Indikator für höchste Gefährdung <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses.<br />

Ergebnisse:<br />

14,9% aller Schüler der ersten Hauptschule und 22% der zweiten Hauptschule<br />

haben zehn und mehr Tage im Schuljahr unentschuldigt gefehlt.<br />

Je höher die Jahrgangsstufe war, <strong>des</strong>to mehr Jugendliche schwänzten: So fehlten<br />

z. B. 34% aller Schüler der neunten Jahrgangsstufe zehn und mehr Tage im Schuljahr<br />

unentschuldigt.<br />

Es bestand e<strong>in</strong> hoher Zusammenhang zwischen unentschuldigtem Fehlen und<br />

Überalterung der Schüler: Je älter die Jugendlichen im Vergleich zum Durchschnittsalter<br />

ihrer Klasse waren, <strong>des</strong>to häufiger schwänzten sie.<br />

Das Ausmaß <strong>des</strong> Schwänzens erlaubt nicht mehr nur e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>zelfall<strong>in</strong>terpretation,<br />

sondern verweist auf e<strong>in</strong>e Zielgruppe, die besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit<br />

bedarf. Weiterh<strong>in</strong> offenbart es e<strong>in</strong> strukturelles Problem besonders der Hauptschule,<br />

auch für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zuständig zu se<strong>in</strong> und sie <strong>in</strong>tegrieren zu<br />

müssen, die sich bereits weitgehend von der Schule und ihren Angeboten entfernt<br />

haben und nur noch wegen der Schulpflicht formal mit ihr verbunden bleiben.<br />

Exkurs: Zu den verdeckten Aufgaben der Hauptschule<br />

Die Hauptschule hat de facto für e<strong>in</strong>en großen Teil ihrer Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />

die Funktion e<strong>in</strong>er Förderschule mit e<strong>in</strong>em rehabilitativen Auftrag erhalten für<br />

die Aufarbeitung von Leistungsdefiziten und Verhaltensauffälligkeiten sowie für<br />

die Kompensation von Schwierigkeiten aus dem sozialen Umfeld.<br />

Die Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die <strong>in</strong> die 5. Klasse der Hauptschule kommen,<br />

erfüllen <strong>in</strong> der Regel die Lernvoraussetzungen dieser Schulform nicht. Sie haben<br />

die Lernziele der Grundschule nicht erreicht. Die Hauptschule kann jedoch die<br />

Beschulung dieser K<strong>in</strong>der nicht – anders als Realschulen und Gymnasien – an andere<br />

Allgeme<strong>in</strong>e Schulen abgeben und ist gezwungen, ihre neuen Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler fördernd da „abzuholen, wo sie sich bef<strong>in</strong>den“, d. h. oft, daß sie fundamentalen<br />

Grundschulstoff <strong>in</strong>tensiv nachschulen muß.<br />

11


12<br />

Die Hauptschule ist verpflichtet, den ihr <strong>in</strong> den Lehrplänen vorgegebenen Stoff<br />

<strong>in</strong> sechs Schuljahren zu vermitteln. Muß sie zusätzlich die zum Teil immensen Lernund<br />

Leistungsdefizite vieler Fünftklässler abbauen, um e<strong>in</strong> Fundament für den erfolgreichen<br />

Besuch der Hauptschule zu legen, hat sie <strong>in</strong>sgesamt dafür nicht mehr<br />

Zeit zur Verfügung. Die Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer müssen also mehr Lern<strong>in</strong>halte <strong>in</strong><br />

derselben Zeit unterrichten – vor allem komprimiert <strong>in</strong> der 5. und 6. Jahrgangsstufe;<br />

das bedeutet e<strong>in</strong>e faktische Schulzeitverkürzung nach dem Schulwechsel<br />

gerade für solche Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, die besonders förderbedürftig s<strong>in</strong>d –<br />

e<strong>in</strong>e paradoxe, kaum lösbare Aufgabe.<br />

Die Hauptschule muß als e<strong>in</strong>zige Schulform der Sekundarstufe I die Beschulungspflicht<br />

der Allgeme<strong>in</strong>en Schule garantieren und <strong>in</strong> diesem Zusammenhang<br />

auch die gescheiterten K<strong>in</strong>der und Jugendlichen der anderen weiterführenden Schulen<br />

– auch der Gesamtschule – übernehmen, denn viele schwierige Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler von anderen Schulformen hatten Probleme und Mißerfolge und kommen<br />

aus diesem Grund später zur Hauptschule.<br />

Damit erhält sie e<strong>in</strong>e wichtige gleichsam „hygienische“ Funktion für die anderen<br />

Schulen der Sekundarstufe I – allerd<strong>in</strong>gs auch für die Primarstufe, die sich ebenfalls<br />

durch die verdeckte Förderdef<strong>in</strong>ition der Hauptschule entlasten kann. Es besteht<br />

vielfach die Hoffnung <strong>in</strong> der Grundschule, daß die Hauptschule die Förderung<br />

dieser K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> ihren homogenen Lerngruppen, bezogen auf die Leistungen, besser<br />

realisieren kann.<br />

Im Rahmen der Beschulungspflicht fällt im Sekundarbereich I überwiegend der<br />

Hauptschule die Aufgabe zu, ausländische Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu <strong>in</strong>tegrieren.<br />

Mehr als die Hälfte aller Kölner Hauptschüler<strong>in</strong>nen und -schüler s<strong>in</strong>d ausländische<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendliche. Das Ausmaß dieses Auftrages führt oft zu konfliktträchtigen<br />

Konstellationen und sozialen Lernbed<strong>in</strong>gungen, die sowohl Vorurteile<br />

und Ablehnungen bis h<strong>in</strong> zum Ausländerhaß begünstigen oder verstärken als auch<br />

manifestes Ause<strong>in</strong>andersetzen auslösen können.<br />

Die Hauptschule hat sich zu e<strong>in</strong>er Schulform mit hohem Integrationsauftrag entwickelt.<br />

So muß sie auch Jugendliche an der Schwelle zu Sonderschulen für Lernbeh<strong>in</strong>derte<br />

und Erziehungshilfe beschulen. Wechsel <strong>in</strong> diese Schulformen bleiben<br />

Ausnahmen und können vor allem <strong>in</strong> den oberen Klassen praktisch nicht mehr<br />

durchgeführt werden, da die Sonderschulen <strong>in</strong> der Regel die Erfolgsaussichten bei<br />

e<strong>in</strong>er verspäteten Maßnahme als sehr ger<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>schätzen. H<strong>in</strong>zu kommt, daß die<br />

Hauptschule die Zielgruppe der schulmüden Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>in</strong>tegrieren<br />

soll, die zwar noch schulpflichtig s<strong>in</strong>d, für die jedoch aufgrund meist chronifizierter<br />

Mißerfolgskarrieren kaum noch positive Schulaussichten bestehen.<br />

In der Schulverweigerung spiegeln und verknüpfen sich Teilprobleme, die dazu<br />

anregen, die Frage der Schulpflicht und ihrer <strong>in</strong>haltlichen Ausgestaltung für diese<br />

Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler zu überdenken:<br />

1. Die Schulpflicht ist bei vielen Jugendlichen<br />

nicht mehr durchsetzbar<br />

Viele Eltern s<strong>in</strong>d nicht mehr <strong>in</strong> der Lage, ihre heranwachsenden Söhne und Töchter<br />

zum Schulbesuch zu veranlassen. Sie suchen oft nach e<strong>in</strong>greifender externer<br />

Unterstützung und s<strong>in</strong>d enttäuscht, wenn dieser erhoffte Zwang nicht mehr aus-


geübt wird/werden kann. So wird dem Jugendamt oft – auch von Schulen – die<br />

Funktion e<strong>in</strong>er für das Durchsetzen der Schulpflicht zuständigen E<strong>in</strong>greifbehörde<br />

zugeschrieben, was aber nicht se<strong>in</strong> Auftrag ist.<br />

2. Die Erziehung zur „Pflicht“ bef<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krise<br />

E<strong>in</strong> wichtiger Bestandteil demokratischer Erziehung ist, dem Heranwachsenden<br />

geeignete Handlungsräume für die Entwicklung persönlicher Freiheit, Autonomie<br />

und geme<strong>in</strong>schaftsbezogener Verantwortung zu öffnen. In vielen Bereichen der<br />

Lebensgestaltung können K<strong>in</strong>der und Jugendliche selbst entscheiden und ihr Handeln<br />

selbst bestimmen.<br />

Die gesellschaftliche Erziehung zur „Pflichterfüllung“ ist auf diesem H<strong>in</strong>tergrund<br />

mit Unsicherheit verbunden, zumal wenn bei Jugendlichen das Lustpr<strong>in</strong>zip zu dom<strong>in</strong>ieren<br />

sche<strong>in</strong>t.<br />

So wird die Notwendigkeit, auch „Grenzen setzen“ zu müssen, zwar allgeme<strong>in</strong><br />

anerkannt. Die konkrete Umsetzung verliert jedoch an Prägnanz und Klarheit, zumal<br />

es den an der Erziehung der K<strong>in</strong>der und Jugendlichen Beteiligten u. a. schwerfällt,<br />

bezüglich der Inhalte von Regeln und Normen sowie der Art ihrer Durchsetzung<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung zu erzielen.<br />

In diesem Zusammenhang entsteht vor allem auch im Konfliktfall der Schulverweigerung<br />

die Frage nach der Durchsetzung und nach der Institution bzw. Person,<br />

die dafür zuständig ist.<br />

3. Die Dauer der Schulpflicht ist für gescheiterte Schüler<br />

mit den derzeitigen Unterrichts<strong>in</strong>halten zu lange<br />

Die Verlängerung der Schulpflicht auf zehn Jahre brachte für die Hauptschule<br />

e<strong>in</strong>e aufwertende Angleichung an die anderen weiterführenden Schulen mit sich<br />

und damit e<strong>in</strong>e standardmäßige Anhebung der Bildungschancen für ihre Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler. Außerdem entlastete diese Regelung den damals angespannten<br />

Lehrstellenmarkt.<br />

Durch die dramatische Entwicklung der Schulwahlen im Anschluß an die Primarstufe<br />

stimmt jedoch die aktuelle Schülerschaft mit der damals angesprochenen<br />

Zielgruppe nur noch zu e<strong>in</strong>em ger<strong>in</strong>gen Teil übere<strong>in</strong>. So paßt die zehnjährige Schulpflicht<br />

mit dem derzeitigen Unterricht nicht mehr für viele gescheiterte Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schüler und h<strong>in</strong>dert manche sogar daran, an e<strong>in</strong>e ihrem Leistungsstand,<br />

ihren Neigungen und Begabungen gemäße berufsbezogene Förderung heranzukommen.<br />

4. Für viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler ist das Erreichen<br />

<strong>des</strong> Hauptschulabschlusses unrealistisch<br />

E<strong>in</strong>zelfallanalysen ergaben, daß bei vielen älteren schwänzenden Hauptschüler<strong>in</strong>nen<br />

und Hauptschülern e<strong>in</strong> Schulbesuch mit den derzeitigen Lernbed<strong>in</strong>gungen,<br />

Zielen und Methoden nicht mehr s<strong>in</strong>nvoll ist: Die Leistungsrückstände s<strong>in</strong>d dermaßen<br />

groß, daß sie nicht mehr aufholbar s<strong>in</strong>d. Damit korrespondieren <strong>in</strong> der Regel<br />

große Defizite im Arbeitsverhalten auf dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er <strong>des</strong>olaten Motivati-<br />

13


14<br />

on. Die Jugendlichen gehörten, gemessen an ihren Fachkenntnissen, eigentlich <strong>in</strong><br />

viel jüngere Jahrgangsstufen, die aber wiederum nicht zu dem sozialen und körperlichen<br />

Entwicklungsstand dieser Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler passen. Für die Aufgabe,<br />

sie da abzuholen, wo sie stehen, ist die Hauptschule derzeit nicht ausreichend<br />

ausgerüstet.<br />

5. In Ermangelung geeigneter Förderungsmöglichkeiten entstehen<br />

schulische Zwischenwelten<br />

Da viele Jugendliche jedoch oft noch zwei Jahre schulpflichtig s<strong>in</strong>d, bleiben sie<br />

an für sie völlig ungeeignete Strukturen gebunden, die sogar kontraproduktiv wirken,<br />

wenn z. B. die notwendige Analyse der bedarfsgerechten Förderung durch<br />

diszipl<strong>in</strong>are Konflikte z. B. im Zusammenhang mit der Schulpflichterfüllung überdeckt<br />

wird. So rutschen diese Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler leicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Zwischenwelt<br />

ab, <strong>in</strong> der sie zwar formal noch Schüler s<strong>in</strong>d, aber jeden s<strong>in</strong>nerfüllten Bezug<br />

zur Schule verloren haben. Schwänzen kann dann die Manifestation dieser Krise<br />

se<strong>in</strong>. Viele Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer erkennen diese perspektivlose Konstellation<br />

an. Viele wissen um die hohe Zahl von schulmüden Jugendlichen und sehen die<br />

Problematik, e<strong>in</strong> angemessenes Unterrichtsangebot zu machen.<br />

Diese Zwischenwelt mit der faktischen Aussetzung der Ausbildung bleibt so lange<br />

bestehen, bis die Schulpflicht erfüllt ist; und das geschieht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensphase,<br />

<strong>in</strong> der die Jugendlichen nach Identität streben und ihre eigenen sozialen Rollen<br />

zu f<strong>in</strong>den versuchen. Die häufige Unfähigkeit, sich für e<strong>in</strong>e Berufsidentität zu entscheiden,<br />

ist jedem Berufsberater bekannt, der h<strong>in</strong>länglich weiß, daß die endgültige<br />

Wahl <strong>des</strong> Ratsuchenden nur zum Teil e<strong>in</strong>e Frage ausreichender Informationen<br />

ist. Es ist zu befürchten, daß manche Jugendlichen bereits <strong>in</strong> dieser Zeit e<strong>in</strong>e Form<br />

psychischer Arbeitslosigkeit entwickeln, die charakterisiert werden kann durch Perspektivlosigkeit,<br />

Resignation und mangeln<strong>des</strong> Vertrauen <strong>in</strong> die eigene Leistungsfähigkeit.<br />

6. Das Unterrichtsangebot der Hauptschule muß noch stärker<br />

um handlungs- und berufsorientierte Unterrichtsformen<br />

erweitert werden.<br />

Auf der Ebene der Jugendberufshilfe hat sich e<strong>in</strong>e Anzahl von Jugendwerkstätten<br />

gerade der oben aufgezeigten Problematik angenommen und Konzepte für die<br />

Berufsmotivierung bzw. -orientierung erarbeitet. Hier wurden die Situation und<br />

der Förderbedarf der mißerfolgsorientierten Jugendlichen explizit anerkannt und<br />

notwendige Ausbildungs- und Unterstützungsstrategien entwickelt, die jedoch erst<br />

im nachschulischen Bereich greifen dürfen.<br />

Deshalb muß überprüft werden, wie diese Ansätze bereits vorher <strong>in</strong> den Rahmen<br />

der Schulpflicht e<strong>in</strong>zubeziehen s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> der noch alle Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler<br />

angesprochen werden können, während nach der Schulpflicht das Angebot<br />

aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme nur vergleichsweise wenige erreicht.<br />

1990 schlug die Unabhängige Gewaltkommission zur Verh<strong>in</strong>derung und Bekämpfung<br />

von Gewalt <strong>in</strong> der Schule vor:


„Bei sehr stark schulunwilligen Jugendlichen über 14 Jahren sollten die Ausgestaltung<br />

der Schulpflicht und die lan<strong>des</strong>gesetzlichen Regelungen zur Befreiung von<br />

der Schulpflicht neu überdacht werden. Insoweit empfehlen sich berufspraktische<br />

Programme, <strong>in</strong> denen u. a. Leistungs- und Durchhaltevermögen am Arbeitsplatz<br />

gefördert werden und Erfolgserlebnisse wahrsche<strong>in</strong>licher s<strong>in</strong>d.“<br />

Insofern könnte diese Tagung auch e<strong>in</strong> Bauste<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe zur Gewaltprävention<br />

se<strong>in</strong>.<br />

7. Der Dialog zwischen Schule und Jugendhilfe muß<br />

zielgruppenbezogen auf den verschiedenen Handlungs- und<br />

Planungsebenen <strong>in</strong>tensiviert werden.<br />

Unterschiedliche gesellschaftliche Aufträge von Schule und Jugendhilfe, ihre spezifischen<br />

Standpunkte und Blickw<strong>in</strong>kel trennen häufig und können zu gegenseitigen<br />

Zuständigkeitszuschreibungen und Konzeptionsprojektionen verführen – vor<br />

allem bei Zielgruppen mit e<strong>in</strong>er derart schwierigen Betreuungsperspektive.<br />

Viele Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrer sehen sich mit Aufgaben der Sozialarbeit und der<br />

Sozialpädagogik konfrontiert. Das Arbeitsplatzprofil der Lehrer<strong>in</strong> und <strong>des</strong> Lehrers<br />

hat sich verändert.<br />

Entsprechend der Feststellung <strong>des</strong> sonderpädagogischen Förderbedarfs, der <strong>in</strong><br />

Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen das bisherige Sonderschulaufnahmeverfahren ablöst, müßte<br />

ergänzend der sozialpädagogische Förderbedarf anerkannt und entsprechende<br />

Angebote entwickelt werden.<br />

Andererseits bietet die geme<strong>in</strong>same Zuständigkeit beider Institutionen für schulmüde,<br />

h<strong>in</strong>sichtlich ihrer weiteren Ausbildung gefährdeten und benachteiligten<br />

Jugendlichen die Gelegenheit zur Entwicklung sich ergänzender schul<strong>in</strong>terner und<br />

-externer Förderungen und Unterstützungen.<br />

In den letzten Jahren ist <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>–Westfalen wie <strong>in</strong> anderen Ländern auf<br />

m<strong>in</strong>isterieller Ebene der Dialog zwischen Jugendhilfe und Schule <strong>in</strong>tensiviert worden.<br />

Der spezifische Förderbedarf für abschlußgefährdete benachteiligte Jugendliche<br />

wurde anerkannt und entsprechende kooperative Verbundmodelle zwischen den<br />

Maßnahmeträgern Schule, Jugendhilfe und auch Arbeitsverwaltung zugelassen.<br />

Das sollte Anlaß zur Hoffnung geben, daß diese Initiativen ke<strong>in</strong>e pädagogischen<br />

E<strong>in</strong>tagsfliegen bleiben. Sie können wichtige bedarfsgerechte Entwicklungsimpulse<br />

für die Schule darstellen und Konzepte wie „Öffnung von Schule“, „Autonomie“<br />

und „Integration“ mit zusätzlichen Anregungen versehen.<br />

Dann kann Schulpflicht als Chance und als Pflicht der Gesellschaft zur angemessenen<br />

Betreuung aller Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler <strong>in</strong> jedem Stadium ihrer Schullaufbahn<br />

verstanden werden, <strong>in</strong> der sie sich immer wieder bewähren können.<br />

15


Zum Beispiel Franzi<br />

Bernadette Aalder<strong>in</strong>g–Zurawski<br />

(Hauptschullehrer<strong>in</strong>, Essen)<br />

„Je<strong>des</strong> menschliche Wesen besitzt das geheimnisvolle Etwas, das wir Persönlichkeit<br />

nennen. Wenn wir von e<strong>in</strong>er ‘e<strong>in</strong>drucksvollen Persönlichkeit’ sprechen, dann<br />

me<strong>in</strong>en wir immer e<strong>in</strong>en Menschen, der im vollen E<strong>in</strong>klang mit se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nerlichen<br />

Anlagen und Fähigkeiten lebt, der anderen nichts vormacht, der nicht mehr sche<strong>in</strong>en<br />

will, als er ist.<br />

E<strong>in</strong>e schwächliche Persönlichkeit ist gleichzeitig e<strong>in</strong>e gehemmte, nicht voll entwickelte<br />

Persönlichkeit und entspricht e<strong>in</strong>em Menschen, der se<strong>in</strong> schöpferisches<br />

Ich <strong>in</strong> sich vergraben hält, der nicht ‘aus sich herauskommt’, sich nicht entwickelt.<br />

E<strong>in</strong> solcher Mensch hat se<strong>in</strong> Selbst e<strong>in</strong>geschlossen. In Fesseln gelegt und den Schlüssel<br />

zur Seelenzelle obendre<strong>in</strong> noch weggeworfen.“<br />

(Maxwell Maltz: Erfolg kommt nicht von ungefähr)<br />

Viele K<strong>in</strong>der und Jugendliche leiden darunter, daß sie ke<strong>in</strong>e allzu große Hochachtung<br />

vor sich selber haben. Sie s<strong>in</strong>d kaum <strong>in</strong> der Lage, ihre Begabungen voll zu<br />

entwickeln und ihre <strong>in</strong>dividuellen Möglichkeiten auszuschöpfen.<br />

Schulbesuch und Schulerfolg s<strong>in</strong>d für fast jeden Heranwachsenden von großer<br />

Wichtigkeit. Heutzutage wird der soziale Status immer seltener als ‘erhebliche<br />

Größe’ und immer häufiger als persönliche Errungenschaft angesehen. Entscheidend<br />

s<strong>in</strong>d erreichter Schulabschluß sowie beruflicher Erfolg und damit verbundener<br />

Verdienst und Lebensstandard. Das bedeutet, daß künftige Lebenswege und<br />

Lebensmöglichkeiten oft schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sehr frühen Alter erschlossen oder versperrt<br />

werden.<br />

Nur sche<strong>in</strong>bar hat jeder Schüler gleiche Lern- und<br />

Leistungschancen. Unterschiedliche <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Lernvoraussetzungen, nicht vergleichbare soziale und<br />

materielle Lebenslagen der Familien und die Schulund<br />

Unterrichtsorganisation führen sehr schnell dazu,<br />

daß die e<strong>in</strong>en bessere und die anderen schlechtere<br />

Lernfortschritte machen.<br />

Es wird also stets Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler geben,<br />

die früh und langfristig die Erfahrung machen, langsamer<br />

zu lernen, weniger zu wissen, größere Schwierigkeiten<br />

zu haben und schlechtere Leistungen zu erzielen<br />

als andere. Der auf den Durchschnittsschüler<br />

zugeschnittene Unterricht wird zu e<strong>in</strong>er persönlichen<br />

Bewährungssituation, <strong>in</strong> der der Schüler ständig eigene<br />

Leistungen und Leistungsschwierigkeiten im<br />

Vergleich zu denen der Mitschüler und im Verhältnis<br />

zu den gestellten Anforderungen wahrnimmt.<br />

Erleben wir also mit, was aus Franzi wird, wenn sie<br />

<strong>in</strong> die Schule geht:<br />

17


18<br />

Franzi ist e<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong>, mit<br />

e<strong>in</strong>er im Pr<strong>in</strong>zip <strong>in</strong>takten, aber<br />

nicht auf die existierenden<br />

schulischen Leistungsanforderungen<br />

zugeschnittenen und<br />

e<strong>in</strong>gestellten Lernfähigkeit.<br />

In der Schule soll sie lesen.<br />

Sie hat Schwierigkeiten und macht, obwohl sie so lange braucht, auch noch viele<br />

Fehler. Hat sie e<strong>in</strong>en Text noch frisch im Gedächtnis oder kann den Inhalt erraten,<br />

liest sie flott und richtig.<br />

Und manchmal, da muß es<br />

schneller gehen. Sie darf sich<br />

nicht zu lange an e<strong>in</strong>em Wort<br />

aufhalten. Dann ergänzt sie<br />

e<strong>in</strong>fach ganze Wörter falsch<br />

oder liest, so wie sie es eben<br />

raten kann.<br />

Nun ist Franzi im schulischen<br />

Alltag nicht alle<strong>in</strong> im<br />

Klassenzimmer, sondern mit<br />

25 und mehr Schülern arbeitet<br />

sie gleichzeitig im selben<br />

Stoffgebiet.<br />

Die anderen K<strong>in</strong>der machen<br />

auch Fehler, aber viel<br />

seltener als Franzi. Die<br />

Unterrichtsabläufe s<strong>in</strong>d<br />

eher auf diese Schüler und<br />

Schüler<strong>in</strong>nen zugeschnitten.


Franzi ist <strong>in</strong>telligent genug,<br />

um zu merken, daß die Mitschüler<br />

etwas können, was sie nicht<br />

kann.<br />

Sie hat e<strong>in</strong>en Defekt.<br />

Für die übrigen Schüler und<br />

Schüler<strong>in</strong>nen, die für die schulische<br />

Lernarbeit die geforderten<br />

Voraussetzungen mitgebracht<br />

haben, ist das Verhalten von<br />

Franzi auch rätselhaft.<br />

Wie e<strong>in</strong> Wort gelesen wird,<br />

das sieht man doch!!!!!!!!!!!!<br />

Auch der Lehrer<strong>in</strong> geht es<br />

nicht anders. Sie wird also tun, was Sie und ich <strong>in</strong> der gleichen Situation auch<br />

machen würden:<br />

Die Lehrer<strong>in</strong> gibt sich alle erdenkliche Mühe!<br />

Offenbar muß die Franzi mehr unterstützt und gefördert werden. Sie wird<br />

von jetzt an z. B. besonders<br />

oft drangenommen.<br />

Franzi jedoch <strong>in</strong>terpretiert diese „besondere<br />

Förderung“ nicht als Hilfe.<br />

19


20<br />

Und Franzi wird immer<br />

kle<strong>in</strong>er. Wer ständig erfährt,<br />

zu der Gruppe, der<br />

schlechten Schüler zu gehören<br />

und als Versager<strong>in</strong> gilt, verliert langsam<br />

se<strong>in</strong> Selbstwertgefühl.<br />

Franzi empf<strong>in</strong>det die Schulsituation als<br />

solche oder wesentliche Abschnitte (z. B.<br />

Deutschunterricht) als e<strong>in</strong>e permanente Bedrohung.<br />

Also sucht sie nach Erklärungen, die sie nicht<br />

abwerten, sondern sie besser dastehen lassen.<br />

– Sie ist halt unkonzentriert<br />

– Sie will gar nicht lesen und schreiben<br />

– Sie ist krank<br />

Die Lehrer<strong>in</strong> ist verzweifelt. Sie ist doch <strong>in</strong>tensiv<br />

auf den E<strong>in</strong>zelfall e<strong>in</strong>gegangen und wollte pädagogisch<br />

helfen.<br />

Alles probiert – nichts passiert.<br />

Liegt möglicherweise e<strong>in</strong> kaum bee<strong>in</strong>flußbarer Defekt<br />

<strong>in</strong> Franzis Lern- und Leistungsvermögen vor?<br />

Auch die Eltern s<strong>in</strong>d enttäuscht. Machen die Lehrer<strong>in</strong><br />

verantwortlich und vielfach zum „Sündenbock“.<br />

Drohen ihren K<strong>in</strong>dern mit schlechten Berufsaussichten<br />

bei Schulversagen. Verlangen e<strong>in</strong>e Anpassung an<br />

die schulischen Anforderungen.


Und Franzi verhält sich entsprechend, damit die Erklärungen auch stimmen.<br />

– Sie wird unkonzentriert<br />

– Sie kann tatsächlich kaum noch richtig lesen und schreiben<br />

– Sie wird bei Bedarf krank<br />

Wie jeder von uns, braucht auch Franzi Anerkennung. Sie wird jetzt auf anderem<br />

Wege erstritten. Die Nichterfüllung der Normleistungen <strong>des</strong> schulischen<br />

Systems wird kompensiert durch die Rolle der Abweichler<strong>in</strong> und Normverletzer<strong>in</strong>.<br />

Nun beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong> sozialer<br />

Hickhack. Es entsteht e<strong>in</strong><br />

Kreisprozeß. Die soziale Reaktion,<br />

die von Franzi ausgeht,<br />

führt wieder zu verstärkten<br />

Reaktionen und<br />

diese kehren zu ihr zurück.<br />

21


22<br />

Franzi resigniert. Leidet immer mehr an e<strong>in</strong>em lädierten Selbstgefühl.<br />

Sieht Mißerfolge als Beweis ihrer Unfähigkeit an.<br />

Führt gelegentliche Erfolge eher auf Zufall oder Glück zurück.<br />

Franzi bekommt e<strong>in</strong>e fe<strong>in</strong>dselige E<strong>in</strong>stellung<br />

gegenüber Schule/Lehrern.<br />

Druck und Verzweiflung werden immer<br />

größer.<br />

Franzi sieht nur <strong>in</strong> der Flucht e<strong>in</strong>e Lösung.<br />

Was bedeuten kann:<br />

Gleichzeitig wächst mit der<br />

Leistungsangst die soziale<br />

Angst. Franzi ist blockiert. Frühzeitiges<br />

Aufgeben, Selbstbeschuldigung,<br />

Abf<strong>in</strong>den mit der<br />

Situation, Selbstabwertung<br />

s<strong>in</strong>d nur e<strong>in</strong>ige Folgen, die ihr<br />

Leistungsverhalten wiederum<br />

ungünstig bee<strong>in</strong>flussen.<br />

– tatsächliches Weglaufen<br />

– Krankheit<br />

– Tagträume<br />

Vermeidung<br />

E<strong>in</strong> neuer Kreislauf von Angst und Blockierung entsteht.


Der Schulbetrieb geht jedoch weiter. Es gibt auch<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>gegrenzten Handlungsspielraum, wenn Lehrer<br />

und Lehrer<strong>in</strong>nen Schüler<strong>in</strong>nen wie Franzi Lern- und<br />

Entwicklungsperspektiven erschließen wollen. Die Zeit<br />

vergeht, es entstehen immer neue Lücken. Die Rückwirkung der Lükken<br />

auf das Selbstvertrauen ist unausweichlich: Franzi weiß, daß sie nicht alles<br />

gelernt hat, was sie sollte und kann sich ausrechnen, daß sie wieder versagen<br />

wird. Vielmehr, wartet sie schon auf den Mißerfolg.<br />

Wenn wir zusammenzählen, was Franzi bisher erfahren hat, dann kommen folgende<br />

D<strong>in</strong>ge zusammen:<br />

– Defekt<br />

– Unkonzentriertheit<br />

– Angst<br />

– Blockierung<br />

– Versager<strong>in</strong><br />

– Isolation<br />

– Vorwürfe<br />

– Lücken<br />

– Mißerfolge<br />

Die Waage bleibt im Ungleichgewicht.<br />

In der anderen Waagschale<br />

fehlt etwas Positives:<br />

E i n E r f o l g ! ! ! ! !<br />

für mich<br />

s<strong>in</strong>d da nur Sechsen dr<strong>in</strong><br />

23


24<br />

Herausgekommen ist e<strong>in</strong>e Franzi, die unglücklich ist,<br />

am liebsten fliehen möchte, wenig überzeugt von eigenen<br />

Fähigkeiten ist, später auch <strong>in</strong> anderen<br />

Fächern möglicher- weise versagt, sitzenbleibt<br />

und irgend- wann die Schule<br />

frühzeitig und ohne Abschluß verläßt.<br />

Eben e<strong>in</strong> schwieriges Mädchen.<br />

Von Franzi zurück zum Allgeme<strong>in</strong>en<br />

Wenn man davon ausgeht, daß frühe Versagensergebnisse E<strong>in</strong>fluß auf die spätere<br />

Schul- und Ausbildungskarriere der Heranwachsenden haben, leitet sich die<br />

Notwendigkeit ab, so früh wie möglich mit pädagogischen Maßnahmen zur Prävention<br />

und zur Korrektur von Schulversagen anzufangen.<br />

Die folgenden Bed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d Anregungen für die Suche nach Änderungsmöglichkeiten<br />

und für die Erprobung bereits bewährter Handlungsformen.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 1:<br />

Alle vertrauensbildenden Maßnahmen <strong>des</strong> Lehrers/der Lehrer<strong>in</strong>, die das Vertrauen<br />

<strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong> zu sich selbst, zu se<strong>in</strong>en Fähigkeiten und zu den Mitschülern,<br />

kurz zum Lebensraum Schule verstärken.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 2:<br />

E<strong>in</strong> emotional befriedigen<strong>des</strong> Unterrichts- und Schulklima.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 3:<br />

E<strong>in</strong> h<strong>in</strong>reichen<strong>des</strong> Maß an Klarheit, Geordnetheit und Durchschaubarkeit <strong>des</strong><br />

Unterrichts.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 4:<br />

Sachgerechte und transparente Verfahren bei der Überprüfung von<br />

Lernfortschritten.


Bed<strong>in</strong>gung 5:<br />

Ermutigung, Lob und Anerkennung nicht <strong>in</strong>flationär, sondern im H<strong>in</strong>blick auf<br />

wirkliche Leistungsentwicklungen.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 6:<br />

Förderung besonderer Interessensgebiete <strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong>.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 7:<br />

Schule als Erfahrungsraum oder Erfahrungslernen.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 8:<br />

Vermittlung von Verhaltensweisen, um mit Schwierigkeiten besser umgehen<br />

zu können. Lernen, daß Irrtum ke<strong>in</strong>e Schande ist.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 9:<br />

E<strong>in</strong> kooperatives Lehrer-System, Intensivierung der Elternkontakte und<br />

Gestaltung der sozialen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler.<br />

Bed<strong>in</strong>gung 10:<br />

Sozialpädagogische Jugendarbeit und soziale Beratung <strong>in</strong> der Schule.<br />

Die eigentliche Wirksamkeit der genannten schulischen Maßnahmen liegt<br />

jedoch <strong>in</strong> ihrem „Doppelcharakter“. Das heißt, die Präventionskonzepte müssen<br />

kompensierend und korrigierend auf ungünstige außerschulische – familiale Bed<strong>in</strong>gungen<br />

e<strong>in</strong>wirken, aber auch auf die schulischen Handlungs- und Leistungsanforderungen<br />

abgestellt se<strong>in</strong>.<br />

Die Darlegung der Handlungsmöglichkeiten wäre allerd<strong>in</strong>gs e<strong>in</strong>e völlig e<strong>in</strong>seitige<br />

Betrachtungsweise, wenn man nicht zugleich auch die Grenzen der pädagogischen<br />

E<strong>in</strong>flußnahme im Unterricht aufzeigt.<br />

Es s<strong>in</strong>d vor allem nachstehende Gründe, die die pädagogische Wirksamkeit der<br />

Lehrer begrenzen:<br />

– Schule nimmt im Alltag vieler Familien ke<strong>in</strong>en zentralen Stellenwert e<strong>in</strong>. Sie ist<br />

etwas, was eben se<strong>in</strong> muß und wo das K<strong>in</strong>d eben durch muß oder auch nicht.<br />

Oft bestimmen der unmittelbare Vergleich mit der Peergroup im Umfeld Werte,<br />

E<strong>in</strong>stellungen und Verhalten der Eltern. Erziehung läuft als etwas Selbstverständliches<br />

neben den aktuellen Alltagsbelastungen her. Aus Zeit-, Raum-, F<strong>in</strong>anz- und<br />

Kompetenzgründen verfügen sie über ger<strong>in</strong>ge Förderungsmöglichkeiten, um ihre<br />

K<strong>in</strong>der zu unterstützen und deren persönliche Leistungsfähigkeit günstig zu bee<strong>in</strong>flussen.<br />

In vielen Fällen s<strong>in</strong>d die Schüler und Schüler<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> ihren Lebensbed<strong>in</strong>gungen<br />

und familiären Verhältnissen mehrfach belastet.<br />

Besonders Mädchen werden schon früh <strong>in</strong> die Rolle der Person gedrängt, die<br />

häusliche Pflichten zu übernehmen haben.<br />

25


26<br />

Die Möglichkeiten von Schule <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen durch speziellen Förderunterricht<br />

für Schüler<strong>in</strong>nen wie Franzi die Lücken zu schließen, dürfen als begrenzt angesehen<br />

werden. Normalerweise s<strong>in</strong>d Schulen personell so knapp besetzt, daß Sondermaßnahmen<br />

kaum regelmäßig durchgeführt werden können.<br />

Insbesondere dann nicht, wenn dauernde Verletzungen <strong>des</strong> Schulpflichtgesetzes<br />

und daraus resultierende längere Fehlzeiten vorliegen.<br />

Orientiert man sich an e<strong>in</strong>em realistischen Schulmodell, so kommt h<strong>in</strong>zu, daß<br />

Gesprächskreise von Eltern, Lehrern und Schülern, die Zusammenarbeit mit außerschulischen<br />

E<strong>in</strong>richtungen, Kontakte mit Kollegen etc. sicherlich auch e<strong>in</strong>en<br />

hohen zusätzlichen Zeitaufwand be<strong>in</strong>halten.<br />

Ferner ist zu berücksichtigen, daß Lehrer weder von ihrer Ausbildung, noch von<br />

ihren alltäglichen Aufgaben her, Therapeuten s<strong>in</strong>d. Der Lehrer, der <strong>in</strong>tensiv auf<br />

den E<strong>in</strong>zelfall e<strong>in</strong>geht, um pädagogisch helfen zu können, ist auch auf die Unterstützung<br />

von Fachleuten angewiesen.<br />

Häufig s<strong>in</strong>d pädagogische Präventionskonzepte besonders aussichtslos, wenn<br />

die Befürchtung besteht, daß sie schulische Leistungen, Anforderungen und Stoffpläne<br />

<strong>in</strong> Frage stellen.<br />

Zu e<strong>in</strong>er erfolgreichen Förderung gehören jedoch auch Möglichkeiten zur nachträglichen<br />

Korrektur von Schulversagen. Diese Modelle betreffen besonders Schüler<br />

und Schüler<strong>in</strong>nen, die sich schon früh dem Bildungssystem entzogen bzw. auch<br />

nach Durchlaufen von Zusatzmaßnahmen den Hauptschulabschluß nicht geschafft<br />

haben. Darunter s<strong>in</strong>d jene Heranwachsende zu verstehen, die die Schule vor Erreichen<br />

e<strong>in</strong>es Abschlusses verlassen und deren Erziehungs- und Förderungsansprüche<br />

weder durch die Familie noch durch die Schule ausreichend sichergestellt werden<br />

konnten. Für diese Jugendlichen ist es notwendig, „ihnen angemessene Formen<br />

der Entfaltung schulisch relevanter Leistungen sowie Möglichkeiten der beruflichen<br />

und sozialen Integration zu gewährleisten“ (Hurrelmann, S. 178).<br />

Die Jugendwerkstatt für Mädchen der Stadt Essen, ist e<strong>in</strong>e Maßnahme, die sich<br />

stärker als bisher üblich an den außerschulischen Lebenserfahrungen und -<br />

bedürfnissen von jungen Mädchen orientiert.<br />

In der Jugendwerkstatt besitzt „Schule“ wesentlich mehr Kapazitäten, um Lernfreude,<br />

gesun<strong>des</strong> Selbstvertrauen und realistische Erfolgszuversicht zu fördern und<br />

immer wieder kompensierend und aufbauend zu wirken.<br />

Welche Voraussetzungen waren dafür im ersten Jahr <strong>des</strong> Modellversuches notwendig?<br />

– Es wurde nicht im 45–M<strong>in</strong>. Rhythmus unterrichtet. Das zeitliche Limit wurde<br />

bestimmt, durch das Lern- und Leistungsvermögen bzw. das Arbeitstempo und<br />

die Interessenlage der Mädchen.<br />

– Die Beurteilung erfolgte nicht auf der Basis von Noten, vielmehr erhielten die<br />

Schüler<strong>in</strong>nen alle 4 – 6 Wochen <strong>in</strong>dividuelle mündliche oder schriftliche Beurteilungen.<br />

Zum 1. und 2. Halbjahresende wurden Wortgutachten erstellt. Diese<br />

Schülerberichte hatten e<strong>in</strong>en besonderen pädagogischen Wert für die Teilnehmer<strong>in</strong>nen.<br />

Sie charakterisierten die persönlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten,<br />

die gezeigt worden waren. Ferner ermöglichten sie Schule, <strong>in</strong> differenzierter Form<br />

über den schulischen Leistungsstand zu berichten und zusätzlich konnten <strong>in</strong>dividuelle<br />

soziale und andere Fertigkeiten und Fähigkeiten der Mädchen vermittelt<br />

werden.


– Solche Profilbereiche können <strong>in</strong> drei Richtungen wirken:<br />

Sie dienen als Hilfe und Anregung zur persönlichen Lern- und Leistungsverbesserung.<br />

Sie würdigen auch Leistungen der Schüler<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> alternativen Arbeitsbereichen<br />

und stützen das Selbstwertgefühl.<br />

Sie tragen dazu bei, über e<strong>in</strong>en Bildungsgang zu <strong>in</strong>formieren, <strong>in</strong> dem zwar bestimmte<br />

schulische Qualifikationen <strong>in</strong> nicht immer ausreichendem Maße erworben<br />

wurden, aber andere <strong>in</strong>sbesondere im beruflichen Bereich verwertbare Fertigkeiten<br />

und Fähigkeiten nachgewiesen werden können. Zusätzlich tragen sie<br />

zu e<strong>in</strong>er Aufwertung von Abgabezeugnissen bei.<br />

– Die Materialien für den Unterricht wurden nach schüler- und mädchengerechten<br />

Kriterien zu den e<strong>in</strong>zelnen Fächern ausgewählt und zu Arbeitsmappen zusammengestellt.<br />

– Die Arbeitsmappen ermöglichten, die schrittweise Bewältigung von Anforderungen<br />

und trugen dazu bei, Lernkapazitäten freizusetzen. Die Mädchen konnten<br />

je nach Interesse <strong>in</strong>dividuell arbeiten, ihre eigenen Arbeitsschwerpunkte erkennen<br />

und mit Unterstützung zu e<strong>in</strong>er qualitativen Fehleranalyse gelangen.<br />

– Auf längerer Sicht hatten unterschiedliche Konstellationen die Entstehung massiver<br />

Schulängste, das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten und die Ausbildung<br />

von Blockierungs- und Vermeidungsverhalten als Überforderungssymptome<br />

bewirkt. Somit stand im Vordergrund, diesen Mädchen mit<br />

problematischen Familienverhältnissen, fehlgelaufener Sozialisation und e<strong>in</strong>er<br />

tiefen Erschütterung <strong>des</strong> seelischen Gleichgewichts das Gefühl zu vermitteln,<br />

daß sie den Absichten und Handlungen der Lehrer<strong>in</strong> vertrauen können, von ihr<br />

als Person akzeptiert werden und <strong>in</strong> kritischen Situationen von ihr Hilfe erbitten<br />

und erwarten können.<br />

Vertrauen zu erwecken ist das Ergebnis täglichen Bemühens gewesen, als Person<br />

und als Lehrende <strong>in</strong> den Augen der Schüler<strong>in</strong>nen zuverlässig, ehrlich und hilfsbereit<br />

zu se<strong>in</strong>. Dies mag etwas banal kl<strong>in</strong>gen, stellt aber nicht <strong>des</strong>toweniger die<br />

Grundlage aller Versuche dar, im Unterricht Angst abzubauen.<br />

Die Mädchen fühlen sich jetzt durch Verständnis, Akzeptanz, Zuwendung, Zutrauen,<br />

Anerkennung, Geduld und Unterstützung ermutigt und wagen sich immer<br />

mehr an die Bewältigung ihrer Schwierigkeiten heran.<br />

Reaktionen wie Angst, Abwehr, Verweigerung, Vermeidung, Rückzug, Passivität<br />

und vornehmlich depressive Haltungen werden nicht mehr begünstigt und das<br />

positive Bef<strong>in</strong>den wird immer bewußter erlebt und gelebt, mit dem Ergebnis der<br />

größeren Bereitschaft, aktiv an der eigenen Lebens- und Berufsplanung mitzuarbeiten.<br />

Die Geschichte von Franzi und die dazu gehörenden Karikaturen haben wir<br />

mit freundlicher Genehmigung der Psychologie–Verlags–Union, We<strong>in</strong>heim,<br />

dem Buch „Teufelskreis Lernstörungen“, D. Betz und H. Breun<strong>in</strong>ger, 1993,<br />

3. Auflage, entnommen.<br />

27


Wenn Schulverweigerer Schule machen…<br />

Schule <strong>des</strong> Lebens im Überschneidungsbereich von<br />

Jugendhilfe und Schule<br />

Karlhe<strong>in</strong>z Thimm (Hennickendorf)<br />

Schule im Gegenw<strong>in</strong>d<br />

„Manchmal sitze ich am Schreibtisch und könnte nur noch heulen”, sagt Sab<strong>in</strong>e<br />

Gärtner. Ich kenne diese Lehrer<strong>in</strong> nur aus der Zeitschrift „Brigitte“. Mag se<strong>in</strong>, sie ist<br />

Fiktion, e<strong>in</strong> Retortenprodukt aus professioneller Schreibtischperspektive. Aber ihre<br />

niedergeschriebenen Sorgen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e erdachte Räuberpistole. Montag morgen,<br />

Hauptschule <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er süddeutschen Kle<strong>in</strong>stadt, 14jährige Jungen und Mädchen,<br />

E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Klasse. Frau Gärtners Klagen:<br />

– Pflanzen von der Fensterbank auf dem Boden<br />

– Klasse überdreht<br />

– 3 Jugendliche mit glasigen Augen<br />

– 4 kommen zu spät: „Hab verpennt“<br />

– 7 Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler fehlen<br />

– 10 M<strong>in</strong>uten, bis Ruhe e<strong>in</strong>kehrt<br />

– Die Hälfte ohne Hausaufgaben<br />

– Fast alle haben ke<strong>in</strong>en Bock auf Sozialkunde: „Das parlamentarische System<br />

und die Parteien“<br />

– O–Ton vom Elternabend: „Me<strong>in</strong> Junge säuft nicht,<br />

der tr<strong>in</strong>kt mal ne Flasche“; „Dann tun Sie doch was.<br />

Sie s<strong>in</strong>d doch die Lehrer<strong>in</strong>“; „Die Intelligenz für den<br />

Abschluß hat er“<br />

„Zum Schluß wollen wir basteln. Nur sechs haben<br />

etwas dafür mitgebracht. Ingo zieht Bett<strong>in</strong>a mal<br />

eben aus Jux an den Haaren. Sie schreit. Ich schmeiße<br />

ihn raus. Dann mache ich den Bastelschrank auf.<br />

Vor e<strong>in</strong>er Woche aufgeräumt, nun ist alles wieder<br />

durche<strong>in</strong>ander. Klebstoff ist über den Stapel<br />

Zeichenkarton gelaufen; von 24 Scheren s<strong>in</strong>d noch<br />

vier da.<br />

Die Jugendlichen lachen albern h<strong>in</strong>ter me<strong>in</strong>em Rükken.<br />

Ich raste total aus. Brülle und drohe mit e<strong>in</strong>er<br />

Klassenarbeit und dem Elternabend.<br />

Nachmittags über den Klassenarbeiten. Wie wenig<br />

selbst im Kurzzeitgedächtnis hängen bleibt. 18 Fehler<br />

<strong>in</strong> fünf Sätzen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Ausnahme. Deutsche<br />

Aufsätze von Schülern, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahr die Schule<br />

verlassen werden. Was soll aus jemandem werden,<br />

29


30<br />

der nicht mal das Wort „Stuhl“ richtig schreiben kann?! Stil und auch Inhalt spielen<br />

sowieso ke<strong>in</strong>e große Rolle an der Hauptschule.<br />

Es kl<strong>in</strong>gelt. Vier me<strong>in</strong>er Schüler und Schüler<strong>in</strong>nen stehen vor der Tür. Mark drückt<br />

mir verlegen e<strong>in</strong>e Rose <strong>in</strong> die Hand. Wir sitzen den Nachmittag im Wohnzimmer,<br />

hören Musik, reden über Eltern, Liebe, Schule. Sie wollen sich Mühe geben.<br />

Ich denke, ich b<strong>in</strong> zur Hälfte Sozialpädagog<strong>in</strong>. Und die andere Hälfte...?“<br />

– Klassenfahrt: Ausgelassenheit, Spielen, Grillen, Anvertrauen, Rührung...<br />

Schule ist nicht schuld. Aber die Institution hat, ob sie will oder nicht, elementare<br />

Sozialisationsleistungen zu vollbr<strong>in</strong>gen, weil sich vieles nicht mehr von alle<strong>in</strong><br />

versteht. Sie ist<br />

– Lernort und Lebensraum<br />

– Platz für Bildung und Beziehung, Geselligkeit, Freundschaft<br />

– Kontext für Zertifikationserwerb und jugendlichen Ausdruckselan<br />

– Milieu für Selektionsstreß und freundliche Umgangserwartung.<br />

Schule muß also bis Klasse 10 Primärerfahrungen ermöglichen, etwa: Zuhören<br />

und Resonanz spürbar werden lassen, Dase<strong>in</strong>sberechtigung und Werterleben abstützen,<br />

mangelnde Beheimatung und Geborgenheitsdefizite kompensieren,<br />

Konfliktkultur <strong>in</strong>stallieren und Zukunftsoptimismus miterzeugen u. a. m.. Nicht<br />

zuletzt, das wollen auch Eltern: Schule soll traditionell qualifizieren, muß beurteilen,<br />

sieben, letztlich plazieren und doch immer auch Randständigkeit und Ausgrenzung<br />

verh<strong>in</strong>dern, <strong>in</strong>tegrieren etc..<br />

Das bedeutet unter dem Strich manchmal Quadratur <strong>des</strong> Kreises, aber allemal:<br />

Selbstverständnis, Sichtweisen und Raum–Zeit–Sach–Strukturen, Gesellungsformen<br />

und methodische und didaktische Pr<strong>in</strong>zipien stehen auf dem Prüfstand.<br />

Gäbe es Schule nicht, würde niemand, der Bildung heute völlig neu entwerfen<br />

und organisieren dürfte, auf die mit Abstand betrachtet recht absurde Idee kommen,<br />

30 K<strong>in</strong>der oder Jugendlichen mit e<strong>in</strong>em Erwachsenen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Raum zu sperren,<br />

20 solcher Gebilde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus zu vere<strong>in</strong>en und alle 45 M<strong>in</strong>uten die Erwachsenen<br />

rotieren zu lassen. Dieses anachronistische Verfahren ist allerd<strong>in</strong>gs<br />

kostengünstig und verwaltungsfreundlich. Jedoch, Schule neu denken ist leichter<br />

als Schule schülergerecht und lehrerverträglich, gesellschaftsdienlich und als eigenberechtigte<br />

Gegenwartszeit, bunt und lebendig, s<strong>in</strong>nhaft und akzeptiert zu gestalten<br />

und machen. Aber richtig bleibt – und <strong>in</strong> dem durch mich vertretenen Projekt<br />

versuchshalber, <strong>in</strong> der Arbeit mit leistungsschwachen Schülern etabliert – das,<br />

was <strong>in</strong>nere Schulreform heute beansprucht und auf Länderebene auch<br />

schulgesetzlich absichert:<br />

– Auf der Organisationsebene: Selbständigkeit, Profilbildung, dezentrale<br />

Mittelverwendung, Öffnung: zur Nachbarschaft, zum Stadtteil zum Beispiel<br />

– Auf der Ebene <strong>des</strong> Unterrichtens, <strong>des</strong> Bildens, <strong>des</strong> Lernens:<br />

– B<strong>in</strong>nendifferenzierung, Förderung der Langsamen und Herausforderung der<br />

Flotten<br />

– Neigungsbezüge durch flexible Stundentafel, also Kerncurriculum (z. B. 60%) plus<br />

fakultative Elemente<br />

– Offensive Vertretung von exemplarischem Lernverständnis<br />

– Freiarbeit und Wochenplanarbeit


– Erfahrungs-, Erlebens-, Jetzigkeitsorientierung<br />

– Fächerübergreifender Unterricht, Lernbereichsdidaktik, Projekte<br />

– Produkt- und Handlungsausrichtung<br />

– Ganztagsschule und Stärkung außerunterrichtlicher Aktivitäten<br />

– Lernentwicklungsberichte<br />

– Realitätsbezüge, zur Arbeitswelt, zu außerschulischen Lernorten, E<strong>in</strong>bezug<br />

externer Expert<strong>in</strong>nen und Experten u. ä.<br />

Schule be<strong>in</strong>haltet und umfaßt – das ist das ABC der Aufgaben- und Funktionsbestimmung<br />

— Wissenserwerb<br />

— Schon- und Schutzraumfunktion<br />

— E<strong>in</strong>übung <strong>in</strong> Kultur und Gesellschaft<br />

— Ergänzung zur Familienerziehung<br />

— Berechtigungverteilung, Lebenschancenzuteilung, Plätzezuweisung für das<br />

Morgen<br />

Neu ist nunmehr, daß neben dem Lehren (Schüler als Objekt) und Lernen (Schüler<strong>in</strong><br />

als Subjekt) drei andere Modalitäten auch jenseits <strong>des</strong> Grundschulbereichs<br />

zunehmend Legitimation erlangen:<br />

1. Begleiten, Unterstützen, Beraten oder modern: Hilfe zur Selbstsozialisation,<br />

2. Spiel und Arbeit als berechtigte Bildungspr<strong>in</strong>zipien und -medien<br />

3. Leben (zulassen), also auch unterrichts- und erziehungsfreie Zeit <strong>in</strong> Schule<br />

erlauben<br />

Schule ist nicht Reparaturbetrieb der Gesellschaft. Das entspricht nicht ihrem<br />

Auftrag – und es würde die Institution überfordern. Aber sie muß außerschulische<br />

Erfahrungen ernstnehmen und veränderte Bildungsverständnisse ermöglichen.<br />

Sonst wird der Vorwurf, daß Schule hochwissenschaftlich bzw. bildungsbürgerlich–<br />

zeitwidrig das Falsche anbiete, von Jugendlichen <strong>in</strong> der Sekundarstufe I so gefüllt,<br />

daß ihre Leiber und Seelen sich mehr und mehr <strong>in</strong> Totstellreflexe, <strong>in</strong> Emigration, <strong>in</strong><br />

Widerständigkeit flüchten.<br />

Zum Verhältnis von Jugendhilfe und Schule<br />

Kann die Jugendhilfe, die Sozialpädagogik hier beispr<strong>in</strong>gen? Untersuchen wir<br />

die Gesetzeslage (aber z. B. auch die Indikationen für Heimerziehung), so fällt zunächst<br />

auf, daß für die Jugendhilfe Schule zentral ist, umgekehrt fällt <strong>in</strong> der Regel<br />

kaum e<strong>in</strong> Nebensatz ab.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs, wenn Jugendhilfe sich selbst wahrnimmt und präsentiert und Schule<br />

etikettiert, dann erhalten wir schnell die Polarität <strong>des</strong> „gut“ versus „böse“. Ich rezitiere,<br />

Schule <strong>in</strong> erster und Sozialpädagogik <strong>in</strong> zweiter Nennung:<br />

– Pflicht, Zwang – Kür, Selbstbestimmung<br />

– Leistung – Beziehung: Vertrauen, Unterstützung, Hilfe, daraus mehr oder<br />

wenigerableitbar:<br />

– Monologisch–direktive Kultur – Dialogische Aushandlungskultur<br />

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32<br />

– Konkurrenz – Kooperation<br />

– Selektion – Förderung<br />

– Kognitiver Schwerpunkt – Ganzheitlichkeit<br />

– Berufsrolle und Selbstbild: Wissensvermittler – Berufsrolle und Selbstbild: Helfer<br />

– Zukunft, Vorbereitung auf Leben – Gegenwart, Hier–und–Jetzt–Thematiken<br />

– Unparteilichkeit, ohne Ansehen der Person – Parteilichkeit<br />

– Äußerliche Ziele und Produkte – Prozesse<br />

– Fremdbestimmte Sache, Stoff – Zweckfreie Kommunikation, Spiel, selbstdef<strong>in</strong>ierte<br />

Probleme<br />

– Streß, Spannung – Entspannung, Spontaneität<br />

– Hierarchie – Partnerschaft<br />

Diese zugespitzten Gegensätze s<strong>in</strong>d nicht beliebig auflösbar; für Unterschiede<br />

und Verständigungsprobleme gibt es also strukturelle Gründe. Ich frage – gemäß<br />

me<strong>in</strong>es Themas und Auftrages – zunächst von der Seite der Sozialpädagogik her<br />

nach Schule und b<strong>in</strong> mir der Schieflage bzw. E<strong>in</strong>seitigkeit bewußt. Ich weiß: Von<br />

der Schule und der Jugendhilfe zu reden, greift zu kurz. Denn selbst Institutionen<br />

gleicher Art s<strong>in</strong>d hochvariant, geprägt von Klima, Kultur, vor allem jenen Pädagog<strong>in</strong>nen<br />

und Pädagogen, die mit ihren unterschiedlichen persönlichen Möglichkeiten<br />

und ihrem unterschiedlichen Engagement dort tätig s<strong>in</strong>d und Qualität entscheidend<br />

prägen.<br />

Dennoch, es gibt Möglichkeiten und Berechtigungen zur Pauschalisierung, es<br />

existieren Unterschiede, die <strong>in</strong> Auftrag und Funktion, Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und<br />

Geschichte, diszipl<strong>in</strong>ären und <strong>in</strong>stitutionellen Identitäten, B<strong>in</strong>nenstrukturen, Status,<br />

E<strong>in</strong>kommen angelegt s<strong>in</strong>d und demzufolge Blickrichtungen und Vorgehensweisen<br />

weich determ<strong>in</strong>ieren. Erlauben Sie mir noch e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zum Verhältnis<br />

von Jugendhilfe und Schule, Bildung und Sozialpädagogik.<br />

Schule – so Hans Thiersch – ist trotz der Vielgestaltigkeit der empirischen<br />

Institutionen e<strong>in</strong> <strong>in</strong> staatlicher Zuständigkeit weith<strong>in</strong> e<strong>in</strong>heitlich strukturierter Bereich,<br />

bestimmt von durchgehenden Aufgaben, repräsentiert <strong>in</strong> gesettelten<br />

Institutionen, begründet und gestützt <strong>in</strong> festen und öffentlich akzeptierten Traditionen<br />

ohne existenzbedrohende Rechtfertigungsnöte. Jugendhilfe organisiert sich<br />

dagegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Buntheit von Trägerschaften, Konzepten und Profilen. E<strong>in</strong>richtungen<br />

geraten zu Recht häufig nicht groß, Traditionen s<strong>in</strong>d unübersichtlich und<br />

öffentlich nur bed<strong>in</strong>gt respektiert. Oft s<strong>in</strong>d die Sozialen aus der Position der selbsterlebten<br />

Drittklassigkeit und zudiktierten M<strong>in</strong>derwertigkeit nach wie vor <strong>in</strong> Beweisnöte,<br />

Legitimations- und Reputationsgefechte verstrickt. Die Vielgestaltigkeit und<br />

Offenheit aber gibt Chancen und birgt Gefahren. Die Chancenseite be<strong>in</strong>haltet u.<br />

a. die Profilierung als humane Veranstaltung mit e<strong>in</strong>em hohen Maß an Akzeptanzorientierung,<br />

ritualarmer Kreativität und großen <strong>in</strong>dividuellen Verfügungs- und<br />

Gestaltungsspielräumen.<br />

In den auch hier und heute <strong>in</strong> Rede stehenden Vorhaben der Kooperation zwischen<br />

Bildung und Jugendhilfe wird mit jungen Menschen gearbeitet, deren Schwierigkeiten<br />

häufig durch Schule verstärkt, nicht selten mitproduziert worden s<strong>in</strong>d.<br />

Aus sozialpädagogischer Sicht wirkt, z. T. noch e<strong>in</strong>mal nach Thiersch – für die<br />

Zielgruppe der Schulmüden, nur exemplarisch unterfüttert, folgen<strong>des</strong> kontraproduktiv:


– In der Schule gelten Regeln und Aufgaben, Ansprüche und Leistungskriterien<br />

allgeme<strong>in</strong>, ohne Ansehen der Geschichte und Lage der E<strong>in</strong>zelnen. Das schulische<br />

Alltagsgeschäft wird durchgesetzt gegen Gleichgültigkeit, Öde, Widerstände<br />

– bei Lehrkräften und Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern.<br />

– In der Schule zählen Wissen, Stoff. Praktische und soziale Erfahrungen bleiben<br />

randständig.<br />

Provokant Thiersch: Schule verspiele die Chance zum Bildungsabenteuer <strong>in</strong> der<br />

Anstrengung um Wissensplunder.<br />

– Noten und Beurteilungen wirken zentral. Der Prüfstand ist selbstverständlich<br />

und allgegenwärtig. Dadurch ausgelösten Prozessen von Mißerfolg, Demütigung,<br />

Scheitern steht die Institution Schule mehr oder weniger achselzuckend h<strong>in</strong>nehmend<br />

gegenüber.<br />

Sozialpädagogik sieht e<strong>in</strong>e Schule, die mit ihrem Bildungsauftrag Schwierigkeiten<br />

hat und den Erziehungsauftrag nur viertelherzig annimmt.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs: S<strong>in</strong>d Sozialpädagog<strong>in</strong>nen Pädagog<strong>in</strong>nen, die ke<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong>nen werden<br />

wollten, – nicht unüblich –, dann mischen sich <strong>in</strong> die analytische Sachlichkeit<br />

eigene Er<strong>in</strong>nerungen, Enttäuschungen und Abrechnungen.<br />

Manche Soziale def<strong>in</strong>ieren sich dann identifikatorisch womöglich als Rächer der<br />

Entrechteten. Jedoch, sich im Loft der lupenre<strong>in</strong>en, bedürfnisorientierten, alle<strong>in</strong><br />

auf Selbstbestimmung fußenden Menschenfreundlichkeit zu bewegen bzw. dies<br />

zu beanspruchen, ist e<strong>in</strong>e Selbsttäuschung bzw. e<strong>in</strong>e endliche Identität, die im<br />

Fegefeuer der Undankbarkeit verbrennt. Auch Sozialpädagogik, auch Jugendhilfe<br />

– mißt Jugendliche an generellen Durchschnittsnormen, verwaltet Zwänge und<br />

paßt an,<br />

– kann im Alltagsdruck eigenen, selbstauferlegten Maßstäben und Ansprüchen<br />

nicht immer gerecht werden, wird auch bestimmt durch Müdigkeit, Enttäuschung,<br />

Feigheit, Genügsamkeit,<br />

– grenzt aus und schiebt ab, zwischen Heim, Straße, Psychiatrie und Gefängnis<br />

etwa,<br />

– hat bereichs<strong>in</strong>tern Schwierigkeit mit Kollegialität, Partizipationsorientierung,<br />

Transparenz und anderem mehr.<br />

Es fiel schon immer leichter, eigene Sorgen am anderen, am Gegenüber zu bekämpfen.<br />

Nur darf diese Selbstkritik nicht den nüchternen Blick auf die Sache verstellen.<br />

Jedoch, für Bildungsprojekte, nicht zuletzt mit schulflüchtigen Jugendlichen, s<strong>in</strong>d<br />

sozialpädagogische Perspektiven unerläßlich. Zum Beispiel:<br />

1. Jugendhilfe berücksichtigt Biographie und aktuelle Lebenssituation von K<strong>in</strong>dern<br />

und Jugendlichen und ist pr<strong>in</strong>zipiell verstehend orientiert. Ihr zentrales Medium<br />

ist die Herstellung und Stabilisierung von Kontakt und Beziehung zwischen Professionellen<br />

und Adressaten. Für viele Jugendhilfejugendliche s<strong>in</strong>d Sozialpädagog<strong>in</strong>nen<br />

und Sozialpädagogen die Menschen, zu denen sie das meiste Vertrauen<br />

haben.<br />

Soziale s<strong>in</strong>d jedoch – nach me<strong>in</strong>er Vorstellung – nicht die Alimentierer und<br />

Alibisierer, die Tanzmariechen, die mechanisch auf jugendlichen Pfiff reagieren.<br />

Sozialpädagogik darf nicht mechanisch immer Verständnis haben. Das hat mit<br />

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34<br />

Verstehen als Aufspürung und Ressourcenerweiterung nicht unbed<strong>in</strong>gt etwas zu<br />

tun. Jugendhilfe wird damit <strong>in</strong>tern und extern unglaubwürdig. Gegen e<strong>in</strong>engende<br />

Modernismen sollte Jugendhilfe sich m.E. die gesamte Breite möglicher pädagogischer<br />

Kontaktmodalitäten erlauben.<br />

Sie ist jedoch ke<strong>in</strong>esfalls – zur anderen Seite gesprochen – der verlängerte Arm,<br />

das Dienstmädchen von Schule, oder auch nicht: Der Speck, mit dem man Mäuse<br />

fängt.<br />

Forderung 1: Schulische Bildung muß die Beziehungsebene stärken.<br />

2. Jugendhilfe mit ihren Erfahrungen von Rand und Krise sieht mit greller Deutlichkeit<br />

strukturelle Veränderungen <strong>in</strong> der Gesellschaft und die Auswirkungen auf<br />

junge Menschen.<br />

So erlebt zum Beispiel die Helferschaft sehr viel unmittelbarer e<strong>in</strong>e Jugendkultur,<br />

die geprägt ist durch Eigenwilligkeit, Gegenwärtigkeit, Expressivität. Jugendhilfe<br />

hat e<strong>in</strong>en ganz anderen Blick auf Gesellung, auf Gruppengrößen, auf jugendliche<br />

Bewegkräfte, auf Erfolgskriterien und Belohnungssysteme, auf Kommunikation<br />

und Dialog, auf Angebotsorientierung jenseits von Sanktion und Gratifikation.<br />

Sie versteht zu werben, sich <strong>in</strong> offenen Situationen zu verhalten, Geist,<br />

Körper und Seele zusammenzuschauen und sich – manche bedauern das – <strong>in</strong><br />

der Zielsicherheit immer wieder zu relativieren. Und Jugendhilfe kennt beglükkende<br />

Erfahrungen von Leidenschaft, Durchhaltekraft und Eigens<strong>in</strong>n <strong>in</strong> bester<br />

Wortbedeutung.<br />

Forderung 2: Schule muß sich mehr als angebotsorientierter Dienstleistungsbetrieb<br />

verstehen und dabei den ganzen Menschen wiederentdecken.<br />

3. Jugendhilfe weiß um die Unabd<strong>in</strong>gbarkeit von Teamarbeit, Kollegialberatung<br />

und angeleiteter Selbstreflexion. Tradition und Berufsverständnis machen Lehrkräfte<br />

zu E<strong>in</strong>zelkämpfern.<br />

Forderung 3: Schule muß auch ihrem Personal das abnötigen, was sie ihren Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schülern abverlangt: Den S<strong>in</strong>n für das Ganze, für schulische Geme<strong>in</strong>schaft<br />

und enge kollegiale Kooperation.<br />

4. Jugendhilfe zentriert ihr Bemühen um den unverwechselbaren E<strong>in</strong>zelnen und<br />

bemüht sich um Kompetenzorientierung. Schule favorisiert das reibungslose<br />

Funktionieren <strong>des</strong> Großbetriebs, sieht das System, fokussiert Neben- und Folgewirkungen<br />

<strong>in</strong>dividualisierender, besondernder Schritte. Aus Sicht von Schule wird<br />

immer die Lernproblematik bzw. die Schulstörung akzentuiert, verbunden mit<br />

Abhilfeverlangen, auch mit Blick auf die Lerngruppe, Schulaufsicht, Schulleitung,<br />

Eltern, Nachbar-, Über-, Unterschulen.<br />

Forderung 4: Schule muß schemasprengende Individualisierung zulassen und Unterstützungsprämissen<br />

prioritär setzen.<br />

Nun kann es nicht gehen, daß Schule <strong>in</strong> der Sekundarstufe I Sozialpädagogik pur<br />

betreibt. Zusammenwirken <strong>in</strong> Koexistenz ist angesagt, und zwar auch, weil der<br />

Zusammenhang von Schul- und Sozialkarriere im positiven wie im S<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Mißl<strong>in</strong>gens<br />

bekannt ist. Wer <strong>in</strong> Schule scheitert, hat durchschnittlich perspektivisch kaum


Chancen. Beide – Schule und Jugendhilfe – haben e<strong>in</strong>en der elterlichen Erziehung<br />

zu- und nachgeordneten Auftrag. Beide s<strong>in</strong>d dem Zweck verpflichtet, dem Wohl,<br />

der Persönlichkeitsentwicklung und der Gesellschaftsfähigkeit junger Menschen<br />

zu dienen.<br />

Aus Sicht von Schule könnte man mit gewissem Recht zum Beispiel e<strong>in</strong>wenden:<br />

1. Schule gibt ehrlicherweise nicht vor, über etwas verhandeln zu können, was nicht<br />

offen ist.<br />

Mit ihrem Bildungsauftrag verliert sie sich nicht <strong>in</strong> bedürfnisabhängiger Zufälligkeit<br />

und spontaner Beliebigkeit. Schule betreibt das notwendige und schwere<br />

Geschäft der Forderung, der Grenzsetzung und Reibung. Sie steht für das Morgen<br />

als Anwalt von Zukunft und verwaltet den Ernst <strong>des</strong> Lebens mit.<br />

2.Schule hat Absichten und Ziele auf Grund übergreifender Wertsetzung, möchte<br />

und muß diese gesellschaftlich hochumstrittenen Def<strong>in</strong>itionen <strong>in</strong> Bildung organisieren<br />

und für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler letztlich sicht- und meßbare Produkte<br />

hervorbr<strong>in</strong>gen.<br />

3.Dabei geht es um nicht weniger als z. B. um Selbstverpflichtung aus E<strong>in</strong>sicht,<br />

Sozialität als Haltungsset, „Allgeme<strong>in</strong>bildung“, „Kulturgüter“, „M<strong>in</strong>imalkonsens“<br />

– im Interesse der Etablierung von Zivilgesellschaft und der verb<strong>in</strong>dlichen Thematisierung<br />

der Überlebensfragen von Planet und Gattung.<br />

Diese nicht h<strong>in</strong>tergehbaren, unverzichtbaren Erwartungen und Funktionsanforderungen<br />

eignen sich nicht zur Denunziation. Über das “Wie” muß und wird zu<br />

streiten se<strong>in</strong>. Für die komplexen, widersprüchlichen Aufgaben quittiert Schule u.<br />

a. über begrenzte Zeit und stagnierende Mittelzuflüsse.<br />

Nun wissen wir auch aus Sek. I–Reformschulen vom Allerfe<strong>in</strong>sten von Schulmüdigkeitsquoten<br />

von 20%; 10% (plus/m<strong>in</strong>us) schwänzen mehr oder weniger regelmäßig,<br />

je nach Schultyp und damit korrespondierendem Bildungselan und Zukunftschancen;<br />

e<strong>in</strong> ähnlich hoher Prozentsatz verläßt die E<strong>in</strong>richtungen ohne<br />

Abschluß; Raten radikaler Schulverweigerung liegen – je nach Def<strong>in</strong>ition und Maßstab<br />

– zwischen 0,5 und 2%.<br />

Schulverweigerung<br />

Diese Jugendlichen auf ihrem Weg <strong>in</strong>s schulische und gesellschaftliche Totalabseits<br />

– sie kennen sie alle – zeigen erwartungswidriges, unangepaßtes, erfolgsarmes<br />

Verhalten <strong>in</strong> Schule: Symptomatisch s<strong>in</strong>d sie leistungsschwach oder aggressiv,<br />

resigniert oder gar depressiv, regelunwillig und provokant, ängstlich oder<br />

unkontrolliert, enttäuschbar oder konzentrationsarm, mutlos und kurzatmig, massiv<br />

kontaktbee<strong>in</strong>trächtigt oder jenseits jeglicher Planungsfähigkeit – und sie ersche<strong>in</strong>en<br />

häufig als kaum belastbar und leicht verunsicherbar und kränkbar. Ich<br />

will nur kurz über das weite Feld von Schulmüdigkeit und Schulaversion unserer<br />

Zielgruppe sprechen.<br />

Alterstypisches Schwänzen wurde auch <strong>in</strong> Brandenburg zu e<strong>in</strong>er durchaus alterstypischen<br />

Modalität <strong>des</strong> Umgangs mit der Institution. Tagesschwänzen imponiert<br />

gemäß e<strong>in</strong>er Studie <strong>des</strong> Brandenburger Instituts für K<strong>in</strong>dheits-, Jugend- und Fami-<br />

35


36<br />

lienforschung (1993) mit etwa 5% <strong>des</strong> Schüleranteils an Gesamtschulen. Das „Kavaliersdelikt“<br />

Eckstundenschwänzen brachte es auf stattliche 25% junger Menschen<br />

<strong>in</strong> der Sekundarstufe I, die zielgerichtet „zu anstrengende“ bzw. „s<strong>in</strong>nlose“ Stunden<br />

flüchten, „unsympathische“ Lehrkräfte bestreiken bzw. dann und dort agieren,<br />

wo ke<strong>in</strong>e Sanktionen befürchtet werden. Nur wenige verweigern Schule massiver.<br />

Ex negativo: Schulverweigerung <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Verständnis ist nicht identisch mit<br />

Schwänzen, unregelmäßigem Schulbesuch, unentschuldigtem bzw. entschuldigten<br />

Fehlen/Krankschreibung bzw. Schulphobie. Und: Jegliche Form der <strong>in</strong>ternen<br />

oder externen Schul- und Lernflucht ist allemal e<strong>in</strong> komplexes Geflecht von bed<strong>in</strong>genden<br />

Momenten, Begleit- und Folgeersche<strong>in</strong>ungen. In me<strong>in</strong>em Zusammenhang<br />

unterscheide ich zunächst zwischen passiver und aktiver Schulflucht:<br />

– Die passive Form be<strong>in</strong>haltet alle Formen der nachhaltigen <strong>in</strong>neren Emigration<br />

im Unterricht: Inaktivität, Abschalten, Träumen etc..<br />

– Aktive Schulverweigerung impliziert entweder Destruktion bzw. Provokation über<br />

normalisierbares Stören (Ablehnung, Nichterfüllung, Lehrkräfte ärgern, Protest,<br />

Beleidigungen etc.) h<strong>in</strong>aus, und zwar im Unterricht, oder dauerhafte, tendenziell<br />

irreversible Absenz, um während der Schulzeit anderen Beschäftigungen nachzugehen.<br />

Die aktiven SchulverweigerInnen zeigen Autonomie gegenüber den<br />

Erwartungen der Umwelt und nehmen – nicht immer so erlebte – Nachteile konsequent<br />

<strong>in</strong> Kauf.<br />

Letztere Form der aktivistischen, agierten und dennoch regressiven „Schulkritik“<br />

wird besonders deutlich wahrgenommen, weil hier die Flucht auf die Spitze getrieben<br />

und e<strong>in</strong>e gültige gesellschaftliche Zentralnorm ohne Rücksicht auf Folgen verletzt<br />

wird.<br />

In der Literatur – besonders oben genannter Studie – wird unterschieden zwischen:<br />

– Notorischen, irreversiblen Schulverweigerern mit e<strong>in</strong>em hohen Widerstand gegenüber<br />

Lernen, e<strong>in</strong>er fe<strong>in</strong>dlichen Haltung gegenüber Schule und Lehrkräften.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wird durch diese Fokussierung der Brandenburger Kollegen der Typus<br />

<strong>des</strong> depressiven Schulverweigerers nicht erfaßt.<br />

– Permanenten Langzeitschulverweigerern, die dennoch mit Schule bzw. e<strong>in</strong>zelnen<br />

Unterrichtenden noch nicht völlig gebrochen haben. Sie tauchen sporadisch<br />

<strong>in</strong> der Schule oder <strong>in</strong> der Nähe auf, haben noch Kontakt zu SchulbesucherInnen<br />

und zeigen weniger starke Devianztendenzen.<br />

– Intervallverweigerern, die besonders nach nicht bewältigten Konflikten mit Lehrkräften<br />

oder Mitschülern längere Zeit nicht gehen.<br />

– Kurzzeitverweigerern, die e<strong>in</strong>e exzessive Form <strong>des</strong> Schwänzens betreiben und<br />

mit Regelmäßigkeit e<strong>in</strong>en oder mehrere Tage fehlen.<br />

Je spezifische Charakteristika, Dynamik bzw. Verlaufsformen, Anlässe, ursächliche<br />

Entstehungszusammenhänge sowie Interventionsmöglichkeiten s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs<br />

noch unerforscht.


Interessant wäre es sicherlich, zum Beispiel zu untersuchen:<br />

– Klassifizierungskriterien<br />

– Ersche<strong>in</strong>ungformen von Schulverweigerung und Typisierungen<br />

– Quantitative Ausprägung der jeweiligen Formen<br />

– Ursachen<br />

– Art und Ausmaß <strong>in</strong> Abhängigkeit von Alter, Schulart und Geschlecht bzw. Leistungsvermögen<br />

und Persönlichkeitsspezifik <strong>des</strong> Schülers/der Schüler<strong>in</strong> bzw. der<br />

Unterrichtsfähigkeiten, <strong>des</strong> Selbstverständnisses von Lehrkräften<br />

Die Gründe der Schulflucht lassen sich z. B. klassifizieren <strong>in</strong><br />

Schulische Bed<strong>in</strong>gungen<br />

– Häufige Schulwechsel/Schultourismus<br />

– Probleme mit der Institution und dem S<strong>in</strong>n der Veranstaltung<br />

– Probleme rund um die Lehrerpersönlichkeit (Variablen etwa: Verständnis für<br />

Jugendliche, Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n, Führungsstil/Verhalten <strong>in</strong> Machtkämpfen u. a.)<br />

– Probleme rund um die Haltung zur und Reaktion von Lehrkraft und Institution<br />

auf Schulaversion<br />

– Unterrichtsqualität (Fach- und didaktische Kompetenz, Anregungsgehalt,<br />

Schülere<strong>in</strong>bezug, Tempo, E<strong>in</strong>hilfen für Schwächere (Kard<strong>in</strong>althematiken für manifeste<br />

Verweigerung, im folgenden kursiv)<br />

– Überalterung<br />

– Angst, vor Blamage, Versagen etc.<br />

Schulische Bed<strong>in</strong>gungen/Schülerseite<br />

– Klima <strong>in</strong> der Klasse<br />

– Normen <strong>in</strong> der Lerngruppe<br />

– Isolation und Randständigkeit<br />

– Opfer von Gewalt<br />

– Subgruppenzugehörigkeit<br />

Schulexterne Bed<strong>in</strong>gungen<br />

– Abweichen<strong>des</strong> Verhalten als<br />

Cliquennorm/Modelle von Verweigerung<br />

im Nahraum<br />

– Familiale Faktoren (Schulaversion<br />

der Eltern, eigenes Scheitern,<br />

Funktionsverlust der Eltern, Indifferenz,<br />

symbiotische Verstrikkung<br />

etc.)<br />

– Biographische Faktoren/Versager-<br />

und Störeridentität als frühe<br />

lebensgeschichtliche Thematiken.<br />

In den Foren: Vertiefung<br />

37


38<br />

In ihrer Selbste<strong>in</strong>schätzung erstellen SchulschwänzerInnen gemäß Forschungs<strong>in</strong>stitut<br />

–wieder nur Eckstunden- und Tagesschwänzer – diese Rangfolge an Gründen,<br />

wobei Gefahren der Verschleierung, Rationalisierung, „Veredelung“ (Institut)<br />

mitbedacht werden müssen:<br />

1. Langeweileerwartung (36,9%)<br />

2. Animation durch Gleichaltrige (27,5%)<br />

3. Leistungskontrollen (19,5%)<br />

4. Erwartung von Konflikten mit Lehrkräften (14,7%)<br />

5. Erwartung von Konflikten mit Schülern (10,7%)<br />

Mädchen begründen ihre Abwesenheit eher mit Angst vor Leistungsversagen,<br />

Jungen mit drohenden Konflikten.<br />

Bevor ich am Ende e<strong>in</strong>ige Auswertungsgesichtspunkte zu der Arbeit im<br />

Schulversuch „Schule <strong>des</strong> Lebens“ vortrage, der <strong>in</strong> der Vorbereitungsmappe ja<br />

ausreichend dokumentiert ist, noch e<strong>in</strong>ige Leitl<strong>in</strong>ien zur Flucht-, Schwänz-,<br />

Verweigerungsprävention für Regelschule <strong>in</strong> Anlehnung an die Brandenburger<br />

Forschungsergebnisse:<br />

1. Unterricht muß mehr Spaß machen. Das fordert die Lehrkräfte, den Unterricht<br />

didaktisch–methodisch offener und schülerzentrierter, überraschender und animierender<br />

zu gestalten.<br />

2.Bildungs<strong>in</strong>halte s<strong>in</strong>d auf Nützlichkeit und Lebensweltbezug zu überprüfen.<br />

3.Brüchen <strong>in</strong> Bildungsbiographien ist Aufmerksamkeit zu widmen. (Für mehr als<br />

60% der Schüler aus dem Projekt “Schule <strong>des</strong> Lebens” begann der Aus- und Abstieg<br />

nach der Grundschulzeit <strong>in</strong> Klasse 7)<br />

4.B<strong>in</strong>nendifferenzierung muß Leistungsschwächere, Langsamere, Unmotiviertere<br />

besonders <strong>in</strong>s Auge nehmen und fördern.<br />

5.Tagesschwänzen ist ernst zu nehmen und muß E<strong>in</strong>hilfen zeitigen.<br />

6.Angst von SchülerInnen vor Mitschülern ist auf die Spur zu kommen, Repression<br />

ist zu unterb<strong>in</strong>den.<br />

7. Dem Klassenklima, den offenen und heimlichen Normen muß Aufmerksamkeit<br />

gewidmet werden.<br />

8.Leistungskontrollen dürfen nicht irreversible Angst generieren.<br />

Im Schulversuch lernen drei genu<strong>in</strong>e Störer, sieben „Flüchtl<strong>in</strong>ge“ und zwei „Mischtypen“.<br />

In der sicherlich ke<strong>in</strong>en wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Evaluierung<br />

<strong>des</strong> schulischen Scheiterns der Projektjugendlichen <strong>in</strong> der “Schule <strong>des</strong> Lebens” zeigen<br />

sich als Primärfaktoren (mit folgender Sekundärsymptomatik) <strong>in</strong> der Rangordnung<br />

der Bedeutsamkeit:<br />

1. Leistungsthematiken<br />

2.Repression und Isolation <strong>in</strong> der Schülergeme<strong>in</strong>schaft<br />

3.Machtkämpfe mit Lehrern bzw. Übernahme von Lehrererwartungen


4.Ausfall elterlicher Unterstützung, Orientierung, Kontrolle (erhebungsproblematisch<br />

h<strong>in</strong>sichtlich der ursächlichen Ebene, nicht verstanden und nachgewiesen<br />

als quasiautomatische Folgeersche<strong>in</strong>ung)<br />

Zirkulär dynamisierend bei allen drei Typen wirken – und letztlich ist nicht mehr<br />

unterscheidbar, was Ursache, Wirkung und damit erneut kausal prägend wurde:<br />

– Des<strong>in</strong>teresse bzw. Aufgeben und Fraternisieren im Elternhaus,<br />

– das Gefühl, <strong>in</strong> der Lehrerschaft abgeschrieben zu se<strong>in</strong>,<br />

– Gewöhnung an Ablehnung und demzufolge Resistenz gegenüber Sanktionierung,<br />

– ger<strong>in</strong>ge Kompetenzerwartungen und neue Furcht vor Versagen sowie dann auch<br />

reale erneute Mißerfolgserfahrung,<br />

– ke<strong>in</strong>e Chance mehr zu haben und dann letztlich aufzugeben und völlig fern zu<br />

bleiben.<br />

Verweigererschule: „Schule <strong>des</strong> Lebens“<br />

In diesen Kontexten <strong>des</strong> Totalausstiegs ohne Rückfahrsche<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den wir die Klientel<br />

der „Schule <strong>des</strong> Lebens“ mit durchschnittlich siebenmonatiger Schulabwesenheit.<br />

Was passiert <strong>in</strong> der Schule <strong>des</strong> Lebens? Vielleicht zur Illustrierung e<strong>in</strong><br />

ausschnitthafter E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> den Tagesablauf.<br />

Morgens rollt der schuleigene VW–Bus 90 M<strong>in</strong>uten durch den Landkreis, um die<br />

Jugendlichen an vere<strong>in</strong>barten Treffpunkten abzuholen. Auch Lehrkräfte nehmen<br />

auf ihrem Weg zur Schule e<strong>in</strong>zelne Jugendliche mit. Schwänzen gibt es bei uns<br />

nicht; der Krankenstand ist <strong>in</strong> der Regel niedrig. Selten muß man jemanden aus<br />

dem Bett kl<strong>in</strong>geln. Im Auto wird palavert; man startet mit dichtem Kontakt und<br />

gew<strong>in</strong>nt E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Verfassung der Jugendlichen. Der Erwachsene ist Vertrauensperson,<br />

man duzt sich, kann erste Absprachen für den Tag treffen. Spätestens<br />

beim E<strong>in</strong>treffen <strong>in</strong> der Waldvilla wird die erste Zigarette gequalmt. Sie begrüßen<br />

die anderen und wir merken: Viele kommen nicht zuletzt <strong>des</strong>halb, weil sie die Geme<strong>in</strong>schaft<br />

suchen und brauchen. Am Vormittag gibt es e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Pause, die die<br />

PädagogInnen nach dem Stand der Arbeit und der Verfassung der Jugendlichen<br />

festlegen. Nach den 90m<strong>in</strong>ütigen Blöcken ist Aktivitäten- bzw. Fachwechsel angesagt.<br />

Die Atmosphäre entwickelt sich unterschiedlich. Manchmal herrscht fast gespenstische<br />

Ruhe, dann gibt es Lachen, Schreien, Toben.<br />

Oft sieht man <strong>in</strong> der Arbeitszeit ke<strong>in</strong>e<br />

Jugendlichen, dann wieder versuchen e<strong>in</strong>zelne, unentschieden<br />

zu pendeln. Sie werden sofort angesprochen.<br />

Vorbildlich, ohne jede Unregelmäßigkeit<br />

und Beanstandungen wird <strong>in</strong> der Werkstatt geschafft.<br />

Die Arbeit <strong>in</strong> den Lernbereichen und den AGs verläuft<br />

mit wechselndem Engagement. Wir erleben H<strong>in</strong>gabe<br />

und Des<strong>in</strong>teresse, Ausweichverhalten und Leidenschaft,<br />

Talentiertheit und lahme Suche, starke und<br />

schwache Arbeitsergebnisse.<br />

39


40<br />

In den Pausen gibt es lustige oder ernste Gespräche mit den Erwachsenen oder<br />

Tischtennis-, Fußball-, Basketball-, Federballspiel; e<strong>in</strong>ige Jugendliche werden durch<br />

den “Bauwagenobmann“ <strong>in</strong> den eigenen Pausenbereich gelassen, andere lümmeln<br />

am Raucherpilz rum, wieder andere müssen zum wiederholten Mal aus dem Lehrerzimmer<br />

komplimentiert werden.<br />

Der abschlußorientierte Unterricht f<strong>in</strong>det Vormittags statt. Um 12.30 Uhr beg<strong>in</strong>nt<br />

das Nachmittagsprogramm, mit e<strong>in</strong>em Wechsel nach dem ersten Block um<br />

14.00 Uhr. Um 15.30 Uhr beg<strong>in</strong>nt der Rücktransport. Viele wollen nach Hause,<br />

manche nicht. H<strong>in</strong> und wieder putzt e<strong>in</strong> Jugendlicher die Schule oder re<strong>in</strong>igt das<br />

Gelände und bessert sich dadurch das Taschengeld auf. Mittwochs ist nunmehr im<br />

zweiten, dem Brückenjahr h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die ungeschütztere Realität kont<strong>in</strong>uierlich zehn<br />

Monate h<strong>in</strong>durch Betriebspraktikum mit Praxislernen angesagt.<br />

Die Schule <strong>des</strong> Lebens ist e<strong>in</strong> erfolgreiches Bildungsangebot. E<strong>in</strong>e entschulte<br />

„Schule <strong>des</strong> Lebens“ als ebenfalls durchaus zeitfressen<strong>des</strong> Arrangement möchte<br />

Wirklichkeit aus erster Hand bejahen und nicht nur Zukunft simulieren. Sie will<br />

mit den Gegenwartserfahrungen arbeiten, mit solchen aus dem B<strong>in</strong>nenraum und<br />

jenen von draußen. Sie beansprucht also, für Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler aktuell<br />

bedeutsam se<strong>in</strong>. Sie beansprucht, Verstehens- und Gestaltungshilfe zu offerieren.<br />

Gerade für 13– bis 16jährige ist Schule be<strong>in</strong>ahe generell Qual, richtet durchschnittlich<br />

– gemessen am Verhältnis von Aufwand und Ertrag, Absicht und Wirkung –<br />

wenig aus. Das ist e<strong>in</strong> uraltes Thema, ke<strong>in</strong> Produkt der Postmoderne.<br />

Des<strong>in</strong>teresse wird nicht zuletzt auch <strong>des</strong>halb generiert, weil die Institution die<br />

Lebensthematiken der Altersgruppe <strong>in</strong> den <strong>in</strong>formellen Bereich abdrängt, also ignoriert:<br />

Selbsterprobung, Beziehungshunger im Peerbereich, Emanzipation von Bevormundung,<br />

Erlebnis- und Abenteuerdrang, produktives Tun, Körperlichkeit und<br />

S<strong>in</strong>nlichkeit.<br />

Dialog, Begleitung, Verstehen von Lebenswelten und Bewältigungspolkas heißen<br />

die Säulen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Betreuungsansatz, der Beziehung vor Erziehung setzt.<br />

Wir siedeln diese Beziehungspädagogik <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Alltag mit klar strukturierten,<br />

regelmäßigen, überschaubaren und nachvollziehbaren Tagesabläufen im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>es handlungs- und erlebnisorientierten Konzepts an.<br />

Der Erlebnis- und Werkbereich s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Anhängsel. Die Erlebnispädagogik –<br />

für manche Jugendliche echte, hürdenreiche Herausforderung – ist u. a. diagnostisch<br />

relevant, ermöglicht Persönlichkeitsstabilisierung und Zuwachs an Gruppenselbststeuerung.<br />

Beide Bereiche werden mit dem unterrichtlichen Geschehen verknüpft. Motivation<br />

über Produktorientierung, Bezugsstiftung über das „verb<strong>in</strong>dende Dritte“ jenseits<br />

von Verbalität s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesen Kontexten besonders möglich. Im Werkbereich<br />

gehen wir zentral von den Fähigkeiten der Jungen aus und ermöglichen Erfahrungen<br />

<strong>des</strong> Gel<strong>in</strong>gens. Ziel ist, die gestörte Beziehung der Jugendlichen zu sich selbst<br />

zu verbessern und e<strong>in</strong> positiveres Weltbild zu begünstigen.<br />

Doch die eigene Position der Erwachsenen und ihre Vertretung bzw. Spiegelung<br />

von Realität ist damit nicht obsolet. Wir haben ke<strong>in</strong>e Unvere<strong>in</strong>barkeitsbeschlüsse:<br />

Entweder dialogisch–partnerschaftlich oder lenkend–setzend; entweder störungsdiagnostische<br />

oder kompetenz- und ressourcenorientierte Sichtweisen; entweder<br />

Konfrontieren oder Unterstützen oder zulassende Symptomtoleranz etc.. Unsere<br />

Fähigkeit und Bereitschaft zum „Sowohl als auch“ konkretisiert sich <strong>in</strong> jedem Fall


neu, auf der Grundlage von Kontaktakzeptanz hier (Jugendlichenseite) und von<br />

Dase<strong>in</strong>, Dabeise<strong>in</strong>, von H<strong>in</strong>sehen, aber auch sozialpädagogischer Diagnose und<br />

Förderplanung (Professionellenseite) dort.<br />

Aus dem Verstehen folgt nicht seriell die automatische Bedienung von Impulsen<br />

der Jugendlichen. Wir arbeiten auch sozialpädagogisch hochdifferenziert. Das, was<br />

fehlt, gebraucht wird und <strong>in</strong>diziert ersche<strong>in</strong>t, ist für Peter, Paul und Mario unterschiedlich.<br />

Teilschritte und -ziele für e<strong>in</strong>zelne Jugendliche variieren, z. B.:<br />

Erleben von exklusiver Beziehung im “Solo“ und Lernen an Modellen, Ruhe und<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>g von Standardsituationen, Übung lebenspraktischer Fertigkeiten und Fremdwahrnehmung<br />

und Rückmeldung, Übernahme von Verantwortung und Erregungsabbau<br />

durch Ausagieren, E<strong>in</strong>übung von Grenzsetzung und Durchbeißen statt Flucht<br />

und/oder Aufgabe, Platzf<strong>in</strong>dung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gefüge von Unter- und Überlegenheit<br />

und Kümmern und Zuwendung (aber auch dosierte Abkehr), Beachtung der Basisbedürfnisse<br />

(Zugehörigkeit, Sicherheit, Werterleben etc.) und Gruppenversammlungen,<br />

die die Themen <strong>des</strong> Zusammense<strong>in</strong>s auf die Tagesordnung setzen<br />

(Schlagen, Klauen – bei<strong>des</strong> <strong>in</strong>zwischen bei Null, Demütigen, Geld, Putzen,<br />

Verreisen, Eifersucht, Angst), Mitbestimmung und orientierende Normierung etc..<br />

Die im Konzept vorgesehenen pädagogischen Mittel und Ebenen stammen nicht<br />

vom anderen Stern: Es geht um Entlastung von Druck, um Arbeit mit Niveaus der<br />

Selbstbesorgung und Versorgung, um Auszeiten/Time out und abnehmen<strong>des</strong> <strong>in</strong><br />

Ordnung br<strong>in</strong>gen; wir arbeiten mit vorsichtigem Körperkontakt und gemäß <strong>des</strong><br />

Pr<strong>in</strong>zips ”dicht halten”, wir ignorieren oder/und forcieren das Motivverstehen im<br />

Plenum durch andere, wir greifen e<strong>in</strong> und halten ab, wir belohnen und vermitteln<br />

mit Nachdruck Verhaltensregeln. Und immer fragen wir nach dem biographischen<br />

S<strong>in</strong>n und der sozialen Funktion ihres Tuns und Unterlassens. Im Pr<strong>in</strong>zip geht es –<br />

variiert nach E<strong>in</strong>zelfall – um Ermutigung, Selbstwertstärkung, Abbau von Angst,<br />

Orientierung, Unterdrückung von Störverhalten bzw. Entwicklung von funktionalen<br />

Äquivalenten für symptomatisches Verhalten.<br />

Was wurde erreicht?<br />

E<strong>in</strong>ige Stichworte: In diesem Bildungsvorhaben herrscht gute Stimmung! Schwänzen<br />

ist im Projekt Fremdwort. Es gibt ke<strong>in</strong>e Gewalt. Unterricht f<strong>in</strong>det – wenn auch<br />

mit wechselnden Erfolgen – regelmäßig statt. Die Deliktbelastung – immerh<strong>in</strong> hatten<br />

alle damit <strong>in</strong> unterschiedlichem Ausmaß etwas zu tun – tendiert gen Null.<br />

Psychosoziale Fortschritte s<strong>in</strong>d unterschiedlich ausgeprägt, die Gruppenselbstregulierung<br />

verbessert sich millimeterschrittig.<br />

Berufstätigkeit ist für die Jugendlichen<br />

zunehmend positiv besetzt.<br />

Es ist schwer zu formulieren, was <strong>in</strong> der<br />

Schule <strong>des</strong> Lebens <strong>in</strong> welchem Ausmaß Spuren<br />

h<strong>in</strong>terläßt. Es ist die Summe der Faktoren<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em wohldurchdachten Arrangement.<br />

Zum Wirkungspotential gehören die Plena<br />

und die Wochenauswertungen, der <strong>in</strong>dividuelle<br />

Stundenplan und die Reisen, die Raucher-<br />

Projekte stellen sich vor:<br />

Wie wird was erreicht?<br />

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42<br />

pausen und das Schlauchboot, die Projektfahrräder und der Transportservice, die<br />

Verköstigung und der Mopedführersche<strong>in</strong>, das menschengemäße Haus und das<br />

animierende Gelände im Freien.<br />

Zum Schluß noch e<strong>in</strong>ige systematisierende Bemerkungen, um Elemente <strong>des</strong> Gel<strong>in</strong>gens<br />

zu durchleuchten:<br />

1. Das Projekt verfügt über Macht:<br />

– Sanktionsmacht – hier rausgeschmissen oder auch nur nach Hause geschickt<br />

zu werden, ist nachteilig und tut weh.<br />

– Belohnungsmacht – die Professionellen verfügen über materielle Mittel, die sie<br />

auch <strong>in</strong>diziert e<strong>in</strong>setzen.<br />

– Macht über die Verteilung <strong>des</strong> Schulabschlusses („e<strong>in</strong>facher“ Hauptschulabschluß<br />

Berufsbildungsreife)<br />

– Und man verfügt über E<strong>in</strong>fluß, per Nützlichkeit und Identifikationsmacht.<br />

2.Das ist e<strong>in</strong> Zentralfaktor: In dem Vorhaben arbeiten Erwachsene, die für Jugendliche<br />

attraktive, glaubhafte und nahbare Orientierungspersonen s<strong>in</strong>d, dabei hochmotiviert<br />

und engagiert, e<strong>in</strong>fühlsam, vertrauenswürdig und humorvoll, optimistisch<br />

und zuverlässig. Die PädagogInnen haben sich <strong>in</strong> Herzen und Köpfe<br />

e<strong>in</strong>gemogelt und e<strong>in</strong>genistet, sicherlich <strong>in</strong> je unterschiedlicher Intensität, aber<br />

mit Prägekraft. Und die Erwachsenen – nicht zuletzt der Leiter – s<strong>in</strong>d die „guten<br />

Autoritäten“, die mit den Themen Grenze, Versagung, Reibung etc. emphatisch,<br />

partnerschaftlich, liebevoll und solidarisch, aber klar und ggf. streng umgehen.<br />

Für die Arbeit mit K<strong>in</strong>dern mit Vaterhunger, mit Vaterlöchern bzw. Mutter – Sohn<br />

– Verstrickungen als biographischem Basisgepäck e<strong>in</strong> notwendiges Wirkkapital!<br />

3.Das Projekt ist schlicht nützlich:<br />

Sie wollen ihren Abschluß. Sie brauchen Taschengeld. Sie möchten den Mopedführersche<strong>in</strong><br />

und benötigen „e<strong>in</strong>e Karre“. Dabei assistieren die Ansprechpartner.<br />

Diese begleiten sie zu Polizei und Gericht, wenn es um Vergangenheitsbewältigung<br />

geht.<br />

Die PädagogInnen transportieren im Auto, Mann und Maus, Sofa und Mopedwrack.<br />

Sie sorgen sich um die Renovierung <strong>des</strong> häuslichen Elendsquartiers. Sie<br />

s<strong>in</strong>d manchmal auch nach der Schule für die Jugendlichen da. Sie geben sporadisch<br />

Kredit und spendieren mal was beim Bäcker oder an der Imbißbude. Sie<br />

wirken auf Eltern e<strong>in</strong> und verreisen mit den jungen Menschen.<br />

Und vieles mehr. Man muß als Jugendlicher nur kalkulieren – und bleibt auch<br />

<strong>des</strong>halb bei der Stange.<br />

4.Aber auch das ist es nicht ausschließlich.<br />

Das Projekt beantwortet ihre basalen existentiellen Grundanliegen (Wer braucht<br />

mich? Was kann ich? Wofür b<strong>in</strong> ich nützlich?) – und nicht zuletzt <strong>des</strong>halb wollen<br />

sie etwas von den Erwachsenen.<br />

– Sie haben Erfolge (statt Mißl<strong>in</strong>gen und Scheitern konstatieren zu müssen)!<br />

– Sie fühlen sich sicher (nicht bedroht).<br />

– Sie erfahren, daß sie den Lauf der D<strong>in</strong>ge bee<strong>in</strong>flussen können und wirksams<strong>in</strong>d,<br />

und zwar <strong>in</strong> ihren Kompetenzbereichen (nicht wirkungslos, ohnmächtig, verzichtbar:<br />

”unnütze Sauerstoffverbraucher”).


– Sie erleben sich als zugehörig (statt e<strong>in</strong>sam, randständig, isoliert) – die Gesamtgruppe<br />

fungiert fast analog zu e<strong>in</strong>er großen ”Zweitfamilie”, im besten S<strong>in</strong>n, d.<br />

h. überschaubar, dicht und doch mit Ausweich- und Wechselmöglichkeiten, kle<strong>in</strong>,<br />

stabil.<br />

– Vielleicht das an vorderster Stelle und damit jenseits von Magie, besonderem<br />

Können, Geheimnis: Das Projekt ist kle<strong>in</strong> und überschaubar, mit gutem Personalschlüssel<br />

ausgestattet. Es ist fast immer jemand für sie da.<br />

E<strong>in</strong>fach: Das Projekt macht ihnen, den Versagern von gestern, e<strong>in</strong> bißchen mehr<br />

Mut und Lust auf Leben.<br />

5. Dieses Vorhaben ist <strong>in</strong> den neuen Ländern angesiedelt. Ich will nicht behaupten,<br />

es wäre so <strong>in</strong> den alten Ländern nicht möglich. Aber ich will schildern, was ich als<br />

Produktivitätsfaktoren erlebt habe:<br />

– Schulaufsichtlich kaum bürokratische Nadelöhre und e<strong>in</strong>e Bereitschaft, Rechtsspielräume<br />

auszunutzen;<br />

– Multitalentierte Professionelle, die zwischen Angebotsbereichen wechseln können;<br />

– Mitarbeiter<strong>in</strong>nen und Mitarbeiter, die eher das Medium <strong>des</strong> Tuns favorisieren<br />

statt <strong>in</strong> sprachüberlastige Pädagogik zu verfallen;<br />

– Ke<strong>in</strong>e Bereichsrivalität, ke<strong>in</strong>e Kämpfe um Bedeutsamkeit zwischen Schul-, Sozialund<br />

Werkpädagogik;<br />

– Akzeptanz von unterschiedlichen Mentalitäten, Energien, Modalitäten im Kontakt<br />

zu den Jugendlichen; Konstruktivität im Nebene<strong>in</strong>ander verschiedener<br />

Beziehungsfähigkeiten;<br />

– Aufgaben- und Sachorientierung statt Dauerkreiseln um eigene Bef<strong>in</strong>dlichkeit<br />

und Beziehungsthemen;<br />

– Sehr langer Atem, dehnbare Geduldsfäden bei gleichzeitiger Bereitschaft, auch<br />

<strong>in</strong>struktiv und direktiv mit diesen Jungen zu arbeiten<br />

Echte Mißerfolge? Zwei durch uns forcierte Abbrüche von Jugendlichen, e<strong>in</strong>e<br />

große Enttäuschung, denn die Devise hieß: Ke<strong>in</strong>er darf verloren gehen. Allerd<strong>in</strong>gs,<br />

das Projekt hat sich dadurch entscheidend stabilisiert. Für drei, vier Jugendliche<br />

ersche<strong>in</strong>t der Schulabschluß fern. Viele, alle mühen sich – und manche kommen<br />

nur sehr langsam voran.<br />

Probleme <strong>des</strong> Unterrichts mit dieser Zielgruppe – das erstaunt nicht – s<strong>in</strong>d u. a.<br />

Sach- und Aufgabenbezug ohne Ausweichen, Kompensation und Ersatzhandlungen,<br />

das Durchhalten von längeren Arbeitssequenzen (Konzentration, Leistungsbereitschaft<br />

trotz Hürden etc.), die Steigerung der Niveaus (vom Konkreten zum<br />

Abstrakteren etc.).<br />

Die jungen Menschen ersche<strong>in</strong>en phasenweise kaum belastbar. Wie kle<strong>in</strong>schrittig<br />

und mühselig die Arbeit ist, und daß auch wir vor Stagnation und Enttäuschungen<br />

nicht gefeit s<strong>in</strong>d, möchte ich abschließend verdeutlichen. Aus dem<br />

Auswertungstagebuch <strong>des</strong> Sozialpädagogen bei der zwölftägigen erlebnispädagogischen<br />

Unternehmung im Sommer <strong>1995</strong> <strong>in</strong> Österreich, <strong>des</strong>sen Konsequenzen<br />

am Schluß man teilen mag oder auch nicht. “Schule <strong>des</strong> Lebens” “von unten”:<br />

„Es war den Jugendlichen aus der Schule <strong>des</strong> Lebens z. T. nicht möglich, sich<br />

regel- und erwartungsgerecht <strong>in</strong> Ordnungen zu fügen (Hausordnung, Dienste,<br />

43


44<br />

Küche). Rauchverbote, Alkoholkonsum, Nachtruhe waren ähnlich problematische<br />

Bereiche wie <strong>in</strong> anderen Jugendgruppen auch.(...)<br />

Es war schmerzlich mitanzusehen, wie unbeholfen, l<strong>in</strong>kisch sich e<strong>in</strong>ige Jugendliche<br />

<strong>in</strong> Anforderungssituationen verhielten. Trotz unserer <strong>in</strong>tensiven Vorbereitung:<br />

Nicht wenige behaupteten, sie hätten Abseilen, Sichern, E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>den <strong>in</strong>s Kletterzeug,<br />

Trapez, Seilbrücken noch nie gemacht. Ich war teilweise schockiert. Ursachen?<br />

Angst, ke<strong>in</strong>e Lust, zu ger<strong>in</strong>ges Selbstvertrauen... Sie wirken <strong>in</strong> der Er<strong>in</strong>nerung und<br />

Umsetzung kognitiv unbeweglich!(...)<br />

Zum Beispiel Thomas: War e<strong>in</strong>e echte Stütze. Er nahm bereitwillig alle übertragenen<br />

Aufgaben an. Er zieht <strong>in</strong>zwischen für sich genau und deutlich Grenzen, und<br />

das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er sozialverträglichen, offenen und ehrlichen, sich selbst gegenüber<br />

verkraftbaren Form. Fast unbemerkt übernahm er Führungsaufgaben, war bemüht<br />

zu helfen und auszugleichen. Unter Streß s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>erlei Überreaktionen zu verzeichnen,<br />

er ist ruhig und besonnen. Er konnte sich immer wieder mobilisieren<br />

und mobilisiert werden.<br />

Zum Beispiel Ronny: Er belastete die Gruppe und war e<strong>in</strong>e Last für sich selbst! Er<br />

lag bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten im Bett und schlief. Se<strong>in</strong><br />

Phlegma als Kompensationsstrategie für erlernte und körperliche manifeste Hilflosigkeit<br />

und Unbeweglichkeit lähmte se<strong>in</strong>e Kameraden. Er schien durch nichts<br />

berührbar. Soviel Gleichgültigkeit als Panzer habe ich selten gesehen. Logisch wurde<br />

er zum Blitzableiter.<br />

Zum Beispiel Marcel: Er tat immer das Notwendige; aber ihm e<strong>in</strong>e Äußerung zu<br />

entlocken, war schier unmöglich. Er gab ke<strong>in</strong>en Anlaß zur Kritik. Auf wohlgeme<strong>in</strong>te<br />

Aufmunterungen reagierte er nicht. Ich b<strong>in</strong> stundenlang h<strong>in</strong>ter ihm her gelaufen<br />

– und es ist mir nicht gelungen, mehr als vier Worte im Stück aus ihm herauszuzaubern.“<br />

Zum Beispiel David: Man kann ihn motivieren – und er ist leistungsfähig. Aber er<br />

kann Situationen kaum e<strong>in</strong>schätzen, ist nur auf sich bezogen, nimmt se<strong>in</strong>e Umgebung<br />

kaum wahr. Er macht, was ihm e<strong>in</strong>fällt, ohne Konsequenzen zu bedenken. Er<br />

reagiert plötzlich, unerwartet, zeigt aktionistische Zerstörungswut. Er verweigert<br />

Flüssigkeitsaufnahme bei drohendem Hitzschlag; er latscht durch abrutschgefährdete<br />

Eisfelder, obwohl auch noch andere am Seil hängen; er tritt aus Frust<br />

gegen Ste<strong>in</strong>e, die dann auf unter ihm laufende Jugendliche fallen können. Er tritt<br />

die Tür zur Gasversorgung im Haus e<strong>in</strong>, wenn er sich ärgert. Er klaut. Ansonsten<br />

ersche<strong>in</strong>t er k<strong>in</strong>dlich, scheffelt bei den Erwachsenen damit Rührung und demzufolge<br />

Hilfsbereitschaft. Wenn man ihn <strong>in</strong> Reichweite hat, geht es. Und wenn er e<strong>in</strong><br />

für sich lohnen<strong>des</strong> Ziel sieht – selten e<strong>in</strong>es, das wir mit ihm teilen –, dann zieht er<br />

los wie e<strong>in</strong>e Dampflok, ist nicht zu halten.“<br />

Dieser Jugendliche ist prototypisch für e<strong>in</strong>e Teilklientel, die uns zunehmend ratlos<br />

macht. Ich zitiere s<strong>in</strong>ngemäß dazu zwei Stimmen aus der Jugendhilfeszene:<br />

„Das Problem ist, daß die K<strong>in</strong>der und Jugendlichen zunächst nicht den E<strong>in</strong>druck<br />

machen, als wäre bei ihnen etwas nicht <strong>in</strong> Ordnung. Du denkst: „Die s<strong>in</strong>d gut drauf“.<br />

Die Probleme s<strong>in</strong>d anfangs h<strong>in</strong>ter der Fassade aus Willigkeitspose, Sche<strong>in</strong>kompetenz,<br />

E<strong>in</strong>sichtsattitüde versteckt. Wie kann man das nennen, was bei denen<br />

los ist? Irgendetwas ist mit dem oder der. Aber was? Der schlägt auf andere e<strong>in</strong>.<br />

Der tut sich was an. Das passiert be<strong>in</strong>ahe gleichzeitig. Aber du kannst nicht sagen,<br />

was war der Impuls. Das kommt alles sche<strong>in</strong>bar ohne S<strong>in</strong>n und Ziel. Du merkst


zwar, daß der mal depressiv ist oder zwanghaft oder fahnenflüchtig oder ungeordnet.<br />

Und dann sche<strong>in</strong>t der oder die wieder ganz klar. Und plötzlich, ganz unerwartet,<br />

da bricht alles zusammen. Da kommt die ganze Labilität zum Vorsche<strong>in</strong> und<br />

die Strukturlosigkeit, die Angst. Also, das bricht aus denen heraus, ohne daß da<br />

e<strong>in</strong> Grund erkennbar wäre.“<br />

„Und der Jugendliche antwortet überhaupt nicht auf das, was du ihm sagst, ihm<br />

durch Verhalten, Impulse vorsetzt, sondern reagiert auf Assoziationen, die sich<br />

aus se<strong>in</strong>em mehr oder weniger diffusen Innenleben entwickeln, aus Phantasie und<br />

Träumen, Bildern aus Filmen und gepumpten Szenen, aus erlittenen Kränkungen<br />

und frühen Traumata. Ich kann überhaupt nicht erkennen, wieso der mir mit diesem<br />

Verhalten begegnet. Und es ist ke<strong>in</strong> „Meta“ möglich, du kannst das nicht<br />

thematisieren, besprechen, durcharbeiten. Schon überhaupt nicht <strong>in</strong> der Akutsituation<br />

und auch nicht etwas oder sehr viel später danach. Du rennst dann gegen<br />

Beton“<br />

Zurück zur Reise: „Insgesamt war ich enttäuscht: Sie können und/oder wollen<br />

nicht zuhören. Ich erlebe sie nicht als belastbar, und ich vermißte Ehrgeiz. Me<strong>in</strong>e<br />

Schlußfolgerungen für unsere Arbeit im zweiten Jahr:<br />

– Situationen diversifizieren, zergliedern, <strong>in</strong>dividualisieren und differenzieren. Und<br />

dann Sackgassen und Knoten festhalten, wahrnehmen lassen und als Dilemmata<br />

erlebbar machen. Verschiedenartige Anforderungssituationen müssen Lösungsstrategien<br />

sachlogisch erfordern. Ich empfehle: Situationen immer wieder besprechen,<br />

jeden E<strong>in</strong>zelnen se<strong>in</strong> Verhalten überprüfen lassen.<br />

– Überraschungen schaffen. Aber dann kommt es auf die E<strong>in</strong>hilfen an.<br />

– Körperliche und geistige Kondition und Beweglichkeit tra<strong>in</strong>ieren.<br />

– Subjektive Haltungen wachsen lassen und festigen: „Selbstwertgefühl („Ich kann<br />

das!“); Wille („Ich will das! Ich brauche das!“). Entschuldigung: Sie müssen mehr<br />

leiden, <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>n „Wenn ich das und das will, dann stört mich jenes nicht<br />

entscheidend, dann ertrage ich dieses oder jenes.“ Sie müssen mehr von sich<br />

verlangen, weil sie mehr könn(t)en.<br />

– Sie müssen ihre Körper positiv erleben: „Ich habe Kraft. Ich habe <strong>in</strong> mir e<strong>in</strong> wunderbares<br />

Instrument. Me<strong>in</strong>e Füße s<strong>in</strong>d nicht nur dazu da, um Gas zu geben oder<br />

Pedale zu treten. Me<strong>in</strong>e Hände können viel mehr, als e<strong>in</strong>e Zigarette zu halten.<br />

Me<strong>in</strong> Körper empf<strong>in</strong>det mit mir Freude und Qualen. Und nicht zuletzt: Ich muß<br />

auf mich aufpassen.“<br />

– Team: „Es gibt jemanden, mit dem ich zusammenarbeite. Er ist auf mich, ich b<strong>in</strong><br />

auf ihn verwiesen. Er hilft mir, wenn ich bereit b<strong>in</strong>, ihm zu helfen.“<br />

Bilanz<br />

In der ”Schule <strong>des</strong> Lebens” wird exemplarisch nachgewiesen, daß der KJHG–Katalog<br />

der Hilfen zur Erziehung ke<strong>in</strong>e abgeschlossene Aufzählung be<strong>in</strong>haltet, sondern<br />

tragfähige Alternativen zur Heimerziehung auch und gerade durch Grenzüberschreitungen<br />

möglich s<strong>in</strong>d.<br />

Für die Jugendhilfe s<strong>in</strong>d wir e<strong>in</strong> Geschenk <strong>des</strong> Himmels. Die E<strong>in</strong>mischungsstrategie<br />

<strong>in</strong> den Bildungsbereich gelang, Ressourcenbündelung führt zu vertretbaren Ko-<br />

45


46<br />

sten, das Angebot hat fachliche Qualität, es wirkt und ist jugendhilfepolitisch <strong>in</strong>novativ.<br />

Ausstiegskanäle verbreitern oder eng halten – das ist die grundsätzliche Frage!<br />

Bildungspolitik und -verwaltung mögen nicht daran denken, e<strong>in</strong>e größere Zahl dieser<br />

Schulen besonderer Prägung zu erlauben. Auch, nicht nur, weil dies kaum kostenneutral<br />

wäre. Schule tut sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie mit ihrem monopolartigen Alle<strong>in</strong>vertretungsanspruch<br />

schwer. Sie mag Schulpflicht nicht auch als Unterrichts- und<br />

Lernpflicht zu denken, die an anderen Lernorten mit spezifischen Akzenten absolviert<br />

werden könnte. Handlungsalternativen <strong>in</strong>nerhalb <strong>des</strong> Regelsystems haben<br />

Vorrang! Ich behaupte jedoch, daß manifeste Schulverweigerer ab 15 Jahren nur<br />

ausnahmsweise “rückführbar” s<strong>in</strong>d. Und ich behaupte weiter, daß für e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

M<strong>in</strong>derheit auch reformierte Schulen qualvolle Mißerfolgsterra<strong>in</strong>s se<strong>in</strong> können und<br />

werden. Sie nicht alle<strong>in</strong> zu lassen, ihnen Brücken h<strong>in</strong> zu anderen Arten von Lernen<br />

auch schon im Rahmen ihrer Schulpflicht zu bauen und sie dabei zunächst als Kundschaft<br />

von Schule und erst sekundär von Jugendhilfe zu betrachten, muß politisch<br />

offensichtlich noch durchgesetzt werden. Es ist schlicht absurd, daß Jugendhilfe<br />

und nicht Schule selbst das Thema der Schulmüdigkeit offensiv und selbstreflexiv<br />

– statt <strong>in</strong>dividualisierend und schuldzuschreibend an die Adresse der unwilligen<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendlichen - <strong>in</strong> die Fachdebatte und Öffentlichkeit lanciert. Attraktive<br />

Schule mit (Teil)Erfolgen für alle ist e<strong>in</strong> Auftrag an Bildung, nicht für die Jugendhilfe!<br />

E<strong>in</strong>e organisierte Wahrnehmung und Bearbeitung von Schulmüdigkeit als<br />

Manifestation e<strong>in</strong>er Krise <strong>des</strong> Systems und e<strong>in</strong>er Krise von und bei Schüler<strong>in</strong>nen<br />

und Schülern existiert bisher nicht!<br />

Richtig bleibt aber, daß sich je<strong>des</strong> Sondersystem neue, nicht ungefährliche Bedarfe<br />

kreiert: <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong> vorhandenes Angebote potentiell unbegrenzbare Nachfrage<br />

schafft und Abschieben, Ausgrenzen, Ausweichen und Aufgeben <strong>in</strong> Normalkontexten<br />

befördert. Primär bleibt, Regelschule zu stärken. Wer belohnt Schulen,<br />

die ke<strong>in</strong>e „drop outs“ produzieren?<br />

Dreh- und Angelpunkt aus unserer Sicht ist e<strong>in</strong>e harte Selbstevaluierung <strong>des</strong> eigenen<br />

Vorgehens. Werden postulierte Ziele erreicht? Mit welchen Mitteln und auf<br />

welchen Wegen? Was s<strong>in</strong>d Nebeneffekte? Und: Ergibt sich e<strong>in</strong>e langfristige Stabilisierung<br />

und Integration der Jugendlichen (Deliktbereich; Erwerbsleben, trotz der<br />

Reservearmee der Viermillionen; Beziehungsfähigkeit) auch nach Verlassen <strong>des</strong><br />

Projektes? Hier werden wir unsere Jugendlichen mittelfristig im Auge behalten,<br />

um gegenüber F<strong>in</strong>anziers und Fachöffentlichkeit fundiert über die Wirksamkeit,<br />

Nichtwirksamkeit bzw. beschränkte Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können.<br />

Für die Zukunft dieses Modells wird – neben der Notwendigkeit e<strong>in</strong>es gel<strong>in</strong>genden<br />

zweiten Jahres im laufenden Durchgang und der Wiederholbarkeit der Erfolge<br />

im zweiten zweijährigen Durchgang – entscheidend se<strong>in</strong>, ob der<br />

Bildungssektor <strong>in</strong> diesem Schulversuch nur e<strong>in</strong> Ventil sieht, das Druckablaß ermöglicht<br />

und letztlich nur suggerieren will, neue Lernangebote für diese Zielgruppe zu<br />

unterbreiten. Dann würde man nach vier Jahren für die geleistete Arbeit und wertvolle<br />

Erkenntnisse danken, ohne zweifellos brisante bildungspolitische und<br />

schulpädagagogische Folgedebatten <strong>in</strong> Kauf zu nehmen. Man würde an Regelschule<br />

appellieren, sich zu qualifizieren (dieser zentrale Tagesordnungspunkt hat zurecht<br />

höchste Priorität!) – und (zu spät und nicht im adressatengerechten Design) auf<br />

Leistungen der Jugendberufshilfe setzen bzw. Schulsozialarbeit mit dem Verweis


auf diese ”Problemschüler” <strong>in</strong> die Spur zu br<strong>in</strong>gen versuchen. E<strong>in</strong>e solche denkbare<br />

Entscheidung läßt sich derzeit zwar nicht absehen, kann aber nicht ausgeschlossen<br />

werden. Sie wäre dann jedoch – e<strong>in</strong>e Konsolidierung <strong>des</strong> Erreichten vorausgesetzt<br />

– nicht dem Verlauf und den bisherigen, vorläufigen Ergebnissen <strong>des</strong><br />

Modellversuchs zuzurechnen.<br />

Literatur:<br />

Daschner, P. u. a.: Schulautonomie – Chancen und Grenzen. We<strong>in</strong>heim und München<br />

<strong>1995</strong><br />

Dietrich, P./Institut für angewandte Familien, K<strong>in</strong>dheits- und Jugendforschung e.V.<br />

an der Universität Potsdam: Schulverweigerung von Jugendlichen <strong>in</strong> Brandenburg.<br />

Potsdam 1993<br />

Thiersch, H.: Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. We<strong>in</strong>heim und München <strong>1995</strong><br />

(2. Auflage)<br />

Thimm, K.: Risiko – Jugend <strong>in</strong> der Großstadt. In: Unsere Jugend 11/<strong>1995</strong><br />

Anhang<br />

Phänomene und Ursachen von Schulverweigerung<br />

Folgende ursächlichen Faktoren können für Schulverweigerung, Schulflucht Bedeutung<br />

erlangen, wobei die <strong>in</strong> dem Projekt „Schule <strong>des</strong> Lebens“ deutlich markierbaren<br />

zentralen Wirkfaktoren fett gedruckt bzw. gesondert <strong>in</strong> Klammern numeriert<br />

werden:<br />

Schulische Bed<strong>in</strong>gungen (a)<br />

1. S<strong>in</strong>n von Schule <strong>in</strong> ihrer organisatorisch–strukturellen Verfaßtheit für diesen Jugendlichen<br />

(Bündelfaktor, <strong>in</strong> der Listung der Schule <strong>des</strong> Lebens Faktor 1)<br />

2. Probleme im Zusammenhang mit der Lehrerpersönlichkeit<br />

– Akzeptanz, Glaubwürdigkeit<br />

– Verständnis für Jugendliche<br />

– Hilfsbereitschaft<br />

– Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n<br />

– Führungsstil, Verhalten <strong>in</strong> Machtkämpfen (Faktor 4)<br />

3. Haltung gegenüber Schulverweigerung bzw. SchulverweigerInnen (Faktor 5, z.<br />

T. überlappend mit Verständnis und Gerechtigkeitss<strong>in</strong>n)<br />

47


48<br />

4. Unterrichtsqualität<br />

– Fachkompetenz<br />

– Didaktisch–methodische Organisation von Unterricht<br />

– Motivation, Anregungsgehalt, Spannung<br />

– E<strong>in</strong>beziehung von SchülerInnenwünschen/-<strong>in</strong>teressen<br />

– Tempo der Stoffbearbeitung (Faktor 2)<br />

– E<strong>in</strong>hilfen für Lernschwächere (Faktor 2/identisch mit Hilfsbereitschaft aus dem<br />

Faktorenbündel „Lehrerpersönlichkeit“)<br />

5. Überalterung, dadurch <strong>in</strong>adäquate psychosoziale Entwicklungskontexte<br />

(Faktor 3)<br />

6. Leistungsstand und -zufriedenheit bzw. Umgang der SchülerInnen mit Defiziten<br />

(progressiv/regressiv) (Faktor 2)<br />

7. Angst <strong>in</strong> der Schule als Angst vor Schule<br />

– Angst vor Blamage durch Lehrkräfte (Faktor 6)<br />

– Angst vor Leistungsversagen (Faktor 6)<br />

– Generelle Schulangst<br />

Schulische Bed<strong>in</strong>gungen/SchülerInnenseite (b)<br />

8. Soziale Beziehungen der SchülerInnen<br />

– Klima <strong>in</strong> der Klasse<br />

– Normen <strong>in</strong> der Lerngruppe: Akzeptanz von Leistung, Integration, Rebellion etc.<br />

– Untergruppenzugehörigkeit bzw. (Selbst)Ausgrenzung/Isolation/Demütigung<br />

durch andere Schüler<br />

(Faktor 9)<br />

– Opfer von Gewalt (Faktor 7)<br />

Schulexterne Bed<strong>in</strong>gungen<br />

9. Soziale Peerbeziehungen<br />

– Abweichen<strong>des</strong> Verhalten als Cliquennorm (Faktor 8)<br />

– Modelle von Schulverweigerung <strong>in</strong> Gleichaltrigenkontexten (Faktor 8)<br />

10. Familiale Faktoren (Faktor 10)<br />

– Schulaversion der Eltern durch ungelöste Aktualkonflikte mit Lehrkräften und<br />

Übertragung/Projektion bzw.<br />

„Infektion“<br />

– Schulbiographisches eigenes Scheitern<br />

– Kontakt- und Funktionsverlust als Ansprechpartner<br />

– Indifferenz als Reaktionsform im Rahmen der gescheiterten Eltern – K<strong>in</strong>d – Beziehung<br />

– Symbiotische Verstrickung, Hilflosigkeit


Biographische Faktoren<br />

11. Persönlichkeitsfaktoren, psychische Defizite bzw. Mangel an sozialen Strategien<br />

(Faktor 12)<br />

– Planungsfähigkeiten, Zukunftsperspektivität<br />

– Leistungsmotivation<br />

– Kontrollfähigkeiten<br />

– Selbstdiszipl<strong>in</strong>ierungs-, E<strong>in</strong>ordnungsbereitschaft<br />

12. Störeridentität (Faktor 11)<br />

Sonstiges<br />

13. Häufige Schulwechsel<br />

Zum Projekt Schule <strong>des</strong> Lebens und ersten Evaluierungsergebnissen<br />

Schulkritisch markierten die Jugendlichen selbst <strong>in</strong> Interviews <strong>in</strong> je unterschiedlicher<br />

Gewichtung und Komb<strong>in</strong>ation folgende Belastungsposten:<br />

– Zu große Klassen und zu große Schulen<br />

– Künstlichkeit von Lehren und Lernen: sie mochten sich nicht „ausquetschen“<br />

und belehren lassen (auch,<br />

nicht nur, weil sie dabei schlecht abschnitten)<br />

– Abstrakte und im S<strong>in</strong>n nicht nachvollziehbare Lern<strong>in</strong>halte <strong>in</strong> Fächerzergliederung<br />

– Hoher Selektionsstreß, ständiger Bewertungsdruck: Beurteilung be<strong>in</strong>haltete für<br />

sie Entwertung, Beschämung<br />

und Blamage<br />

– Exkommunikation von Lebensproblemen; Verständnisarmut gegenüber Jugendlichen<br />

– Lernniederlagen ohne E<strong>in</strong>hilfen<br />

– Bedürfnis-, Lustferne: ihre Talente waren un<strong>in</strong>teressant, nicht gefragt; <strong>in</strong> der „Dr<strong>in</strong>nen“–Schule<br />

kam ihr<br />

”wirkliches Leben“ nicht vor; symbolische bzw. verbale Niveaus dom<strong>in</strong>ierten die<br />

Orientierung an praktischen<br />

Erfahrungen<br />

– Angst vor Mitschülern<br />

– Sture und humorlose LehrerInnen: Autoritätskonflikte degenerierten zu Machtkämpfen<br />

nach dem Gew<strong>in</strong>ner<br />

– Besiegten–Pr<strong>in</strong>zip.<br />

Wir selbst versuchten, Schulflucht systematisch zu verstehen. Vorweg: Erleben<br />

Jugendliche das Schwänzen subjektiv als s<strong>in</strong>nvoll und lohnend, spannungsmildernd,<br />

statussteigernd, erfolgreich h<strong>in</strong>sichtlich von Angstbewältigung etc., kann aus<br />

Schwänzen Verweigerung werden. Geschlechtsspezifisch gilt: Jungen machen „statt<br />

Schule“ <strong>in</strong> der Regel subjektiv befriedigendere Erfahrungen im öffentlichen Raum<br />

als Mädchen. Nicht zuletzt <strong>des</strong>halb s<strong>in</strong>d sie stärker vertreten. Doch e<strong>in</strong>e weitere<br />

49


50<br />

Differenzierung <strong>des</strong> Phänomens Schulverweigerung ist unverzichtbar. E<strong>in</strong>e<br />

ursachenbezogene Typologie umfaßt folgende Dimensionen:<br />

1) Schulverweigerung als Schulproblem: S<strong>in</strong>n und Attraktion im jenseitigen Milieu<br />

2) Schulverweigerung als Leistungsproblematik („zuviel, zuviele, zu schnell...”),<br />

als Phänomen im Kontext von (Teil)Leistungsschwächen<br />

3) Schulverweigerung als Symptom von Überalterung (”1,85 m groß, 16 Jahre, zum<br />

dritten Mal <strong>in</strong> der 7. Klasse”...)<br />

4) Schulverweigerung als Problem der mißl<strong>in</strong>genden Bewältigung von Belastungen<br />

im Kontext von Autoritätsproblematik und Machtkampf mit Lehrkräften<br />

(auch Übertragung bzw. Resonanzphänomene aus der familialen Sozialisation)<br />

5) Schulverweigerung als Übernahme von Lehrerwünschen, ”er möge doch weg<br />

se<strong>in</strong>”<br />

6) Schulverweigerung als Angstsyndrom, als Folge von z. T. sehr subtiler Demütigung<br />

und Blamage durch Lehrkräfte<br />

7) Schulverweigerung als Resultante der Bedrohung und Repression durch Gleichaltrige/Schüler<br />

8) Schulverweigerung als Konsequenz von cliquenbezogenen Zugehörigkeitswünschen,<br />

als freundschaftlicher Loyalitätsbeweis, Bed<strong>in</strong>gung und Ausdruck von<br />

Kohäsion <strong>in</strong> Gruppen, mit der Funktion <strong>des</strong> Statusgew<strong>in</strong>ns <strong>in</strong> „Outlaw“–Kreisen<br />

9) Schulverweigerung als Folge der Unbeliebtheit bei Peers, als Indiz für und Folge<br />

von E<strong>in</strong>samkeit, Isolation, Freundschaftsdefizit, Randständigkeit <strong>in</strong> der Klassengeme<strong>in</strong>schaft<br />

10) Schulverweigerung als Familienproblematik, zentriert um die Themen Orientierung<br />

– Kontrolle – Unterstützung – Ablösungskampf / Autonomiebeweis –<br />

Rache; Tendenzen: Symbiotisch–hilflose Mütter – abwesende bzw. unempathische<br />

Väter. Z. T. Übernahme elterlicher Schulaversion, motiviert <strong>in</strong> deren<br />

Streit mit Lehrkräften oder eigene, elterliche schulische Abbrüche<br />

Dazu kommen <strong>in</strong> der Schule <strong>des</strong> Lebens zwei ursächliche Scheiternskomplexe,<br />

die <strong>in</strong> der ”Identität als Störer” begründet liegen bzw. sich als erhebliche psychische<br />

Defizite <strong>in</strong> den Bereichen der Steuerung, Kontrolle, Planungskompetenzen<br />

etc. zeigen.<br />

Insgesamt standen und stehen bei diesen Jugendlichen <strong>in</strong> besonderer Ausprägung<br />

Lebens- vor Lernfragen. Ohne Anklage: Die regulären Fragen von Schule s<strong>in</strong>d<br />

weniger: „Wie können wir zu e<strong>in</strong>er für beide befriedigenden Beziehung kommen?“<br />

und „Was <strong>in</strong>teressiert dich wirklich?“, sondern: „Wie bekomme ich jemanden umstandslos<br />

dazu, das reproduzieren zu wollen, was sie/er soll?“.<br />

Mehr denn andere erlebten diese Jugendlichen subjektiv: „Man lernt, Antworten<br />

dahersagen, auf Erwartungen, <strong>in</strong> Bezug auf Probleme, Fragen, die man nicht<br />

kennt und die man ohne Schule nicht hätte.“ (H. von Hentig) Gerade autonomiebedürftige<br />

Jugendliche – aus welcher Wurzel auch angetrieben – verachten Schule,<br />

so unsere Erfahrungen aus Interviews, für „Gefangenschaft“, Zeitraub, Pseudokommunikation.<br />

Gemäß unserer Beobachtungen und Deutungen bedeutet gerade<br />

für den aktionistischen Störertyp ihr „Ich mache, was ich will“ zunächst nur: „Ich


mache nicht, was du willst!“ bzw. ”Ich mache nur, was ich kann!”. Sie haben <strong>in</strong> der<br />

Regel sensible Empf<strong>in</strong>dungskanäle dafür, was ihre Würde und Selbstachtung verletzt.<br />

Nach unseren Feldstudien lassen sich grob folgende Typen differenzieren:<br />

– Lernverstörte bzw. -demotivierte Jugendliche im Zirkel von Scheitern –<br />

Unfähigkeitserleben – Angst – Vermeidung – Scheitern – Ersatzbefriedigung etc.,<br />

die „eigentlich willig“ s<strong>in</strong>d, jedoch nicht „mitkamen“, resignierten, durch ”Sitzenbleiben”<br />

neben dem Stigma auch noch über altersunangemessene<br />

Gleichaltrigenbezüge quittierten (”Schulproblem”);<br />

– Soziale Norm- und Regelverletzer bzw. sozialstrategisch Erfolglose – auftretend<br />

als Mitglieder <strong>in</strong> Cliquen mit abweichenden Verhaltenstrends oder als E<strong>in</strong>zelgänger<br />

–, deren „Heimat außer der Reihe ist“, auf Grund von erfahrener Willkür,<br />

Destruktivität bzw. Orientierungslosigkeit u.a. als lebensgeschichtliche Themen<br />

(”biographische Probleme”);<br />

– Lebensgeschichtlich weniger benachteiligte Jugendliche mit Autoritätsthematiken,<br />

die stärker als andere den alterstypischen Kampf gegen Bevormundung<br />

führen und Lehrerhandeln schnell als <strong>in</strong>tolerablen E<strong>in</strong>griff <strong>in</strong> persönliche<br />

Entscheidungs- und Handlungsspielräume erleben bzw. die sich nicht/schlecht<br />

anpassen können oder wollen (”Kompetenz- und Interaktionsproblem”).<br />

51


Schulverweigerung und dann?<br />

Zum Erziehungsauftrag der Schule<br />

Ulrich Thünken<br />

(M<strong>in</strong>isterium für Schule und Weiterbildung NRW)<br />

Die Schulpflicht ist e<strong>in</strong>e historische Errungenschaft, die z. B. im Lande Preußen<br />

1717 e<strong>in</strong>geführt wurde. Im geschichtlichen Kontext be<strong>in</strong>haltete sie eigentlich nicht<br />

e<strong>in</strong>e Anforderung an die Jugendlichen, sondern verpflichtete die Erwachsenen,<br />

Jugendlichen den Schulbesuch zu ermöglichen. In e<strong>in</strong>er Zeit, <strong>in</strong> der K<strong>in</strong>der und<br />

Jugendliche regelmäßig zur Erwerbsarbeit herangezogen wurden, war e<strong>in</strong>e Vorschrift<br />

zum Schutz der Jugend.<br />

Soviel zur Vergangenheit. Heute gibt es Probleme mit der Schulpflicht.<br />

Doch zunächst e<strong>in</strong>ige Gedanken zum Bildungsauftrag der Schule:<br />

1. Die Schule erhält ihren Auftrag, K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu bilden, von der Gesellschaft.<br />

Sie soll u. a. Wissen vermitteln, zu verantwortlichen E<strong>in</strong>stellungen<br />

und Werthaltungen erziehen, zur praktischen Bewältigung <strong>in</strong>dividueller Lebenslagen<br />

h<strong>in</strong>führen. Die Anforderungen der Gesellschaft s<strong>in</strong>d allerd<strong>in</strong>gs sehr vielfältig:<br />

Kaum e<strong>in</strong> Tag vergeht, ohne daß e<strong>in</strong> Interessenverband an das M<strong>in</strong>isterium<br />

für Schule und Weiterbildung se<strong>in</strong>e Forderung nach e<strong>in</strong>er verstärkten Berücksichtigung<br />

der eigenen Belange durch die Schule anmeldet. Kurz: Anforderungen<br />

an die Schule aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen s<strong>in</strong>d so vielfältig,<br />

daß die Schule sie ke<strong>in</strong>esfalls gleichzeitig erfüllen kann.<br />

2.Die Gesellschaft gibt der Schule den speziellen Auftrag, Berechtigungen zu vergeben.<br />

Die Schule entscheidet darüber, welche<br />

Schulabschlüsse der e<strong>in</strong>zelne Jugendliche erreicht<br />

und welche Berufszugänge ihm damit offenstehen.<br />

Damit wird der Schule - ob sie es will oder nicht -<br />

e<strong>in</strong>e Selektionsfunktion zugewiesen: Sie muß Jugendlichen<br />

bestimmte Bildungsgänge verschließen,<br />

wegen Leistungsmängeln Klassen wiederholen lassen,<br />

Versagen dokumentieren und als Folge solchen<br />

Versagens Berufsmöglichkeiten beschneiden.<br />

Natürlich fordert die Gesellschaft neben dieser<br />

Selektionsfunktion auch Integration von der Schule:<br />

Sie erwartet, daß K<strong>in</strong>der und Jugendliche zu<br />

Klassengeme<strong>in</strong>schaften zusammengeführt werden,<br />

daß solidarisches Verhalten e<strong>in</strong>geübt wird, daß<br />

Randgruppen und Benachteiligte über die Schule<br />

<strong>in</strong> die Gesellschaft <strong>in</strong>tegriert werden. Diese widersprüchlichen<br />

Rollen von Schule machen es der Schule<br />

als System und auch vielen Lehrer<strong>in</strong>nen und Lehrern<br />

nicht leicht, wirklich pädagogisch und als<br />

Anwälte der K<strong>in</strong>der und Jugendlichen zu handeln.<br />

53


54<br />

3.Wie wird die Schule von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen selbst gesehen?<br />

Von den Schüler<strong>in</strong>nen und Schülern wird heute mehr denn je an die Schule der<br />

Anspruch gestellt, Lebensraum zu se<strong>in</strong>. In Familien, <strong>in</strong> denen nur wenige Begegnungen<br />

mit anderen K<strong>in</strong>dern möglich s<strong>in</strong>d, die durch Medienkonsum und oft<br />

mangelhaft ausgeprägte Kommunikation gekennzeichnet s<strong>in</strong>d, wird für die Jugendlichen<br />

die Schule als Begegnungsraum mit Gleichaltrigen immer wichtiger.<br />

Nach e<strong>in</strong>er Befragung von Kölner Schülern durch andere Schüler ihrer Schule<br />

geben etwa 50 % an, sich <strong>in</strong> der Schule sehr oder meistens wohl zu fühlen, 42 %<br />

antworten mit mal ja, mal ne<strong>in</strong> und nur 8 % fühlen sich häufiger nicht oder gar<br />

nicht wohl <strong>in</strong> der Schule. Analysiert man die Untersuchungsergebnisse näher, so<br />

zeigt sich, daß dieses Wohlbef<strong>in</strong>den hauptsächlich auf außerunterrichtlichen Begegnungen<br />

beruht. Fachliches Lernen ist zwar aus Sicht der Schüler wichtig, wird<br />

aber nicht une<strong>in</strong>geschränkt als positiv gesehen. In der Befragung gaben <strong>in</strong>sbesondere<br />

die jüngeren Schüler an, daß sie lieber längere Pausen hätten und damit längere<br />

Zeit <strong>in</strong> der Schule verbr<strong>in</strong>gen möchten.<br />

Eigentlich, so kann man jedenfalls dieser Schüleruntersuchung entnehmen, hat<br />

die Schule gute Chancen, bei K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen Akzeptanz zu f<strong>in</strong>den. Trotzdem<br />

wird sie <strong>in</strong> ihren Methoden und Organisationsformen als erneuerungsbedürftig<br />

empfunden. So würden z. B. sehr viele Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler anstelle von<br />

frontalen Unterrichtsmethoden und Lehrervorträgen lieber selbst aktiv werden,<br />

mit Mitschüler<strong>in</strong>nen und Mitschülern zusammenarbeiten und stärker an <strong>in</strong>nerschulischen<br />

Entscheidungen sowohl im fachlichen Bereich als auch beim Leben <strong>in</strong><br />

der Schule beteiligt werden. Sicher e<strong>in</strong> Appell an die Schule, sich zu ändern!<br />

Wenn ich nun vor diesem H<strong>in</strong>tergrund der Aufgaben von Schule heute zum Problem<br />

der Schulverweigerer, der Jugendlichen, die von Schule nicht mehr erreicht<br />

werden, komme, so möchte ich hierzu e<strong>in</strong>ige Thesen formulieren.<br />

1. Schulversagen ist <strong>in</strong>sgesamt eher seltener geworden, im E<strong>in</strong>zelfall für den betroffenen<br />

Jugendlichen aber viel massiver und folgenreicher.<br />

Heute verlassen <strong>in</strong> Nordrhe<strong>in</strong>-Westfalen nur noch etwa 6 % der Schüler e<strong>in</strong>es<br />

Jahrgangs die allgeme<strong>in</strong>bildende Schule ohne e<strong>in</strong>en Schulabschluß. Diese Quote<br />

ist ständig gesunken, noch vor 20 Jahren war sie mehr als doppelt so hoch. Für die<br />

Jugendlichen, die am Ende ihrer Pflichtschulzeit ke<strong>in</strong>en Schulabschluß erreichen,<br />

weil ihre Leistungen nicht ausreichten oder weil sie den Schulbesuch ohneh<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

den letzten Jahren versäumt hatten, s<strong>in</strong>d jedoch die Chancen, e<strong>in</strong>en Arbeitsplatz<br />

zu f<strong>in</strong>den und damit dauerhaft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen,<br />

drastisch gesunken.<br />

E<strong>in</strong>fache Arbeitsplätze, die ke<strong>in</strong>e qualifizierte Ausbildung erfordern, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong>folge<br />

der technischen und wirtschaftlichen Entwicklung so drastisch reduziert worden,<br />

daß für viele leistungsgem<strong>in</strong>derte Jugendliche kaum e<strong>in</strong>e reale Chance besteht,<br />

sich mit e<strong>in</strong>igermaßen stabilen Aussichten <strong>in</strong>s Arbeitsleben zu <strong>in</strong>tegrieren. H<strong>in</strong>zu<br />

kommt, daß z. Zt. auch Jugendliche mit guten Schulabschlüssen auf dem engen<br />

Ausbildungsstellenmarkt unter erheblichen Druck geraten und leistungsgem<strong>in</strong>derte<br />

Jugendliche an den Rand drängen.<br />

2.„Schulschwänzen“ hat <strong>in</strong> den massiven Fällen, von denen hier die Rede ist, selten<br />

die Ursache <strong>in</strong> der Schule, die Schule verstärkt jedoch häufig die negative<br />

Entwicklung.


Der Jugendliche, der wegen fehlender Unterstützung <strong>des</strong> Elternhauses Schulunterricht<br />

versäumt, gerät leicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Spirale <strong>des</strong> Mißerfolgs: Durch versäumten<br />

Unterricht bleibt positive Bestätigung aus, Schule wird mißerfolgsbesetzt, Ausweichen<br />

davor führt zu e<strong>in</strong>er Massierung von weiteren Schulproblemen. Aufmerksamkeit<br />

<strong>in</strong> der Schule können solche Jugendlichen hauptsächlich durch Störungen erreichen,<br />

diese wiederum verstärken den Negativtrend. Durch daraus folgen<strong>des</strong><br />

Sitzenbleiben wird dem Jugendlichen die Bezugsgruppe, die vielleicht den Schulbesuch<br />

noch attraktiv machte, entzogen, die Spirale dreht sich weiter. Es liegt auf<br />

der Hand, daß e<strong>in</strong>e solche Entwicklung vom Jugendlichen alle<strong>in</strong>, wenn sie denn<br />

e<strong>in</strong>mal massiv e<strong>in</strong>gesetzt hat, schwer zu durchbrechen ist. Wenn Elternhaus und<br />

Schule ke<strong>in</strong>e geeignete Interventionsmöglichkeit f<strong>in</strong>den, ist das Desaster vorprogrammiert.<br />

3.Schule ist als System nicht drauf angelegt, ihre Ressourcen auf die Drop-Outs zu<br />

konzentrieren. Leider erhält sie hierzu auch ke<strong>in</strong>e gesellschaftlichen Anreizsysteme.<br />

Nach wie vor wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er breiten Öffentlichkeit eher die Schule als e<strong>in</strong>e gute<br />

Schule angesehen, die gute Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler hat. E<strong>in</strong>e Schule, der es gel<strong>in</strong>gt,<br />

K<strong>in</strong>der und Jugendliche aus besonderen Problemsituationen herauszuführen<br />

und ihnen Unterstützung zu geben, f<strong>in</strong>det <strong>in</strong> der Öffentlichkeit kaum Resonanz.<br />

Sie muß sich dagegen häufig noch den Vorwurf gefallen lassen, daß sie schwierige<br />

Schüler habe, daß Gewalt und Krim<strong>in</strong>alität an der Tagesordnung seien, daß ihre<br />

Schüler weniger leisteten als andere o. ä. Diese Wahrnehmung kann man bis <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>zelne Klassen, bei Elternabenden oder <strong>in</strong> Lehrerkonferenzen verfolgen: Die Lehrer<strong>in</strong>/der<br />

Lehrer, der sich darauf konzentriert, Jugendlichen <strong>in</strong> besonderen Problemsituationen<br />

<strong>in</strong>tensiv nachzugehen, muß sich oft der Kritik stellen, er vernachlässige<br />

die anderen K<strong>in</strong>der und Jugendlichen se<strong>in</strong>er Klasse. E<strong>in</strong>e Schule, die viele<br />

Jugendliche mit Problemen an andere Schulen abgibt, muß sich <strong>des</strong>halb kaum der<br />

Kritik stellen, sie wird eher als besonders leistungsstark und anspruchsvoll geachtet.<br />

Auch die Gliederung unseres Schulsystems <strong>in</strong> höhere und niedere Schulen, <strong>in</strong><br />

Gymnasien und Hauptschulen, trägt zu dieser Wahrnehmung bei.<br />

4.Am Ende der Negativentwicklung e<strong>in</strong>es Jugendlichen stößt die Schule sehr schnell<br />

an ihre Grenzen. Daher müssen Wege gefunden werden, Schule so zu verändern,<br />

daß die Schule früher auf Probleme der Jugendlichen reagieren kann.<br />

Dies kann hier nur schlagwortartig dargestellt werden: E<strong>in</strong>e k<strong>in</strong>dgerechte Grundschule,<br />

e<strong>in</strong>e Jugendschule, die, wie es Hartmut von Hentig sagt, Lebensraum für<br />

Jugendliche ist, verständnisvoller und professioneller Umgang von Lehrer<strong>in</strong>nen und<br />

Lehrern mit Krisen im häuslichen Umfeld der Jugendlichen, verbesserte Kooperation<br />

unter Schülern, Abbau von Konkurrenz zugunsten von Kooperation könnten<br />

hier Stichworte se<strong>in</strong>. Wenn man sich <strong>in</strong> der Realität unserer Schulen genauer umschaut,<br />

kann man hierzu schon viele positive Beispiele entdecken: Ungezählte K<strong>in</strong>der<br />

und Jugendliche beschäftigen uns <strong>in</strong> diesem Kongreß nicht, weil sie frühzeitig<br />

sensible Erwachsene trafen, die ihre Problemlage erkannten, die als Vertrauenspersonen<br />

angenommen wurden, die Hilfen gaben, stabilisierten, Mut machten und<br />

über Durststrecken h<strong>in</strong>weghalfen und die im Endeffekt dafür sorgten, daß e<strong>in</strong>e<br />

Negativspirale erst gar nicht <strong>in</strong> Gang kam, sondern e<strong>in</strong> ganz normaler Schulbesuch<br />

wieder erreicht werden konnte.<br />

55


56<br />

5.Schule als Teil e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die Drop-Outs nicht nur h<strong>in</strong>nimmt, sondern im<br />

Zustandekommen teils noch begünstigt, bedarf unbed<strong>in</strong>gt externer Unterstützungs-<br />

und Auffangsysteme. Die Jugendhilfe ist e<strong>in</strong>es davon.<br />

Wenn die Schule bei den durchaus widersprüchlichen Anforderungen, die die<br />

Gesellschaft an sie stellt, dar<strong>in</strong> stabilisiert werden soll, Schulverweigerung,<br />

Schulversagen und Schulpflichtverletzungen frühzeitig zu begegnen, dann bedarf<br />

sie vielfältiger Rückmeldungen über ihre Wirkungen, über Negativentwicklungen,<br />

aber vor allem auch darüber, was sie <strong>in</strong> diesem Bereich zu leisten vermag und welche<br />

Chancen noch nicht genutzt werden. Die Jugendhilfe aus ihrer speziellen Sicht<br />

der Problemlagen junger Menschen sollte daher nicht nur e<strong>in</strong>e Auffangfunktion<br />

am Ende e<strong>in</strong>er von der Schule nicht mehr zu lösenden Negativentwicklung haben.<br />

Sie kann im Dialog mit den Schulen dazu beitragen, daß Probleme frühzeitiger<br />

gesehen werden, Lösungsstrategien gefunden und die Sensibilität aller an Schule<br />

Beteiligten für die Probleme von Jugendlichen geschärft werden.<br />

Wenn wir alle im S<strong>in</strong>ne der Jugendlichen, die durch den Rost zu fallen drohen,<br />

mehr erreichen wollen, gibt es ke<strong>in</strong>e Alternative zu e<strong>in</strong>er Bündelung aller Kräfte<br />

und trotz oder vielleicht auch gerade wegen der begrenzten Ressourcen zu e<strong>in</strong>er<br />

verbesserten Zusammenarbeit zwischen Schule und Jugendhilfe.<br />

Ber Beruf Ber uf ufsv uf sv svorber svorber<br />

orber orbereitungsklasse orber eitungsklasse (B (BVK) (B VK)<br />

für für über über überalt über über alt alter alt er erte er e und und und sc schulmüde sc hulmüde Sc Schüler Sc hüler<br />

1. Die Die Die Situation<br />

Situation<br />

Für e<strong>in</strong>e nicht ger<strong>in</strong>ge Zahl von Jugendlichen wird das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses<br />

immer unrealistischer.<br />

Es handelt sich <strong>in</strong>sbesondere um überalterte SchülerInnen, die teilweise erst mit<br />

12 Jahren die Grundschule verlassen und dort schon Mißerfolgserlebnisse hatten,<br />

um SchülerInnen, die Klassen anderer Schulformen der Sek. I wiederholt haben<br />

und dann zur Hauptschule gewechselt s<strong>in</strong>d und auch um Seitene<strong>in</strong>steiger, die nach<br />

anfänglicher Beschulung <strong>in</strong> Auffang- oder Vorbereitungsklassen bemerken, daß<br />

sie den Anforderungen <strong>in</strong> den Regelklassen nicht gewachsen se<strong>in</strong> werden.<br />

Zu dieser Klientel gesellt sich die Schar der Schulverweigerer, deren Leistungsrückstände<br />

aufgrund von Langzeitschwänzen so groß geworden s<strong>in</strong>d, daß sie kaum<br />

noch oder bereits nicht mehr aufholbar s<strong>in</strong>d.<br />

Diese SchülerInnen s<strong>in</strong>d durch differenzierende Maßnahmen und alternative<br />

Methoden welcher Art auch immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Regelklasse nicht mehr erreichbar.<br />

2. 2. 2. Die Die Entsc Entscheidung<br />

Entsc Entscheidung<br />

heidung<br />

Trotz der derzeit stark betriebenen Integrationsdiskussion entschied sich die<br />

Lehrerkonferenz der Schule zur Bildung e<strong>in</strong>er besonderen Klasse für diese<br />

SchülerInnen. Mit <strong>in</strong>neren Differenzierungsmaßnahmen, wo auch immer angesetzt,<br />

war Mißerfolg vorprogrammiert. Das Argument, die <strong>in</strong> Frage stehenden SchülerInnen<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Klasse zusammenzufassen, werde sie lediglich stigmatisieren,<br />

wurde überwiegend als sekundär betrachtet.


Die Schulkonferenz stimmte dem Antrag, e<strong>in</strong>e „Berufsvorbereitungsklasse“ zu<br />

bilden, zu.<br />

3. 3. 3. Ziele<br />

Ziele<br />

In dieser Klasse sollen die SchülerInnen den Hauptschulabschluß nach der Klasse<br />

9 erreichen. Die Berufsvorbereitungsklasse (BVK) wird im Schuljahr 1994/95 <strong>in</strong><br />

der Stufe 8 e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

– Sie erhält e<strong>in</strong> vermehrtes Angebot aus dem Bereich AW.<br />

– Es wird e<strong>in</strong> Betriebspraktikum durchgeführt.<br />

– Berufswahl und Berufsvorbereitung stehen im Vordergrund.<br />

– Die Klasse soll die Maximalschülerzahl von 16 nicht überschreiten, um e<strong>in</strong>e Teilung<br />

<strong>in</strong> bestimmten Fächern, z. B. dem Fach AT, zu vermeiden. Der Klassenverband<br />

soll <strong>in</strong> allen Unterrichtsbereichen aufrechterhalten werden.<br />

4. 4. Die Die B BBVK<br />

B BVK<br />

VK im im Sc Schuljahr Sc huljahr 11<br />

199 11<br />

99 994/95 99 4/95<br />

Zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Schuljahres besuchen 15 Schüler die BVK:<br />

– E<strong>in</strong> Schüler aus e<strong>in</strong>er Vorbereitungsklasse<br />

– Zwei Schüler, die e<strong>in</strong>e Klasse 7 <strong>des</strong> laufenden Schuljahres besuchen müßten<br />

– Drei im 8. Jahrgang nicht versetzte Schüler<br />

– Neun reguläre Schüler <strong>des</strong> 8. Jahrgangs<br />

E<strong>in</strong> Schüler hat zu Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> Schuljahres acht Schulbesuchsjahre absolviert.<br />

Acht Schüler bef<strong>in</strong>den sich im 9. Schulbesuchsjahr, und sechs Schüler besuchen<br />

die Schule im 10. Schulbesuchsjahr. – Es handelt sich um e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Jungenklasse.<br />

Die Probleme der Jungen werden als vorrangig betrachtet. Während <strong>des</strong> Schuljahres<br />

verläßt e<strong>in</strong> Schüler die Klasse: Umzug.<br />

5. 5. Lehr Lehr Lehrer Lehr Lehrer<br />

er<br />

E<strong>in</strong>e Klassenlehrer<strong>in</strong> und e<strong>in</strong> Klassenlehrer leiten die Klasse geme<strong>in</strong>sam. Sie erteilen<br />

bis auf 5 Stunden (3 GP und 2 SP) den gesamten Unterricht der Klasse. Notwendiges<br />

Teamteach<strong>in</strong>g ist aufgrund der Lehrerbesetzung der Schule nicht möglich.<br />

Das Team der drei Lehrer trifft sich bis auf Ausnahmen wöchentlich. Im<br />

Vordergrund steht die Besprechung sozialer und organisatorischer Probleme.<br />

6. 6. U UUnt<br />

U nt nter nter<br />

er erric er ic icht ic ht<br />

Projektorientierte Verfahren und Projektunterricht stehen im Vordergrund. Zur<br />

Zusammenarbeit mehrerer Lehrer bei e<strong>in</strong>em Projekt kommt es nicht. Deutlich wird<br />

die Vorliebe der Schüler für die Arbeit mit dem Computer. Das Fachwissen der<br />

Klassenlehrer<strong>in</strong> und ihre vielfältigen Angebote werden von den Schülern angenommen.<br />

Die eigenen Fertigkeiten auf diesem Gebiet nehmen deutlich zu. Das ist e<strong>in</strong><br />

wesentlicher Bereich, <strong>in</strong> dem sie Sicherheit und damit Selbstbewußtse<strong>in</strong> erlangen.<br />

Unsicherheit herrscht im Lehrerteam bezüglich e<strong>in</strong>er angemessenen Reaktion<br />

auf Unpünktlichkeit und unregelmäßigen Schulbesuch. Individuelle Reaktionen<br />

57


58<br />

werden von den Schülern akzeptiert. Es entsteht e<strong>in</strong>e Basis von Vertrautheit auf<br />

der trotz weiter bestehender vielfältiger Probleme aufgebaut werden kann.<br />

E<strong>in</strong> Hauptproblem bleibt: Jeder braucht den Lehrer unbed<strong>in</strong>gt „jetzt“.<br />

7. . V VVer<br />

V er erhältnis er hältnis der der Sc Schüler Sc hüler unt unter unt er ere<strong>in</strong>ander er e<strong>in</strong>ander und und gegenüber gegenüber gegenüber ander anderen ander en<br />

Erfreulich zu beobachten ist, daß die Schüler bald e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Klassengeme<strong>in</strong>schaft<br />

entwickeln. Aggressionen untere<strong>in</strong>ander s<strong>in</strong>d nahezu nicht vorhanden.<br />

Es entwickelt sich Kameradschaftlichkeit. Die Klasse tritt als selbstbewußte<br />

E<strong>in</strong>heit nach außen auf. Für die Schüler aus anderen Klassen s<strong>in</strong>d das die aus der<br />

BVK, und das ohne Unterton.<br />

8. 8. 8. Sc Schuljahr Sc huljahr huljahresende huljahr esende 11<br />

199 11<br />

99 994/95 99 4/95<br />

E<strong>in</strong>em Schüler wird angeboten, im kommenden Schuljahr aufgrund se<strong>in</strong>er Leistungen<br />

die Klasse 10 A zu besuchen. Er verzichtet, um <strong>in</strong> dieser Klasse bleiben zu<br />

können.<br />

E<strong>in</strong> weiterer Schüler absolviert erfolgreich e<strong>in</strong>e Nachprüfung. Er hat sich <strong>in</strong> den<br />

Ferien mit den gestellten Aufgaben beschäftigt. E<strong>in</strong> durchaus erstaunlicher Vorgang.<br />

Vier Schüler gehen ab:<br />

– Zwei <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vorklasse zum BVJ/wahrsche<strong>in</strong>lich ohne Erfolg<br />

– E<strong>in</strong>er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e berufsvorbereitende Maßnahme beim IB<br />

– E<strong>in</strong>er erhält e<strong>in</strong>en Lehrvertrag als Fleischer<br />

9. 9. Sc Schuljahr Sc huljahr huljahresbeg<strong>in</strong>n huljahr esbeg<strong>in</strong>n 1 1<strong>1995</strong>/96<br />

1 995/96<br />

Die BVK wird als Klasse 8/9 weitergeführt. E<strong>in</strong>er der verbleibenden 10 Schüler<br />

erreicht das Versetzungsziel nicht.<br />

In die Stufe 9 kommen aus regulären Klassen h<strong>in</strong>zu:<br />

– E<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> als Sitzenbleiber<strong>in</strong> im 9. Jahrgang<br />

– E<strong>in</strong> Schüler als Sitzenbleiber im 9. Jahrgang<br />

In die Stufe 8 kommen aus regulären Klassen h<strong>in</strong>zu:<br />

– E<strong>in</strong>e Schüler<strong>in</strong> als Sitzenbleiber<strong>in</strong> aus dem 8. Jahrgang<br />

– Zwei Schüler als Sitzenbleiber aus dem 8. Jahrgang<br />

– E<strong>in</strong> Schüler aus dem 6. Jahrgang<br />

Die BVK besteht nun aus 14 Schülern und zwei Schüler<strong>in</strong>nen. Die Gruppe der<br />

Schüler aus dem Vorjahr hat sich so stabilisiert, daß die Integration der neuen Schüler<br />

und besonders auch der beiden Schüler<strong>in</strong>nen problemlos erfolgt ist.<br />

10. 0. 0. Be Be Bewer Be Be er ertung ertung<br />

tung<br />

Nach Auffassung der beteiligten LehrerInnen kann der Versuch, selbstverständlich<br />

mit den notwendigen Abstrichen, wenn man z. B. an die vier Abgänger denkt,<br />

als Erfolg bis zu diesem Zeitpunkt gewertet werden. Mit an Sicherheit grenzender


Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit hätten sich etliche Schüler, wären sie <strong>in</strong> Regelklassen verblieben,<br />

zwischenzeitlich aus der Schule verabschiedet. Alle<strong>in</strong> die Tatsache der teilweise<br />

sogar starken Anb<strong>in</strong>dung an die Schule kann als Erfolg gewertet werden. Das<br />

eigentliche Ziel, das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses, steht noch aus. Das<br />

weitere Ziel, die Vermittlung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ausbildungsberuf, soll <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen, wie<br />

<strong>in</strong> der Klasse 10 A, auf dem Weg über e<strong>in</strong> Jahrespraktikum erfolgen.<br />

Deutlich geworden ist jedenfalls, daß viele dieser Jugendlichen nicht unbed<strong>in</strong>gt<br />

abgeschrieben werden müssen, auch wenn sie die <strong>in</strong>nere Emigration aus der Schule<br />

schon teilweise vollzogen haben.<br />

59


Schulverweigerung und dann?<br />

Zum Erziehungsauftrag der Jugendhilfe<br />

Klaus Schäfer<br />

(M<strong>in</strong>isterium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW)<br />

Der Rechtsanspruch auf Erziehung e<strong>in</strong>es jeden Jugendlichen ist das herausragende<br />

Merkmal und der Ausgangspunkt der Jugendhilfe. Deshalb ist es eigentlich<br />

selbstverständlich, den Erziehungsauftrag <strong>in</strong> der Jugendhilfe zu sprechen. Aber das<br />

Verständnis, was denn Erziehung der Jugendhilfe se<strong>in</strong> soll und vor allem, mit welchen<br />

Angeboten und mit welchen Methoden dieser Erziehungsauftrag realisiert<br />

werden soll, ist – historisch betrachtet – sehr verschieden gewesen. Deshalb möchte<br />

ich, ähnlich wie Herr Thünken, e<strong>in</strong>leitend e<strong>in</strong>en kurzen historischen Blick auf diesen<br />

Aspekt der Jugendhilfe richten.<br />

Jugendhilfe war, sowohl <strong>in</strong> ihrer Entstehungsphase, wie auch bis weit <strong>in</strong> die 60er<br />

Jahre dieses Jahrhunderts h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, vorwiegend ordnungspolitisch motiviert. Vorrangig<br />

g<strong>in</strong>g es – die Jugendarbeit/Jugendpflege e<strong>in</strong>mal ausgenommen – um e<strong>in</strong><br />

Regelsystem, welches abweichen<strong>des</strong> Verhalten von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen verh<strong>in</strong>dern<br />

bzw. sanktionieren sollte und zwar überwiegend durch repressive Maßnahmen.<br />

Kennzeichen der erzieherischen Hilfen war <strong>des</strong>halb die Heimerziehung,<br />

als das klassische Instrument <strong>des</strong> E<strong>in</strong>griffes e<strong>in</strong>er staatlich reglementierten Jugendfürsorge.<br />

Dies war auch gesetzlich verankert. Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz aus dem<br />

Jahre 1922 und auch später das seit 1961 geltende Jugendwohlfahrtsgesetz waren<br />

von ihrem Grundsatz her von diesem Verständnis geprägt. Erst mit der Reformdiskussion<br />

Anfang der 70er Jahre begann e<strong>in</strong>e Neuorientierung<br />

<strong>in</strong> der Jugendhilfe sich breit zu machen.<br />

E<strong>in</strong> demokratisches Verständnis von Erziehung entwickelte<br />

sich, und vor allem die Erkenntnis, daß e<strong>in</strong>e<br />

gesetzliche Reform notwendig ist, die diesem neuen<br />

Verständnis e<strong>in</strong>e entsprechende Perspektive gibt.<br />

Mit dem K<strong>in</strong>der- und Jugendhilfegesetz aus dem<br />

Jahre 1991, wurde denn auch dieses offensive Verständnis<br />

von Erziehung und Bildung <strong>in</strong> der Jugendhilfe<br />

gesetzlich normiert. Zentrale Aufgabe der<br />

Jugendhilfe ist es danach:<br />

– junge Menschen <strong>in</strong> ihrer <strong>in</strong>dividuellen und sozialen<br />

Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen<br />

zu vermeiden und abzubauen;<br />

– Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der<br />

Erziehung beraten und unterstützen;<br />

– K<strong>in</strong>der und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl<br />

zu schützen;<br />

– dazu beitragen, positive Lebensbed<strong>in</strong>gungen für<br />

junge Menschen und ihre Familien sowie e<strong>in</strong>e<br />

61


62<br />

k<strong>in</strong>der- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. (§ 1 Abs. 3<br />

SGB VIII)<br />

Dieser Gesamtauftrag der Jugendhilfe spiegelt sich auch <strong>in</strong> der Normierung der<br />

Jugendsozialarbeit im § 13 Abs. 1 SGB VIII wieder, wenn danach die Jugendsozialarbeit<br />

gefordert ist, Angebote für Jugendliche bereitzuhalten, die soziale<br />

Benachteiligung ausgleichen können oder <strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelle Bee<strong>in</strong>trächtigungen überw<strong>in</strong>den<br />

helfen.<br />

In diesem Kontext ist auch die Förderung von jungen Menschen, die im Regelsystem<br />

Schule erhebliche Probleme haben, zu sehen. Schulverweigerung „ist <strong>des</strong>halb<br />

ke<strong>in</strong> neues Thema für die Jugendhilfe. Die Ause<strong>in</strong>andersetzung der Jugendhilfe<br />

mit K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen (wollen) –<br />

wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – und <strong>des</strong>halb z. B. den Schulunterricht<br />

verweigern“, war immer schon <strong>in</strong> der Praxis vorhanden. Nur, Jugendhilfe löste“<br />

dies im wesentlichen dadurch, daß sie <strong>in</strong> Aufgabe auf das zuführen von jungen<br />

Menschen, die mehr als dreimal fehlten, zur Schule sah.<br />

Erste Ansätze der Schulsozialarbeit Mitte der 70er Jahre machte deutlich, daß<br />

junge Menschen auch für den Schulunterricht und das Absolvieren der Schulpflicht<br />

motiviert werden konnten, aber mit den Methoden und Handlungsmöglichkeiten<br />

der Sozialpädagogik. Allerd<strong>in</strong>gs – und dies zieht sich bis heute wie e<strong>in</strong> roter Faden<br />

durch – g<strong>in</strong>gen diese neuen Ansätze nicht von e<strong>in</strong>em alle<strong>in</strong>igen Schulversagen von<br />

Schülern aus, sondern sahen auch die Rolle der Schule und das soziale Umfeld“ bei<br />

dem Entstehen von Schulproblemen junger Menschen.<br />

Hier setzt auch me<strong>in</strong>e Kritik an dem Begriff Schulverweigerer an. Er impliziert,<br />

als sei Schulverweigerung eher ausschließlich e<strong>in</strong> subjektiv zu verantworten<strong>des</strong><br />

Problem, geprägt durch e<strong>in</strong> aktives Handeln, die Schule verlassen zu wollen. Gerade<br />

die Entwicklung von K<strong>in</strong>dheit und Jugendphase und die zu beobachtenden Veränderungen<br />

<strong>in</strong> ihrem Alltag s<strong>in</strong>d jedoch e<strong>in</strong> Beispiel dafür, daß über vorhandenes<br />

subjektives Verschulden h<strong>in</strong>aus, auch die objektiven gesellschaftlichen und strukturellen<br />

Ausgangsbed<strong>in</strong>gungen, die Schulmüdigkeit prägen, e<strong>in</strong>bezogen werden<br />

müssen.<br />

Diese strukturellen Bed<strong>in</strong>gungen müssen beachtet werden, wenn wirksame<br />

Lösungsperspektiven entwickelt werden sollen.<br />

Ich will <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Feststellungen aus der Sicht <strong>des</strong> MAGS zentrale Aspekte zur<br />

Aufgabenstellung der Jugendhilfe h<strong>in</strong>sichtlich der Bewältigung dieses Problems<br />

skizzieren:<br />

1. Wenn man sich die Entwicklungen und Herausforderungen der letzten Jahre <strong>in</strong><br />

der Jugendhilfe vergegenwärtigt, so fällt auf, daß gerade <strong>in</strong> den letzten Jahren<br />

sich die Jugendphase <strong>in</strong> erheblichem Maße verändert hat. Herausragende<br />

Entwicklungsl<strong>in</strong>ie ist, daß bestehende Institutionen der Erziehung und Bildung<br />

wie Elternhaus und Schule nicht mehr <strong>in</strong> dem Maße, wie von ihnen erwartet,<br />

oder wie gewünscht, die Erziehung alle<strong>in</strong> sicherstellen können und die<br />

Integrationskraft der Gesellschaft <strong>in</strong>sbesondere im Übergang von der Jugendphase<br />

<strong>in</strong> das Erwachsenenalter nachläßt. Damit steigt die <strong>in</strong>dividuelle Verantwortung<br />

für die persönliche Zukunft bei den Jugendlichen selbst. Jung se<strong>in</strong> ist<br />

<strong>des</strong>halb heute eher e<strong>in</strong>e Lebensphase mit großen Ambivalenzen – versehen mit<br />

vielen Chancen und Möglichkeiten, aber auch mit vielen Risiken – <strong>in</strong> der Jugend


versucht, ihren Weg zu gehen und reglementierende Vorgaben und E<strong>in</strong>griffe<br />

der Gesellschaft immer weniger akzeptiert. Gleichzeitig wird aber Jugend auch<br />

mit neuen Anforderungen an Alltagsbewältigung konfrontiert, die im wesentlichen<br />

dadurch verursacht werden, daß sie <strong>in</strong> ihrer Entwicklungsphase immer mehr<br />

Brüche erfahren werden und e<strong>in</strong> nahtloser Übergang von der Schule <strong>in</strong> den Beruf<br />

und dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dauerhafte, auf Zukunft abgesicherte berufliche Tätigkeit<br />

nicht mehr für alle gegeben ist.<br />

2.Die Veränderungsprozesse <strong>in</strong> der Gesellschaft, begleitet mit Des<strong>in</strong>tegrationsperspektiven<br />

für e<strong>in</strong>en Teil der Bevölkerung schlagen sich <strong>in</strong>sbesondere negativ<br />

auf die Jugendlichen nieder, die aus sozial–benachteiligten oder bildungs–benachteiligten<br />

Milieus kommen und die kaum über breite Chancen und Möglichkeiten<br />

verfügen, der damit verbundenen Schwierigkeiten zu entgehen. Gerade<br />

weil ergänzend h<strong>in</strong>zukommt, daß ihnen der Arbeitsmarkt nicht die entsprechenden<br />

verb<strong>in</strong>dliche Perspektive sichert und ihre Lernbed<strong>in</strong>gungen im Lebensumfeld<br />

schlechter geworden s<strong>in</strong>d, entwickeln sich zunehmend Zweifel, ob der Schulbesuch<br />

für sie überhaupt gew<strong>in</strong>nbr<strong>in</strong>gend se<strong>in</strong> kann. Deshalb wundert es nicht,<br />

daß Jugendhilfe mit e<strong>in</strong>er deutlichen Zunahme der Zahl der betroffenen K<strong>in</strong>der<br />

und Jugendlichen konfrontiert ist.<br />

3.Besonders s<strong>in</strong>d es die Strukturprobleme <strong>in</strong> Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt<br />

und die damit e<strong>in</strong>hergehende Arbeitslosigkeit sowie die steigende Langzeitarbeitslosigkeit,<br />

die vor allem denjenigen jungen Menschen die Hoffnung, durch<br />

schulische Bildung e<strong>in</strong>e ausreichende berufliche Perspektive zu erreichen, die<br />

die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern erfahren und sich selbst wenig Entwicklungschancen<br />

zutrauen.<br />

4.Dabei fällt auf, daß die Schule traditioneller Prägung ebenfalls den Herausforderungen<br />

an Erziehung und Bildung durch diese gesellschaftlichen Wandlungsprozesse<br />

kaum gewachsen ist. Es wundert daher nicht, daß sie häufig diesen<br />

jungen Menschen nicht die notwendigen Impulse geben kann bzw. Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

zu setzen <strong>in</strong> der Lage ist, die diese Motivationsschwäche bei Jugendlichen<br />

überw<strong>in</strong>den hilft.<br />

Dabei spielen mehrere Ursachen/Entwicklungen im Schulbereich e<strong>in</strong>e bedeutende<br />

Rolle:<br />

– Schule selbst hat <strong>in</strong> ihrer Gestalt als Lernort kaum die Möglichkeiten – <strong>in</strong> personeller<br />

und räumlicher H<strong>in</strong>sicht – auf soziale Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse bei Jugendlichen<br />

e<strong>in</strong>e adäquate pädagogische Antwort zu geben. Sie wird <strong>des</strong>halb immer<br />

mehr für Jugendliche zu e<strong>in</strong>em Ort für E<strong>in</strong>zelkämpfer, auch, weil zum Teil auch<br />

Eltern dies so wollen und den Druck auf die Schule erhöhen.<br />

– Erkennbar ist, daß e<strong>in</strong> Teil der jungen Menschen nicht mehr über re<strong>in</strong>e Lernmotivation<br />

aufgefangen werden kann. Dort wo die eigentliche Aufgabe der Schule,<br />

nämlich über Noten Perspektiven zu entwickeln, immer weniger funktioniert,<br />

leuchtet auch immer weniger die Notwendigkeit e<strong>in</strong>es langen Schulbesuchs e<strong>in</strong>.<br />

Die bereits erfahrenen Belastungen und E<strong>in</strong>schränkungen wirken tief, e<strong>in</strong>e positive<br />

Sichtweise von Schule, im S<strong>in</strong>ne von Zukunftsorientierung und Chancenverbesserung,<br />

entwickelt sich kaum.<br />

63


64<br />

– Andererseits wirkt Schule gehemmt, wenn es darum geht, neue Komb<strong>in</strong>ationen<br />

<strong>in</strong> dem Wirken von Erziehung von unterschiedlichen Erziehungs<strong>in</strong>stitutionen zu<br />

nutzen und e<strong>in</strong>e offensive Kooperation mit der Jugendhilfe e<strong>in</strong>zuklagen und<br />

umzusetzen. Erfahrungen mit Jugendlichen, die Schulschwierigkeiten haben und<br />

sich an Projekten beteiligen, die praktisches Können voraussetzen, zeigen, daß<br />

Jugendliche über andere Tätigkeiten als kognitives Lernen durchaus motivierbar<br />

wären.<br />

Hat sich Jugendhilfe <strong>in</strong> der Vergangenheit immer sehr stark dagegen gewehrt,<br />

die Funktionen/Aufgaben anderer gesellschaftlicher Bereiche zu erfüllen und vor<br />

allem e<strong>in</strong>e dezidierte Haltung gegen die Auffassung e<strong>in</strong>genommen, auch Angebote<br />

an junge Menschen im Rahmen der Schulpflichterfüllung zu machen, so zeigt<br />

sich im Wandel <strong>des</strong> Aufgabenverständnisses, daß Jugendhilfe mehr und mehr bereit<br />

ist, diejenigen Jugendlichen <strong>in</strong> ihrer Arbeit e<strong>in</strong>zubeziehen, die zur Überw<strong>in</strong>dung<br />

von Schulschwierigkeiten gerade für e<strong>in</strong>en bestimmten Zeitraum e<strong>in</strong>e Alternative<br />

außerhalb von Schule <strong>in</strong> anderen Lebenszusammenhängen haben müssen,<br />

damit sie dort mit Werkstoffen und anderen Möglichkeiten qualifiziert und emotional<br />

zufriedener lernen und sich Fähigkeiten aneignen können, die für sie von<br />

größerem und e<strong>in</strong>sichtigem Wert s<strong>in</strong>d.<br />

Mit dem Projekt „Schulmüde Jugendliche“ haben wir <strong>des</strong>halb e<strong>in</strong>en neuen<br />

Erprobungsweg entwickelt, der S<strong>in</strong>n macht. Wir wollen nämlich erproben, ob es<br />

möglich ist, junge Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – <strong>in</strong> der<br />

Schule immer weniger ihre Chancen sehen, e<strong>in</strong>e entsprechende Perspektive zu<br />

entwickeln, durch andere Lernorte neu zu motivieren und sie wieder zum Lernen<br />

<strong>in</strong> die Schule zurückführen zu können. Dieser Gew<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er neuen S<strong>in</strong>nhaftigkeit<br />

<strong>des</strong> Lernens und <strong>des</strong> Begreifens von der Bedeutung e<strong>in</strong>es schulischen Abschlusses,<br />

ist die Chance von Jugendwerke<strong>in</strong>richtungen, <strong>in</strong> Kooperation mit der Schule neue<br />

Wege gehen können.<br />

Erkennbar aber ist heute schon, daß e<strong>in</strong> zentrales Paradigma dieses Projektes <strong>in</strong><br />

sehr widersprüchlicher Weise ausgeprägt ist: Die zw<strong>in</strong>gende Bed<strong>in</strong>gung, das Jugendliche,<br />

die über e<strong>in</strong>en bestimmten Zeitraum ihre Schulpflicht <strong>in</strong> Werke<strong>in</strong>richtungen<br />

der Jugendhilfe erfüllen <strong>in</strong> die Schule rückgeführt“ werden müssen und<br />

Schule von daher sich selbst verändern muß. Genauer gesagt: Es ist nicht das Ziel<br />

dieses Projektes, schulmüde Jugendliche aus der Schule herauszunehmen und Schule<br />

aus dem Obligo zu entlassen. Es geht darum, durch Jugendhilfe Motivationsstrukturen<br />

zurückzugew<strong>in</strong>nen und durch Förderung von Reflektionsprozessen <strong>in</strong><br />

der Schule, Veränderung <strong>des</strong> Schulalltags zu ermöglichen.<br />

Denn, e<strong>in</strong> Grundpr<strong>in</strong>zip muß erhalten bleiben: Die Schulpflicht ist e<strong>in</strong> hohes gesellschaftliches,<br />

soziales und bildungspolitisches Gut. Es dürfen ke<strong>in</strong>e Diskussionen<br />

über solche Projekte gefördert werden, die auf e<strong>in</strong>e tendenzielle Abkehr von<br />

der Schulpflicht abzielen. Jugendhilfe und <strong>in</strong>sbesondere Jugendsozialarbeit darf<br />

<strong>des</strong>halb auch ke<strong>in</strong>e Alternative zur Schule se<strong>in</strong> und gewissermaßen Ersatzlernort<br />

werden. Sie hätte dann auch ihre Funktion als die schulischen Prozesse ergänzende<br />

Erziehungs<strong>in</strong>stanz für diejenigen jungen Menschen, die entsprechend gefördert<br />

werden müssen, verloren.<br />

Die Chancen und Möglichkeiten der Jugendhilfe, im Kontext der Jugend- bzw.<br />

Schulsozialarbeit liegen <strong>des</strong>halb dar<strong>in</strong>, neue Ansätze und Räume anzubieten, die<br />

e<strong>in</strong> weiteres Abgleiten verh<strong>in</strong>dern und soziale Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse abmildern


läßt. Hierzu verfügt Jugendhilfe – anders als Schule – über weichere und für junge<br />

Menschen häufig akzeptablere Rahmenbed<strong>in</strong>gungen:<br />

– Sie hat e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen und weitgehenden Erziehungs-, sozialen Gestaltungsund<br />

politischen E<strong>in</strong>wirkungsauftrag. § 1 und § 13 <strong>des</strong> K<strong>in</strong>der- und Jugendhilfegesetzes<br />

regeln dies e<strong>in</strong>deutig. Jugendhilfe ist <strong>des</strong>halb auch geeignet, auf die<br />

spezifischen Interessen und Bedürfnisse junger Menschen e<strong>in</strong>zugehen und ihre<br />

Interessen gegenüber anderen Politikbereichen und gegenüber der Gesellschaft<br />

wahrzunehmen. Dies fördert Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit von<br />

Jugendhilfe.<br />

– Jugendsozialarbeit verfügt zudem über geeignete Formen, E<strong>in</strong>richtungen und<br />

Ansätze, um lebenweltorientiert handeln zu können und junge Menschen dort<br />

aufzufangen, wo sie wohnen, kurz, wo ihr Lebensumfeld ist.<br />

– Jugendsozialarbeit ist auch entsprechend flexibel <strong>in</strong> den Handlungsformen. Sie<br />

f<strong>in</strong>det nicht nur <strong>in</strong> Räumen statt, wie dies <strong>in</strong> der Schule klassischerweise der Fall<br />

ist, sondern ihr Beziehungsfeld ist sowohl die E<strong>in</strong>richtung, wie das Lebensumfeld,<br />

wie der soziale Raum <strong>in</strong> dem junge Menschen sich aufhalten. Ihre Ansprechpartner<br />

s<strong>in</strong>d junge Menschen wie Eltern gleichermaßen.<br />

– Jugendsozialarbeit hat die erforderliche sozialpädagogische Kompetenz, andere<br />

Methoden, sowie weitgehende Bündelungs- bzw. Vernetzungsmöglichkeiten.<br />

Ihren Erziehungsauftrag wahrzunehmen setzt nämlich e<strong>in</strong>e solche Handlungsbreite<br />

voraus.<br />

Dies darf aber nicht dazu führen, daß Jugendhilfe verantwortlich gemacht werden<br />

kann für das Ausbleiben notwendiger Veränderungsprozesse. Auch sie ist abhängig<br />

und wird geprägt von den gesellschaftlichen Entwicklungen und den politischen<br />

Entscheidungsprozessen. Der Erziehungsauftrag <strong>in</strong> der Jugendhilfe<br />

impliziert <strong>des</strong>halb, vor allem dann, wenn er bestehende Defizite <strong>in</strong>dividueller und<br />

sozialer Art überw<strong>in</strong>den will, daß Jugendhilfe nicht auf die Rolle als „Ausfallbürge“<br />

für das Versagen anderer gesellschaftlicher Bereich reduziert werden darf. In diesem<br />

Fall wäre sie auf Dauer e<strong>in</strong> wenig hilfreicher Partner bei der Überw<strong>in</strong>dung <strong>des</strong><br />

Problems der Schulmüdigkeit. Sie muß ihren Erziehungsauftrag <strong>des</strong>halb auch gesellschaftlich<br />

und <strong>in</strong>frastrukturell verstehen und:<br />

– Darauf drängen, daß durch frühzeitige Kooperation zwischen Jugendhilfe und<br />

Schule früher als bisher präventive Ansätze greifen und dadurch Ausgrenzungsund<br />

Demotivationsprozesse abgebaut werden können und<br />

– sie muß darauf drängen, daß auch Schule sich verändert und e<strong>in</strong> Lebens- und<br />

Lernort wird, der der spezifischen Situation dieser Zielgruppe Rechnung trägt<br />

und durch neue Formen und durch e<strong>in</strong> neues Grundverständnis, Orte <strong>des</strong> Lernens<br />

und <strong>des</strong> Lebens wird.<br />

Bei der Überw<strong>in</strong>dung dieser Problematik der Schulmüdigkeit kann <strong>des</strong>halb auf<br />

Jugendhilfe gesetzt werden. Hierzu benötigt sie aber auch die stabilen Ressourcen,<br />

hier gilt – wie <strong>in</strong> anderen Bereichen der Jugendhilfe auch: Früh <strong>in</strong>vestiert ist<br />

für die Zukunft mehr als halb gewonnen. Die gesellschaftlichen Kosten, die<br />

Des<strong>in</strong>tegrationsprozesse mit sich br<strong>in</strong>gen, werden durch solche offensive Herangehensweisen<br />

deutlich reduziert. Auch das ist e<strong>in</strong> Ziel der Modellprojekte.<br />

65


Podiumsdiskussion<br />

Brauchen wir e<strong>in</strong> neues Regelsystem für Schüler und<br />

Schüler<strong>in</strong>nen, die sich der Schulpflicht entziehen?<br />

das war die Fragestellung, mit der sich das Podium ause<strong>in</strong>anderzusetzen hatte.<br />

Schulpflicht hieße nicht nur, daß K<strong>in</strong>der und Jugendliche verpflichtet s<strong>in</strong>d, die Schule<br />

zu besuchen; sie verpflichte auch die Eltern und vor allem die Schule, das <strong>in</strong>dividuelle<br />

Recht auf Bildung zu verwirklichen.<br />

Dies schiene bei e<strong>in</strong>er beträchtlichen Zahl von jungen Schulverweigerern nicht<br />

zu funktionieren, stellte Markus Schnapka <strong>in</strong> der Anmoderation fest. Und ergänzend<br />

fügte er h<strong>in</strong>zu, die Bildungs- und Jugendhilfeverantwortlichen reagierten auf<br />

das Phänomen der Schulmüdigkeit mit Modellprojekten oder vor Ort mit <strong>in</strong>dividuellen<br />

Initiativen. E<strong>in</strong> Regulativ gäbe es nicht. Es sei von Zufällen abhängig, ob vor<br />

der Schule Geflüchtete wahrgenommen werden, Kooperationen von Jugendhilfe,<br />

Schule und Arbeitsverwaltung koord<strong>in</strong>iert werden und sich daraus Chancen für<br />

junge Menschen ergeben. Und bewußt provokant setzte er h<strong>in</strong>zu: Schule kann<br />

offensichtlich alle<strong>in</strong>e nicht mehr weiter!<br />

Wer aber sucht und f<strong>in</strong>det die Schulflüchtigen und wo sehen Sie Ihre Verantwortlichkeiten,<br />

war die erste Frage an Andreas Henseler, Schuldezernent der Stadt<br />

Köln. Henseler konzidierte, daß es e<strong>in</strong>e organisierte Bearbeitung dieses Problemfel<strong>des</strong><br />

aus se<strong>in</strong>er Sicht <strong>in</strong> Schule nicht gäbe, und beklagte den Umstand, daß e<strong>in</strong><br />

frühzeitiges Reagieren vernachlässigt würde. Statt <strong>des</strong>sen käme es sehr schnell zu<br />

e<strong>in</strong>em Prozeß der Ausgrenzung. Es sei aber an der Zeit, daß Schule das Problem<br />

wahrnähme und entsprechende präventive Strategien entwickelte. Schließlich<br />

müsse sich Schule darauf bes<strong>in</strong>nen, daß sie strukturell<br />

darauf angelegt ist, Ausgrenzung zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

Es sei und bliebe e<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>äre Aufgabe von Schule,<br />

aus dem System heraus, Schulmüdigkeit und -<br />

verweigerung gar nicht erst aufkommen zu lassen.<br />

Dr<strong>in</strong>gend warnte Henseler davor, e<strong>in</strong>en Ausstiegskanal<br />

aus der Schulpflicht zu etablieren. E<strong>in</strong> neues<br />

Regelsystem zwischen Schule und Jugendhilfe würde<br />

nicht gebraucht.<br />

Daß es nicht darum gehe, e<strong>in</strong>en Ausstiegskanal zu<br />

<strong>in</strong>stallieren, machte auch Ulrich Thünken vom M<strong>in</strong>isterium<br />

für Schule und Weiterbildung <strong>in</strong> NRW klar. Er<br />

gab aber zu bedenken, daß zur Betrachtung der Frage,<br />

warum Jugendliche <strong>in</strong> die Schule gehen oder nicht,<br />

auch gesehen werden müßte, welche Chancen sie im<br />

Anschluß eigentlich noch haben. E<strong>in</strong>e beträchtliche<br />

Anzahl von jungen Leuten, auch von denen, die brav<br />

zur Schule gehen, haben ke<strong>in</strong>e Perspektiven, weil sie<br />

den Konkurrenzanforderungen <strong>in</strong> den normalen Berufen<br />

nicht gewachsen s<strong>in</strong>d. Darauf müsse die gesamte<br />

Gesellschaft reagieren, nicht nur die Schule, forder-<br />

67


68<br />

te er. Schule habe grundsätzlich die Möglichkeit, sich zu verändern und damit den<br />

Lebensbedürfnissen von K<strong>in</strong>dern und Jugendlichen gerechter zu werden. Dazu müsse<br />

sie aber ihren Blick verändern: Prämiert als beste Schulen würden z.Zt.. jene,<br />

die „Pr<strong>in</strong>zenerziehung“ (Henseler) betreiben. Thünken charakterisierte die Schule<br />

als e<strong>in</strong>e Institution <strong>in</strong> der Zwickmühle zweier gegensätzlicher Interessenslagen,<br />

zwischen Integration und Selektion. Er plädierte nachhaltig<br />

für Anstöße von außen, um geme<strong>in</strong>sam Schule<br />

Moderation:<br />

Markus Schnapka<br />

Inge Mewes-Turz, Dortmund<br />

Andreas Henseler, Köln<br />

zu verändern, warnte jedoch davor, Schule aus ihrer<br />

Pflicht zu entlassen und neue Regelsysteme zu entwickeln.<br />

Wenn aber doch Schule den Schwachen wenig zu<br />

bieten hat, muß diesem Problem mit neuen Projekten<br />

aus der Jugendhilfe begegnet werden, war die Frage<br />

an Klaus Schäfer als Jugendhilfevertreter vom M<strong>in</strong>isterium<br />

für Arbeit, Gesundheit und Soziales.<br />

Auch Klaus Schäfer warnte e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich vor e<strong>in</strong>em<br />

neuen Regelsystem, bezeichnete dies sogar als e<strong>in</strong>e<br />

bildungs- und jugendpolitische Katastrophe. Die Katastrophe<br />

läge dar<strong>in</strong>, daß Jugendhilfe e<strong>in</strong>e Zuständigkeit<br />

übernähme, die sie nicht habe. Jugendhilfe könne<br />

ke<strong>in</strong>e Bildungspolitik im klassischen S<strong>in</strong>ne machen.<br />

Statt <strong>des</strong>sen müsse es gel<strong>in</strong>gen, durch engere Kooperation,<br />

neue Selbstverständnisse und Abbau von Eitelkeiten<br />

e<strong>in</strong> Handlungssystem zu f<strong>in</strong>den, das durch<br />

verpflichtende Vernetzungsformen funktioniert. Die<br />

Schaffung neuer Modellprojekte für Schulverweigerung<br />

sei e<strong>in</strong> Indiz für die Vernachlässigung dieser Klientel,<br />

deren Existenz der Schule und Jugendhilfe<br />

bereits im Vorfeld bekannt sei. Die bisherigen Handlungsspielräume,<br />

zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t seitens <strong>des</strong> K<strong>in</strong>der- und<br />

Jugendhilfegesetzes, seien ausreichend. Was nicht<br />

angehe ist, daß Schule als System nicht handele, und<br />

es dem Zufall überbliebe, ob Lehrer<strong>in</strong>nen oder Lehrer<br />

Kooperationen mit der Jugendhilfe e<strong>in</strong>gehen oder<br />

nicht.<br />

Welche Funktion denn e<strong>in</strong> Lan<strong>des</strong>jugendamt habe,<br />

Verb<strong>in</strong>dlichkeiten <strong>in</strong> der Kooperation für die Seite<br />

der Jugendhilfe herzustellen, dazu nahm<br />

Hans Peter Schaefer vom Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />

Rhe<strong>in</strong>land Stellung. Da es aus<br />

se<strong>in</strong>er Sicht auch nicht darum gehen<br />

kann, neue Regelsysteme herzustellen,<br />

müßten die bestehenden sich ändern.<br />

Dazu würden von Seiten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>jugendamtes<br />

die bestehenden Beziehungen<br />

zu den Bezirksregierungen <strong>in</strong>tensiviert.<br />

Für die Fortbildungen sei der


Kooperationsgedanke e<strong>in</strong> wichtiger Inhalt, geme<strong>in</strong>same Fortbildungen für Lehrer/<br />

<strong>in</strong>nen und Fachkräften der Jugendhilfe der richtige Weg. Weiterh<strong>in</strong> verwies Schaefer<br />

auf die Modellprojekte an sechs Standorten <strong>in</strong> NRW, die vom Lan<strong>des</strong>jugendamt<br />

fachlich begleitet und ausgewertet werden. Von ihnen s<strong>in</strong>d wichtige Anstöße zu<br />

erwarten, die auf e<strong>in</strong>e verbesserte Kooperation <strong>in</strong>nerhalb der Jugendhilfe und gegenüber<br />

der Schule zielen.<br />

An die Vertreter<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es freien Trägers, Frau Mewes–Turz, wurde die Frage gerichtet,<br />

welche Forderungen sie an Schule und Jugendhilfe habe. Mehr Phantasie<br />

auf beiden Seiten, war die Antwort, mehr Parteilichkeit und Engagement für die<br />

Jugendlichen. Verkrustete Strukturen aufbrechen, neue Bündnispartner/<strong>in</strong>nen suchen,<br />

z. B. <strong>in</strong> der Wirtschaft, seien durchaus denkbare Wege, die aber voraussetzen,<br />

daß auch e<strong>in</strong>mal „quergedacht“ werden dürfe. Im Rückblick auf ihre eigene<br />

Tätigkeit <strong>in</strong> der Schule äußerte Mewes–Turz die Überzeugung, daß es immer auf<br />

die e<strong>in</strong>zelnen Personen ankäme, wieweit sie aus eigener Kraft Kooperationen suchten<br />

und diese ausbauten. Schule als Ganzes zu verändern, sei schon sehr schwierig,<br />

me<strong>in</strong>te sie abschließend und sprach sich ausdrücklich für e<strong>in</strong>e Vielfalt von Projekten<br />

aus, die durchaus <strong>in</strong> der Lage seien, Lernen mit<br />

Leben zu füllen und daher geeignete Orte zur Beschulung<br />

von Schulmüden darstellten.<br />

In der folgenden Diskussion, die unter lebhafter<br />

Beteiligung <strong>des</strong> Plenums vonstatten g<strong>in</strong>g, war e<strong>in</strong>e<br />

zentrale Überlegung die der F<strong>in</strong>anzierung von Hilfsangeboten.<br />

Daß präventive Arbeit <strong>in</strong> Schule nicht kostenneutral<br />

abzuwickeln sei, liege auf der Hand, hieß es. Zusätzli-<br />

che Mittel stünden aber nicht zur Verfügung, war die<br />

durchaus realistische Prognose. Also, kurzfristige,<br />

kostenneutrale Lösungen müßten her, durch e<strong>in</strong>e<br />

Veränderung <strong>des</strong> Lehrpersonalzuweisungsschlüssel,<br />

me<strong>in</strong>te der Schuldezernent. Kurzfristig realisierbar sei<br />

auch der E<strong>in</strong>satz von Beratungslehrer/<strong>in</strong>nen, war das<br />

Votum vom Vertreter <strong>des</strong> M<strong>in</strong>isteriums für Schule und<br />

Weiterbildung, die mit der Aufgabe betraut werden,<br />

vermehrte Aufmerksamkeit auf Schulmüdigkeitstendenzen<br />

zu legen. Wert gelegt wurde auch auf die<br />

Unterscheidung, daß es sich schließlich um zwei verschiedene<br />

Gruppen handele: Die, die durch präventive<br />

Arbeit <strong>in</strong> der Schule noch erreicht werden könnte,<br />

was aber mit denen, die bereits konsequent der Schule<br />

fernbleiben?<br />

Als absolute Ausnahme wurde erklärt, daß Schulpflichtige<br />

an e<strong>in</strong>en anderen Lernort gehen können.<br />

Auch dieses unter dem Gesichtspunkt der Bezahlbarkeit.<br />

Aus Jugendhilfeseite wurde noch e<strong>in</strong>mal gefordert,<br />

das Thema zum Gegenstand <strong>in</strong> den örtlichen<br />

Jugendhilfeausschüssen und <strong>in</strong> den Schulausschüssen<br />

zu machen.<br />

Klaus Schäfer, MAGS<br />

Hans Peter Schaefer,<br />

Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land<br />

Ulrich Thünken, M<strong>in</strong>isterium<br />

für Schule und Weiterbildung<br />

69


70<br />

Das Versprechen zum Schluß: Zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t <strong>in</strong> NRW werden die M<strong>in</strong>isterien, die für<br />

Schule und Jugendhilfe zuständig s<strong>in</strong>d, sehr eng zusammenarbeiten und klare Vere<strong>in</strong>barungen<br />

zur Kooperation treffen. Die Chancen, die dar<strong>in</strong> liegen: Kooperation<br />

ist schwer zu verordnen. Sie muß vorgelebt werden. Dafür gibt es schon gute Beispiele,<br />

aber es müssen mehr werden, um die Selbstverständlichkeit herbeizuführen.<br />

(Kar<strong>in</strong> Joswig–von Bothmer, Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />

Diskussion unter 'Beteiligung <strong>des</strong> Plenums


E<strong>in</strong> Nachtrag:<br />

Auffällig unauffällig:<br />

Mädchen und Schulverweigerung<br />

Andrea Becker (Jugendberufshilfe e.V., Essen)<br />

Kar<strong>in</strong> Joswig-von Bothmer (Lan<strong>des</strong>jugendamt Rhe<strong>in</strong>land)<br />

Vorbemerkung:<br />

Wenn von 11 Projekten, die mit schulmüden Jugendlichen arbeiten, <strong>in</strong> 10 Projektbeschreibungen<br />

nur von Jungen die Rede ist, dann gibt das zu denken. Und zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t<br />

stellt sich die Frage: Wie sieht es bei den Mädchen aus? Gibt es da auch<br />

Verweigerung? Es gibt und nicht zu wenig. Allerd<strong>in</strong>gs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen Ersche<strong>in</strong>ungsform<br />

und auch die Gründe unterscheiden sich von denen, die über Jungen<br />

bekannt wurden. E<strong>in</strong>ige Erkenntnisse liegen vor, weil es <strong>in</strong> Essen e<strong>in</strong>en Modellversuch<br />

für schulmüde Mädchen gibt. Dieser zweijährige Modellversuch <strong>in</strong> Kooperation<br />

von Schule, Jugendhilfe und Arbeitsverwaltung war von vorne here<strong>in</strong> als e<strong>in</strong><br />

re<strong>in</strong>es Mädchenprojekt geplant. Die Beschulung an e<strong>in</strong>em anderen Ort f<strong>in</strong>det <strong>in</strong><br />

diesem Fall <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Werkstatt für Mädchen statt.<br />

Die Ausführungen gliedern sich <strong>in</strong> zwei Teile. Teil I beschreibt den sozialen H<strong>in</strong>tergrund<br />

der Mädchen. Gründe der Schulverweigerung werden so vielleicht deutlicher.<br />

Allerd<strong>in</strong>gs sollte hierbei beachtet werden, daß nicht alle gemachten Aussagen<br />

auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen können zwar<br />

beschrieben werden, der E<strong>in</strong>zelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge zu verlieren.<br />

Im Anschluß daran folgt e<strong>in</strong> Förderkonzept, das auf die soziale bzw. geschlechtsspezifische<br />

Ausgangslage der Mädchen e<strong>in</strong>geht.<br />

Die familiäre Situation<br />

Alle bisher befragten Mädchen stammen aus relativ<br />

k<strong>in</strong>derreichen Familien (3 - 6 K<strong>in</strong>der), <strong>in</strong> der <strong>in</strong> der<br />

Regel auch noch jüngere Geschwister vorhanden s<strong>in</strong>d.<br />

Regelmäßig und häufig s<strong>in</strong>d die Familien zusätzlich<br />

Aufenthaltsort von Freunden, Nachbarn, Verwandten<br />

etc. und deren K<strong>in</strong>dern. Ruhe und die <strong>in</strong>tensive<br />

Beschäftigung mit e<strong>in</strong>er Person ist so gut wie unmöglich.<br />

Aggressivität, autoritäre Strukturen, Diszipl<strong>in</strong>ierungen,<br />

Kontrolle und widersprüchliche Anordnungen<br />

s<strong>in</strong>d stark ausgeprägt. Pflichten, nicht Rechte<br />

haben den Vorrang. Auch wenn Eltern (vordergründig)<br />

den Anspruch haben, daß ihre Töchter “etwas lernen”<br />

sollen, unterstützen sie diesen Anspruch jedoch<br />

häufig nicht, sondern glauben eher an das Versagen<br />

als an den Erfolg ihrer Tochter: „Das schaffst Du ja<br />

doch nicht!“ oder „Du könntest es ja schaffen, aber<br />

71


72<br />

...!“ Die Unzufriedenheit mit der eigenen Situation und das daraus resultierende<br />

reduzierte Selbstbewußtse<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d wohl der Grund für solche Äußerungen. Langzeitarbeitslosigkeit,<br />

Sozialhilfebezug, Scheidung, ke<strong>in</strong>e abgeschlossene Berufsausbildung,<br />

Suchtstrukturen (z. B. Alkoholismus) und wenig bzw. unrealistische Zukunftspläne<br />

s<strong>in</strong>d die Themen bzw. die Vorbilder, mit denen sich die Mädchen<br />

ause<strong>in</strong>andersetzen müssen. Alle<strong>in</strong> diese Vielzahl der geschilderten Problembereiche<br />

haben eher beh<strong>in</strong>dernde als unterstützende Wirkung. Die Weitergabe von tradierten<br />

Geschlechterrollenzuweisungen, die Reduktion auf die Versorgungsfunktion<br />

der Frau für Mann und K<strong>in</strong>der sowie Gewalt gegen Frauen und sexueller Mißbrauch<br />

gehören ebenso dazu. . Auch wenn die betroffenen Familien ihre Unzulänglichkeiten<br />

und Schwierigkeiten nur ungern e<strong>in</strong>gestehen bzw. nicht wahrhaben wollen<br />

(der Sche<strong>in</strong> nach außen wird grundsätzlich gewahrt), so sehen sie sich doch spätestens<br />

dann damit konfrontiert, wenn die Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen der sozialen Dienste<br />

der Familie wieder e<strong>in</strong>en Besuch abstatten. Gründe der Schulverweigerung werden<br />

so vielleicht deutlicher. Allerd<strong>in</strong>gs sollte hierbei beachtet werden, daß nicht<br />

alle gemachten Aussagen auf alle Mädchen gleichermaßen zutreffen. Tendenzen<br />

können zwar beschrieben werden, der E<strong>in</strong>zelfall ist dabei aber nicht aus dem Auge<br />

zu verlieren. Im Anschluß daran folgt e<strong>in</strong> Förderkonzept, das auf die soziale bzw.<br />

geschlechtsspezifische Ausgangslage der Mädchen e<strong>in</strong>geht.<br />

Die psychosoziale Situation der Mädchen<br />

... ist geprägt durch die Widersprüche, die sie zu Hause erleben und den Vorstellungen<br />

von der eigenen Zukunft, die größtenteils zwar sehr klar, aber zumeist genauso<br />

unrealistisch s<strong>in</strong>d, wie die ihrer Eltern („heile Welt“- Vorstellungen von Beruf,<br />

Partnerschaft und Familie).<br />

Zukunft wird eher erlebt als etwas, was sich <strong>in</strong> weiter Ferne abspielt und was<br />

man nicht heute schon leben bzw. bee<strong>in</strong>flussen kann: Die Zukunft wird geträumt<br />

– gelebt wird eher zufällig. Dieser Widerspruch zwischen Traum und Wirklichkeit,<br />

das ständige Scheitern an den eigenen überhöhten Ansprüchen hat Resignation<br />

zur Folge und bee<strong>in</strong>flußt auch das Verhältnis zur Zeit. Zeit wird als etwas erlebt,<br />

von dem man unendlich viel zur Verfügung hat. Anstrengungen zur Realisierung<br />

der eigenen Ziele bzw. zur Veränderung unbefriedigender Situationen, werden „irgendwann<br />

demnächst“ <strong>in</strong> Angriff genommen, weil man jetzt ja doch nichts verändern<br />

kann.<br />

So wird zum Thema Berufs- und Lebensplanung der Zugang fast ausschließlich<br />

über Träumen gefunden und nicht über realistische Planung und dementsprechen<strong>des</strong><br />

Verhalten. Da über Leistungen im Bereich Schule und Berufsausbildung aktuell<br />

ke<strong>in</strong>e Anerkennung bezogen werden kann, versuchen die Mädchen, sich dies <strong>in</strong><br />

anderen Bereichen zu holen. Dies manifestiert sich tendenziell <strong>in</strong> zwei Verhaltensweisen<br />

Zum e<strong>in</strong>en über sehr rollenkonformes Verhalten, d. h. z. B. die Reduktion<br />

über die weibliche Versorgungsfunktion wird gerne angenommen, <strong>in</strong>dem häufig<br />

sehr liebevoll und verantwortungsbewußt, aber vor allen D<strong>in</strong>gen mit e<strong>in</strong>em hohen<br />

Maß an Selbständigkeit für kle<strong>in</strong>e Geschwister (oder Nachbarsk<strong>in</strong>der etc.) gesorgt<br />

wird.<br />

Dabei ist der Aspekt <strong>des</strong>-Drucks durch die Familie nicht zu unterschätzen. Viele<br />

Mädchen beziehen nur durch diese Familienarbeit ihre Anerkennung von Seiten


der Eltern und die Zuneigung der K<strong>in</strong>der als emotionale Stütze. Dies gilt ebenso im<br />

Umgang mit Partnerschaften. Eigene Ansprüche und Interessen werden stark<br />

zurückgeschraubt, um ganz für den Anderen da zu se<strong>in</strong> und ihm zu gefallen.<br />

Die Fürsorge, die sie anderen zuteil werden lassen, f<strong>in</strong>det selten Anwendung auf<br />

sie selbst. Die zweite, relativ häufig zu beobachtende Verhaltensweise, ist Rebellion.<br />

Die Ablehnung jeglicher Kontrolle und Reglementierung, gepaart mit zum Teil<br />

sehr aggressivem Verhalten, stehen hier im Vordergrund. Obwohl mit diesem Verhalten<br />

eher negative als positive Aufmerksamkeit errungen wird, ist dies doch e<strong>in</strong>e<br />

Möglichkeit für die Mädchen, sich abzugrenzen bzw. “auf gar ke<strong>in</strong>en Fall so zu<br />

werden wie die anderen oder sogar ihre Eltern”. Die bisher beschriebene Situation<br />

der Mädchen hat aber nicht zur Folge, daß vorhandene Energien dazu verwandt<br />

werden, ihre Situation zu verändern, sondern vielmehr e<strong>in</strong> “nicht wahr haben wollen“.<br />

E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die eigene Situation würde e<strong>in</strong> gewisses Maß an Selbstbewußtse<strong>in</strong><br />

voraussetzen, d. h. Kenntnis über eigene Fähigkeiten, Stärken und Schwierigkeiten<br />

zu haben-.<br />

Dieses Selbstbewußtse<strong>in</strong> ist bei den meisten Mädchen nur ansatzweise bzw. nur<br />

vordergründig vorhanden. Schließlich geht es ja meistens irgendwie - und manchmal<br />

auch gar nicht nur schlecht, und dann kommt ja auch irgendwann der ´„Traumpr<strong>in</strong>z“,<br />

der sie auf Händen trägt und sie aus ihrem Dilemma erlöst. Hier wird deutlich,<br />

daß die Mädchen ihr Leben eher passiv, d. h. <strong>in</strong> Abgängigkeit von anderen<br />

bzw. von äußeren Umstanden, als aktiv, kreativ und als selbständig bee<strong>in</strong>flußbar<br />

erleben.<br />

Die Rolle der Schule<br />

Auch das Verhältnis zur Schule ist ebenfalls widersprüchlich besetzt. E<strong>in</strong>erseits<br />

ist die Schule der Weg, der beschritten werden muß <strong>in</strong> Richtung Berufsausbildung<br />

und e<strong>in</strong> eigenständiges Leben. Andererseits ist es den Mädchen fast unmöglich,<br />

ohne entsprechende Hilfen und Unterstützung (siehe familiäre Situation), den Leistungsanforderungen<br />

und Strukturen der Schule so gerecht zu werden, um hierüber<br />

ihre Anerkennung zu beziehen. Intensive E<strong>in</strong>zelförderung ist hier wohl eher<br />

die engagierte Ausnahmen als die Regel, und <strong>in</strong> dem Maße, <strong>in</strong> dem die stattf<strong>in</strong>den<br />

müßte, häufig auch nicht leistbar. H<strong>in</strong>zu kommt hier noch häufig die zunehmende<br />

Bedrohung von Gewalt bzw. sexueller Gewalt durch Mitschüler, der auch Lehrer<br />

zunehmend hilflos gegenüber stehen. Verlust <strong>des</strong> Vertrauens <strong>in</strong> die Handlungsbereitschaft<br />

der Lehrer/<strong>in</strong>nen, das Gefühl alle<strong>in</strong> gelassen und nicht ernst genommen<br />

zu werden, als Mädchen nicht über geeignete Durchsetzungsstrategien<br />

zu verfügen und aus eigener Kraft die Situation nicht verändern zu können, läßt<br />

den Mädchen kaum e<strong>in</strong>e andere Wahl als gelernte Konfliktlösungsmuster anzuwenden:<br />

Aggression und/oder Rückzug. Hat sich die „Negativ-Spirale“ e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong><br />

Gang gesetzt (je weniger Spaß die Schule macht, je schlechter die Leistungen werden,<br />

je weniger Anerkennung, <strong>des</strong>to seltener geht man überhaupt noch h<strong>in</strong>), sche<strong>in</strong>t<br />

die Schule nicht die geeigneten Kapazitäten zu besitzen, hier wieder kompensierend<br />

und aufbauend zu wirken.<br />

Daß die Mädchen trotzdem immer mal wieder an der Schule „auftauchen“, hat<br />

Signalkraft <strong>in</strong> unterschiedliche Richtungen: Das Spektrum reicht von „Auch, wenn<br />

ihr mich nicht wollt, müßt ihr trotzdem noch mit mir rechnen!“ über „Mal sehen<br />

73


74<br />

was hier noch so los ist!?“ bis „Eigentlich ist Schule gar nicht so schlecht - vielleicht<br />

versuche ich es doch noch e<strong>in</strong>mal! “. Wird dieses „ab und zu mal auftauchen“ auch<br />

noch negativ sanktioniert <strong>in</strong> Form von Aussagen wie z. B.: „Was willst Du denn<br />

hier?“ oder: „Wer bist Du denn? Muß ich Dich kennen?“, wird der Glaube <strong>in</strong> die<br />

Institution Schule, an mögliche Hilfen und Unterstützung, sicherlich nicht bestärkt.<br />

Die vorausgegangenen Ausführungen machen e<strong>in</strong>en Handlungsbedarf deutlich<br />

der sich an folgenden Zielsetzungen orientiert:<br />

1. Lernziele bezogen auf e<strong>in</strong>e Stärkung <strong>des</strong> Selbstwertgefühls<br />

Zu e<strong>in</strong>er erfolgreichen Förderung von Mädchen ist neben der schulischen und<br />

werkpraktischen Ausbildung auch der Erwerb von Durchsetzung- und Selbstbehauptungsstrategien<br />

unumgänglich, um sich vor Übergriffen verbaler und körperlichen<br />

Art wirksam zur Wehr zu setzen und e<strong>in</strong> positives Selbstbild zu entwikkeln<br />

und zu stabilisieren. Dazu gehören neben der Ause<strong>in</strong>andersetzung der<br />

eigenen Lebensbiographie, den weiblichen Vorbildern, der Selbstreflektion ebenso<br />

Körperarbeit, Selbstverteidigung und die Erschließung weiterer Bewegungsräume.<br />

Umsetzung: Kurse, Wochenendsem<strong>in</strong>are: JBH e.V., e.V.. unter Beteiligung e<strong>in</strong>er<br />

Fachfrau (Wen-Do).<br />

2. Lernziele bezogen auf das Sozialverhalten<br />

Entwicklung von Konfliktfähigkeit, Gesprächs- und Kooperationsfähigkeit Als E<strong>in</strong>stieg<br />

soll hierbei die Verschiedenartigkeit der Menschen, ihre Individualität und<br />

E<strong>in</strong>zigartigkeit verdeutlicht werden. Die Umsetzung dieser Lernziele erfolgt<br />

schwerpunktmäßig <strong>in</strong> der Jugendwerke<strong>in</strong>richtung (JWE). So geht die Arbeit nach<br />

festen Regeln vonstatten, die grundlegende soziale Qualifikationen für das Arbeitsleben<br />

darstellen: a) Regelmäßiges Kommen b) Diszipl<strong>in</strong>iertes Verhalten c)<br />

E<strong>in</strong>fügen <strong>in</strong> die Gruppe. Weiterh<strong>in</strong> werden durch die Werkpraxis Erfolgserlebnisse<br />

möglich, die ansonsten <strong>in</strong> ihrem Leben selten s<strong>in</strong>d (Kompetenzgew<strong>in</strong>n und<br />

Steigung <strong>des</strong> Selbstwertgefühls).<br />

Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit (E<strong>in</strong>satz von Medien und Rollenspielen): JWE.<br />

3. Lernziele bezogen auf schulische Leistungen<br />

Der allgeme<strong>in</strong>bildende Unterricht seitens der Lehrer<strong>in</strong> bildet e<strong>in</strong>e wichtige Grundlage,<br />

um e<strong>in</strong>e Verbesserung der (schulischen) Lern- und Leistungsmotivation aufzubauen.<br />

Der außerschulische Lernort bietet die Möglichkeit, “Lernen neu zu lernen” und<br />

eröffnet Chancen im Aufbau e<strong>in</strong>er vertrauensvollen und tragfähigen Beziehung<br />

zwischen Schüler<strong>in</strong> und Lehrer<strong>in</strong>. In der Folge kann e<strong>in</strong>e andere Sicht auf Schule<br />

entstehen. Im Kontext mit sozialer Gruppenarbeit und E<strong>in</strong>zelhilfe können Gründe<br />

für das Schulverweigerungsverhalten offengelegt, bearbeitet und im E<strong>in</strong>zelfall<br />

Chancen e<strong>in</strong>er Re<strong>in</strong>tegration <strong>in</strong> Schule eröffnet werden .<br />

Umsetzung: Unterricht <strong>in</strong> allgeme<strong>in</strong>bildenden Fächern, E<strong>in</strong>zel- und Gruppenarbeit.


4. Lernziele bezogen auf geschlechtsspezifische Verhaltensmuster<br />

Im Mittelpunkt steht die Reflexion über weibliche Rollenmuster und die Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit der gesellschaftlichen Rolle von Frauen. Die Erwartungen gegenüber<br />

Mädchen s<strong>in</strong>d widersprüchlich: Elterliche Fürsorge und Kontrolle, Normen<br />

der Gleichaltrigengruppe, Ansprüche <strong>des</strong> Freun<strong>des</strong>/Partners usw.. Arbeit<br />

mit Mädchen muß ihren Mut machen zur Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den Erwartungen<br />

von außen und e<strong>in</strong>en für sie akzeptablen Weg zu f<strong>in</strong>den. Dazu gehört<br />

unter anderem: - Unterschiedliche Rollenbilder zu bearbeiten - Mit ihren Strategien<br />

zu erarbeiten, wie sie mit widersprüchlichen Erwartungen umgehen und<br />

e<strong>in</strong>e eigenständige Entscheidungs- und-Handlungskompetenz aufbauen können.<br />

Umsetzung: Soziale Gruppenarbeit: JWE, Sem<strong>in</strong>are zur Lebensplanung: JBH e.V.<br />

5. Lernziele bezogen auf die Aufnahme e<strong>in</strong>er qualifizierten Berufsausbildung<br />

(Information über Berufsbereiche und -felder, Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen und Verdienstmöglichkeiten)<br />

Mädchen wollen bei<strong>des</strong>: Beruf und Familie. Ihr Lebensentwurf ist geprägt durch<br />

die Suche nach der Vere<strong>in</strong>barkeit. Ziel ist es, e<strong>in</strong>e tragfähige berufliche Motivation<br />

aufzubauen, <strong>in</strong>dem die Mädchen Informationen über Berufe, Verdienstmöglichkeiten,<br />

Vor- und Nachteile der typischen Frauenberufe und das Wissen über<br />

e<strong>in</strong>en beruflichen Alltag vermittelt werden. Praktika können e<strong>in</strong>en solchen E<strong>in</strong>blick<br />

<strong>in</strong> die Arbeitswelt geben und möglicherweise Chancen für e<strong>in</strong>en betrieblichen<br />

Ausbildungs- oder Arbeitsplatz eröffnen.<br />

Umsetzung: Sem<strong>in</strong>are zur Lebens- und Berufsplanung: BB/JBH e.V. Praktika: Vorbereitung,<br />

Begleitung und Nachbereitung (unter sorgfältiger Auswahl der <strong>in</strong> Frage<br />

kommenden Betriebe): JWE/JBH e.V./BB E<strong>in</strong>zelgespräche: BB/JBH e.V./JWE. Besuche<br />

im BIZ: BB/JBH e.V. Bewerbungstra<strong>in</strong><strong>in</strong>g: JBH e.V./Unterricht Kooperation<br />

mit außenbetrieblichen Ausbildungsstätten<br />

6. Lernziele bezogen auf den gewerblich- technischen Bereich und<br />

Neue Technologien<br />

E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> die Arbeitsfelder Holz, Metall, Elektro (Materialarten, Werkzeuge),<br />

Vermittlung von Grundkenntnissen im Umgang mit Computern<br />

Zur Erweiterung <strong>des</strong> Ausbildungs- und Berufswahlspektrums müssen oftmals<br />

Hemmschwellen überwunden werden, um den Umgang mit den ungewohnten<br />

Materialien und Geräten e<strong>in</strong>zuüben. Diese Hemmschwellen abzubauen, verlangt<br />

neben den Informationen über die gewerblich-technischen Berufe auch die Möglichkeit,<br />

mit den Werkstoffen und Werkzeugen praktische Erfahrungen zu sammeln.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus kommt Kenntnissen im Umgang mit Computern, die heutzutage<br />

<strong>in</strong> immer mehr Berufen gefragt s<strong>in</strong>d, e<strong>in</strong>e große Bedeutung zu.<br />

Umsetzung: Berufserprobung (Probier- oder Schnuppertage) <strong>in</strong> Werkstätten<br />

(Förderlehrgänge): BB/JBH e.V. Computerkurse; JBH e.V./Schule (unter Anleitung<br />

e<strong>in</strong>er Fachfrau).<br />

75


Anhang<br />

Projekte stellen sich vor<br />

Auszüge aus der Vorabdokumentation, <strong>in</strong> der die sich auf dem Kongreß während<br />

der Projektmesse vorstellenden Maßnahmen mit Konzeptionen oder Erfahrungsberichten<br />

vorgestellt wurden.<br />

77


78<br />

Städtische Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstr. 12, 50996 Köln<br />

Jahrespraktikum für die Klasse 10A<br />

– Kurz<strong>in</strong>formation –<br />

E<strong>in</strong> erheblicher Anteil von Schülern/<strong>in</strong>nen f<strong>in</strong>det nach dem Abschluß der Klasse<br />

1OA nicht den Weg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ausbildungsberuf. Nach e<strong>in</strong>er Erhebung <strong>des</strong> Schulamtes<br />

für die Stadt Köln begannen am Ende <strong>des</strong> Schuljahres 1992/93 lediglich 48,2%<br />

der Abgänger aus Klasse 10A e<strong>in</strong> Ausbildungsverhältnis. Dieser Prozentsatz würde<br />

sich noch weiter verr<strong>in</strong>gern, wenn es e<strong>in</strong>e Kontrollerhebung nach ca. drei Monaten<br />

gäbe.<br />

Die Ursachen für dieses negative Ergebnis s<strong>in</strong>d vielfältig. Trotz gezielter<br />

Berufswahlvorbereitung im herkömmlichen S<strong>in</strong>n, das heißt gem. Richtl<strong>in</strong>ien, Lehrplänen,<br />

Erlassen und den damit verbundenen Maßnahmen, bleiben die angestrebten<br />

Ergebnisse weit h<strong>in</strong>ter den Erwartungen zurück.<br />

Um den Schülern/<strong>in</strong>nen der Klasse 1OA die Lebensrealität „Beruf“‘ über das dreiwöchige<br />

Betriebspraktikum h<strong>in</strong>aus näherzubr<strong>in</strong>gen, ist für diese Zielgruppe e<strong>in</strong><br />

“Jahrespraktikum” e<strong>in</strong>gerichtet worden. Das bedeutet, daß die Jugendlichen der<br />

Klasse 1OA an e<strong>in</strong>em bestimmten Wochentag, zur Zeit ist das der Donnerstag,<br />

e<strong>in</strong>en Teil ihres Unterrichts <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Betrieb absolvieren. In der Regel ist das der<br />

Betrieb, <strong>in</strong> dem die Schüler/<strong>in</strong>nen ihr Betriebspraktikum, das an den Schuljahresbeg<strong>in</strong>n<br />

gelegt worden ist, abgeleistet haben.<br />

Neben e<strong>in</strong>er Reihe von anderen Vorteilen, etwa unter dem Gesichtspunkt <strong>des</strong><br />

sich Öffnens von Schule, wird durch dieses Jahrespraktikum e<strong>in</strong>e Erleichterung h<strong>in</strong>sichtlich<br />

<strong>des</strong> Übergangs von der Schule <strong>in</strong> den Beruf angestrebt:<br />

Nach wie vor bestehende Unsicherheiten können weiterh<strong>in</strong> ausgeräumt werden,<br />

die Lernmotivation unter dem Gesichtspunkt e<strong>in</strong>er sich noch konkreter gestaltenden<br />

Berufsorientierung soll gesteigert werden, und nicht zuletzt, so bleibt zu hoffen,<br />

wird dieser oder jener Ausbildungsvertrag auf diese Weise angebahnt werden<br />

können.<br />

Für dieses Jahrespraktikum wird die Stundentafel für die Klasse 1OA um den mit<br />

vier Stunden angesetzten Wahlpflichtunterricht gekürzt. Die im Betrieb gezeigten<br />

Leistungen werden auf dem Zeugnis ausgewiesen. Berufsqualifizierende Merkmale<br />

wie Beobachtungsfähigkeit, Ausdauer, Sorgfalt, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit<br />

und anderes mehr (s. dazu Anlage) werden von den Betrieben beurteilt. Auf dieser<br />

Grundlage erteilt der Klassenlehrer dann die Note im Wahlpflichtbereich.<br />

Anlage: Berufvorbereitungsklasse ( BVK ) / zur Zeit 8. Jahrgangsstufe<br />

– Kurz<strong>in</strong>formation –<br />

Die Problematik der Überalterten / schulmüden Schüler/<strong>in</strong>nen, zunehmend vor<br />

allen D<strong>in</strong>gen ab Klasse 8, ist h<strong>in</strong>reichend bekannt. Solange diese Schülergruppe<br />

die Vollzeitschulpflicht noch nicht erfüllt hat, gibt es kaum geeignete Möglichkeiten,<br />

die Gefahr der Abkoppelung von der Schule verh<strong>in</strong>dern.<br />

Die Möglichkeiten <strong>des</strong> § 6a SchPflG, das zehnte Pflichtschuljahr an e<strong>in</strong>er berufsbildenden<br />

Schule abzuleisten, ist <strong>in</strong> bei weitem nicht allen Fällen e<strong>in</strong>e geeignete


Ersatzlösung. Die Beschulung dieser Schüler an außerschulischen Lernorten, wie<br />

das <strong>in</strong> Köln zur Zeit versucht wird, eröffnet <strong>in</strong> der Tat s<strong>in</strong>nvolle Alternativen. Da<br />

aber die Aufnahmekapazität sehr begrenzt ist, bedeutet diese Maßnahme e<strong>in</strong>e<br />

Chance für lediglich wenige Jugendliche.<br />

Die Maßnahme der Hauptschule R<strong>in</strong>gelnatzstraße, die überalterten/ schulmüden<br />

Schüler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen Klasse zusammenzufassen, geht von der Überlegung<br />

aus, daß diese Schülergruppe durch differenzierende Maßnahmen welcher<br />

Art auch immer im Verband e<strong>in</strong>er Regelklasse nicht mehr erreichbar ist. Die Zusammenfassung<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er besonderen Klasse dient dem Ziel der Berufsforderung.<br />

Die Gefahr <strong>des</strong> sich völligen Ablösens von Schule soll verh<strong>in</strong>dert werden durch<br />

– e<strong>in</strong> vermehrtes handlungsorientiertes Angebot aus dem Bereich AW.<br />

– Berufswahlvorbereitung.<br />

– Betriebspraktika bereits <strong>in</strong> Stufe 8.<br />

Das Ziel ist das Erreichen <strong>des</strong> Hauptschulabschlusses nach der Klasse 9. Zwei<br />

Lehrer<strong>in</strong>nen und e<strong>in</strong> Fachlehrer mit wenigen Stunden decken das Unterrichtsangebot<br />

für die Klasse ab. Geplantes Teamteach<strong>in</strong>g ist aufgrund der derzeitigen Lehrerbesetzung<br />

leider nicht möglich.<br />

Bei zwei Abgängen durch Umzug umfaßt die Klasse zur Zeit 14 Schüler. Konkrete<br />

Erwägungen führten bei der Zusammensetzung zur Bildung e<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Jungenklasse.<br />

Absehbar ist, daß drei bis vier Schüler dem Hauptschulabschluß nach<br />

Klasse 9 nicht mehr nähergebracht werden können. Sie werden die Schule am Ende<br />

dieses Schuljahres verlassen. Über geeignete Anschlußmaßnahmen wird derzeit<br />

nachgedacht.<br />

Im kommenden Schuljahr wird die Klasse durch weitere Schüler dieser Zielgruppe<br />

aufgefüllt und als Klasse 8/9 weitergeführt.<br />

79


80<br />

Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong><br />

Kurzdarstellung der konzeptionellen Grundlagen der Bildungsform<br />

„Praxislernen“ <strong>in</strong> der Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong><br />

Ziel nach Konzeption der Bildungsform der Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong> ist es, Schülern,<br />

die mit Formen traditionellen Bildungserwerbs <strong>in</strong> Konflikt geraten s<strong>in</strong>d, durch<br />

lebensverbundenes selbsttätiges Lernen mit „Ernstcharakter“ e<strong>in</strong>en Neuzugang<br />

zu Bildung zu eröffnen. Bildung soll kurz- wie langfristig als subjektiv bedeutsam<br />

erlebt werden. Bildung muß somit an <strong>in</strong>dividuellen Bildungs<strong>in</strong>teressen anknüpfen<br />

und soll längerfristig zur Entwicklung von beruflichen und persönlichen Perspektiven<br />

führen. Es soll die Fähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung entwickelt werden.<br />

Bildung soll gleichermaßen e<strong>in</strong>e objektive Bedeutsamkeit haben, d. h. sie soll die<br />

Aneignung der für den gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß erforderlichen<br />

Kenntnisse und Kompetenzen ermöglichen. Die Bereitschaft dazu von K<strong>in</strong>dern und<br />

Jugendlichen ist um so größer, je unmittelbarer ihnen der Gebrauchswert e<strong>in</strong>es<br />

von ihnen bearbeiteten Produkts bzw. der persönliche oder gesellschaftliche Nutzen<br />

ihrer Tätigkeit e<strong>in</strong>sichtig ist.<br />

„Praxislernen“ als Bildungsansatz geht aus von e<strong>in</strong>em erweiterten Verständnis<br />

von Allgeme<strong>in</strong>bildung. Darunter faßt die Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong> folgen<strong>des</strong>:<br />

– die Vermittlung von Faktenwissen<br />

– die Aneignung und Erweiterung von Fertigkeiten den Ausbau von Methodenkompetenzen<br />

(z. B. Informationsgew<strong>in</strong>nung und -verarbeitung) die Weiterentwicklung<br />

von Sozialkompetenzen (z. B. Kritik- und Konfliktfähigkeit, Teamfähigkeit,<br />

Kommunikationsfähigkeit)<br />

– die Stärkung von Selbstkompetenzen (z. B. Interessenentwicklung, Kreativität,<br />

Selbständigkeit und Verantwortung)<br />

– die Entwicklung konkreter Lebens- und Berufsperspektiven.<br />

Deshalb ist „Praxislernen“ auf e<strong>in</strong>e Verzahnung von <strong>in</strong>teressengeleitetem produktivem<br />

Handeln, fachlichen bzw. fachwissenschaftlichen Inhalten, kulturellen<br />

Traditionen, Lebensbezug, Berufsorientierung, partizipatorischer Tätigkeit <strong>in</strong> Schule<br />

und Gesellschaft angelegt. Die Schüler der Stadt-als-Schule durchlaufen somit e<strong>in</strong><br />

dem Regelschulangebot gleichwertiges, aber nicht gleichartiges Allgeme<strong>in</strong>bildungsangebot.<br />

Der Bedarf für e<strong>in</strong>en derartigen Bildungsansatz wird daraus abgeleitet, daß es<br />

weder für die Erfordernisse der modernen Arbeitswelt noch für die eigene Lebensgestaltung<br />

im persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Bereich ausreicht,<br />

vor allem unverbundenes enzyklopädisches Wissen vermittelt zu bekommen, um<br />

dann letztlich unvorbereitet und übergangslos <strong>in</strong> die Welt der Erwachsenen entlassen<br />

zu werden. Zum e<strong>in</strong>en verändern sich zur Zeit Qualifikationsanforderungen<br />

weg von „<strong>in</strong>dividueller Wissensbevorratung“ h<strong>in</strong> zu mehr Sozial- und Methodenkompetenz.<br />

Zum anderen nehmen <strong>in</strong> der Informationsgesellschaft“ außerschulische<br />

Informationsmöglichkeiten <strong>in</strong> unüberschaubarer und unbewältigbarer Weise<br />

zu, eigene Handlungs- und Erfahrungsspielräume dagegen schw<strong>in</strong>den. Diese<br />

aber brauchen K<strong>in</strong>der und Jugendliche, um sich Kenntnisse und Kompetenzen wirk-


lich anzueignen, um ihre Persönlichkeit zu entfalten und ihren Platz <strong>in</strong> der Gesellschaft<br />

zu f<strong>in</strong>den. Viele Jugendliche verweigern sich heutzutage dem schulischen<br />

Lernen <strong>in</strong> aktiver („Schule schwänzen“) oder passiver Form (z. B. Rückzug <strong>in</strong> die<br />

<strong>in</strong>nere Emigration). Die Gründe dafür s<strong>in</strong>d vielfältig. Schulverweigerung bzw. schulisches<br />

Scheitern ist u. a. <strong>in</strong> der familialen Sozialisation zu suchen, deren veränderte<br />

Bed<strong>in</strong>gungen ihrerseits wiederum Folge gesellschaftlichen Wandels s<strong>in</strong>d. Schulverweigerung<br />

ist oft Ausdruck von Gefühlen der S<strong>in</strong>n- und Perspektivlosigkeit oder<br />

auch der Über- bzw. Unterforderung - und damit Streß bzw. Langeweile - und der<br />

Nicht-Anerkennung. Schule kann nicht zum Reparaturbetrieb der Gesellschaft<br />

werden, das würde sie nicht nur überfordern, sondern sie schlicht <strong>in</strong> ihrem Auftrag<br />

mißverstehen. Aber als Institution muß sie beweglicher werden, muß sie veränderte<br />

Bildungs-, Handlungs- und Erfahrungsbedürfnisse berücksichtigen, will sie<br />

ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechen.<br />

„Praxsislernen“ ist e<strong>in</strong> Reformansatz von Allgeme<strong>in</strong>bildung, der es Jugendlichen<br />

ermöglichen will, durch produkt- und prozeßorientiertes Handeln <strong>in</strong> realen Arbeitsund<br />

Alltagssituationen zu lernen. Der Bildungsansatz setzt sich zusammen aus dem<br />

„Lernen <strong>in</strong> der Stadt“ (LIST) und dem „Lernen im Schulprojekt“ (LISP).<br />

Mit dem „Lernen <strong>in</strong> der Stadt“, dem Kernstück der Bildungsform „Praxislernen“,<br />

öffnet sich Schule dem Leben, der Arbeitswelt, der Stadt. Diese Öffnung von Schule<br />

schafft Partizipationsmöglichkeit für Jugendliche und mehr Authentizität beim<br />

Lernen. Der Name “Die Stadt-als-Schule Berl<strong>in</strong>” ist Programm: Die Stadt mit ihren<br />

vielfältigen Lerngelegenheiten und Lernanlässen wird für Jugendliche während der<br />

Hälfte ihrer wöchentlichen Schulzeit zum außerschulischen Lernort. Während ihres<br />

zweijährigen Bildungsganges wählen die Schüler sechs mehrmonatige „Praxislernprojekte“<br />

<strong>in</strong> verschiedenen Berl<strong>in</strong>er Betrieben, Verwaltungen, sozialen und<br />

kulturellen E<strong>in</strong>richtungen.<br />

Mit jedem der gewählten Praxislernprojekte begeben sich die Schüler für die<br />

Dauer e<strong>in</strong>es Trimesters <strong>in</strong> für sie neue soziale Zusammenhänge. Je besser diese<br />

Integrationsleistung (von beiden Seiten gel<strong>in</strong>gt, je mehr sich auch der Schüler angenommen<br />

fühlt, umso größer wird auch die mit dem Bildungsansatz <strong>in</strong>tendierte<br />

Bereitschaft, über praktisches Lernen h<strong>in</strong>aus Erfahrungen zu reflektieren. Erst die<br />

Aneignung von Kultur durch Tätigkeit mit „Ernstcharakter“ und die Bereitschaft,<br />

Erfahrung zu reflektieren, grenzen „Praxislernen“ zu „praktischem Lernen“ h<strong>in</strong>reichend<br />

ab.<br />

Die Situation am jeweiligen Praxisplatz mit den dort tätigen Menschen, den konkreten<br />

Arbeitsaufträgen, den für Schüler potentiellen Betätigungsmöglichkeiten<br />

soll e<strong>in</strong>en möglichst großen Aufforderungscharakter zum Handeln haben, sie soll<br />

Fragen provozieren und anregen, e<strong>in</strong> an eigenen Bildungs<strong>in</strong>teressen orientiertes<br />

Vorhaben zu verfolgen.<br />

Im Verlauf ihres Praxislernprojekts planen und reflektieren die Schüler ihre Tätigkeit,<br />

erkunden und klären sie als fragwürdig und nachdenkenswert erlebte Sachverhalte<br />

und Zusammenhänge, bearbeiten sie Erkundungsaufgaben, eignen sie<br />

sich Kenntnisse und Fertigkeiten, Arbeits- und Lernmethoden sowie Sozialkompetenz<br />

an. Auf dem (Bildungs-) Weg zu e<strong>in</strong>em möglichst von ihnen selbst def<strong>in</strong>ierten<br />

Ziel ihres Praxislernprojekts, z. B. e<strong>in</strong>em materiellen oder ideellen Produkt,<br />

der Lösung e<strong>in</strong>er umfangreicheren Aufgabe, werden die Schüler von ihren<br />

Pädagogen (Experten für Lernprozesse und Bildungssituationen) und Praxis-<br />

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82<br />

mentoren (Experten für das Fachgebiet am Praxisplatz) beratend bzw. fachlich<br />

anleitend begleitet und unterstützt.<br />

Anders lernen heißt auch anders lehren und setzt demzufolge e<strong>in</strong>e veränderte<br />

Pädagogenrolle voraus. Die zuständigen Pädagogen werden im wesentlichen zu<br />

Organisatoren von Bildungssituationen, zu Initiatoren und Moderatoren von<br />

Bildungsprozessen. Mit ihren Schülern geme<strong>in</strong>sam erschließen sie die Praxissituation<br />

für Bildung. Ausgehend von den konkreten Praxissituationen an den außerschulischen<br />

Lernorten, dem <strong>in</strong>dividuellen Bildungsstand, dem Tätigkeits- und<br />

Bildungs<strong>in</strong>teresse sowie <strong>in</strong>dividuellen sozialen und emotionalen Bedürfnissen der<br />

Jugendlichen entwickeln sie <strong>in</strong> Absprache mit ihnen und den Praxismentoren jeweils<br />

<strong>in</strong>dividuelle Lernpläne.<br />

Die Bildungs<strong>in</strong>tentionen, vor allem auch die <strong>in</strong>haltlichen, gelten ke<strong>in</strong>eswegs nur<br />

für das Lernen <strong>in</strong> Unterrichtsangeboten <strong>in</strong>nerhalb der Schule. Sie gelten gleichermaßen<br />

für das Lernen vor Ort <strong>in</strong> den Praxislernprojekten. Dies unterscheidet das<br />

Bildungsangebot der Stadt-als-Schule konzeptionell z. B. von berufsbefähigenden<br />

Maßnahmen und von beruflichen Bildungsgängen, bei denen e<strong>in</strong>e Trennung von<br />

allgeme<strong>in</strong>bildenden und fachlichen bzw. fachpraktischen Inhalten überwiegt.<br />

Das Bildungsangebot <strong>in</strong>nerhalb <strong>des</strong> Schulprojekts („Lernen im Schulprojekt“; LISP)<br />

hat e<strong>in</strong>e Aufarbeitung, Vertiefung und Ergänzung der Erfahrungen aus den Praxislernprojekten<br />

sowie e<strong>in</strong>e Erarbeitung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten zum<br />

Ziel.<br />

Im LISP-Bereich ist auch der Ort für das Lernen <strong>in</strong> der Gruppe der Gleichaltrigen.<br />

In der Arbeit <strong>in</strong> den schul<strong>in</strong>ternen Lerngruppen werden - neben entsprechenden<br />

Möglichkeiten an Praxisplätzen - Teamarbeit und soziales Verhalten gefördert. Hier<br />

kann auch Geborgenheit und Sicherheit gegeben werden, aus der heraus die Schüler<br />

Praxislernprojekte entwickeln und <strong>in</strong> die Tat umsetzen.<br />

Entsprechend diesen vielfältigen Ansprüchen setzt sich das <strong>in</strong>nerschulische Angebot<br />

aus <strong>in</strong> Inhalt und methodischem Ansatz unterschiedlich arbeitenden Gruppen<br />

zusammen: Zum LISP-Bereich gehören die Kommunikationsgruppen, die fächerübergreifenden<br />

Lernbereiche „Sprache, Kunst, Kommunikation“, „Natur und<br />

Technik“, „Gesellschaft und Wirtschaft“ sowie die thematischen Gruppen (Englisch,<br />

Mathematik, Wahlpflicht). Darüber h<strong>in</strong>aus haben die Schüler während ihrer<br />

Schulzeit und ihrer freien Zeit die Möglichkeit, die projekteigenen Materialien und<br />

Ressourcen zu nutzen und zusätzliche Angebote im offenen Ganztagsbetrieb wahrzunehmen.<br />

Wichtig für das verb<strong>in</strong>dliche Bildungsangebot im Schulprojekt aber auch als<br />

Ausgleich für das <strong>in</strong>dividuelle und an wechselnden Orten stattf<strong>in</strong>dende „Lernen <strong>in</strong><br />

der Stadt“ ist es, mit den Schulräumen und dem „Schulleben“ e<strong>in</strong>en „Lebensort<br />

Schule“ zu schaffen, an dem sich mite<strong>in</strong>ander vertraute Menschen begegnen.<br />

Dazu gehört auch die Gestaltung der Räumlichkeiten, an der die Schüler beteiligt<br />

se<strong>in</strong> sollten, damit sie von ihnen angenommen werden. E<strong>in</strong>e eher<br />

schuluntypische Lernumgebung verbessert die Lernatmosphäre und bietet vielleicht<br />

den Anreiz, die „Schulräume“ als Treffpunkt anzusehen, der auch noch nach<br />

dem „Lernen <strong>in</strong> der Stadt“ angesteuert wird (ganztägig offene Schule). Dies entspricht<br />

auch den Erfahrungen aus dem Jugendbildungsprojekt. Hierzu gehört auch,<br />

daß die Pädagogen die Räume über ihre Unterrichtsverpflichtungen h<strong>in</strong>aus als<br />

Arbeitsort ansehen und nutzen. Dies dient der Kooperation und dem - auch spon-


tanen gedanklichen Austausch im Team und eröffnet Schülern gleichzeitig die<br />

Möglichkeit, Pädagogen als Ansprechpartner zu empf<strong>in</strong>den und vorzuf<strong>in</strong>den.<br />

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84<br />

KREISVOLKSHOCHSCHULE AURICH<br />

<strong>des</strong> Landkreises Aurich<br />

Schulverweigerer <strong>in</strong> den Jugendprojektwerkstätten<br />

der Kreisvolkshochschule Aurich<br />

E<strong>in</strong>ordnung <strong>des</strong> Modellversuchs SiJu <strong>in</strong> Niedersachsen<br />

Mit Beg<strong>in</strong>n <strong>des</strong> 2. Schulhalbjahres 1993 führt die Kreisvolkshochschule Aurich <strong>in</strong><br />

ihren Jugendprojektwerkstätten den Schulmodellversuch SiJu („Schulpflichterfüllung<br />

<strong>in</strong> Jugendwerkstätten“) mit bisher 25 Jugendlichen (s. Anlage) durch. Der<br />

Modellversuch ist bis zum Ende <strong>des</strong> Schuljahres <strong>1995</strong>/96 term<strong>in</strong>iert. Durch das<br />

Land Niedersachsen wird e<strong>in</strong>e sozialpädagogische Stelle sowie Sachausgaben f<strong>in</strong>anziert.<br />

Der Modellversuch f<strong>in</strong>det an <strong>in</strong>sgesamt fünf niedersächsischen<br />

Jugendwerkstätten statt. Grundlage ist der § 67, Abs. 5 <strong>des</strong> novellierten Schulgesetzes:<br />

„Jugendliche, die nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Berufsausbildungsverhältnis stehen und <strong>in</strong> besonderem<br />

Maße auf sozialpädagogische Hilfe angewiesen s<strong>in</strong>d, können ihre Schulpflicht<br />

durch den Besuch e<strong>in</strong>er Jugendwerkstatt erfüllen, die auf e<strong>in</strong>e Berufsausbildung<br />

oder e<strong>in</strong>e berufliche Tätigkeit vorbereitet.“<br />

Der Kommentar <strong>des</strong> vorangegangenen Referentenentwurfes führte dazu aus:<br />

„Im Absatz 5 wird die Möglichkeit geschaffen, auch <strong>in</strong> Jugendwerkstätten die<br />

Schulpflicht zu erfüllen. E<strong>in</strong> Teil der Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler, der zunächst das<br />

Berufsvorbereitungsjahr zu besuchen hätte, kann dort besser gefördert werden,<br />

weil er durch schulische Arbeitsformen nur schwer anzusprechen ist und aufgrund<br />

sozialer und <strong>in</strong>dividueller Benachteiligungen im besonderen Maße e<strong>in</strong>er sozialpädagogischen<br />

Förderung bedarf.“ Damit ist die Zielgruppe als benachteiligte Schulverweigerer<br />

beschrieben, die <strong>in</strong>s Berufsvorbereitungsjahr nicht aussichtsreich aufgenommen<br />

werden können<br />

Die Konzeption <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong> Niedersachsen formulierte e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zelfallbezogene,<br />

durch e<strong>in</strong>en Förderplan zu dokumentierende, soziale und berufliche Qualifizierung<br />

als Ziel <strong>des</strong> Modellversuchs, möglichst bis zu e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>führung zu e<strong>in</strong>er qualifizierten<br />

Ausbildung. Dafür seien Verbundmaßnahmen s<strong>in</strong>nvoll, die im Anschluß an das<br />

SiJuJahr weitere vorberufliche Qualifizierungswege und überbetriebliche Ausbildungsgänge<br />

bereithielten. Grundlage für das konsequent außerschulisch strukturierte<br />

Angebot seien die für die über 70 anerkannten niedersächsischen<br />

Jugendwerkstätten verb<strong>in</strong>dlichen „Grundsätze zur arbeitsweltbezogenen Jugendsozialarbeit<br />

<strong>in</strong> Niedersachsen“ (MK-Erlaß vom 14.06.1991).<br />

Die Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich<br />

Da die Gruppe der Schulverweigerer <strong>in</strong> den Rahmen der Jugendprojektwerkstätten<br />

e<strong>in</strong>gebunden werden, wird dieser im folgenden skizziert<br />

Unter dem Dach der Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich<br />

arbeiten und lernen ca. 215 junge Menschen von 15 bis 25 Jahren <strong>in</strong> vier verschie-


denen Häusern und <strong>in</strong> acht Arbeitsfeldern (Holz, Metall, Elektrotechnik/Elektronik,<br />

Büro und Verwaltung, Garten und Landschaftsbau, Hoch- und Tiefbau, Hauswirtschaft).<br />

Die jungen Leute sollen <strong>in</strong> berufsvorbereitenden und Arbeitenund-Lernen-Gruppen<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf die Aufnahme e<strong>in</strong>es Arbeits- oder<br />

Berufsausbildungsverhältnisses auf dem ersten Arbeitsmarkt vorbereitet werden.<br />

Dabei spielt die enge sozialpädagogische Betreuung <strong>in</strong> den Projektgruppen durch<br />

die zuständigen Teams e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. Die Arbeiten <strong>in</strong> den Werkstätten, Büros<br />

und auf den Baustellen s<strong>in</strong>d an der Wirklichkeit orientiert. In erster L<strong>in</strong>ie werden<br />

umfangreiche Auftragsarbeiten erledigt, die geme<strong>in</strong>nützig und gesellschaftlich<br />

s<strong>in</strong>nvoll s<strong>in</strong>d. Die Praxis aus den Arbeitsfeldern soll im S<strong>in</strong>ne <strong>des</strong> Theorie – Praxis –<br />

Bezugs der Projektmethode die Inhalte der Theorieangebote weitgehend prägen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus bietet die Kreisvolkshochschule Aurich überbetriebliche Ausbildungsgänge<br />

(Holz, Metall, Bau, Hauswirtschaft, Hoga ) an.<br />

Die Erfahrungen aus dem Modellversuch „Schulpflichterfüllung <strong>in</strong> Jugendwerkstätten“<br />

verdeutlichen, daß Schulverweigerer nicht alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong> erhöhtes Maß an<br />

qualifizierter sozialpädagogischer Betreuung benötigen, sondern zudem Rahmenbed<strong>in</strong>gungen,<br />

die ihnen wieder e<strong>in</strong>e Perspektive aufzeigen, sich mit e<strong>in</strong>er gewissen<br />

Motivation Lern- und Arbeitsanforderungen zu stellen. Diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

s<strong>in</strong>d nicht e<strong>in</strong>fach durch e<strong>in</strong> Mehr an Betreuung zu bewerkstelligen, sondern<br />

durch e<strong>in</strong> Zusammenspiel verschiedener Faktoren, deren Wirkung gegenseitig<br />

abhängig ist.<br />

Auf der Basis e<strong>in</strong>es niedrigen Schlüssels Betreuer/Schülerteilnehmer hat der Betreuer<br />

den jungen Leuten e<strong>in</strong>e Zuwendung zu geben, die ihnen vermittelt: „Ich<br />

nehme dich ernst und wichtig.“ Das ist nur möglich <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen, die die Jugendlichen<br />

<strong>in</strong> den Mittelpunkt ihrer Konzeptionen und Handlungen stellen und<br />

se<strong>in</strong>e Stärken und Note zum Ausgangspunkt ihrer Instrumentarien machen. Die<br />

weitgehende Unterordnung anderer Belange (etwa von Auftragszwängen) unter<br />

die Interessen der jungen benachteiligten Menschen erfordert B<strong>in</strong>nenstrukturen,<br />

die den verschiedenen Mitarbeiter-<strong>in</strong>nen der E<strong>in</strong>zelprojekte trotz klarer<br />

Schwerpunktbildung ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Rolle als Nur–Sozialpädagoge, Nur–Lehrkraft,<br />

Nur-Projektleiter oder Nur–Anleiter zuschreibt: Pädagogen arbeiten <strong>in</strong> den Werkstatten<br />

und auf den Baustellen mit, handwerkliche Anleiter nehmen sozialpädagogische<br />

Aufgaben wahr und tragen Lerne<strong>in</strong>heiten mit. E<strong>in</strong>e vielseitigere Funktionswahrnehmung<br />

anstelle von Fachlehrerpr<strong>in</strong>zip und Statusbewußtse<strong>in</strong> ermöglicht<br />

e<strong>in</strong>e fruchtbare, gegenseitig korrigierende Debatte über die E<strong>in</strong>schätzung der Jugendlichen<br />

bei der Erarbeitung der Förderpläne und deren Umsetzung. Schließlich<br />

relativiert e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Diskussion der eigenen alltäglichen Arbeit, <strong>des</strong> Selbstverständnisses<br />

und von pädagogischen Entscheidungen <strong>in</strong> Arbeitsgruppen, gemischten<br />

Teamsitzungen und E<strong>in</strong>zelhilfen unter Kollegen/-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Entfernung<br />

der Alltagsarbeit vom Anspruch der Teilnehmerorientierung. Diese Teilnehmerorientierung<br />

me<strong>in</strong>t – um e<strong>in</strong>em weit verbreiteten Vorurteil vorzubeugen – nicht,<br />

daß alle anderen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen unbeachtet bleiben und den jungen Menschen<br />

e<strong>in</strong> „Schonraum“ ohne Realitätsbezug bereitet werde, sondern daß die Teilnehmer<br />

durch die Teilhabe an e<strong>in</strong>em besonders formierten Arbeitsverhältnis ihre<br />

personalen, sozialen und fachlichen Kompetenzen auszubauen lernen.<br />

Die Koord<strong>in</strong>ation der verschiedenen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen und Alltagskonflikte<br />

erfordert e<strong>in</strong> sehr hohes Maß an Flexibilität aller beteiligten Mitarbeiter/-<strong>in</strong>nen.<br />

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86<br />

Auf die Probleme der Jugendlichen kann im relativ autonom entscheidenden Team<br />

flexibel und zügig reagiert werden, unterschiedlichen Leistungsanforderungen kann<br />

mit externen und <strong>in</strong>ternen Differenzierungen begegnet werden, ohne daß der mit<br />

dem geme<strong>in</strong>samen Projektverfahren und mit der ganzheitlichen Betreuung durch<br />

e<strong>in</strong> Team ermöglichten „Geborgenheit“ <strong>in</strong> den auch äußerlich überschaubaren<br />

Verhältnissen (Gebäudegröße und Beschäftigungszahlen) Abbruch getan würde.<br />

Es beherrschen ke<strong>in</strong> gew<strong>in</strong>ndom<strong>in</strong>ierter Produktionszwang, ke<strong>in</strong> entmotivierender<br />

Stundentakt und ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>engenden Rechtsvorschriften die Lage. Zudem besteht<br />

die Möglichkeit, Jugendliche, für deren Fortkommen es von Bedeutung ist, die Arbeitsbereiche<br />

auch über die Projektgrenzen h<strong>in</strong>aus flexibel wechseln zu lassen,<br />

ohne dabei die Integrationschancen der Jugendlichen zu vernachlässigen. Diese<br />

Möglichkeit sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e zentrale Rolle bei der E<strong>in</strong>leitung persönlicher<br />

Stabilisierungsprozesse gerade dieser jungen, oftmals überdurchschnittlich <strong>des</strong>orientierten<br />

Jugendlichen zu spielen. E<strong>in</strong>e solide Berufsf<strong>in</strong>dung im weitesten S<strong>in</strong>ne,<br />

bestehend aus Informationen zu den (regionalen) Berufsbildungswegen, aus<br />

Reflexionen <strong>des</strong> eigenen Selbstbilds und <strong>des</strong> (beruflichen) Zukunftsentwurfs, aus<br />

Kontroll- und Selbstkontrollverfahren zu den eigenen Fähigkeiten, aus Wegen zu<br />

deren Weiterentwicklung, aus- sozialpädagogischen Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gselementen und ggf.<br />

Betriebspraktika, schließt selbstverständlich auch mit e<strong>in</strong>, daß den Jugendlichen<br />

die Chance e<strong>in</strong>geräumt werden muß, <strong>in</strong> verschiedenen Arbeitsfeldern Erfahrungen<br />

sammeln und ihre Stärken und: Grenzen erleben zu können. Flexibilität me<strong>in</strong>t<br />

auch, daß es pr<strong>in</strong>zipiell möglich se<strong>in</strong> muß, jedem der wenigen Schülerteilnehmer/<br />

-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>dividuelle Förderung zukommen zu lassen, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mehrmals<br />

anzupassenden, ggf. durchaus von allen anderen „Stundenplänen“ abweichenden<br />

Wochenarbeitsplan niederschlagen muß.<br />

In den Projektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich werden Lernprozesse<br />

nach der Projektmethode organisiert. Wir verstehen unter Projektmethode zum<br />

e<strong>in</strong>en die Durchführung e<strong>in</strong>es i. d. R. Jahres–Projektverfahren und zum anderen<br />

die Durchführung von E<strong>in</strong>zelprojekten außerhalb oder mit Anb<strong>in</strong>dung an das Jahresprojekt.<br />

Das Jahresprojekt ist im allgeme<strong>in</strong>en e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Projektgruppe <strong>in</strong> Auftrag gegebenes<br />

oder von dieser ermitteltes und nach den Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen der Projektgruppe<br />

entsprechenden Kriterien ausgewähltes Objekt. Dieses Projekt wird im e<strong>in</strong>zelnen<br />

je nach Leistungsvermögen von den Teilnehmer-<strong>in</strong>nen geplant, errichtet<br />

und an den Auftraggeber <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es bestimmten vere<strong>in</strong>barten und also e<strong>in</strong>zuhaltenden<br />

Zeitrahmens übergeben. Es dom<strong>in</strong>iert den Lehrplan für die theoretischen<br />

Anteile, deren Notwendigkeit den oftmals „lernmüden“ jungen Menschen<br />

e<strong>in</strong>sichtiger ist, soweit sie am eigenen Objekt nachvollzogen werden können. Darüber<br />

h<strong>in</strong>aus ist die Möglichkeit gegeben, den Lernprozeß konkreter, anschaulicher<br />

zu gestalten als anhand von Objekten und Aufgabenstellungen außerhalb <strong>des</strong> eigenen<br />

Arbeitsbereichs. Dazu zählt auch e<strong>in</strong> Verständnis <strong>des</strong> Bildungsprozesses,<br />

das Theorie nicht von Praxis trennt und sich Bildung auch <strong>in</strong> Werkstätten, Büros<br />

und auf Baustellen vorstellen kann, wo der Stoff unmittelbar vorgeführt, praktisch<br />

umgesetzt und e<strong>in</strong>geübt werden kann.<br />

Von zentraler Bedeutung für die jungen Menschen ist der Ernstfallcharakter der<br />

Projekte: sie beteiligen sich an gesellschaftlich nützlicher Arbeit, für deren Erledigung<br />

sie gewisse Ansprüche e<strong>in</strong>halten müssen. Sie arbeiten im wesentlichen nicht


an Objekten für sieh selber (das ist allerd<strong>in</strong>gs im Rahmen freier Kapazitäten möglich)<br />

und nicht für den Papierkorb (Übungsstücke nur als nachvollziehbare Vorübung<br />

für Beiträge zum Projekt und möglichst als nutzbare Objekte). Kurz: es wird<br />

nicht gewerkelt, sondern gebaut.<br />

H<strong>in</strong>zu treten Praxis und Theorie verknüpfende E<strong>in</strong>zelprojekte für die gesamte<br />

Projektgruppe oder – häufiger – für Teile davon oder für gar aus verschiedenen<br />

Projekten gemischte Teilnehmergruppen. Sie sollten – dem klassischen Projektgedanken<br />

entsprechend – <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>är, methodisch vielfältig, produktorientiert<br />

(d. h., immer mit werkstattpraktischen Aufgaben und/oder anderen zu veröffentlichenden<br />

Produkten verbunden) und teilnehmerorientiert angelegt se<strong>in</strong>.<br />

Das SiJu–Aufnahmeverfahren<br />

Die Teilnahme an diesem Angebot der Jugendprojektwerkstätten ist für die betreffenden<br />

Schüler/-<strong>in</strong>nen freiwillig. Sie müssen diese Entscheidung mittragen. Dazu<br />

ist es erforderlich, den Zweck e<strong>in</strong>er möglichen Schulpflichterfüllung <strong>in</strong> der<br />

Jugendwerkstatt zu kennen und die E<strong>in</strong>richtung durch e<strong>in</strong>en Besuch, möglichst<br />

auch durch e<strong>in</strong> paar Schnuppertage im Frühsommer kennenzulernen<br />

Über die Aufnahme <strong>in</strong> die Modellversuchsgruppe entscheidet e<strong>in</strong>e mehrmals im<br />

Jahr tagende Kommission aus Schulaufsichtsamt, Berufsberatung, Jugendamt,<br />

Berufsbildender Schule, Kreisvolkshochschule und Bezirksregierung. Die nach<br />

Konsenspr<strong>in</strong>zip entscheidende Kommission orientiert sich dabei an folgenden<br />

Aufnahmekriterien:<br />

A. Die Jugendlichen müssen M<strong>in</strong>imalvoraussetzungen für e<strong>in</strong>e Aufnahme mitbr<strong>in</strong>gen.<br />

Diese M<strong>in</strong><strong>des</strong>tansprüche s<strong>in</strong>d:<br />

– die berechtigte Annahme, daß der Betreffende angesichts der neuen<br />

Beschäftigungs- und Qualifizierungsperspektiven zum<strong>in</strong><strong>des</strong>t auf mittlere Sicht<br />

zu e<strong>in</strong>er kont<strong>in</strong>uierlichen Mitarbeit bereit se<strong>in</strong> wird und<br />

– daß der Betreffende m<strong>in</strong>imale Interaktionsfähigkeiten <strong>in</strong> der Gruppe mitbr<strong>in</strong>gt.<br />

B. Die Jugendlichen haben ihre Schulunlust durch manifeste Verhaltensweisen<br />

über e<strong>in</strong>en längeren Zeitraum deutlich werden lassen. Erhebliche Schulversäumnisse<br />

<strong>in</strong> den letzten zwei zuruckliegenden Jahren bzw. nicht unerhebliche<br />

Schulversäumnisse gepaart mit massiven Störungen <strong>des</strong> Unterrichts oder durchgängigen<br />

passiven Verweigerungen s<strong>in</strong>d dafür ausschlaggebende Indizien. Davon<br />

abweichend kann e<strong>in</strong>e verläßliche Prognose e<strong>in</strong>er mit dem Schulbesuch an der<br />

BBS e<strong>in</strong>setzenden Schulverweigerung herangezogen werden.<br />

C. Auf die Jugendlichen trifft e<strong>in</strong>es oder mehrere der üblichen sozialen Unterprivilegierung<br />

zu:<br />

– materiell unterprivilegierte häusliche Verhältnisse (Sozialhilfeempfänger, längere<br />

bzw. regelmäßig wiederkehrende Arbeitslosigkeit bzw. schlecht entlohnte<br />

E<strong>in</strong>facharbeit, Verschuldung, enge Wohnverhältnisse), - geschiedene oder getrennt<br />

lebende Eltern bzw. vielköpfige Familie (natürlich nur <strong>in</strong>sofern, als dies<br />

offensichtlich soziale Benachteiligung bed<strong>in</strong>gt),<br />

– krim<strong>in</strong>elles bzw. gewalttätiges Milieu (ohne verfestigten krim<strong>in</strong>ellen Karrierebeg<strong>in</strong>n<br />

bzw. hohe, unkalkulierbare Gewaltbereitschaft <strong>des</strong> Jugendlichen);<br />

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88<br />

– Drogenmilieu (ohne Drogenabhängigkeit bzw. Alkoholismus <strong>des</strong> Jugendlichen),<br />

– bildungsbenachteiligtes Milieu.<br />

D. Auf die Jugendlichen trifft <strong>des</strong> weiteren e<strong>in</strong>es oder mehrere Kriterien <strong>in</strong>dividueller<br />

Benachteiligung zu:<br />

– kognitive Lernbee<strong>in</strong>trächtigung (ohne geistige Beh<strong>in</strong>derung),<br />

– emotional unreife Persönlichkeitsstrukturen,<br />

– unangepaßte soziale Verhaltensdispositionen,<br />

– Entscheidungsängste/Verantwortungsflucht/Unselbständigkeit,<br />

– handwerkliche Tätigkeiten bee<strong>in</strong>trächtigende motorische Defizite (ohne erhebliche<br />

körperliche Beh<strong>in</strong>derungen).<br />

Die Auswahl der Jugendlichen durch e<strong>in</strong>e Kommission mag auf den ersten Blick<br />

als bürokratischer Aufwand ersche<strong>in</strong>en. Tatsächlich aber ist dies die Voraussetzung<br />

für e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende fachliche Diskussion, e<strong>in</strong>e Beratung und Entscheidung zugunsten<br />

der Jugendlichen, die nicht durch Entscheidungsdruck und Institutionen<strong>in</strong>teresse<br />

„abgeschoben“ werden können. Voraussetzung ist allerd<strong>in</strong>gs, daß die<br />

Kommission während der Aufnahmephase m<strong>in</strong><strong>des</strong>tens zweimal tagt.<br />

Lehrer/-<strong>in</strong>nen, die <strong>in</strong> ihren Klassen Schüler/-<strong>in</strong>nen haben, die mit Ende <strong>des</strong> laufenden<br />

Schuljahres ihre Schulpflicht an allgeme<strong>in</strong>bildenden Schulen absolviert<br />

haben, zugleich aber als Schulverweigerer und als sozial wie <strong>in</strong>dividuell Benachteiligte<br />

anzusehen s<strong>in</strong>d, wenden sich direkt oder - sofern vorhanden - über die an<br />

ihrer Schule zuständige Person an e<strong>in</strong> Mitglied der Kommission. Dies geschieht<br />

wenige Wochen nach den Halbjahreszeugnissen, um e<strong>in</strong>e solide E<strong>in</strong>schätzung <strong>des</strong>/<br />

der betreffenden Schülers/-<strong>in</strong> im Vorlauf se<strong>in</strong>er/ihrer möglichen Aufnahme <strong>in</strong> den<br />

Modellversuch und e<strong>in</strong>e sanfte Vorbereitung zu ermöglichen. Selbstverständlich<br />

ist auch die Platzzahl begrenzt (8 -10). Der/die zuständige Lehrer/-<strong>in</strong> oder Betreuer/-<strong>in</strong><br />

<strong>des</strong>/der betreffenden Schülers/-<strong>in</strong> wird zu e<strong>in</strong>em Sitzungsterm<strong>in</strong> der Kommission<br />

nach den Osterferien geladen, um zu besprechen, <strong>in</strong>wiefern das Angebot<strong>des</strong><br />

Modellversuchs auf den/die Schüler/-<strong>in</strong> zutreffen könnte. Diese Besprechung<br />

ist für e<strong>in</strong>e solide Entscheidung unabd<strong>in</strong>gbar. Selbstverständlich ist e<strong>in</strong> Vorgespräch<br />

mit dem/der betreffenden Schüler/-<strong>in</strong> sowie mit se<strong>in</strong>en Eltern/Erziehungsberechtigten<br />

erforderlich. Die Meldungen laufen immer noch nicht fristgerecht e<strong>in</strong>. Möglichst<br />

werden e<strong>in</strong>ige Plätze für Nachrücker freigehalten, die sich <strong>in</strong> der BBS angemeldet<br />

haben, sie dann aber doch nicht besuchen.<br />

Die Konzeption <strong>des</strong> Modellversuchs<br />

Kennzeichnend für die Aufnahme der Schüler/-<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> die Jugendwerkstatt ist<br />

e<strong>in</strong>e behutsame Integration <strong>in</strong> die bestehenden Arbeitszusammenhänge der anderen<br />

Projekte. Dieser Weg sche<strong>in</strong>t den Bedürfnissen der als Schulverweigerer<br />

geltenden Schüler/-<strong>in</strong>nen nach Aufgehobense<strong>in</strong> und Qualifizierungsfortschritten<br />

am ehesten zu entsprechen. E<strong>in</strong>e „Separierung“ dieser Klientel <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Jugendwerkstatt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er eigenen Arbeitsgruppe ersche<strong>in</strong>t wenig s<strong>in</strong>nvoll, weil es<br />

hier mehr noch als <strong>in</strong> den Arbeitszusammenhängen der übrigen Projekte zu sich<br />

gegenseitig bestätigendem dysfunktionalen Arbeits- und Sozialverhalten kommt<br />

und e<strong>in</strong>e Absonderung bei den Betreffenden sowie Außenstehenden den tendentiell


stigmatisierenden E<strong>in</strong>druck der Besonderheit dieser Gruppe <strong>in</strong>nerhalb der<br />

Jugendwerkstatt erwecken könnte. Solch e<strong>in</strong>e mögliche äußere Selektion könnte<br />

das negative Selbstbild der Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong>nen verfestigen helfen. Die ersten<br />

Wochen der vorsichtigen Mitarbeit <strong>in</strong> verschiedenen Projekten und Kursen<br />

haben demonstriert, daß die Jugendlichen <strong>in</strong> heterogenen Gruppen zu bedeutend<br />

sozialverträglicherem Verhalten imstande s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e zentrale Rolle spielt dabei<br />

zweifelsohne, daß sie nicht mehr die Schülerrolle übernehmen müssen und als<br />

relativ vollwertige Arbeitskraft <strong>in</strong> Projekten mit Ernstcharakter e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

Des weiteren haben junge Erwachsene für Jugendliche e<strong>in</strong>e prägende Vorbildfunktion.<br />

Die Integration kann natürlich nur stabilisierende Auswirkungen zeitigen, soweit<br />

diese Vorbildfunktion die Jugendlichen auf ihrem Weg voranbr<strong>in</strong>gen und soweit<br />

sie am Arbeitsplatz ernstgenommen werden – e<strong>in</strong>e Vorbed<strong>in</strong>gung, die unbed<strong>in</strong>gt<br />

die E<strong>in</strong>beziehung der Projektteams, <strong>in</strong> welchen die Jugendlichen<br />

weiterarbeiten werden, erfordert, um die entsprechenden Voraussetzungen <strong>in</strong> den<br />

Werkstätten, auf den Baustellen und <strong>in</strong> den Unterrichtsräumen soweit wie möglich<br />

herstellen zu können. Die kont<strong>in</strong>uierliche Kooperation der Schüler-Betreuer/<br />

-<strong>in</strong> mit den Projektteams ist auch unerläßlich, um die Weiterentwicklung der<br />

Qualifikationsprofile zu ermöglichen. Dabei handelt es sich um e<strong>in</strong>e komplexe<br />

Aufgabe, da die verschiedenen Projekte für 12 bis 28 junge Arbeitslose von fünf bis<br />

acht Mitarbeitern/-<strong>in</strong>nen an vier verschiedenen Standorten betreut werden. E<strong>in</strong>e<br />

Vere<strong>in</strong>barung darüber, welcher der Mitarbeiter e<strong>in</strong>e Art Patenschaft über die <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Projekt aufgenommenen Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong> übernimmt, sollte nach e<strong>in</strong><br />

paar Tagen getroffen werden, sofern diese Patenschaft nicht schon bei Übergabe<br />

<strong>in</strong> das Projekt naheliegt.<br />

In e<strong>in</strong>er ersten mehrwöchigen Orientierungsphase lernen die Jugendlichen ihre<br />

Gruppe, die verschiedenen Teamer <strong>in</strong> den Projektwerkstätten und die Arbeitsbereiche<br />

kennen. Diese Phase dient dem Abbau möglicher Hemmschwellen, um sich<br />

auf unbekannte Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen und wechselnde Arbeitsanleiter und Pädagogen<br />

sowie andere Teilnehmer/-<strong>in</strong>nen leichter e<strong>in</strong>lassen zu können. Zu diesem Zweck<br />

wird neben e<strong>in</strong>er Besichtigung aller E<strong>in</strong>richtungen der Projektwerkstätten an mehreren<br />

Tagen mit der ganzen Gruppe <strong>in</strong> verschiedenen Projekten der Jugendprojektwerkstätten<br />

unter Leitung <strong>des</strong> Schüler-Gruppenbetreuers gearbeitet. Dabei wird<br />

darauf geachtet, daß möglichst für die Arbeit der jeweiligen Projektgruppe s<strong>in</strong>nvolle<br />

und <strong>in</strong> dieser kurzen Zeit abschließende Arbeitsergebnisse <strong>in</strong> das Gesamtprojekt<br />

e<strong>in</strong>gebracht werden können. Diese Tage zielen auf den Ausbau e<strong>in</strong>es engen<br />

Verhältnisses zum Betreuer und auf die Stimulierung e<strong>in</strong>er Neugierde, die aus<br />

der Erfahrung nützlicher und abwechslungsreicher Arbeitsprodukte resultiert.<br />

Die anschließende Phase von acht Wochen setzt sich aus e<strong>in</strong>er Abfolge von<br />

„Schnupperkursen“ <strong>in</strong> verschiedenen Arbeitsfeldern zusammen. Dort wird von<br />

verschiedenen Mitarbeitern/-<strong>in</strong>nen der Jugendprojektwerkstätten e<strong>in</strong>e jeweils zweiwöchige<br />

E<strong>in</strong>führung <strong>in</strong> ihren jeweiligen Arbeitsbereich angeboten. Diese Arbeitsfelder<br />

s<strong>in</strong>d: Hauswirtschaft, Gartenbau, Büro und Verwaltung, Metalltechnik, Holztechnik,<br />

Elektrotechnik sowie Hoch- und Tiefbau.<br />

Die „Schnupperkurse” werden so angelegt, daß den Beteiligten verschiedene,<br />

den jeweiligen Voraussetzungen angemessene eigenständige Aufgaben übertragen<br />

werden können, die - soweit im Rahmen e<strong>in</strong>es „Schnupperkurses“ möglich -<br />

89


90<br />

e<strong>in</strong>e gewisse Bandbreite <strong>des</strong> jeweiligen Arbeitsfel<strong>des</strong> repräsentieren sollen. Dabei<br />

kommt es zu diesem Zeitpunkt auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>beziehung theoretischer Themenstellungen<br />

nur an, soweit sie für die Bewältigung der Praxisanteile erforderliche<br />

s<strong>in</strong>d. Im Anschluß an die jeweiligen Kurse werden Arbeitsleistungen und die Arbeitshaltung<br />

der Schüler/-<strong>in</strong>nen seitens der Kursleiter/-<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>geschätzt. Jeder/<br />

jede der Schüler/-<strong>in</strong>nen soll drei bis vier der angebotenen „Schnupperkurse” wahrnehmen.<br />

Des weiteren soll jeder/jede Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Qualifizierungsphase<br />

<strong>in</strong> den folgenden Monaten <strong>in</strong> e<strong>in</strong> bis zwei für ihn und mit ihm ausgesuchten Arbeitsfeldern<br />

arbeiten und lernen. Pr<strong>in</strong>zipiell können das die gleichen Bereiche se<strong>in</strong><br />

wie <strong>in</strong> den „Schnupperkursen“. Neben die Arbeits<strong>in</strong>halte treten Theorieangebote.<br />

Jede Projektgruppe führt neben fachkundlichem und berufskundlichem Unterricht<br />

e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>formationstechnische Grundbildung und Stützunterricht im Lesen, Schreiben<br />

und Rechnen durch. Darüber h<strong>in</strong>aus werden weitere EDV-Kurse <strong>in</strong>cl. Anwenderpaß,<br />

Hauptschulabschlußkurse, Fuhrersche<strong>in</strong>hilfen, kreatives Gestalten, Sport<br />

und Freizeitsem<strong>in</strong>are durchgeführt. Am Ende <strong>des</strong> Schuljahres erhalten die Jugendlichen,<br />

die die Jugendprojektwerkstätten relativ regelmäßig besucht haben, e<strong>in</strong>e<br />

Besche<strong>in</strong>igung ihrer Schulpflichterfüllung, der e<strong>in</strong>e spezifizierte Auflistung ihrer <strong>in</strong><br />

Theorie und Praxis erworbenen Qualifikationen beigegeben werden kann.<br />

Erste Erfahrungen<br />

Wenn auch trotz der vorrangigen Ausbildungsorientierung e<strong>in</strong>e Vermittlung <strong>in</strong><br />

Berufsausbildungen unmittelbar nach dem SiJu-Jahr <strong>in</strong>sgesamt seit 1993 (Ausnahme:<br />

1994/95) e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle spielte, ist die Erfüllung der Schulpflicht<br />

<strong>in</strong> den Jugendprojektwerkstätten der Kreisvolkshochschule Aurich <strong>in</strong>sgesamt für<br />

ca. 2/3 der Schülerteilnehmer/-<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne als erfolgreich anzusehen. daß<br />

sie kurz- bzw. mittelfristig (nach 1 Jahr) <strong>in</strong> Ausbildung, Arbeit oder <strong>in</strong> die Jugendprojektwerkstätten<br />

aufgenommen werden. Das restliche Drittel war weder kurznoch<br />

mittelfristig zu stabilisieren: Diese Schülerteilnehmer /-<strong>in</strong>nen brachen die Maßnahme<br />

entweder ab bzw. nahmen trotz <strong>in</strong>tensiver Bemühungen so unregelmäßig<br />

teil, daß ihnen die Schulpflichterfüllung nicht besche<strong>in</strong>igt werden konnte, oder<br />

wurden anschließend arbeitslos und blieben es bis auf weiteres oder mußten <strong>in</strong><br />

den Jugendstrafvollzug oder <strong>in</strong> die Psychiatrie.<br />

Diese Jugendlichen haben sich <strong>in</strong>adäquates Arbeits- und Sozialverhalten und<br />

abweichende Verhaltensweisen über Jahre angeeignet und zu e<strong>in</strong>em stabilen Repertoire<br />

entwickelt, das über e<strong>in</strong> gegensteuern<strong>des</strong> Alternativangebot von nur e<strong>in</strong>em<br />

Jahr nicht aufgebrochen werden kann. Während Schüler/-<strong>in</strong>nen, für die aus<br />

verschiedensten Gründen e<strong>in</strong>e Schulverweigerung an der BBS prognostiziert wird,<br />

und „durchschnittliche“ Schulverweigerer, die ggf. durchaus jahrelang über längere<br />

Zeiten der Schule fernblieben, weil ihnen der Schulbetrieb nicht zusagte, i. d. R.<br />

erfolgreich aufgefangen werden können, ist die e<strong>in</strong>jährige SiJu-Maßnahme auffällig<br />

seltener erfolgreich, wenn folgende manifeste Verhaltensweisen h<strong>in</strong>zutreten:<br />

massiver Drogen- und Alkoholmißbrauch, fortgeschrittene Del<strong>in</strong>quenz und<br />

Trebegängerei. In diesen Fällen können nur mehrjährige, früher e<strong>in</strong>greifende<br />

Betreuungsangebote weiterhelfen.


Werkhof Scharnhorst, Dortmund<br />

Konzept der Schüler/Jugendwerkstatt im Verbundmodell<br />

(orientiert an der Waldorfpädagogik)<br />

Im Schülerprojekt <strong>des</strong> Werkhofs wurden seit 1987 sogenannte schulmüde Jugendliche<br />

aus dem Stadtteil Scharnhorst halbtags betreut, seit 1992 aus dem gesamten<br />

Stadtbereich Dortmund ganztags. Insgesamt jeweils 30 schulpflichtige<br />

Jugendliche aus Real-, Gesamt-, Haupt- und Sonderschulen wurden <strong>in</strong> vier Werkstätten<br />

zu künstlerisch–handwerklich Tätigkeit angeleitet. Es handelte sich dabei<br />

um die Bereiche Holz, Metall und Klang. Die Anleiter haben sowohl e<strong>in</strong>e künstlerische–handwerkliche<br />

als auch e<strong>in</strong>e pädagogische Qualifikation. Ihr Ziel ist es, die<br />

Jugendlichen, die die Lust am Lernen verloren haben, <strong>in</strong> der Schule allenfalls noch<br />

körperlich präsent s<strong>in</strong>d oder ihr ganz fern bleiben, über manuelle schöpferische<br />

Tätigkeit von neuem zu motivieren, ihnen e<strong>in</strong> positives Selbstgefühl zu ermöglichen<br />

durch die gelungene Fertigung e<strong>in</strong>es Gegenstan<strong>des</strong>, den sie für sich oder<br />

andere herzustellen wünschen. Methodisch orientieren sich die Anleiter dabei an<br />

der Waldorf-Pädagogik. – Seit 1992 erhielten die SchülerInnen auf Wunsch zusätzlich<br />

Unterricht von e<strong>in</strong>er Hauptschullehrer<strong>in</strong>, seit 1993 von e<strong>in</strong>er Gesamtschullehrer<strong>in</strong>.<br />

Durch Erweiterung <strong>des</strong> Pädagogenteams ist es heute möglich, den<br />

Unterricht <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong> bildenden Fächern <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen zu <strong>in</strong>tensivieren<br />

und <strong>in</strong> Kooperation mit den Werkanleitern projektarbeitsbezogen e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

Ab August 1994 wurde das Werkhofangebot- durch das Verbundmodell mit<br />

Lan<strong>des</strong>mitteln um den Garten,- Küchen-, und Textilbereich und auf nicht mehr schulpflichtige<br />

Jugendliche ausgedehnt. Dabei soll die Teilnehmerzahl von 30 nicht überschritten,<br />

sondern aufgeteilt werden <strong>in</strong> 15 Schüler im Bereich <strong>des</strong> Schülerprojekts<br />

und 15 Jugendliche im Bereich der Jugendwerkstatt. Kooperationspartner s<strong>in</strong>d<br />

weiterh<strong>in</strong> das Jugendamt und die Schulen der Stadt Dortmund<br />

Zielgruppen; Für das Schülerprojekt:<br />

Schüler der e<strong>in</strong>leitend genannten Schulen vornehmlich aus den 8. und 9. Klassen,<br />

die vom Schulunterricht nicht mehr erreicht werden, ihn nur noch passiv absitzen<br />

oder stören bzw. gar nicht mehr zur Schule gehen trotz Rücksprache und<br />

Mahnungen. (Zielgruppe für die Jugendwerkstatt: Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig<br />

s<strong>in</strong>d, jedoch aufgrund von Defiziten verschiedenster Art noch nicht reif<br />

für e<strong>in</strong>e Berufsausbildung.)<br />

Ziele<br />

Auf der persönlichen Ebene:<br />

Die Jugendlichen sollen (unbee<strong>in</strong>trächtigt von Leistungsdruck und Konkurrenz)<br />

über Erfolgserlebnisse im handwerklichen Bereich Selbstvertrauen gew<strong>in</strong>nen, zu<br />

e<strong>in</strong>er realistischen E<strong>in</strong>schätzung ihrer eigenen Fähigkeiten f<strong>in</strong>den und damit im<br />

positiven S<strong>in</strong>ne handlungsfähig werden.<br />

91


92<br />

Auf der sozialen Ebene:<br />

Hier wird angestrebt, daß sie sich <strong>in</strong> angemessener Form selbst zu behaupten<br />

vermögen und damit sowohl fähig werden zu geme<strong>in</strong>samer Arbeit, wie zu gegenseitiger<br />

und über den persönlichen Bereich h<strong>in</strong>ausgreifender Hilfeleistung.<br />

Das Erreichen dieser Ziele ist die Vorraussetzung für e<strong>in</strong>e Berufsausbildung der<br />

JUGENDLICHEN, da diese heute e<strong>in</strong> hohes Maß von Eigen<strong>in</strong>itiative von ihnen erfordert.<br />

Mittel<br />

Werkstattbereich Holz<br />

Für die Arbeit mit diesem Material gibt es im Werkhof drei Räume, <strong>in</strong> denen die<br />

Jugendlichen Gegenstände fertigen und dabei das unterschiedliche Material wie<br />

die verschiedenen Werkzeuge zu se<strong>in</strong>er Bearbeitung und die notwendigen Techniken<br />

kennen und gebrauchen lernen. Die Palette reicht dabei von freier Figurengestaltung<br />

über persönliche Gebrauchsgegenstände (CD–Ständer, Regale) zu<br />

Modellarbeiten (Segelschiff), von e<strong>in</strong>fachen Musik<strong>in</strong>strumenten (Leier, Flöte,<br />

Bambusharfe) über Spielzeug (Zwerg-Baumhäuser) für K<strong>in</strong>dergärten bis zu Massivholzmöbel,<br />

Klang- und Spielhäusern, die geme<strong>in</strong>sam mit den Schülern/Jugendlichen<br />

ausgeliefert und montiert werden.<br />

Werkstattbereich Metall<br />

Der Werkhof verfügt über zwei Räume, <strong>in</strong> denen verschiedene Metalle (Kupfer<br />

sowohl als Eisen und Silber) bearbeitet und grundlegende Techniken wie Schmieden,<br />

Schweißen und Gießen angewendet werden können. Auch hier wird den Jugendlichen<br />

die Möglichkeit geboten, ihre Wünsche bzw. Vorstellungen zu realisieren,<br />

wobei man betonen sollte, daß Mädchen wie <strong>in</strong> den anderen Werkstätten<br />

willkommen s<strong>in</strong>d. Zu den bisher gefertigten Gegenständen gehören Glockenspiele,<br />

Kerzenleuchter, Rankgerüste, Stühle, Schmuckstücke.<br />

Werkstattbereich Textil<br />

Für diesen Bereich steht e<strong>in</strong> Raum zu Verfügung <strong>in</strong> dem die Schüler und Jugendliche<br />

das Material Textil kennen lernen, die Vielseitigkeit der E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten<br />

und die Prozesse der Fertigung erlernen. Wie <strong>in</strong> allen unseren Werkstätten können<br />

die Schüler/Jugendliche auch hier selbst entscheiden, was sie herstellen wollen.<br />

Das Angebot reicht über Näharbeiten z. B. Kleidung, Patchwork und<br />

Quilarbeiten usw. Webarbeiten, z. B. Taschen, Schals, Teppiche usw. Flechtarbeiten<br />

z. B. Hängematten usw., kle<strong>in</strong>e Polsterarbeiten sowie alle Fertigkeiten im<br />

Handarbeitsbereich.<br />

Gärtnerei:<br />

Dem Werkhof angeschlossen ist e<strong>in</strong> Grünbereich mit ‘demeter’–Gemüseanbau,<br />

Garten- und Landschaftsbau und Grünpflege. Hier können unter dem Gesichts-


punkt der Erweiterung <strong>des</strong> Werkhofangebotes für Jugendliche der zweiten Zielgruppe<br />

diejenigen tätig werden, die sich besonders für den Umgang mit Lebendem,<br />

wie Erde und Pflanzen <strong>in</strong>teressieren und sich im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>e spätere<br />

Berufsausbildung <strong>in</strong> diesem zukunftsträchtigen Sektor orientieren möchten.<br />

Großküche:<br />

Es ist daran gedacht, daß Angebot an Werkstätten um den Küchenbereich zu<br />

erweitern, um im Verbundsystem mit dem Arbeitsamt Förderlehrgänge anbieten<br />

zu können.<br />

Gegenwärtig können Jugendliche aus dem Schülerprojekt, wie solche aus der<br />

Jugendwerkstatt, e<strong>in</strong> Praktikum <strong>in</strong> der Küche machen, die die Dortmunder Gesamtschulen<br />

und die Fernmeldeämter mit Essen versorgen.<br />

Aufenthaltsräume:<br />

E<strong>in</strong> großer, <strong>in</strong> Eigenleistung ansprechend ausgestattet und gegliederter Mehrzweckraum<br />

ist morgendliche Anlaufstelle für die Jugendlichen, die hier frühstükken<br />

und zu Mittag essen können.<br />

An jedem Freitag wird <strong>in</strong> der dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>gebauten Küche von e<strong>in</strong>er wechselnden<br />

Schülergruppe vegetarisch gekocht und anschließend geme<strong>in</strong>sam mit den anderen<br />

Jugendlichen und den Pädagogen gegessen. Ebenso wird er genutzt für die<br />

wöchentlichen Teambesprechungen der Pädagogen, außerdem dient er als Videoraum<br />

für den Stütz- und Förderunterricht, sowie für E<strong>in</strong>zel- bzw. Kle<strong>in</strong>gruppenunterricht.<br />

Der Grünbereich hat e<strong>in</strong>en Pausenraum für alle Mitarbeiter, <strong>in</strong> dem geme<strong>in</strong>sam<br />

gegessen wird. Zusätzlich wird e<strong>in</strong> Büroconta<strong>in</strong>er mit zwei Räumen aufgestellt, <strong>in</strong><br />

dem die Jugendlichen der Jugendwerkstatt fachtheoretischen Unterricht erhalten<br />

und woh<strong>in</strong> sie sich zurückziehen können.<br />

Absprachen mit der nahe gelegenen Gesamtschule erlauben es, sowohl den im<br />

Freien gelegenen Sportplatz als auch die Turnhalle für sportliche Aktivitäten der<br />

Jugendlichen zu nutzen.<br />

Beratungsstelle<br />

Für die Beratungsstelle steht e<strong>in</strong> weiter Raum für die Beratungstätigkeit zur Verfügung.<br />

Die Beratungsstelle bietet Jugendlichen und Schülern die Möglichkeit, sich<br />

zu orientieren. Sie gibt Hilfestellung für Jugendliche und junge Erwachsene von 16<br />

bis 21 Jahren, bei der Bewältigung von speziellen Problemen, zum Beispiel<br />

Lehrstellenabbruch, Probleme mit Eltern, schulisches Versagen, kulturelle Isolation,<br />

soziale Unangepaßtheit, Straffälligkeit und Drogenprobleme.<br />

Es wird e<strong>in</strong>e Übergangsperspektive geboten, wenn Jugendliche nach der Schule<br />

ke<strong>in</strong>e Lehrstelle gefunden haben oder ihre psychische Konstitution so schlecht ist,<br />

daß sie von sich aus ke<strong>in</strong>e Lehrstelle f<strong>in</strong>den oder Angebote <strong>des</strong> Arbeitsamtes wahrnehmen<br />

können. Die Beratungsstelle bietet Orientierungs- und Informationshilfen<br />

für e<strong>in</strong> breiteres Spektrum an berufsbildenden und ausbildungsfördernden Maßnahmen,<br />

die speziell auf diese Jugendlichen zugeschnitten s<strong>in</strong>d. Für die Jugendli-<br />

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94<br />

chen im Werkhof wird e<strong>in</strong>e Persönlichkeitsstabilisierung angestrebt, die sie befähigen<br />

soll, ihr weiteres Berufsleben zu meistern.<br />

Methode<br />

Die pädagogische Arbeit umfaßt e<strong>in</strong>e ganzheitliche Persönlichkeitsförderung der<br />

e<strong>in</strong>zelnen MaßnahmeteilnehmerInnen, <strong>in</strong> der die künstlerisch–handwerkliche Betreuung<br />

e<strong>in</strong>e wesentliche Rolle spielt. Um die durch Fremdbestimmung <strong>in</strong> Schule<br />

und Konsumwelt <strong>des</strong>tabilisierten und demotivierten Jugendlichen zu erreichen,<br />

setzen die Werkhofpädagogen bei dem Bedürfnis nach manueller Tätigkeit und<br />

dem Wunsch nach Herstellung s<strong>in</strong>nvoller Gegenstände an.<br />

Dabei orientiert sich ihre Vorgehensweise ganzheitlich, <strong>in</strong>dem sie die geistig–<br />

emotionalen, wie die körperlich–handwerklichen Fähigkeiten <strong>des</strong> e<strong>in</strong>zelnen Jugendlichen<br />

anspricht, berücksichtigt und fördert.<br />

Je nach den gegebenen Umständen werden <strong>in</strong>dividuelle Produkte gefertigt, oder<br />

e<strong>in</strong>e Gruppe entschließt sich zu e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen Projekt, wobei die Anleiter<br />

bei Vorschlag, Auswahl und Entscheidung darauf achten, daß die Realisierung den<br />

Jugendlichen motivierende Erfolgserlebnisse ermöglicht. Manchmal ist es möglich,<br />

für die Umsetzung e<strong>in</strong>er Idee mit der Materialbeschaffung zu beg<strong>in</strong>nen - beispielsweise<br />

im Holzbereich beim Aussuchen e<strong>in</strong>es gefällten Baumes, was Gelegenheit<br />

zur Reflexion von <strong>des</strong>sen Umfeld bietet. Zur Vorbereitung e<strong>in</strong>er Arbeit mit<br />

hartem Material dient das Modellieren <strong>in</strong> Ton, wie überhaupt Plastizieren und das<br />

Bearbeiten von Speckste<strong>in</strong>, das zum Beispiel den Tasts<strong>in</strong>n übt.<br />

Bei der Gestaltung e<strong>in</strong>er Idee s<strong>in</strong>d alle S<strong>in</strong>ne gefragt, denn nicht alle<strong>in</strong> die Funktionalität<br />

und Brauchbarkeit bestimmen den Wert <strong>des</strong> Produktes. Zur Planung<br />

<strong>des</strong>sen, was hergestellt werden soll, wird Zeichen, Messen, Rechnen nötig, während<br />

bei der Ausführung die geeigneten Techniken und Geräte benutzt werden<br />

müssen.<br />

In beiden vorgenannten Phasen kann es zum E<strong>in</strong>schub von Übungen der notwendigen<br />

Fertigkeiten kommen. E<strong>in</strong>e laufende Kontrolle ermöglicht die Korrektur<br />

von Fehlern.<br />

Das Ergebnis se<strong>in</strong>es Tuns zeigt dem Jugendlichen am Ende der Projektarbeit unmittelbar,<br />

was gelungen ist. Das wiederum ist geeignet, ihn zu weiterem Tun, zur<br />

Eigen<strong>in</strong>itiative zu ermutigen.<br />

Zeitrahmen<br />

Die Werkhofmaßnahme erstreckt sich für Schüler, wie Jugendliche auf maximal<br />

9 Monate bis zu e<strong>in</strong>em Jahr. Die Ferien orientieren sich für die Schüler an denen der<br />

Schulen. Die berufschulpflichtigen Jugendlichen besuchen den Unterricht der für<br />

sie zuständigen Berufschulen. Schüler wie Jugendliche können die Werkstatt wechseln,<br />

frühestens jedoch nach vier Wochen.<br />

Verteilung der Teilnehmer auf die Werkstätten:<br />

Im Schülerprojekt werden 15 Schüler aufgenommen, die zwischen dem Bereich<br />

Holz, Metall und Textil wählen können


In der Jugendwerkstatt können 15 berufschulpflichtige Jugendliche zwischen dem<br />

Bereich Holz und Garten, Metall und Textil wählen. Für alle Werkbereiche wird mit<br />

Blick auf die Werkanleiter e<strong>in</strong>e ausgewogene Verteilung angestrebt.<br />

Zusätzliche Aktivitäten<br />

Dabei handelt es sich um Unternehmungen, die geeignet s<strong>in</strong>d, daß Gesichtsfeld<br />

der Jugendlichen zu erweitern und ihnen die Schwellenangst zu nehmen vor E<strong>in</strong>richtungen,<br />

die nicht zu ihrem alltäglichen Umfeld gehören. Als Beispiel seien genannt,<br />

der geme<strong>in</strong>same Besuch e<strong>in</strong>es Museums oder e<strong>in</strong>es Theaterstückes, die<br />

Besichtigung e<strong>in</strong>es Wasserwerkes. Auch Fuß- und Radwanderungen während geme<strong>in</strong>samer<br />

Ferientage gehören dazu.<br />

Personal<br />

Bei der Betreuung, Anleitung und Unterricht der Jugendlichen arbeiten Sozialpädagogen,<br />

Werkanleiter und Lehrer <strong>in</strong> Absprache nach geme<strong>in</strong>sam entwickeltem<br />

Konzept, daß beide Zielgruppen umfaßt. Wöchentliche Teambesprechungen helfen<br />

bei der Lösung aktueller Schwierigkeiten und sorgen für die nötige Flexibilität.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>haltliche Aufgabenteilung ergibt sich aus den E<strong>in</strong>satzbereichen Werkstatt,<br />

Unterricht, Umfeld, wobei im Blick auf den e<strong>in</strong>zelnen Jugendlichen e<strong>in</strong>e unterschiedlich<br />

<strong>in</strong>tensive Kooperation erforderlich se<strong>in</strong> wird.<br />

Zusammenfassung: Der Werkhof als Mittelpunkt.<br />

Die pädagogische Konzeption der Arbeit mit den Schülern am Werkhof<br />

Dortmund-Scharnhorst ist durch die umfassende Förderung und Entwicklung von<br />

Interesse und Motivation gekennzeichnet, welche von den MitarbeiterInnen <strong>des</strong><br />

Projekts als grundsätzliche Vorraussetzung zur Vermittlung von schulischen und<br />

beruflichen Bildungs<strong>in</strong>halten angesehen werden. Durch die praktische, handwerkliche<br />

Arbeit <strong>in</strong> den Werkstätten, den theoretischen Unterricht, sowie das Erleben<br />

von sozialem Mite<strong>in</strong>ander (z. B. bei den Mahlzeiten bzw. dem geme<strong>in</strong>samen Kochen)<br />

wird e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>seitige Förderung und Bevorzugung kognitiver Fähigkeiten überwunden.<br />

Der E<strong>in</strong>satz aller S<strong>in</strong>nesfähigkeiten bewirkt e<strong>in</strong>e Veränderung der Erlebensund<br />

Wahrnehmensweise, welche dem SchülerInnen e<strong>in</strong>en persönlichen Bezug zu<br />

sich und dem Werkhof ermöglicht.<br />

Die Erfahrung e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>schaftsgefühls, <strong>des</strong> Aufgenommense<strong>in</strong>s <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Gruppe <strong>in</strong> Zusammenhang mit den vielseitigen Kennenlernen <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Werkstätten, der E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die eigenen Bedürfnisse und Verhaltensweisen<br />

lassen die Mechanismen der Gesellschaft transparent werden und ermöglichen<br />

die Bewältigung spezifischer Probleme wie Verhaltensstörungen, erhöhte Aggressivität,<br />

psychische Labilität, Kontaktschwäche, Hemmungen im Sozialverhalten,<br />

Lernschwäche, Bildungsmüdigkeit im allgeme<strong>in</strong>en.<br />

Praktisches Lernen am Werkhof ist somit nicht nur als zur Schule zurückführende<br />

Maßnahmen, bzw. als berufspraktische Vorbereitung ausschließlich zu betrachten;<br />

vielmehr gilt es, hervorzuheben, welche weitreichende Bedeutung es für den<br />

heranwachsenden Jugendlichen hat, durch die praktische Arbeit <strong>in</strong> der Gruppe<br />

95


96<br />

wichtige Begabungen entfalten zu können und damit zum Lernen <strong>in</strong>sgesamt wieder<br />

neue Zugänge zu f<strong>in</strong>den. Neben dem Angebot von Berufsorientierung und<br />

Förderung sozialer und berufsbefähigender Kompetenz versucht der Werkhof, neue<br />

Formen <strong>des</strong> Erfahrungsfel<strong>des</strong> ‘Lernen am Arbeitsplatz’ zu entwickeln und zu erproben.


Lernwerkstatt für Schulverweigerer im<br />

Internationalen Jugendzentrum der Stadt Frankfurt a. M.<br />

(Stadt Frankfurt a. M., Jugendamt, Abt. K<strong>in</strong>der- und Jugendförderung<br />

–Internationales Jugendzentrum–)<br />

I. Ausgangspunkt, Zielgruppe und Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

Die Lernwerkstatt als e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>richtung <strong>des</strong> Zentrums für Erziehungshilfe (ZfE) ist<br />

e<strong>in</strong> Teil <strong>des</strong> Internationalen Jugendzentrums, e<strong>in</strong>er Freizeit-, Kultur- und<br />

Berufsbildungsstätte <strong>des</strong> Jugendamtes der Stadt Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, Abteilung K<strong>in</strong>der-<br />

und Jugendförderung.<br />

Im Zuge der Konzeptionierung <strong>des</strong> ZfE stellte sich die Frage, wie können wir die<br />

Schulverweigerer erreichen?<br />

Diese Problematik wurde an uns vom Internationalen Jugendzentrum herangetragen.<br />

Auf dem H<strong>in</strong>tergrund unserer Erfahrungen <strong>in</strong> der offenen Jugendfreizeitund<br />

Berufsbildungsarbeit mit sozial- und bildungsmäßig benachteiligten ausländischen<br />

und deutschen Jugendlichen sahen wir die Notwendigkeit e<strong>in</strong> spezifisches<br />

sozial- und berufspädagogisches Angebot für die stark verhaltensgestörten Jugendlichen<br />

ab 14 Jahren anzubieten.<br />

Es handelt sich dabei um die Jugendlichen der besonders schwierigen Gruppe<br />

der erziehungshilfebedürftigen 14jährigen Schülern, die oftmals von der herkömmlichen<br />

Schule nicht mehrerreicht werden oder dort aufgrund ihres Verhaltens nicht<br />

mehr tragbar s<strong>in</strong>d. Mit Hilfe e<strong>in</strong>es alternativen Lernangebotes sollen diese Jugendlichen<br />

neu motiviert werden.<br />

Ohne e<strong>in</strong>e Teilnahme an e<strong>in</strong>em Lernangebot besteht bei diesen Jugendlichen<br />

die Gefahr, daß sie <strong>in</strong> den Zeitraum von zwei bis drei Jahren bis zu e<strong>in</strong>em berufsvorbereitenden<br />

bzw. -bildenden Angebot endgültig den Zugang zu Bildungs- und<br />

Betreuungsangeboten verlieren.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus wären diese Jugendlichen <strong>in</strong> besonderem Maße den Gefährdungen<br />

<strong>in</strong> Frankfurt ausgesetzt (Beschaffungskrim<strong>in</strong>alität, Drogen und Jugendbanden).<br />

Die erste Lernwerkstattgruppe hat im Mai 1993 ihre Arbeit aufgenommen. Es ist<br />

geplant ab Herbst <strong>1995</strong> e<strong>in</strong>e zweite Lernwerkstattgruppe e<strong>in</strong>zurichten. Zur Zeit<br />

besucht die zweite Gruppe von sechs Jugendlichen im Alter von 14 Jahren die Lernwerkstatt.<br />

Die Gruppe wird von e<strong>in</strong>er Sozialarbeiter<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>em Meister und e<strong>in</strong>em<br />

Sonderschullehrer betreut und unterrichtet.<br />

Insofern streben wir e<strong>in</strong>e Integration von Sozial,- Berufs- und Schulpädagogik<br />

an. Wir nehmen die Jugendlichen im Alter von 14 Jahren auf, sie bef<strong>in</strong>den sich<br />

dann im 8. Schulbesuchsjahr.<br />

Die Betreuungszeit <strong>in</strong> der Lernwerkstatt beträgt <strong>in</strong> der Regel zwei Jahre, so daß<br />

die Jugendlichen das 8. und 9. Schulbesuchsjahr <strong>in</strong> der Lernwerkstatt absolvieren.<br />

Der Jugendhilfeteil der Lernwerkstatt, also die Arbeit der Sozialarbeiter<strong>in</strong> und<br />

<strong>des</strong> Werkpädagogen, stellt e<strong>in</strong> Tagesheim gemäß 5 27 i. V. m. § 32 KJHG dar und<br />

wird über Pflegesatz f<strong>in</strong>anziert, der derzeitige Tagessatz beträgt 248,00 DM.<br />

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98<br />

II. Ziele und Arbeitsweise der Lernwerkstatt<br />

1. Aufnahmeverfahren<br />

Für das Gel<strong>in</strong>gen der Arbeit <strong>in</strong> der Lernwerkstatt ist es erforderlich, daß e<strong>in</strong>e<br />

<strong>in</strong>tensive Zusammenarbeit mit den Jugendlichen, den Eltern, dem Zentrum für<br />

Erziehungshilfe und den E<strong>in</strong>richtungen der Jugendhilfe (ambulante Dienste, stationäre<br />

Dienste und E<strong>in</strong>richtungen sowie <strong>des</strong> Allgeme<strong>in</strong>en Sozialdienstes) praktiziert<br />

wird.<br />

Um der Problematik entgegenzuwirken, daß der Besuch der Lernwerkstatt e<strong>in</strong>en<br />

Sanktions- oder Zwangscharakter bekommt, wickeln wir das Aufnahmeverfahren<br />

<strong>in</strong> Ruhe ab. Die Erwartungen, Befürchtungen sowie Problemh<strong>in</strong>tergründe<br />

werden ausführlich mit den Betroffenen erörtert. Die Eltern müssen sich zur Zusammenarbeit<br />

bereit erklären und damit e<strong>in</strong>verstanden se<strong>in</strong>, daß sie 14tägig zum<br />

Elterngespräch <strong>in</strong> die Lernwerkstatt kommen. Wir versuchen von Anfang an die<br />

genannten Betroffenen e<strong>in</strong>zubeziehen. Im e<strong>in</strong>zelnen gehen wir wie folgt vor:<br />

Als erstes laden wir den bzw. die Jugendliche e<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>en unverb<strong>in</strong>dlichen<br />

Schnupperbesuch <strong>in</strong> das Jugendzentrum e<strong>in</strong>, damit er/sie sich e<strong>in</strong> erstes Bild von<br />

der Lernwerkstatt machen kann. Falls er/ sie die Lernwerkstatt <strong>in</strong>teressant f<strong>in</strong>det,<br />

kommt er zu e<strong>in</strong>em zweiten Besuch <strong>in</strong> die Lernwerkstatt, bei dem der Sonderschullehrer<br />

abklärt, <strong>in</strong>wieweit er/sie für e<strong>in</strong>en Unterricht im Spektrum der Sekundarstufe<br />

I geeignet ist.<br />

Daran schließt sich e<strong>in</strong> Informationsgespräch mit dem Jugendlichen, se<strong>in</strong>en Eltern,<br />

dem Sozialarbeiter <strong>des</strong> ASD und gegebenenfalls e<strong>in</strong>em Mitarbeiter vom Zentrum<br />

für Erziehungshilfe an, falls der Jugendliche vom ZfE bereits betreut wurde.<br />

Nach e<strong>in</strong>er Bedenkzeit von ca. zwei Wochen wird dann mit dem zuvor Beteiligten<br />

e<strong>in</strong> Kontraktgespräch geführt <strong>in</strong> dem möglichst konkrete Lernziele für das erste<br />

halbe Jahr herausgearbeitet werden. Dabei legen wir Wert darauf, daß jeder der<br />

Beteiligten erklärt, wie er zur Erreichung der Lernziele beitragen kann. In diesem<br />

Gespräch wird von unserer Seite verdeutlicht, daß die Verantwortung für die Zukunft<br />

<strong>des</strong> Jugendlichen bei ihm selbst und se<strong>in</strong>en Eltern liegt. Unsere Beziehungs-,<br />

Beratungs- und Lernangebote können nur e<strong>in</strong>e Unterstützung der familiären Erziehung<br />

und der eigenen Bemühungen <strong>des</strong> Jugendlichen darstellen, damit der Jugendliche<br />

se<strong>in</strong>e Fähigkeiten ausbilden und realistische wie auch s<strong>in</strong>nvolle Zielsetzungen<br />

entwickeln kann. Nach e<strong>in</strong>em halben Jahr kommen die Betroffenen wieder<br />

zu e<strong>in</strong>em Bilanzgespräch zusammen, um Erfahrungen auszutauschen, Erreichtes<br />

zu reflektieren und neue Lernziele geme<strong>in</strong>sam herauszuarbeiten.<br />

2. Methodik und Didaktik<br />

Die Vorgeschichte der Jugendlichen ist gekennzeichnet durch Schulverweise aufgrund<br />

ihres oft hochaggressiven Verhaltens oder durch langjährige hartnäckige<br />

Verweigerung die Schule zu besuchen. Diese Jugendlichen s<strong>in</strong>d stark neurotisch,<br />

sehr verhaltensgestört und weisen erheblich dissoziale Verhaltensweisen auf. Sie<br />

s<strong>in</strong>d stark geprägt von Versagens- und Mißerfolgserlebnissen und haben e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ges<br />

Selbstwertgefühl, sie s<strong>in</strong>d kaum beziehungs- und damit auch nicht gruppenfähig,<br />

sie verfügen nur über e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Konzentrationsfähigkeit und e<strong>in</strong> schwa-


ches Durchhaltevermögen. Sie s<strong>in</strong>d mißtrauisch und weisen e<strong>in</strong>e starke motorische<br />

Unruhe auf.<br />

Um die Jugendlichen, zur Teilnahme an der Lernwerkstatt zu motivieren ist es<br />

erforderlich, sie ständig persönlich anzusprechen und tragfähige Beziehungen zu<br />

ihnen aufzubauen. Wir machen daher den Jugendlichen e<strong>in</strong> starkes positives<br />

Beziehungsangebot und geben ihnen e<strong>in</strong>en großen Raum, damit sie sich e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen<br />

können mit allen ihren Interessen, Neigungen, Eigenarten und Verhaltensweisen.<br />

Dabei wenden wir uns jedem e<strong>in</strong>zelnen persönlich zu, ermuntern ihn und<br />

geben ihnen e<strong>in</strong>e starke Anerkennung. Insofern ist Ausgangspunkt und Basis der<br />

Arbeit mit den Jugendlichen die Beziehungsarbeit im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>fühlenden und<br />

akzeptierenden Haltung, die bestimmt ist durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividualisieren<strong>des</strong> E<strong>in</strong>gehen<br />

auf die Bedürfnisse, Interessen und Verhaltensweisen der Jugendlichen.<br />

Wir bieten den Jugendlichen vielfältige Formen der sportlichen Betätigung und<br />

der Freizeitgestaltung an. Dazu zählen Billard, Hapkido, Volley- und Basketball, Kikker<br />

sowie Tischtennis, Krafttra<strong>in</strong><strong>in</strong>g, Musik und Video, Ausflüge und Erlebnisfahrten.<br />

Als e<strong>in</strong>e besonders wirkungsvolle, sozialpädagogische Arbeitsweise haben sich die<br />

werkpädagogischen Angebote erwiesen. Durch e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles E<strong>in</strong>gehen auf die<br />

Interessen und Bedürfnisse der Jugendlichen können ihnen Erfolgserlebnisse vermittelt<br />

werden, die sie <strong>in</strong> ihrer Persönlichkeit fördern und stabilisieren und auch<br />

am Aufbau von Lernmotivationen beitragen. Diese werkpädagogische Arbeit ist<br />

projekt- und produktbezogen und kann <strong>in</strong> den folgenden Bereichen angeboten<br />

werden: Weihnachtsgeschenke, Fahrradreparaturen, Metallbearbeitung und e<strong>in</strong>schließlich<br />

Gas- und Elektroschweißen, Löten, Elektrotechnik und Elektronik, Computertechnik,<br />

Zweiradmechanik, Modellbau, Kochen, Kunsthandwerk, Holzarbeiten.<br />

Mit der werkpädagogischen Arbeit ist auch e<strong>in</strong>e Berufsorientierung verbunden,<br />

die die Jugendlichen bei ihrer Berufswahl unterstützen soll. Gerade für Jugendliche<br />

mit ger<strong>in</strong>gen Schulkenntnissen und e<strong>in</strong>em wenig entwickelten schulischen Lernen<br />

bieten die werkpädagogischen Angebote die Möglichkeit zu Erfolgserlebnissen zu<br />

gelangen.<br />

Um das Kennenlernen der Jugendlichen untere<strong>in</strong>ander wie auch das zwischen<br />

Jugendlichen und Mitarbeitern zu fördern, wird ca. vier Wochen nach Beg<strong>in</strong>n der<br />

Lernwerkstatt e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>wöchige Erlebnisfreizeit durchgeführt. E<strong>in</strong>e zweite Freizeit<br />

wird zu Beg<strong>in</strong>n der Sommerferien im zweiten Jahr veranstaltet. Die Arbeit mit den<br />

Jugendlichen macht es erforderlich, daß während der gesamten Arbeitszeit der<br />

Lernwerkstatt e<strong>in</strong> Betreuungs- und Beratungsangebot vorhanden ist, daß die Jugendlichen<br />

bei der Bewältigung ihrer Verhaltensstörungen und Konflikte hilft, so<br />

daß sie nicht <strong>in</strong> ihren alten Mustern verhaftet bleiben, sondern neue sozialere Verhaltensweisen,<br />

E<strong>in</strong>stellungen und Motivationen herausbilden können.<br />

Das Ziel <strong>des</strong> ersten Jahres <strong>in</strong> der Lernwerkstatt ist es, daß durch e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive<br />

sozial- und sonderpädagogische Betreuung die Jugendlichen gruppenfähig werden,<br />

sie Lernmotivationen aufbauen, sie <strong>in</strong> ihrer Konzentrations- und Lernfähigkeit<br />

gefördert werden und e<strong>in</strong>e Arbeitshaltung entwickeln. E<strong>in</strong>e Vorbereitung auf den<br />

Hauptschulabschluß kann erst im zweiten Förderungsjahr durchgeführt werden.<br />

Die Jugendlichen erhalten e<strong>in</strong>en stark <strong>in</strong>dividualisierenden Schulunterricht, der<br />

sich an den Rahmenplänen der Sekundarstufe 1 orientiert. Durch die E<strong>in</strong>beziehung<br />

von Computern <strong>in</strong> Form von Lernprogrammen und Computerspielen wird die<br />

Motivation der Jugendlichen gefördert. Der Unterricht wird <strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>gruppen von<br />

99


100<br />

drei bis vier Jugendlichen erteilt. Zur Zeit erhalten zwei Jugendliche, die aufgrund<br />

ihres Sozialverhaltens und ihres Leistungsstan<strong>des</strong> nicht <strong>in</strong> der Kle<strong>in</strong>gruppe unterrichtet<br />

werden können, e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>zelunterricht.<br />

Im weiteren Verlauf der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen zu e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung<br />

mit ihrer aktuellen Lebenssituation und ihren Zukunftsperspektiven<br />

angeregt. Wenn bei den Jugendlichen dazu e<strong>in</strong>e Bereitschaft geweckt wurde, können<br />

wir ihnen auch helfen ihr negatives Selbstbild, ihre M<strong>in</strong>derwertigkeitsgefühle<br />

oder auch ihre Selbstüberschätzungen abzubauen. Neben dem Erlernen allgeme<strong>in</strong>bildender<br />

und fachpraktischer Fähigkeiten können die Jugendlichen auch Schlüsselqualifikationen<br />

wie Durchhaltevermögen, E<strong>in</strong>satzbereitschaft, Anpassungsfähigkeit,<br />

Orientierungsfähigkeit, Pünktlichkeit und Kooperationsfähigkeit herausbilden.<br />

Die Entwicklung e<strong>in</strong>er realitätsgerechten E<strong>in</strong>schätzung ihrer Fähigkeiten und e<strong>in</strong>e<br />

adäquate Berufswahl s<strong>in</strong>d dann die nächsten Schritte, bei denen wir die Jugendlichen<br />

unterstützten.<br />

Nach der Teilnahme an der Lernwerkstatt werden die Jugendlichen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Berufsausbildung,<br />

e<strong>in</strong>e weiterführende Schule oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Berufsvorbereitungs- oder<br />

Berufsgrundbildungsjahr übergeleitet. Damit die Jugendlichen die weiteren<br />

Bildungsmaßnahmen durchhalten, führen wir e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive sozialpädagogische<br />

Nachbetreuung durch. Die Sozialarbeiter<strong>in</strong> ist weiterh<strong>in</strong> Ansprechpartner<strong>in</strong> für die<br />

Jugendlichen, die Eltern und die jeweiligen Bildungs- und Soziale<strong>in</strong>richtungen.<br />

III. Zusammenfassende Erfahrungen<br />

1. Die Arbeit der Lernwerkstatt ist e<strong>in</strong>e permanente Beratungs- und Beziehungsarbeit,<br />

<strong>in</strong> der ständig <strong>in</strong>dividualisiert und situativ gearbeitet werden muß, um dadurch<br />

die jeweiligen Verhaltensschwierigkeiten aufzufangen und die Jugendlichen<br />

zur Mitarbeit und zur Reflexion über ihre jeweiligen Verhaltensproblematiken zu<br />

motivieren .<br />

2. Aufgrund der genannten Persönlichkeitsstörungen ist-es erforderlich, daß die<br />

Arbeit mit den Jugendlichen sozial-, sonder- und heilpädagogisch ausgerichtet se<strong>in</strong><br />

muß, wobei alle drei Mitarbeiter/<strong>in</strong>nen diese Orientierung <strong>in</strong> ihren jeweiligen<br />

Arbeitsansätzen berücksichtigen und umsetzen. Neben den fachspezifischen Qualifikationen<br />

ist e<strong>in</strong>e sehr gute Kontaktfähigkeit und e<strong>in</strong> stark entwickeltes E<strong>in</strong>fühlungsvermögen<br />

<strong>in</strong> die psychosoziale Problematik der Jugendlichen bei den Mitarbeitern<br />

erforderlich, um mit diesen Jugendlichen <strong>in</strong> sozial- und heilpädagogischer<br />

H<strong>in</strong>sicht arbeiten zu können. Die unterschiedliche Bezahlung von Sozial-, bzw.<br />

Werkpädagogen und Lehrer ist <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>erweise gerechtfertigt.<br />

3. Es ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e psychisch und physisch stark belastende Arbeit, die die<br />

Mitarbeiter an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit heranführt. Zum anderen ist<br />

es auch e<strong>in</strong>e sehr befriedigende Arbeit, wenn man die Fortschritte <strong>in</strong> der<br />

Persönlichkeitsentwicklung und <strong>in</strong> der Lernfähigkeit feststellen kann.


Folgende Träger/E<strong>in</strong>richtungen beteiligten sich an dem<br />

Programmteil „Projekte stellen sich vor“:<br />

Kreisvolkshochschule Aurich<br />

Jugendwerkstätten<br />

Raiffeisenstr. 8-10<br />

26603 Aurich<br />

(Tel.: 04941/64147, Frau Weber)<br />

Stadt–als–Schule<br />

Dessauer Str. 24<br />

10963 Berl<strong>in</strong><br />

(Tel.: 030/2651383, Herr Bubenzer)<br />

Werkhof <strong>in</strong> Scharnhorst<br />

Buschei 30<br />

44328 Dortmund<br />

(Tel.: 0231/23738, Frau Mewes-Turz)<br />

Lernwerkstatt<br />

im Zentrum für Erziehungshilfe<br />

Internationales Jugendzentrum<br />

Bleichstr. 8-10<br />

60313 Frankfurt<br />

(Tel.: 069/212-31768, Herr Mauer)<br />

Freie Schule Hamburg<br />

<strong>in</strong> der Honigfabrik<br />

Projekt Hauptschulabschluß<br />

Industriestr. 125<br />

21107 Hamburg<br />

(Tel.: 040/4322833, Frau Schwalbe)<br />

Schule <strong>des</strong> Lebens<br />

(WIBB gGmbH)<br />

Berl<strong>in</strong>er Str. 32<br />

15378 Hennickendorf (Brandenburg)<br />

(Tel.: 03343/445175, Herr Thimm)<br />

BuntStift e. V.<br />

Holländische Str. 208<br />

34127 Kassel<br />

(Tel.: 0561/98353-0, Frau Waasen)<br />

Städtische Hauptschule<br />

R<strong>in</strong>gelnatzstraße 12<br />

50996 Köln<br />

(Tel.: 0221/3591373)<br />

Jugendhilfe Köln e. V.<br />

Jugendwerkstatt Mülheim<br />

Berl<strong>in</strong>er Str. 31-33<br />

51063 Köln<br />

(Tel.: 0221/641064/5, Herr Kröger-Willms)<br />

Hauptschulabschlußkurse S<strong>in</strong>delf<strong>in</strong>gen<br />

Landkreis Böbl<strong>in</strong>gen<br />

Böbl<strong>in</strong>ger Str. 8<br />

71065 S<strong>in</strong>delf<strong>in</strong>gen<br />

(Tel.: 07031/94-511, Frau Bender)<br />

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