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POLITISCH ESSEN - Stadtgespräche Rostock

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<strong>POLITISCH</strong> <strong>ESSEN</strong><br />

Von Genforschungsfilz, Kinderbetreuung, Ackerlandausverkauf<br />

und anderen kulinarischen Leckerbissen<br />

aus der Region <strong>Rostock</strong>. Guten Appetit!<br />

GEDRUCKTE KÖRPERHALTUNG<br />

MAGAZIN<br />

FÜR BEWEGUNG,<br />

MOTIVATION UND<br />

DIE NACHHALTIGE<br />

KULTIVIERUNG<br />

DER REGION ROSTOCK<br />

stadtgespraeche- rostock.de<br />

ISSN 0948-8839<br />

ERSCHEINT<br />

QUARTALSWEISE<br />

AUSGABE NR.<br />

O. Reis: Unken:<br />

Angst & Akzent · R. Heusch-Lahl: "Sehe<br />

ich so aus ..." · Chronik FRIEDA 23 · R. Methling:<br />

Kommentar zur Frieda 23 · Ch.-K. Fuchs: Kommentar<br />

zum Statement des OB · S. Briese/K. Blaudzun:<br />

Kommentar zum Statement des OB · S. Bachmann:<br />

Bürgerschaft und Oberbürgermeister · T. Maercker: Du<br />

bist, was Du isst · B. Krause: Warmes Essen<br />

für Schulkinder · J. Holzapfel: Herzlich<br />

willkommen in Mecklenburg-Vorpommern<br />

· I. Wenzl: „Genversuche? Nein danke.“ · J.<br />

Langer: Politisch essen · C. Mannewitz:<br />

Sommertheater wetterfest · B. Kluger:<br />

Kommunalwahlrecht für Nicht-EU AusländerInnen<br />

· J. Langer: Region und literarische<br />

Welt<br />

SEIT 1994<br />

15. JAHRGANG // ///____EINZELHEFTPREIS: 2,50 € ___///// JAHRESABO (4 AUSGABEN): 10,00 €


Die „neue Bürgerschaft“ in erster Aktion!<br />

Nur instinktlos oder Zukunftsmodell: Für <strong>Rostock</strong> + FDP + NPD = Ausschussposten?<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.3 __ //// EDITORIAL | INHALT<br />

Liebe Leserinnen<br />

und Leser,<br />

Der Titel des Heftes macht schon deutlich,<br />

dass das aktuelle Heft keine Kochrezepte präsentieren<br />

möchte: Statt dessen gibt es Beiträge<br />

über den Anbau gentechnisch veränderter<br />

Pflanzen, über geplante Schweinemastanlagen<br />

von immensen Ausmaßen, zur „industriellen<br />

Fleischproduktion“, die weder den dort gehaltenen<br />

Tieren noch den Fleischkonsumenten<br />

gut tut, über Großankäufe von Ackerland<br />

u.v.a.m. - sämtlich besorgniserregende Entwicklungen,<br />

denen mit aktivem Widerstand<br />

begegnet wird und noch stärker begegnet werden<br />

sollte. Ans Herz legen möchte ich Ihnen<br />

aber auch einen Beitrag über den „Fischkutter“, der nicht nur von kostenlosem<br />

Mittagessen für Kinder in Toitenwinkel und Dierkow berichtet, sondern das<br />

Thema Kinderarmut in <strong>Rostock</strong> vielschichtiger in den Blick nimmt.<br />

Dass die aktuelle Stadtpolitik derzeit nicht zu kurz kommen darf, leuchtet sicher<br />

jedem ein. So haben wir uns unter anderem intensiver mit dem Projekt<br />

Frieda 23 beschäftigt, dass trotz langjährigem, großen Engagement vieler <strong>Rostock</strong>er<br />

kurz vor dem Scheitern steht - eine Chronologie und die Meinungen<br />

verschiedener Akteure helfen bei der Ursachenforschung. Dieser und andere<br />

Beiträge zur Lokalpolitik verstehen sich, einzeln und als das Gesamtbild das<br />

sie zeichnen, als Diskussionsangebote, zu denen wir auch Ihre Meinung hören<br />

möchten - schreiben Sie uns!<br />

In diesem Sinne wünsche ich nicht nur einen schönen Sommer sondern auch<br />

eine Lektüre, der möglichst viele Aktivitäten folgen<br />

Ihre Kristina Koebe<br />

Inhalt dieses Heftes<br />

Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

Leserbriefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2<br />

Glosse/Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

O.Reis: Unken: Angst & Akzent . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

R.Heusch-Lahl: "Sehe ich so aus ..." . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Chronik FRIEDA 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

R.Methling: Kommentar zur Frieda 23 . . . . . . . . 15<br />

Ch.-K.Fuchs: Kommentar zum OB-Statement . 15<br />

S.Briese/K.Blaudzun: Kommentar zum Statement<br />

des OB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

S.Bachmann: Bürgerschaft und OB . . . . . . . . . . . . .18<br />

Titelthema: „Politisch Essen“<br />

T.Maercker: Du bist, was Du isst . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

B.Krause: Warmes Essen für Schulkinder . . . . . . . 26<br />

J.Holzapfel: Herzlich willkommen in MV . . . . . . 31<br />

I.Wenzl: „Genversuche? Nein danke.“ . . . . . . . . . . 33<br />

J.Langer: Politisch essen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />

Rezensionen/Internationales:<br />

C.Mannewitz: Sommertheater wetterfest . . . . . . 39<br />

B.Kluger: Kommunalwahlrecht für Nicht-EU-AusländerInnen<br />

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40<br />

J.Langer: Region und literarische Welt . . . . . . . . . 41<br />

Die kenn’ ich doch, irgendwie??!<br />

FOTO: TOM MAERCKER


00.4 __ //// LESERBRIEFE | GLOSSE | IMPRESSUM<br />

Leserbriefe<br />

Sehr geehrte Frau Koebe!<br />

Der „Amoklauf von Winnenden“ hat keineswegs - wie Sie im Editorial schreiben - „eine eher deprimierende Diskussion über das<br />

deutsche Schulsystem auf den Plan gerufen“. Diese Diskussion - sei sie deprimierend, sei sie fruchtbar - läuft seit Jahren. Sie hat allerdings<br />

mehr mit PISA zu tun als mit Pistolen. Und den „immer schärfer zutage tretenden Mängeln der deutschen Schul- und Ausbildung“<br />

soll auch nicht etwa mit „Metalldetektoren und Bodyguards“ begegnet werden, wie Sie vermuten.<br />

Sie tun mit dieser grotesken Verknüpfung genau das, was Sie „den Medien“ vorwerfen: Sie instrumentalisieren Winnenden.<br />

(„Amok?!” auf dem Titel geht immer.) Ich habe jedenfalls noch keine überzeugende Begründung für das gehört, was Tim K. getan<br />

hat. Könnte also durchaus sein, dass er geschossen hat, obwohl er „individuell betreut“ wurde, „ganzheitlich gelernt“ hat und ganz<br />

dolle „sozial miteinander“ war. Dann allerdings kann das altböse „Leistungsethos“ nicht schuld sein am „Amoklauf “ (der - Genauigkeit<br />

muss sein - eher ein Mehrfachmord war).<br />

Kurz zu „den Medien“: Ich stelle Ihnen gern jeweils ein Dutzend Zeitungsartikel, Radio- und TV-Sendungen zusammen, die die<br />

Rolle „der Medien“ problematisieren. Insofern stimmt auch Ihre Einschätzung nicht, deren Rolle werde „unzureichend reflektiert“.<br />

In „den Medien“ herrscht kein Erkenntnis-Defizit über das, was seit einigen Jahren falsch läuft. Das Problem ist ein anderes: Das<br />

Umsteuern klappt nicht (wofür es viele Gründe gibt).<br />

Übrigens: Die Beiträge im Heft waren dann durch die (Schul-)Bank lesenswert, mit dem Kathrin-Wagner Interview als Highlight.<br />

Die DDR-Vergangenheit vieler Lehrer erklärt allerdings auch nicht, warum Tim K. gemordet hat.<br />

Mit freundlichen Grüßen<br />

Arne Boecker<br />

Sehr geehrter Herr Boecker,<br />

herzlichen Dank für Ihre kritischen und konstruktiven Zeilen zum letzten Heft. Dass der Titel des Hefts ironisch gemeint und damit keine<br />

Instrumentalisierung einer Tragödie ist, werden Sie als lang jähriger Leser uns sicher glauben.<br />

Selbstverständlich ist es richtig, dass die Bildungsdebatte schon seit Jahren geführt wird – allerdings oft ohne breite politische oder öffentliche<br />

Anteilnahme. Wogegen Anlässe wie die Amokläufe von Erfurt oder Winnenden dann zu aufflammenden, oft sehr polemisch geführten<br />

und nach wenigen Wochen wieder verschwindenden Debatten führen, an denen sich auch Personen und Medien beteiligen, die dem<br />

Thema sonst wenig Aufmerksamkeit schenken. Vermutlich ist dies ungleich weniger produktiv als die langen und zähen Bemühungen um<br />

nachhaltige Verbesserung der Ausbildungssituation – Fakt ist aber auch, das weder punktuelle noch lang jährige Anstrengungen es bis dato<br />

geschafft haben, der Qualität von Ausbildung den gesellschaftlichen Stellenwert zu verschaffen, den sie eigentlich verdient.<br />

Unsere Beobachtung der Medienreflexion des Themas steht übrigens durchaus auf empirischen Füßen: Sowohl in der hiesigen Lokalpresse<br />

als auch in mehreren großen deutschen Zeitungen wurden politische Forderungen wie die nach Metalldetektoren und intensiverer Überwachung<br />

als mögliche Verbesserungsmaßnahmen in Betracht gezogen. Ist das denn keine deprimierende Diskussion?<br />

Dies nur als kurze Replik – ich lade Sie herzlich zu einem Beitrag für unser Heft ein, der das Thema noch einmal ausführlicher, auf der<br />

Basis Ihrer umfassenden Erfahrungen beleuchtet und freue mich auf diese Weiterführung der Diskussion.<br />

Herzliche Grüße aus der Redaktion,<br />

Kristina Koebe.


Wir hatten die Wahl. Für <strong>Rostock</strong>, für liberaldrehende<br />

Joghurtkulturen, für den neunten<br />

Aufbruch, für das Übliche.<br />

ALMA ATEMLOS<br />

Das Buhlen um die Gunst von uns Wählern beschränkte sich zumeist auf Plakate an<br />

Laternenmasten. Da musste Roland Methling das Ganze aufhübschen und schenkte<br />

mir hinterm Kröpeliner Tor ein Blümchen zum Muttertag. Dabei will er doch eigentlich<br />

alles verkaufen und nichts verschenken, dachte ich mir im Weitergehen. Dann<br />

fiel mir ein, dass der Muttertag in Deutschland ja vom Verband der Blumenverkäufer<br />

eingeführt wurde, also nur dazu da ist, was zu verkaufen. Ob diese Botschaft jede Beschenkte<br />

verstanden hat? Also mir war das etwas zu sehr um die Ecke gedacht.<br />

Überhaupt waren die Parolen von Für <strong>Rostock</strong> – pro OB (das liest sich komisch, ist<br />

aber richtig; jeder Werbefachmann würde sagen, so ein Name ginge gar nicht, aber<br />

der letzte Werbefachmann von Roland Methling macht jetzt www.rostock.de und<br />

wenn man die Seite gesehen hat, ist natürlich klar, dass Für <strong>Rostock</strong> sowas von geht)<br />

doch etwas kompliziert.<br />

Nehmen wir doch mal den angeblich riesigen Schuldenberg. Die Stadt zahle täglich<br />

um fünf vor zwölf 32.000 Euro Zinsen. Ist das viel oder wenig? Keine Ahnung. Also<br />

hab ich 32.000 durch 200.000 Einwohner geteilt. Das sind 16 Cent pro Bürger pro<br />

Tag. Hochgerechnet zahlt also jeder Einwohner pro Monat knapp fünf Euro Zinsen.<br />

Ich wäre froh, wenn meine Kreditzinsen auch nur das Zehnfache dessen betragen<br />

würden. Wenn fünf Euro Zinsen gleichbedeutend sind mit fünf vor zwölf, dann lebe<br />

ich schon in einer völlig anderen Zeitrechnung.<br />

Zeitlich gut für den Wahlkampf lag dann auch der Klassenerhalt von Hansa <strong>Rostock</strong>.<br />

Das Wählerbündnis Für <strong>Rostock</strong> feierte das Ereignis mit dem Motto: „Ihr bleibt drin<br />

und wir kommen rein.“ Hinzuzufügen wäre gewesen: „Denn wir sind auch fast drittklassig“.<br />

Kurz vorm Wahlsonntag gab es dann noch großen Appell mit bulligen Werbeanzeigen:<br />

58 Prozent hätten Roland Methling gewählt, 58 Prozent könnten sich nicht irren.<br />

50 Prozent waren´s dann aber doch.<br />

Und so hatten am Tag danach auch Rolands Neueste Nachrichten viel damit zu tun,<br />

optimistisch zu verkünden, dass Für <strong>Rostock</strong> zwar knapp am Ziel, stärkste Fraktion zu<br />

werden, scheiterte, aber dafür schon im ersten Anlauf der Sprung in Fraktionsstärke<br />

in die Bürgerschaft gelungen. Und Frau Neumann von Für <strong>Rostock</strong> wurde zitiert mit<br />

der Ansicht, man könne nun das Zünglein an der Waage sein. Welche Waage?<br />

Ihre Verbundenheit mit der Kommunalpolitik wird nun auch die Kunsthalle demonstrieren.<br />

Noch in diesem Jahr werden die besten Wahlplakate der Bürgerschaftswahl<br />

in einer Sonderausstellung präsentiert. Die Kunsthalle sorgt damit für einen weiteren<br />

Paukenschlag. Los ging´s damit, dass das Ausstellungshaus rechtzeitig zur Eröffnung<br />

der Exposition „20 Jahre nichts gesammelt, 40 Jahre Kunsthalle, 60 Jahre DDR“ dem<br />

kommunalen Beamtenapparat entrissen und in die Hände eines real schaffenden,<br />

wenn auch nicht mehr praktizierenden Zahnarztes und somit in wirkliches Volkseigentum<br />

gegeben wurde. An Willi Sittes „Schweißer“ wurde ich dann vollends vom<br />

Flair der damaligen Brigadenachmittage erfasst. Die Ausstellungsmacher haben wirklich<br />

ganz wunderbar in die Nostalgiekiste gegriffen.<br />

Anschließend gab es dann sechs Wochen live die Wolfgang Soap „Ewige Liebe“.<br />

12.000 Leute zahlten freiwillig fünf fünfzig, um einer Werbeverkaufsschau für Sträflingskleidung<br />

von Wunderkindern beizuwohnen, atmosphärisch verdichtet mit Ed-<br />

Hardy-Leichentüchern und Kitschpostkarten-Marmorengeln. Sogar aus Hamburg<br />

sollen Besucher gekommen sein.<br />

Und die brachten auch den Titel (geklaut bei der Hamburger Beatmusikkapelle Kettcar)<br />

für die Kommunalwahlplakatausstellung mit: Lieber peinlich als authentisch.<br />

Ich bin gespannt. ¬<br />

Impressum<br />

<strong>Stadtgespräche</strong> Heft 55:<br />

„Politisch Essen”<br />

Ausgabe Juli 2009<br />

(Redaktionsschluss: 10. Juli 2009)<br />

Herausgeber:<br />

Bürgerinitiative für eine solidarische Gesellschaft e.V.<br />

<strong>Rostock</strong> in Zusammenarbeit mit der Geschichtswerkstatt<br />

<strong>Rostock</strong> e.V.<br />

Redaktion und Abonnement:<br />

Redaktion »<strong>Stadtgespräche</strong>«<br />

Kröpeliner Tor<br />

18055 <strong>Rostock</strong><br />

Fax 01212-514072528<br />

E-Mail: redaktion@stadtgespraeche-rostock.de<br />

Internet: www.stadtgespraeche-rostock.de<br />

Verantwortlich (V.i.S.d.P.):<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Redaktion:<br />

Dr. Kristina Koebe<br />

Tom Maercker<br />

Dr. Peter Koeppen<br />

Dr. Jens Langer<br />

Die einzelnen Beiträge sind namentlich gekennzeichnet<br />

und werden von den Autorinnen und Autoren<br />

selbst verantwortet.<br />

Layout: be:deuten.de //Klimagestalter<br />

Mediadaten:<br />

Gründung: 1994<br />

Erscheinung: 15. Jahrgang<br />

ISSN: 0948-8839<br />

Auflage: 200 Exemplare<br />

Erscheinung: quartalsweise<br />

Einzelheftpreis: 2,50 € (Doppelheft: 5,00 €)<br />

Herstellung: LASERLINE<br />

Anzeigenpreise (Kurzfassung) :<br />

(ermäßigt / gültig für 2009)<br />

3. Umschlagseite (Spalten-Millimeter-Preis): 0,25 €<br />

4. Umschlagseite (nur komplett): 145,00 €<br />

Details auf unserer Website im Internet<br />

Verkaufstellen in <strong>Rostock</strong>:<br />

Unibuchhandlung Thalia, Breite Str. 15-17<br />

Unibuchhandlung Weiland, Kröpeliner Str. 80<br />

die andere Buchhandlung, Wismarsche Str. 6/7<br />

Kröpeliner Tor, Kröpeliner Str.<br />

Kiosk am Neuen Markt<br />

Sequential Art, Peter-Weiss-Haus, Doberaner Str.<br />

Bankverbindung<br />

(für Abo-Überweisungen und Spenden)<br />

Kto.: 207350082<br />

BLZ: 52060410<br />

bei der Evangelischen Kreditgenossenschaft e.G.<br />

Nürnberg<br />

Abonnement:<br />

Jahresabonnement (4 Ausgaben): 10,00 €<br />

Einen Aboantrag finden Sie auf S. 10 (bzw. als<br />

PDF-Datei zum Ausdrucken und Ausfüllen auf<br />

unserer Website im Internet).


00.6 __ //// NACHLESE<br />

Unken:<br />

Angst & Akzent<br />

OLAF REIS<br />

Leise sitzen sie hinter den Schreibtischen, hinter Statistiken,<br />

hinter Anthologien aus besserer Zeit. Still sagen sie schlimme<br />

Sätze, und ich höre zu: Die DEMOKRATSIERUNG der neuen<br />

Bundesländer sei gescheitert, so sagen es mir die westgedienten<br />

Geist- und Straßenkämpfer, die inzwischen im Osten akademische<br />

Wohnung genommen haben. Aus den Laserdruckern<br />

wachsen die Diagramme. Mehr Rechtsregionen denn je, die<br />

SPD links überholt (ohne eingeholt), am wuchtigsten jedoch<br />

die Säule derjenigen, die am Wahltag Besseres zu tun hatten.<br />

Sie fragen mich nach meiner Meinung als Sozialpsychologe<br />

und Rossi (<strong>Rostock</strong>er+Ossi). Aus der Hüfte antworte ich mit<br />

der Akzentuierungsthese. Die Krise bringt es an den Tag - das<br />

Beste und das Schlechteste -, das ist wie mit der Persönlichkeit<br />

in der Partnerschaft.<br />

In chaotischen Emotionssituationen werden wir kenntlich //<br />

darum „erkannten sie einander“ schon in der Bibel // und die<br />

große Abrechung dräut am Horizont: Opel verbürgt, Karstadt<br />

gewürgt, die Russen kommen bei Kvaerner, den Gebrauchtwagen<br />

haben sie schon. Woran also sich halten wenn nicht am Innersten?<br />

So bricht aus, was schon immer da war /Mahagonny-<br />

Dramaturgie. Angst setzt Akzente: Rechts rechter, Links linker,<br />

Mitte mittiger. Die Sozialpsychologie sagt dazu, dass die<br />

relativen Positionen der Individuen erhalten bleiben, die Unterschiede<br />

zwischen ihnen jedoch größer werden. Anders gesprochen:<br />

Das mittige OstGrau zerfällt, zwanzig Jahre später.<br />

Wenn der Osten schon ein Mezzogiorno wird (Abwanderung<br />

der Fachkräfte, keine Industrieansiedlung, Überalterung),<br />

dann wollen wir auch in der Politik den italienischen<br />

Schwung// hier bitte ein emoticon einfügen um anzudeuten,<br />

dass der letzte Satz mehrbödig ist //.<br />

Im Zukunftsland des Kapitalismus, den U.S.A., sind die sozialen<br />

Unterschiede schon immer viel größer gewesen, dort wird<br />

sich aber auch unter Obama das Zweiparteiensystem als stabil<br />

erweisen. Dort sind die Parteien nicht an soziale Großmilieus<br />

(wie „Normalverdienende“ versus „Besserverdienende“) gebunden,<br />

sondern an eine Vielzahl von Werten und Einstellungen,<br />

die milieuübergreifend organisiert sind: Ökologie, Todesstrafe,<br />

Abtreibung, Rassismus, Irakkrieg etc. Die Systemstabilität dort<br />

ist dialektisch begründet, weil sich im Zweiparteinsystem oft<br />

These und Antithese gegenüberstehen. Obamas „we“-Rufe, die<br />

auf die Überwindung des dichothomen Politik- und Denkschemas<br />

zielen, fangen sich gerade zwischen Scylla und Charybdis.<br />

Der neue Präsident hat vielleicht zu sehr auf die amerikanische<br />

Tugend der Gewissenswähler gehofft, die keinen<br />

Fraktionszwang kennen. Dazu erst in ein paar Jahren.<br />

In Deutschland waren die Parteien stärker an soziale Milieus<br />

gebunden, und mit dem Abgang dieser lassen auch jene Parteien<br />

zuerst ihre Rotfedern, bei denen diese Bindung besonders<br />

eng war. Wir erleben stattdessen den Aufgang der Wertparteien.<br />

Seit Jahren machen die Grünen das erfolgreich vor. Es werden<br />

kleinere Teile der Wählerschaft relativ dauerhaft an zentrale<br />

Werte und Themen gebunden. Wie schwer derartige Fokussierungen<br />

in einer höchstkomplexen Welt sind, zeigt das Beispiel<br />

des Ökodiesels. Auf der grünen Milchmädchenrechnung<br />

tauchte die globale Armut nicht auf und nun ducken wir uns<br />

unter dem Bumerang. Solange die Leute ihren Müll sortieren<br />

wollen und nicht (wie in Indien) davon leben müssen– bleibt<br />

Ökologie etwas für die Satten (und ausgerechnet die Japaner<br />

machen um Kyoto einen Rechenbogen). In dieser Wertevielfalt,<br />

die auf einzelne Wählergruppen zielt, bleibt auch das<br />

„Volk“ als Konstrukt auf der Strecke und damit die<br />

„Volks“parteien. Stattdessen sind es singuläre Werte und Symbole,<br />

die <strong>Rostock</strong>er und alle anderen europäischen Wähler mobilisieren:<br />

In <strong>Rostock</strong> hieß eine Gruppe tatsächlich „ProOB“,<br />

und im Europaparlament werden tatsächlich die (Internet)“Piraten“<br />

sitzen.


Doch auch die erfolgreicheren Traditionsparteien werden offensichtlich<br />

mit konkreten Labels belegt, die Linke mit Staatsgerechtigkeit,<br />

die Liberalen mit Marktwirtschaft. Die Europa-<br />

Forderungen der SPD jedoch werden vielleicht eines Tages mit<br />

der Gründung einer „Mindestlohn-Partei“ beantwortet. Die<br />

wird dann von den dreifach freien Tagelöhnern des globalen<br />

Kapitals gewählt, - ja warum nicht? Die großen Programme,<br />

die weitreichenden Entwürfe für die „Gestaltung der sozialen<br />

Marktwirtschaft“, eine „Agenda 20XX“ oder ähnliches erscheinen<br />

wie Hohn angesichts der sich täglich korrigierenden<br />

Prognosen. Mahagonny als Verlust von Zukunft: das Hemd ist<br />

näher als der Rock, der Bürgermeister näher als die Landesregierung.<br />

Das hat die NPD verstanden, ebenso ProOB.<br />

So oder so ähnlich antwortete ich auf die leise gestellten Fragen<br />

der Politikwissenschaftler, wie gesagt, aus der Hüfte.<br />

Doch die These vom Scheitern der Demokratisierung trifft<br />

mich tiefer, und vergiftet den Brunnen der Erinnerung. Es ist<br />

die EndUNG, die das Gift verspritzt. Noch einmal hole ich<br />

aus, ziele höher. Auch wenn „Demokratisierung“ den Prozess<br />

beschreiben soll, hat das Wort doch den Beigeschmack der<br />

Fremdorganisation. Das Gift liegt im Gestus der EntnazifizierUNG,<br />

den Klemperer am Ende von „LTI“ zurückweist. Ein<br />

Gott zu sein ist schwer = eine Demokratie kann nicht von außen<br />

„entwickelt werden“. Weder durch Marshallplan noch<br />

durch bezahlte Landschaftsblüten; Anschluss, oder Beitritt<br />

zum Gleichschritt. Die bundesdeutsche Demokratie hat jetzt<br />

begonnen zu verstehen, dass sie sich verwandelte, als sie ihr System<br />

über die Mauer stülpte. Es wird im Osten sowenig/soviel<br />

eine Demokratisierung geben wie im Westen der 50er und<br />

60er. Erst, wenn sich hierselbst Variationen von 1968 und 1976<br />

abspielen, wird das WESTPAKET auch gewonnen werden.<br />

Vielleicht ist die Tendenz zur schwindenden Mitte, zu Vervielfältigung<br />

und zur Besetzung der politischen Ränder eher der<br />

Beginn eines italienischen Demokratieverständnisses denn das<br />

Scheitern einer UNG?<br />

Italien in <strong>Rostock</strong>: die Linke zählt die Stimmen, ob sie für eine<br />

Direktfahrkarte nach Berlin reichen; Öko- und PDS-Brigadiere<br />

können nicht miteinander, denn taz lesen und Linke wählen<br />

sind zweierlei; die Nordmussolinis fragen nach der Anzugsordnung;<br />

der Doge hat eine eigene Partei für die Hochzeit mit<br />

dem Meer, die Liberalen reden von Geist und meinen das<br />

Geld. Keine familia darf es mit den anderen verderben, denn<br />

von nun an bedrohen schnelle Kurswechsel, ausgediente Fraktionen,<br />

vorgezogene Neuwahlen, Enthüllungen und Kronzeugenregelungen<br />

die gerade gewonnenen Sitze. Aus dem blickdichten<br />

SPDfilz ist ein Flickenteppich geworden, und wohlwollend<br />

nehmen wir dessen Buntheit für ein Zeichen von Diversität.<br />

Selbst wenn es so wäre, bliebe Neufünfland jedoch das Methusalem-Problem:<br />

Demografie schlägt Demokratie. Die paar humanistischen<br />

Rentner gehen in Anklam schon lange nicht<br />

mehr auf die Straße. Wer sein Abitur hat und trotz seiner Medienjugend<br />

noch heil ist an Körper und Geist, der geht wenigstens<br />

bis nach <strong>Rostock</strong>. Immerhin hat hier die WIRO begon-<br />

nen, StudentenWGs in Problemvierteln zu ermöglichen (dieser<br />

winzige Erfolg wird mit steigenden Mieten wieder aufs Spiel<br />

gesetzt). Doch Jugend allein und Verjüngung einer Stadt bringen<br />

noch keine Demokratie. Es ging auch 68 und 76 vor allem<br />

um selbstorganisierte Kulturen, die Hoheit bei Symbolik und<br />

Deutung. Es waren nur sehr wenige Akteure, die diese Hoheit<br />

erarbeiteten; und der 1968er Erfolg ging mitnichten auf das<br />

Konto der „Jugend“. Wobei Demokratie nicht nur in erfolgreichen<br />

Symboliken gewonnen wird, sondern auch in gescheiterten,<br />

wie 1976. Die Bomben und Toten des bleiernen Herbst<br />

brachten eben KEINE Demonstrationen auf die Straße, d.h. sie<br />

erlangten keine symbolische Hoheit, aber die jungen RAF-Anwälte<br />

gingen in die Institutionen: die Spiegel-Redaktion, die<br />

grüne Partei oder die NPD. Die westdeutsche Demokratie der<br />

80er Jahre wäre ohne Austs Buch, ohne Ströbeles langen<br />

Marsch, ja, sogar ohne Mahlers Entgleisungen eine andere, leblosere<br />

gewesen.<br />

Im Kampf um die Symbole jedoch ist die Ostjugend bedroht,<br />

denn seit Jahren kaufen viele Grauköpfe den wenigen Schülerdemonstranten<br />

den Schneid ab. Wir finden uns umzingelt von<br />

gutgestellten schreibwütigen OstrentnerInnen, die – inzwischen<br />

resistent gegen das Venom der DemokratisierUNG - die<br />

Erinnerungslücken besetzen und ihr Grundrecht auf Parallelwelt<br />

wahrnehmen. Jeder alte NVA-Offizier „legt seine Gedanken<br />

nieder“, ehemalige Spitzeltheologen veroffenbaren sich in<br />

schwarzgebauten Eigenheimen; ganz zu schweigen von den autobiographischen<br />

Funktionären, die auf Erlösung durch Rechtfertigung<br />

dönhoffen.<br />

Zwanzig Jahre später gibt es keinen Diskurs in dieser Altersgruppe,<br />

die DDR hat die Hoheit über die Einheit. Die Babyboomer<br />

der jetzt 40-50jährigen bearbeiten tapfer als GeschichtslehrerInnen<br />

ihre Kinder und kauen an den Sätzen, die<br />

der Lehrplan ihnen vorgibt. Sie kauen stumm, denn auch in<br />

dieser Altersgruppe gibt es wenig oder keinen deutschen Diskurs,<br />

und darum ist es gut, wenn zum Jahrestag die alte Pandorabüchse<br />

UNRECHTSSTAAT wieder einmal geöffnet wird.<br />

Die nächstjüngeren StudentInnen wiederum verunsichern diskursiv<br />

die zugezogenen PolitologInnen und wir reden dann.<br />

Leise. Bittere Diagnostik: die angeschlossene Ostmetastase zersetzt<br />

die Wohlstandsdemokratie, unter anderem mit dem Enzym<br />

Erinnerung. Was für ein Stoff. Nun hat das Haus der DSF<br />

neue Betreiber/Besitzer. Da muss eine Studentenbühne hin,<br />

auch wenn Heiner tot ist. ¬


FOTO: BÜNDNIS 90/GRÜNE, ROSTOCK


00.9 __ //// NACHLESE<br />

„Sehe ich so aus, dass<br />

ich Grünenwähler bin?“<br />

Aus dem Leben einer Bürgerschaftskandidatin<br />

RENATE HEUSCH-LAHL ______//DIPL.-POLITOLOGIN RENATE HEUSCH-LAHL (41); KOMMUNIKATIONSBERATERIN, MODERATORIN UND MEDIATO-<br />

RIN (BM). MIT 23 JAHREN WAR SIE PRESSESPRECHERIN IM SOZIALMINISTERIUM DES LANDES MV, ANSCHLIEßEND LEITETE SIE SIEBEN JAHRE<br />

DAS PRESSEAMT DER HANSESTADT ROSTOCK. SEIT 2000 IST SIE FREIBERUFLICH TÄTIG.<br />

Vielleicht spielt es keine Rolle, ob jemand versucht auf der<br />

Straße irgendein Produkt zu vertreten und Informationsmaterial<br />

unter die Leute zu bringen oder für eine politische Partei zur<br />

<strong>Rostock</strong>er Bürgerschaftswahl zu werben. Das Gefühl, so vermute<br />

ich, jedenfalls ist gleich. Es kostet enorme Überwindung,<br />

auf fremde Menschen zuzugehen und diese in ein Gespräch<br />

über <strong>Rostock</strong>er Kommunalpolitik zu verwickeln. Es passiert in<br />

wenigen Sekunden: Ich ermutige mich gedanklich, schaue Passanten<br />

an und überlege, ob derjenige in Frage kommt – und das<br />

nur, um einen Flyer der Grünen zu überreichen. Wirkt jemand<br />

desinteressiert, abweisend oder gestresst, so sinkt der Mut.<br />

Schaut jemand freundlich, nehme ich all meinen Mut zusammen<br />

und spreche die Person an. Viele reagieren erstaunlich positiv<br />

und aufgeschlossen, ein „Danke schön“ oder gar „ich wähle<br />

euch doch sowieso“ zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht.<br />

Baff bin ich nach der Reaktion eines jungen Mannes, der rein<br />

optisch durchaus zu der Zielgruppe der Grünen passt, der sagt:<br />

„Sehe ich so aus, dass ich Grünenwähler bin?“ Überrumpelt gebe<br />

ich zurück: „Ja, eigentlich schon.“<br />

„Ich will gestalten“ - Kandidatur ein logischer<br />

Schritt<br />

Als mich einige Grüne im Februar fragten, ob ich mir – als Parteilose<br />

– vorstellen könnte, für die nächste Bürgerschaft zu<br />

kandidieren, war ich zunächst überrascht. Freiberuflich tätig,<br />

zwei Kinder, viele Hobbies und einige ehrenamtliche Sachen –<br />

da passte Kommunalpolitik nicht in meine Lebensplanung.<br />

Oder vielleicht doch? Für einige Freunde war es sonnenklar:<br />

„Dieser Schritt ist bei dir nur logisch. Schließlich wolltest du<br />

immer schon gestalten.“ Das stimmt. Außerdem möchte ich<br />

dieser Stadt, der ich mich so verbunden fühle, auch etwas zu-<br />

rückgeben und dazu beitragen, dass <strong>Rostock</strong> so lebenswert<br />

bleibt. Aber dafür gleich in die Bürgerschaft? Schließlich hatte<br />

ich mich vor Jahren entschlossen, der Verwaltung den Rücken<br />

zu kehren, bin aus der Angestelltentätigkeit im Rathaus ausgestiegen<br />

und habe neue berufliche Wege beschritten. Nun gut,<br />

nicht auf andere zeigen, sondern selbst aktiv werden, der Gedanke<br />

hat mich überzeugt.<br />

Politik macht Spaß, wenn die Chemie stimmt<br />

Dass es die Grünen sein sollten, das war für mich klar. Eine<br />

Partei, wie ich finde, die für die richtigen Ziele steht. Energiewende,<br />

Förderung des Radverkehrs und des ÖPNV, Investieren<br />

in Bildung und Kultur, Förderung von kleinen und mittleren<br />

Unternehmen, keine sinnlosen Großprojekte – eine Politik mit<br />

Augenmaß. Sympathische Menschen, die sich ebenfalls engagieren.<br />

Verbringt man viel Zeit miteinander – in der Freizeit –<br />

dann muss auch die Chemie stimmen. Allen Unkenrufen und<br />

Stress zum Trotz: ich habe viel gelacht mit den Grünen in den<br />

letzten Monaten. Politik macht Spaß!<br />

Wahlkampf – ein Marathonlauf<br />

Und dann geht es los: wir schreiben das Wahlprogramm und<br />

entwickeln Ideen für Aktionen für den Wahlkampf. Plakate,<br />

Flyer, Termine – all dies will erledigt werden – ohne die stillen<br />

Helferinnen im Hintergrund gar nicht denkbar. Der Termin<br />

der Wahl rückt immer näher. Es ist so wie oft, wenn viele Menschen<br />

an Entscheidungen beteiligt sind: Dinge verzögern sich,<br />

es wird noch einmal diskutiert, alles wieder offen.... Im beruflichen<br />

Leben bin ich über die Jahre so professionalisiert und habe<br />

gelernt, effektiv zum Ergebnis zu kommen. In der Politik ist<br />

das anders. Ich merke, ich muss an mir arbeiten, geduldiger


00.10 __ //// NACHLESE<br />

werden. In den Wochen bleibt wenig Zeit zum Luftholen. Ab<br />

und zu denke ich: Jetzt ist meine Grenze erreicht, ich muss<br />

mich noch um anderes kümmern – um meine Arbeit und meine<br />

Familie. Aber irgendwie geht es dann doch weiter. Wahlkampf<br />

ist ein Marathonlauf – nur war ich nicht trainiert.<br />

Auch Sportsgeist ist gefragt<br />

Mein Lauftraining aber hat sich ausgezahlt: Zu fünft nahmen<br />

wir als Staffel im Mai am Citylauf teil. Zwar sind wir nur auf<br />

den hinteren Plätzen gelandet, aber immerhin vor der SPD.<br />

Die letzten hundert Meter sind wir gemeinsam und ganz langsam<br />

gelaufen - schließlich wollten wir, dass jeder unsere schönen<br />

T-Shirts sieht: Grün (was sonst?), vorne das Logo und<br />

hinten den Button mit der Aufschrift „Atomkraft – nein danke“.<br />

Das war uns schon wichtig auf einen Lauf, der nach einem<br />

Energieversorger benannt ist, der vor allem auf Atomkraft setzt<br />

und die regenerativen Energien als Feigenblatt begreift. Die<br />

Schmach war nur, dass wir auf den letzten Meter noch von einer<br />

anderen Staffel überholt worden sind. Der Werbeeffekt<br />

hatte Vorrang vor dem sportlichen Erfolg.<br />

Feiern können wir auch<br />

Ein anderer Höhepunkt war der Wahlkampfauftakt, den wir<br />

Ende April im Hausbaumhaus gefeiert haben. Selbstgemachtes<br />

Buffet, guter DJ, klasse Location – all dies trug dazu bei, dass es<br />

fast jeden auf die Tanzfläche zog. Wir haben auch politische<br />

Gespräche geführt. Aber für die gemeinsame Motivation und<br />

ein Wir-Gefühl hilft solch eine Party in jedem Fall.<br />

Abonnement<br />

Rechnungsanschrift (=Abonnent):<br />

Firma/Organisation: ....................................................................<br />

Abonnent: ....................................................................<br />

Anschrift: ....................................................................<br />

Land, PLZ, Ort: ....................................................................<br />

für Rückfragen:<br />

Vorwahl - Telefon: .............................................<br />

E-Mail: ....................................................................<br />

„Wenn du antrittst, dann gehe ich zur Wahl“<br />

Regelmäßig stellten wir ein grünes Sofa auf den Doberaner<br />

Platz und luden Passanten ein, mit Kandidaten ins Gespräch zu<br />

kommen. Das, so finde ich, hätten mehr Menschen nutzen<br />

können. Nett war es dennoch. Viele Bekannte kamen vorbei<br />

und erkundigten sich. Besonders erstaunten mich die Reaktionen<br />

einiger, die freimütig zugaben, dass sie eigentlich nicht zur<br />

Wahl gehen wollten: „Da ich nun weiß, dass du antrittst, gehe<br />

ich zur Wahl.“ Ich vermute, dass jeder Kandidat so etwas gehört<br />

hat. Das zeigt, wie wichtig es ist, dass Wähler Vertrauen zu den<br />

Bürgerschaftsmitgliedern entwickeln. Hier, so denke ich, muss<br />

die neue Bürgerschaft einiges verbessern und eine viel transparentere<br />

Informationspolitik betreiben.<br />

Interessante Erfahrung<br />

Der Wahltag selbst war schon ein Angriff auf das Nervenkostüm.<br />

Erst der Tag, der nicht zu den entspannendsten Sonntagen<br />

gehörte. Und der Abend: langes Warten, bis die Ergebnisse<br />

der Wahllokale eintrudeln, zwischen Freuden und Bangen.<br />

Richtige Gespräche kommen nicht zustande, alle sind unkonzentriert<br />

und nervös. Für die Grünen die Freude: 10,0 Prozent.<br />

Ein Spitzenergebnis. Für mich persönlich die Enttäuschung:<br />

ich bin nicht drin. Meine Gratulation geht an alle neuen Bürgerschaftsmitglieder<br />

und an sie auch der Wunsch, verantwortlich<br />

und offen an die Arbeit zu gehen. Für mich selbst bleibt<br />

das Resümee, dass es sich gelohnt hat. Ich möchte diese Erfahrung<br />

nicht missen und ich weiß, ich werde mich weiterhin politisch<br />

engagieren. ¬<br />

AUSSCHNEIDEN, AUSFÜLLEN, UNTERSCHREIBEN UND BITTE PER POST/FAX AN DIE REDAKTIONSADRESSE (ODER SIE BESTELLEN IM INTERNET: WWW.STADTGESPRAECHE-ROSTOCK.DE)<br />

Ja, hiermit abonniere ich ............. Exemplar(e) des Magazins »<strong>Stadtgespräche</strong>« ab der nächsten<br />

verfügbaren Ausgabe zum Jahresabonnement-Preis (4 Ausgaben) von 10,00 EUR. Ich kann dieses<br />

Abonnement jederzeit zum Jahresende kündigen, andernfalls verlängert es sich um ein weiteres<br />

Jahr. Hier meine Angaben:<br />

Wer bekommt das Heft (=Postanschrift)?<br />

(falls abweichend von der Rechnungsanschrift)<br />

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Widerrufsrecht: Die Bestellung kann innerhalb von 10 Tagen bei der Bestelladresse<br />

widerrufen werden. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung<br />

des Widerrufs.<br />

Datum/Unterschrift: ....................................................................


FOTO: BÜNDNIS 90/GRÜNE, ROSTOCK


0.12 __ //// AKTUELL<br />

FRIEDA 23<br />

Das Ende einer Odyssee in fast zwei Jahrzehnten?<br />

Das Konzept für die FRIEDA 23 entstand im Jahre 2003, als<br />

Kunstschule <strong>Rostock</strong> und Institut für neue Medien aus Platzgründen<br />

und wegen des Zustandes des derzeit genutzten Gebäudes<br />

einmal mehr Ausschau nach neuen Räumen halten. Die<br />

beiden Institutionen existieren schon seit der Nachwendezeit.<br />

Jetzt, vor nunmehr 6 Jahren, erwächst aus dem neuen Standort<br />

in der Friedrichstrasse ein neues, komplexen Konzepts eines interdisziplinären<br />

und multipel vernetzen kulturellen Produktions-<br />

und Lernortes für alle Generationen, im Herzen der Stadt.<br />

Diese Idee hat Modellcharakter weit über die Grenzen der<br />

Hansestadt hinaus. Partner in der Kernkonstellation dieser<br />

Idee sind die Kunstschule <strong>Rostock</strong>, das Institut für Neue Medien,<br />

das Lichtspieltheater Wundervoll (LiWu) und das Lokalradio<br />

LOHRO – sie alle eint dieselbe Vision, sie alle passen zu-<br />

1. Chronik des Projekts Frieda 23<br />

sammen, als Kunst- und Medienangebot für die junge, moderne<br />

Bildungs- und Wissenschaftsstadt <strong>Rostock</strong>. Bundesweite<br />

Kulturpreise verweisen auf die Qualität ihrer Arbeit, Landesund<br />

Stadtkulturpreisträger finden sich unter ihren Dozenten<br />

für Kunst und Medien.<br />

Was spricht gegen so ein Konzept? Warum scheint das Projekt<br />

über 4 Jahre hinweg immer wieder kurz vor der Verwirklichung<br />

zu stehen und gerät dann immer wieder ins Stocken? Auf den<br />

folgenden Seiten finden Sie eine Chronik des bisherigen, alles<br />

andere als gradlinigen Projektverlaufs, sowie Kommentare zur<br />

aktuellen Situation von <strong>Rostock</strong>s Oberbürgermeister Roland<br />

Methling, Dr. Christel-Katja Fuchs und den Hauptverantwortlichen<br />

der Frieda.<br />

1991 Gründung der Medienwerkstatt <strong>Rostock</strong> im Haus der Demokratie (Barlachstraße) - ab 1993 firmiert es<br />

unter „Institut für neue Medien“<br />

1991 Gründung der „Mobilen Kunstschule <strong>Rostock</strong>“ in der Stockholmer Straße<br />

Mai 2003 Beginn der Projektentwicklung FRIEDA 23<br />

28. Mai 2003 Schreiben der Frieda 23 GbR (Kunstschule, Institut) an die RGS mit der Absichtserklärung, die Schule<br />

Friedrichstraße 23 als Standort für eine Kunst- und Medienschule zu etablieren


Juni 2004 Eingeladener Architektenwettbewerb zur Sanierung der ehemaligen Jenaplanschule und Umbau zur<br />

Kunst- und Medienschule, sechs <strong>Rostock</strong>er Architekturbüros nehmen teil<br />

20. April 2004 Das Projekt „Umbau und Sanierung der Friedrichstraße 23 durch Kunst- und Medienschule GbR“ wird<br />

im Kulturausschuss vorgestellt; der Kulturausschuss gibt ein einstimmig positives Votum für das Projekt<br />

23. Februar 2004 Antrag der Frieda 23 GbR (Kunstschule, Institut) auf Erbbaurecht für Grundstück und Immobilie an<br />

das Liegenschaftsamt<br />

Juli 2004 Das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur sichert zu, die Möglichkeiten des Landes zu<br />

prüfen, ein solches Projekt zu unterstützen, Schreiben des Staatssekretärs Dr. M. Hiltner<br />

15. Oktober 2004 Abschluss einer vorläufigen Nutzungsvereinbarung mit Gebäude- und Verkehrssicherungspflichten<br />

zum Objekt Friedrichstr. 23 zwischen dem Amt für Kataster, Vermessung und Liegenschaften und der<br />

Frieda 23 GbR<br />

18. Januar 2004 Die Fördermittelvoranfrage der RGS zum Projekt Umbau Friedrichstraße 23 zur Kunst- und Medienschule<br />

ergibt ein positives Votum des Landesförderinstitutes<br />

Februar/April 2005 Einzug der kunstschule rostock e.V. /Institut für Neue Medien<br />

gGmbH in die FRIEDA 23, Beginn der provisorischen Nutzung<br />

seit 1. Januar 2005 die GbR übernimmt die Betriebskostenzahlung für das Objekt<br />

01. September 2005 Abstimmungsberatung zum Projekt zwischen Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur,<br />

Staatssekretär Dr. M. Hiltner, Projektgruppe und RGS in der FRIEDA 23<br />

Oktober 2005 Nach der Beratung ist das Projekt als landesbedeutsam eingestuft worden. Unterstützungszusage bei<br />

Umsetzung des Projektes mit Hilfe von Städtebaufördermitteln interministeriell durch Staatssekretär<br />

Dr. Hiltner, Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur<br />

seit 1. Januar 2006 Die GbR zahlt nunmehr, neben den Betriebskosten, auch eine Jahresmiete in Höhe von € 9.000,- für<br />

das Objekt<br />

22.Juni/1.Juli 2006 Abschluss eines Vertrages zwischen RGS und Frieda 23 GbR zu den Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen,<br />

Abschluss eines Planungsauftrags (Baugenehmigungsplanung) zwischen der RGS<br />

und der Briese+Grebin Architekten<br />

17. August 2006 Basierend auf einer Festlegung des Oberbürgermeisters weist das Bauamt an, die Planungsarbeiten bis<br />

zum 30. September auszusetzen<br />

9. Oktober 2006 Die Aussetzung wird bis zum 15. Januar 2007 verlängert<br />

16. Oktober 2006 Schreiben der GbR an den OB mit ausführlichen Unterlagen zum Projekt, mehrere briefliche Anfragen<br />

der Frieda 23 GbR an den OB mit Bitte um ein klärendes Arbeitsgespräch bleiben unbeantwortet<br />

9. Mai 2007 Mit dem Beschluss zum Antrag 0285/07 wird der Oberbürgermeister durch die Bürgerschaft aufgefordert,<br />

Vergabeverfahren und Planungsprozess wieder freizugeben<br />

8. Juni 2007 Erneuter Brief GbR an den Oberbürgermeister, Bezug nehmend auf den Beschluss 0285/07-A vom<br />

9.Mai mit Bitte um Auskunft zur Umsetzung des Bürgerschaftsbeschlusses: bleibt unbeantwortet<br />

12. Juni 2007 Schreiben der GbR an die Präsidentin der Bürgerschaft mit der<br />

Bitte um Unterstützung


0.14 __ //// AKTUELL<br />

1. Juli 2007 Das Objekt Friedrichstr. 23 geht zum Zweck der Verkaufsvorbereitung von der Verwaltung der HRO<br />

an die RGS;<br />

aus der Nutzungsvereinbarung wird eine Mietvereinbarung<br />

26. September 2007 Anfrage der Fraktion <strong>Rostock</strong>er Bund (Dr. Christel-Katja Fuchs, Kulturausschussvorsitzende) zum<br />

Stand Beschlusserfüllung sowie Rolle des Projektes im Rahmen zukunftsorientierter Stadtentwicklung<br />

17. Oktober 2007 Antwort der Verwaltung: der Oberbürgermeister begrüßt Aktivitäten der Kunst- und Medienschule,<br />

Vergabe und Planung erfolgen erst nach Klärung „sämtlicher Vorfragen“<br />

30. Januar 2008 Anfrage der Fraktion der CDU (Franz Laube) an den OB zum Stand der Beschlusserfüllung und zur<br />

Fortsetzung des Vorhabens<br />

5. März 2008 Antwort der Verwaltung zur Bürgerschaftssitzung: Fortsetzung „erst nach Klärung sämtlicher Vorfragen“,<br />

angeblich läge kein Finanzierungskonzept vor, die „Finanzierungszusage einer Bank“ sei erforderlich<br />

– die hinhaltende Antwort führt zu einem heftigen Wortwechsel zwischen OB und Bürgerschaft<br />

7. Mai 2008 OB legt der Bürgerschaft zum Antrag 0251/08-A eine Liste „Maßnahmeplanung für die Städtebauförderung“<br />

vor, darin die FRIEDA 23 mit Realisierungsjahr 2008, kommentiert mit dem Fehlen einer<br />

„belastbaren Zusage der Finanzierung.[…] Die Kunst- und Medienschule muss voraussichtlich aus diesem<br />

Grund zurückgestellt werden.“<br />

20. Mai 2008 Der Hauptausschuss beschließt (0410/08-DA): Das Objekt ist vom OB nicht an die KOE, sondern an<br />

die RGS zur Veräußerung zu geben, der Oberbürgermeister wird beauftragt, zum 23. September 2008<br />

dem Gremium einen Kaufvertrag zur Beschlussfassung vorzulegen.<br />

09. Juli 2008 Die Bürgerschaft beschließt die Maßnahmeplanung für die Sanierung von Gemeindebedarf- und<br />

Folgeeinrichtungen im Rahmen der Städtebaufördermittel bis 2012 (0104/08-BV): Das Projekt FRIE-<br />

DA ist an 3. Stelle mit dem Realisierungszeitpunkt 2009/2010 aufgeführt.<br />

10. Juni 2008 Die Commerzbank gibt die grundsätzliche Zusage der Finanzierung der Differenz zwischen Gesamtbaukosten<br />

und den Städtebaufördermitteln einer Gemeindebedarfs- und Folgeeinrichtung – die belastbare<br />

Zusage der Finanzierung.<br />

11. November 2008 Mit 0567/08-Bv beschließt der Hauptausschuss den Verzicht auf Ausschreibung des Objektes Friedrichstraße<br />

23 sowie den Verkauf an die KARO gAG i.G.<br />

24. 11. 2008 Gründung der Karo gAG, Betreibergesellschaft der Frieda 23;<br />

Aufsichtsratsvorsitzender: Prof. Hartmut Möller (HMT), Vorstand: Rechtsanwalt Gabor Racz<br />

Seit November 2008 Die Projektgruppe FRIEDA 23 beginnt mit der Überarbeitung und Anpassung des Raumbuches auf<br />

der Basis des 2004 (!) vorgelegten Modernisierungsgutachtens<br />

Januar 2009 Wiederaufnahme des Planungsverfahrens (Baugenehmigungsplanung), erneute Beauftragung der Architekten<br />

durch die RGS<br />

24. Februar 2009 Abstimmung zur Zeitschiene „Planung bis Realisierung FRIEDA 23“ zwischen der KARO gAG und<br />

der RGS<br />

April 2009 Entwurf des Kaufvertrages zwischen RGS und KARO gAG wird fertiggestellt, Notartermin zum Vertragsabschluss<br />

vorbereitet<br />

3. Mai 2009 Die überarbeitete Vorplanung (1. Abschnitt der Baugenehmigungsplanung) wird der RGS und der<br />

KARO gAG von den Architekten übergeben.<br />

6. Mai 2009 Der OB stellt in Bürgerschaftssitzung die Realisierung des Projektes FRIEDA auf das Jahr 2012/2013<br />

zurück. ¬


Kommentar zur o.g. Chronologie und dem Projekt Frieda 23<br />

ROLAND METHLING ____// OBERBÜRGERMEISTER DER HANSESTADT ROSTOCK<br />

Die von Ihnen beigefügte Chronologie schildert den Werdegang<br />

aus Sicht der künftigen Nutzer. Diese Aussagen sind nicht<br />

immer deckungsgleich mit der Sicht der Verwaltung. Dennoch<br />

teilen wir natürlich eine Einschätzung: Die Frieda 23 ist zweifellos<br />

ein für die Stadt bedeutsames Projekt, das mit seinem<br />

Wirken auch über die Grenzen <strong>Rostock</strong>s hinaus strahlt.<br />

Die aktuellen Planungen gehen von einem Gesamtinvestitionsvolumen<br />

in Höhe zwischen vier und fünf Millionen Euro aus.<br />

Das ist sehr viel Geld. Im Vergleich: Für die Sanierung und für<br />

Investitionen in die Schulen versuchen wir, jährlich etwa zwölf<br />

Millionen Euro insgesamt für ganz <strong>Rostock</strong> zur Verfügung zu<br />

stellen. Unstrittig ist diese Investition nur mit Unterstützung<br />

der Stadt möglich, die für die Frieda 23 Mittel aus den <strong>Rostock</strong><br />

zur Verfügung stehenden Städtebaufördermitteln zur Verfügung<br />

stellt.<br />

Einen nicht geringen Finanzierungsanteil müssen jedoch auch<br />

die in der KARO gAG vereinten künftigen Nutzerinnen und<br />

Nutzer aufbringen. Das betrifft auch den Kaufpreis für die Immobilie,<br />

die immer noch der Stadt gehört. Solange diese Finanzierungsfragen<br />

nicht geklärt sind, können wir uns in der angespannten<br />

finanziellen Situation, in der sich die Stadt nach wie<br />

vor befindet, nicht auf guten Willen allein verlassen. Auch<br />

In seltener Einmütigkeit und über alle Fraktions- und Parteigrenzen<br />

hinweg positionierte sich die Bürgerschaft der Hansestadt<br />

<strong>Rostock</strong> ausdrücklich für das Projekt »FRIEDA 23«.<br />

Dem waren ausführliche Informationsveranstaltungen und<br />

zahlreiche Diskussionen voraus gegangen. Allen Beteiligten<br />

war klar, dass ein Projekt dieser Größenordnung in jedem Falle<br />

auch Unwägbarkeiten enthält, die im Vorfeld der Realisierung<br />

kaum behoben werden können. In die verantwortungsbewusste<br />

Entscheidung der Bürgerschaft floss aber besonders der Gedanke<br />

an ein, dass ein solches Projekt die Kulturlandschaft der<br />

Hansestadt maßgeblich bereichern wird und überregional ausstrahlt.<br />

Dieser Sichtweise der Bürgerschaft entgegen wiederholt der<br />

Oberbürgermeister gebetsmühlenartig die Mähr von der ungesicherten<br />

Finanzierung des Projektes und verliert dabei völlig<br />

aus dem Blick, dass es seine eigene Verzögerungs- bzw. Verhin-<br />

Bankzusagen sind an konkrete Rahmenbedingungen geknüpft.<br />

Es hilft leider alles nichts: Aus Sicht der Verwaltung sind derzeit<br />

noch nicht die Grundlagen für eine sichere und mit vertretbarem<br />

Risiko belastete Finanzierung geschaffen.<br />

Da auch die Mittel im Bereich der Städtebauförderung begrenzt<br />

sind, können nicht alle wünschenswerten Projekte<br />

gleichzeitig realisiert werden. Das gibt der KARO gAG auch<br />

die Chance, die Voraussetzungen für eine gesicherte Finanzierung<br />

zu schaffen.<br />

Die Hansestadt <strong>Rostock</strong> hat in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen<br />

gemacht, sich bei Projekten nur auf guten Willen allein<br />

zu verlassen. Ich möchte hier nur auf den Umbau des ehemaligen<br />

Sozialgebäudes im Stadthafen zum „Theater im Stadthafen“<br />

und auf den Durchführungshaushalt der IGA <strong>Rostock</strong><br />

2003 verweisen. Auch dies waren gute und wichtige Projekte<br />

für die Stadt. Letztlich ist es aber meine Verantwortung als<br />

Oberbürgermeister, dafür zu sorgen, dass Investitionen auch finanziell<br />

zu stemmen sind und sich im Nachhinein nicht als<br />

Fass ohne Boden oder mit tieferem Boden erweisen, als wir es<br />

uns leisten können. ¬<br />

Kommentar zum Statement des OB für die »<strong>Stadtgespräche</strong>«<br />

DR. CHRISTEL-KATJA FUCHS ____// WAR UND IST BÜRGERSCHAFTSABGEORDNETE, UND IN DEN<br />

VERGANGENEN JAHREN VORSITZENDE DES KULTURAUSSCHUSSES DER HANSESTADT ROSTOCK<br />

derungstaktik ist, die bereits erreichte Teilergebnisse immer<br />

wieder in Frage stellt und das Projekt außerordentlich gefährdet.<br />

In boshafter Einfalt werden nun auch noch Beispiele ins<br />

Feld geführt, die mit der »FRIEDA 23« nun wirklich nichts<br />

zu tun haben. Warum sollte das Projekt für zurückliegende<br />

Fehlentscheidungen der Stadt haftbar gemacht werden? Es ist<br />

nicht nur zu hoffen, sondern auch dringend einzufordern, dass<br />

der Oberbürgermeister seine ignorante Haltung gegenüber<br />

Bürgerschaftsbeschlüssen aufgibt, bösartige Unterstellungen<br />

wie das Projekt könne sich als Fass ohne Boden erweisen zurücknimmt<br />

und endlich konstruktiv und nicht verhindernd tätig<br />

wird. ¬


0.16 __ //// AKTUELL<br />

Kommentar zum Statement des OB für die »<strong>Stadtgespräche</strong>«<br />

SIMONE BRIESE UND KLAUS BLAUDZUN ____// IM NAMEN DER FRIEDA 23<br />

Wenn die Frieda 23 etwas „über die Grenzen <strong>Rostock</strong>s hinaus<br />

(aus)strahlt“, dann – nach Lektüre dieser Presserklärung – vor<br />

allem Naivität & Inkompetenz. Gleich zweifach hält der OB<br />

den Frieda-Protagonisten vor, sich „nur auf guten Willen allein<br />

zu verlassen“. Gutwilligkeit ist ja in solchen Kontexten nur die<br />

Höflichkeitsform von Inkompetenz: Die können es nicht.<br />

Als Abschreckungsbeispiele werden zwei von der Stadtverwaltung<br />

allein zu verantwortende Projekte genannt. Wäre es da<br />

nicht sinnvoll, ein PPP-Modell wie die Frieda 23 wenigstens<br />

ernsthaft zu prüfen? Begrenzt es nicht gerade die Risiken für<br />

die Hansestadt, wenn Kulturvereine und eine bürgerschaftliche<br />

Aktiengesellschaft einen Gutteil der Finanzierung und Verantwortung<br />

selbst in die Hand nehmen? Für die 4,6 Mill. Euro<br />

Gesamtbaukosten weist der Finanzplan der Frieda-Gruppe eine<br />

geplante Ko-Finanzierung von 1,7 Mill. Euro durch die KARO<br />

gAG aus. Wenn mehr Kulturbauten in <strong>Rostock</strong> so in bürgerschaftlichem<br />

Engagement mit- und refinanziert würden, wäre<br />

das nicht ein Beitrag zur Entlastung der vom OB angesprochenen<br />

„angespannten finanziellen Situation“ der Stadt? Worüber<br />

wir gern reden wollen - auch und gerade mit dem Oberbürgermeister.<br />

Das und Einiges mehr möchten wir Frieda-Protagonisten den<br />

OB seit drei Jahren gern fragen, aber leider bekommen wir<br />

schon auf Gesprächsanfragen keine Antwort. Zuletzt war am<br />

Bürgersprechtag 11. Juni kein Termin mehr frei. Schade. Und<br />

zunehmend mehr als ärgerlich. Es geht hier um mehr als nur<br />

ein Kulturprojekt. Es geht um den stadtpolitischen Umgang<br />

mit der Initiative von Bürgern und Kulturmachern dieser<br />

Stadt.<br />

Das Frieda-23-Projekt wurde von Beginn an von Fachleuten<br />

beraten und entwickelt. Architekten und Bauingenieure waren<br />

darunter ebenso wie Kultur- und Kunstfachleute, Kaufleute<br />

und Rechtsanwälte. Bau- wie Finanzierungsfragen wurden<br />

nicht allein gutwillig, sondern vor allem fachlich bewegt, egal,<br />

ob aus Fachämtern der Stadt oder aus bürgerlichem Engagement<br />

heraus, und Letzteres zunächst ausschließlich unentgeltlich.<br />

Das unter Gutwilligkeit abzutun, das ist nicht nur keine<br />

Höflichkeitsform mehr, es zeigt auch wenig guten Willen im<br />

Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement.<br />

Der Kultur-Aktiengesellschaft abschließend noch mehr Zeit<br />

(wörtlich: „die Chance“) geben zu wollen, die Finanzierung<br />

„zu sichern“, das ist nur eine sehr durchsichtige Verhüllung für:<br />

Eine Verschiebung der Städtebauförderung auf 2012/13 heißt,<br />

dass der OB in 2009 zum zweiten Mal eine laufende Bauplanung<br />

für die Frieda abbricht (nach 2006, vgl. Chronik). Sicher<br />

wäre dann nur eins: Das ist nicht finanzierbar. ¬


FOTO: TOM MAERCKER


Bürgerschaft und<br />

Oberbürgermeister<br />

Zwischen Konsens und Konfrontation<br />

ZUSAMMENGESTELLT VON SIBYLLE BACHMANN<br />

OB<br />

Direktwahl<br />

keine 58 Jahre<br />

Leiter Verwaltung<br />

Senatoren<br />

Wahl in BS<br />

gehobener<br />

Verwaltungsdienst Fachleitung Dezernate<br />

Gemeinden und ihre Organe<br />

Organe<br />

Legitimation<br />

Voraussetzungen<br />

Aufgabe<br />

Unterstruktur<br />

Legitimation<br />

Voraussetzung<br />

Aufgabe<br />

Gemeinden, wie die Hansestadt <strong>Rostock</strong>, sind die kleinste organisatorische<br />

Ausgestaltung des demokratisch verfassten Staates.<br />

Sie fördern in freier Selbstverwaltung das Wohl der Einwohner<br />

(§ 1 Kommunalverfassung M-V). Einwohner der Gemeinde<br />

ist, wer in der Gemeinde wohnt. Bürger sind die zu den<br />

Gemeindewahlen wahlberechtigten Einwohner (§ 13). Die verantwortliche<br />

Teilnahme an der gemeindlichen Selbstverwaltung<br />

ist Recht und Pflicht der Bürger (§ 19).<br />

Organe der Gemeinde sind die Gemeindevertretung und der<br />

Bürgermeister (§ 21), in der Hansestadt <strong>Rostock</strong> somit die Bür-<br />

Gemeinde<br />

Bürgerschaft<br />

Listen-/ Personenwahl<br />

Hauptwohnsitz<br />

Beschlussgremium; Kontrolle<br />

Präsidentin Fraktionen<br />

Fraktionslose<br />

Wahl in BS Freiwilliger Wahl durch<br />

Zusammenschluss Bürger<br />

Repräsentation<br />

Außenvertretung<br />

keine keine<br />

Bündelung Willensbildung<br />

keine<br />

Mitbestimmung<br />

gerschaft und der Oberbürgermeister. Die Bürgerschaft ist die<br />

Vertretung der Bürger und das oberste Willensbildungs- und<br />

Beschlussorgan der Stadt (§ 22). Wichtige Entscheidungen<br />

können statt durch Beschluss der Bürgerschaft durch die Bürger<br />

selbst getroffen werden (Bürgerentscheid, § 20). Die Mitglieder<br />

der Bürgerschaft werden von den Bürgern in allgemeiner,<br />

unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt<br />

(§ 23). Das Gleiche gilt für das Organ Oberbürgermeister (§<br />

37).<br />

Die Mitglieder der Bürgerschaft üben ihr Mandat im Rahmen<br />

der Gesetze nach ihrer freien, nur dem Gewissen verpflichteten<br />

Überzeugung aus und sind nicht an Aufträge und Verpflich-


0.19 __ //// AKTUELL RECHERCHIERT<br />

tungen, durch welche die Entscheidungsfreiheit beschränkt<br />

wird, gebunden (§ 23). Bürgerschaftsmitglieder können sich zu<br />

Fraktionen zusammenschließen oder bestehenden Fraktionen<br />

mit deren Zustimmung beitreten (§ 23).<br />

Bürgerschaft<br />

Die Bürgerschaft hat die Aufgabe der politischen Steuerung<br />

der wichtigen Stadtangelegenheiten und wird darin vom<br />

Hauptausschuss und den beratenden Ausschüssen unterstützt.<br />

Die Bürgerschaft ist für alle wichtigen Angelegenheiten der<br />

Stadt zuständig und überwacht die Durchführung ihrer Entscheidungen,<br />

soweit nicht eine Übertragung auf den Hauptausschuss<br />

oder Oberbürgermeister erfolgt ist. Wichtig sind neben<br />

gesetzlich zugewiesenen Aufgaben Angelegenheiten, die aufgrund<br />

ihrer politischen Bedeutung, ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen<br />

oder als Grundlage für Einzelentscheidungen von<br />

grundsätzlicher Bedeutung für <strong>Rostock</strong> sind. Zugleich kann<br />

die Bürgerschaft Angelegenheiten, die sie übertragen hat, auch<br />

im Einzelfall jederzeit an sich ziehen. Die Bürgerschaft ist<br />

oberste Dienstbehörde, sie ist Dienstvorgesetzte des Oberbürgermeisters,<br />

hat aber keine Disziplinarbefugnis. (§ 22 für gesamten<br />

Absatz)<br />

Die Breite der Entscheidungszuständigkeit (z.B. Satzungen,<br />

Grundsätze von Verwaltung und Personalentscheidungen, Flächennutzungsplan,<br />

Haushaltssatzung, Haushaltsplan, Stellenplan,<br />

kommunale Unternehmen, Gebietsänderungen, Verfügung<br />

über Gemeindevermögen etc.) macht deutlich, dass die<br />

Bürgerschaft in erster Linie ein Verwaltungsorgan ist. Die für<br />

Landtage und den Bundestag geltende Gewaltenteilung passt<br />

nicht auf die Kommunalebene. Eine Aufteilung in Exekutive<br />

(Oberbürgermeister) und Legislative (Gemeindevertretung) ist<br />

nicht sinnvoll und nur in Ausnahmefällen als Vergleich heranziehbar<br />

(Kommentierung der KV M-V durch Darsow/Gentner).<br />

Oberbürgermeister<br />

Die praktische Umsetzung des Willens der Bürgerschaftsmitglieder<br />

obliegt gleichwohl dem Oberbürgermeister als Spitze<br />

der Stadtverwaltung (§ 38).<br />

Fachliche Eignung ist für einen Oberbürgermeister keine Voraussetzung,<br />

lediglich persönliche und gesundheitliche Eignung,<br />

sowie die Nichtvollendung des 58. Lebensjahres. Die<br />

Kommentierung der KV M-V geht des Weiteren von einer charakterlichen<br />

Eignung und menschlichen Integrität aus, verbunden<br />

mit einer Prognose der Fähigkeit zu vertrauensvollem Miteinander,<br />

verbindlichem und amtsangemessenem Auftreten<br />

und zur Integration. Vorgeschrieben ist dies jedoch nicht (§<br />

37).<br />

Der Oberbürgermeister ist gesetzlicher Vertreter der Gemeinde.<br />

Er leitet die Verwaltung und ist für die sachgerechte Erledigung<br />

der Aufgaben und den ordnungsgemäßen Gang der Verwaltung<br />

verantwortlich. Er soll eine einheitliche Verwaltungsführung<br />

gewährleisten und ist Dienstvorgesetzter der Beamten<br />

und Angestellten, jedoch ohne Disziplinarbefugnis gegenüber<br />

den Beigeordneten, in <strong>Rostock</strong> Senatoren genannt. (§ 38)<br />

Der Oberbürgermeister bereitet die Beschlüsse der Bürgerschaft<br />

und des Hauptausschusses vor und führt sie aus (§ 38).<br />

Die Ausführung von Beschlüssen als Amtspflicht des Oberbürgermeisters<br />

hat zwei Grenzen: Beschlusskompetenz und<br />

Rechtskonformität. Entscheidungen, die nicht in die Beschlusskompetenz<br />

von Bürgerschaft und Hauptausschuss fallen,<br />

unterliegen nicht der Ausführungspflicht (§ 38). Und verletzt<br />

die Bürgerschaft mit einem ihrer Beschlüsse geltendes<br />

Recht, so hat der Oberbürgermeister dem Beschluss zu widersprechen.<br />

Gefährdet ein Beschluss das Wohl der Gemeinde,<br />

kann der Verwaltungschef widersprechen, muss es aber nicht (§<br />

33). Bei Streitfällen können sich beide Seiten an die Rechtsaufsicht<br />

(Innenministerium) wenden und/oder den Gerichtsweg<br />

beschreiten.<br />

Als Instrumente der Kontrolle ist die Bürgerschaft vom Oberbürgermeister<br />

über alle wesentlichen Angelegenheiten der<br />

Stadtverwaltung zu unterrichten, haben Oberbürgermeister<br />

und Senatoren auf Anfrage Auskunft zu erteilen und Akteneinsicht<br />

zu gewähren (§ 34).<br />

Der Oberbürgermeister ist für die Geschäfte der laufenden<br />

Verwaltung zuständig. Hierzu zählen insbesondere Entscheidungen<br />

von geringer wirtschaftlicher Bedeutung, Entscheidungen,<br />

die den laufenden Betrieb der Verwaltung aufrechterhalten,<br />

sowie gesetzlich oder tariflich gebundene Entscheidungen<br />

(§ 38). In Fällen äußerster Dringlichkeit entscheidet der Oberbürgermeister<br />

anstelle des Hauptausschusses, wobei diese Entscheidungen<br />

der nachträglichen Genehmigung durch den<br />

Hauptausschuss bzw. die Bürgerschaft bedarf (§ 38). Die Regelung<br />

der inneren Organisation der Verwaltung und der Geschäftsverteilung<br />

obliegt dem Oberbürgermeister. Lediglich bei<br />

der Festlegung der Anzahl und Bezeichnung der Dezernate<br />

(Senatsbereiche) bedarf er der Zustimmung der Bürgerschaft,<br />

d.h. einer Einigung (§ 40).<br />

Dem Oberbürgermeister allein obliegt die Unterrichtung der<br />

Einwohner (§ 16) und damit eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit<br />

und die Unterrichtung der Bürgerschaft (§ 34). Der<br />

Oberbürgermeister vertritt die Hansestadt <strong>Rostock</strong> bei kommunalen<br />

Beteiligungen in einer Gesellschafterversammlung,<br />

bedarf jedoch für dort zu fassende Beschlüsse der Zustimmung/Genehmigung<br />

durch die Bürgerschaft/den Hauptausschuss<br />

(§ 71).<br />

Senatoren<br />

Den Senatoren kommt trotz ihres Status als politische Beamte<br />

stärker als dem Oberbürgermeister eine verwaltungsbezogene<br />

Funktion zu. Von daher sind an sie wesentlich höhere Eignungsvoraussetzungen<br />

als an einen OB gebunden, wie z.B. eine<br />

abgeschlossene Ausbildung für den gehobenen allgemeinen<br />

Verwaltungsdienst, der Abschluss des 2. juristischen Staatsexamens<br />

oder vergleichbarer Abschlüsse im Bereich der Volksoder<br />

Betriebswirtschaft, geeignete Berufs- und Führungserfahrung,<br />

langjährige und intensive Praxis als Gemeindevertreter (§


0.20 __ //// AKTUELL RECHERCHIERT<br />

40). Disziplinarvorgesetzter der Senatoren ist nicht der Oberbürgermeister,<br />

sondern das Innenministerium als oberste<br />

Rechtsaufsichtsbehörde (§§ 38, 117). In Angelegenheiten, die<br />

ausschließlich das eigene Dezernat betreffen, sind die Senatoren<br />

als ständige Vertreter des OB letztentscheidungsberechtigt,<br />

fachlich ist der OB gegenüber den Senatoren allerdings<br />

uneingeschränkt weisungsbefugt (§ 40).<br />

Konfliktpotentiale<br />

Das Rechtskonstrukt der zwei Organe einer Gemeinde, die beide<br />

vom Bürger mittels Wahlen legitimiert sind, kann bei klarer<br />

Abgrenzung und Akzeptanz der Kompetenzen und Aufgaben<br />

durch den jeweils anderen zu einer effektiven Zusammenarbeit<br />

im Sinne der Gemeinde führen.<br />

Im Falle der Nichtakzeptanz oder Nichteinhaltung kommunalverfassungsrechtlich<br />

geregelter Kompetenzen ist Dauerstreit<br />

vorprogrammiert. Real existierende Grenzfälle sowie eindeutig<br />

geregelte Abgrenzungen können dann zu einer gegenseitigen<br />

Blockade führen. Dies ist jedoch nur in zweiter Linie im<br />

Rechtskonstrukt selbst begründet, da es von einer gemeinsamen<br />

Interessen- und Zielrichtung der beiden Gemeindeorgane<br />

ausgeht, schließlich hat das Wohl der Gemeinde im Vordergrund<br />

zu stehen.<br />

In erster Linie liegen Ursachen für Auseinandersetzungen im<br />

bewussten und unbewussten Missverständnis der eigenen<br />

Kompetenz, in der Selbsterhöhung handelnder Personen und<br />

im Vorrang von Eigeninteressen gegenüber dem Gemeinwohl.<br />

Kommen dann noch Persönlichkeitsdefizite hinzu, egal auf<br />

welcher Seite, ist ein Gordischer Knoten geknüpft, der immer<br />

wieder einer Klärung bzw. Einmischung von außen bedarf um<br />

gelöst zu werden. Die Hansestadt <strong>Rostock</strong> hat hierfür in den<br />

letzten vier Jahren zahlreiche Beispiele geliefert:<br />

Ereignis Streitpunkt Bemerkung<br />

Festlegung der Dezernatsstruktur (Sommer/Herbst<br />

2005)<br />

Kompetenz hinsichtlich der Äm-<br />

{ terstruktur } OB handelte konform der Kommunalverfassung<br />

Nichtunterzeichnung von Kita-Entgelt-<br />

Verträgen durch OB (2005/06)<br />

Einhaltung Bürgerschaftsbeschlüs-<br />

{ se vs. Wirtschaftlichkeit } Träger obsiegten in der Schiedsstelle;<br />

Rechtsverfahren zu entgangenem Elternanteil<br />

sind anhängig<br />

Forderung OB an den Kleingartenverband<br />

nach rückwirkender Zahlung von<br />

Straßenreinigungsgebühren für die Jahre<br />

1999-2003 (2005-2008)<br />

Verkauf Warnowschiff zum Marktwert<br />

und Klage der Stadt auf sofortige Räumung<br />

gegen den Trägerverein (November<br />

2005 – Januar 2008)<br />

Zweitwohnungssteuer für Studenten<br />

(2005-2009)<br />

Anerkennung geleisteter Überstunden<br />

bei der Feuerwehr (2005 – 2007)<br />

Fusion von Jugend- und Sozialamt einen<br />

Tag nach gegenteiligem Beschluss des<br />

Jugendhilfeausschusses durch OB<br />

(2006)<br />

Umgang des OB mit leitendem Personal<br />

wie Amtsleitern und Senatoren (2006 –<br />

heute)<br />

{ }<br />

Einhaltung des Bürgerschaftsbeschlusses<br />

vom 09.06. 2004 vs. Finanzeinnahme<br />

{ }<br />

Einhaltung von Bürgerschaftsbeschlüssen<br />

zur Übergabe an den<br />

Verein (2004-2006) und Verlässlichkeit<br />

von Verwaltungshandeln<br />

(seit 2004 geplante Schiffsübergabe<br />

an Verein) vs. höhere Einnahme<br />

{ }<br />

OB-Widersprüche zum Verzicht<br />

auf Steuer und auf Einlegung von<br />

Rechtsmitteln<br />

Widersprüche OB, getragen von<br />

{ Hauptausschuss }<br />

{ }<br />

Missachtung Beschluss; Missbrauch<br />

der Organisationshoheit<br />

(Willkür); mangelnde Beteiligung<br />

Betroffener<br />

{ }<br />

Mangel an kollegialer Zusammenarbeit;<br />

Missachtung Fürsorgepflicht;<br />

öffentliche Kritik bis hin<br />

zur Diffamierung; Entzug von Zuständigkeiten<br />

Anerkennung des Bürgerschaftsbeschlusses<br />

durch Innenministerium 2006,<br />

dennoch Klage der Stadt gegen den Gartenverband<br />

2007; gerichtlicher Vergleich<br />

2008<br />

OB lehnte alle Kompromisse ab, selbst<br />

Ratenzahlung des Marktpreises durch<br />

Verein; Klage Bürgerschaft gegen OB<br />

auf Einhaltung Beschlüsse; Insolvenz des<br />

Vereins; Erledigungserklärung der Klage<br />

Niederlage der Stadt bei OVG (2007)<br />

und BVG (2008); Verzicht des OB auf<br />

Steuer (April 2009)<br />

anhaltender Rechtsstreit mit erstem Obsiegen<br />

der Beamten (Musterverfahren)<br />

Ämterfusion ist OB-Kompetenz, aber<br />

untragbares Vorgehen; Jugendamtsleiter<br />

schloss Auflösungsvertrag mit Abfindung<br />

Ansehensschädigung für Stadt; Rechtsstreite;<br />

Abfindungszahlungen bei Kündigung/Vertragsauflösung


Verkauf von ca. 3.200 WIRO-Wohnungen<br />

(Dezember 2006)<br />

WIRO und „System Küppers“<br />

( Januar – Dezember 2007)<br />

Kürzungsbeschlüsse Theaterbudget<br />

(2007)<br />

OB-Pläne zum Verkauf von kommunalem<br />

Vermögen der Daseinsvorsorge<br />

(2007- heute)<br />

Umgang des OB mit der Rechtsaufsicht<br />

(2007 – heute)<br />

Besetzung zweiter Geschäftsführer WI-<br />

RO (2008)<br />

Vergabe der Domain www.rostock.de<br />

(2009)<br />

Tourismuszentrale<br />

(2006 – heute)<br />

Frieda 23<br />

(2006 – heute)<br />

Zusätzlicher Streetworker für Obdachlosenhilfe<br />

Ausschreibung von Rechtsanwalts- und<br />

Beratungsleistungen nach Sachgebieten<br />

Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen<br />

bei der Stadtentsorgung<br />

{ }<br />

Dringlichkeitsantrag eines Bürgerschaftsmitgliedes<br />

mit Zustimmung<br />

des OB<br />

{ }<br />

Abberufung Aufsichtsrat und Geschäftsführer;<br />

Änderung Gesellschaftsvertrag;<br />

Befugnisse OB als<br />

Gesellschafter<br />

{ }<br />

Nichteinlegung von Widerspruch<br />

gegen rechtswidrige Beschlüsse<br />

durch den OB<br />

{ }<br />

Nichtumsetzung von Bürgerschaftsbeschlüssen<br />

(geforderte betriebswirtschaftlicheBerechnungen);<br />

Antworten an das Innenministerium<br />

ohne Beteiligung Bürgerschaft;<br />

Anerkennung des Budgetrechts<br />

der Bürgerschaft; Widerspruch<br />

gegen Nichtverkaufsbeschluss<br />

{ }<br />

mehrfacher Konfrontationskurs,<br />

u. a. Vorwurf geplanter Zwangsverwaltung<br />

und Lancierung einer<br />

BILD-Zeitungsmeldung (2008)<br />

{ }<br />

Missachtung des Verfahrensweges;<br />

Beschlussvorlage entgegen Aufsichtsratsentscheidung<br />

(Ersetzen<br />

des Zweitplatzierten durch den<br />

Letztplatzierten)<br />

{ }<br />

Bürgerschaft: wichtige Angelegenheit<br />

OB: Geschäft der laufenden Verwaltung<br />

{ }<br />

Nichtumsetzung von Beschlüssen<br />

zur Neustrukturierung zwecks<br />

Vermeidung einer Fremdenverkehrsabgabe<br />

Nichtumsetzung von Bürger-<br />

{ schaftsbeschlüssen }<br />

Widerspruch OB gegen Bürger-<br />

{ schaftsbeschluss (Kostenfrage) }<br />

{ }<br />

Widerspruch OB gegen Bürgerschaftsbeschluss<br />

(vermeintliche<br />

Rechtsverletzung) und Beanstandung<br />

erneuter Beschluss<br />

{ }<br />

Widerspruch OB gegen Bürgerschaftsbeschluss<br />

(vermeintliche<br />

Rechtsverletzung)<br />

Stopp durch einstweilige Verfügung<br />

(mangelnde Informationsmöglichkeit)<br />

Handeln des OB und einiger Fraktionen<br />

wurde durch Innenministerium und<br />

Landesrechnungshof unterstützt<br />

Dienstaufsichtsbeschwerde Theater-Förderverein;<br />

Aussetzen der Beschlüsse<br />

durch OB nach Neubesetzung der Intendanz<br />

(2008)<br />

anhängiger Rechtsstreit Bürgerschaft gegen<br />

OB auf Beschlusseinhaltung<br />

(OB ist derzeit nicht an den Beschluss<br />

gebunden)<br />

Einladung der Fraktions-vorsitzenden zu<br />

gemeinsamen Runden im Innenministerium;<br />

Absage eines geplanten Ministerbesuchs<br />

beim OB (2008); Klarstellung<br />

zu Aussagen des OB (2009)<br />

Erzwingen einer Anhörung durch einen<br />

Bewerber; Feststellung der Nichtordnungsmäßigkeit<br />

des Verfahrens durch<br />

das Innenministerium, jedoch „Heilung“<br />

durch Beschluss<br />

Vergabe ist vorbei an Bürgerschaft erfolgt<br />

laufendes Verfahren<br />

Preiserhöhung für Projektträger durch<br />

lange Wartezeit; laufendes Verfahren<br />

laufendes Verfahren<br />

laufendes Verfahren, ggf. Rechtsstreit<br />

laufendes Verfahren ¬


Titelthema:<br />

<strong>POLITISCH</strong> <strong>ESSEN</strong><br />

FOTO: TOM MAERCKER


0.23 __ //// TITELTHEMA<br />

Du bist,<br />

was Du isst<br />

TOM MAERCKER, REDAKTION<br />

„Und weil der Mensch ein Mensch ist ...“ schreibt Brecht im<br />

Einheitsfrontlied, bräuchte er was zu essen, bitte sehr ... – nunja,<br />

eben ganz in der plakativen Tonalität der Dreißiger – wir erinnern<br />

uns. Dass unser „täglich Brot“ trotz millionenfach hingeheuchelter<br />

Tischgebete weniger eine konfessionelle denn eine<br />

politische Dimension hat, wissen wir nicht erst seit Brecht<br />

und Biosprit. Die Biosprit-Debatte hat nur einmal mehr gezeigt,<br />

dass zivilisiertes Gutmenschentum und pseudo-ökologisches<br />

Gebaren keine Probleme löst, sondern - ganz im Gegenteil<br />

- dramatisch neue schafft: Die für die Dritte Welt überlebensnotwendigen<br />

Grundnahrungsmittel wurden quasi über<br />

Nacht zu Energieträgern für unsere 7-Liter-V8-Turbodiesel,<br />

Plasmafernseher und Klimaanlagen. Und damit zu Spekulationsobjekten<br />

der schon wieder fleißig gewinnmaximierenden<br />

Finanzmaschinerie. Wir heißen das vielleicht persönlich nicht<br />

ausdrücklich gut, auf gar keinen Fall, wenn man uns fragt. Aber<br />

uns fragt ja niemand, also hält sich unser Widerstand auch in<br />

Grenzen. Da ist es schon weniger aufwändig, einfach mit im<br />

Strom der Dasgarnichtsogenauwissenwollenden zu schwimmen,<br />

als darüber nachdenken zu müssen, ob dieser auf maxima-<br />

len Verbrauch orientierte Lebensstil am Ende nicht viel hinterhältiger<br />

und zerstörerischer ist, als alle Selbstmordattentäter<br />

der Welt zusammen. Immerhin: Wir trennen unseren Müll.<br />

Essen ist aber nicht nur politisch, sondern zunächst existenzielles<br />

Grundbedürfnis. Dieser Umstand tritt bei all den Luxusproblemen<br />

unserer Zeit oft in den Hintergrund, ist sicher auch<br />

Zeichen unserer Sättigungsgesellschaft. Wir leben in Schlaraffenlandzeiten<br />

und widmen unsere Aufmerksamkeit daher eher<br />

der neuen Handy-Generation, dem Glamour der Bundesliga-<br />

Söldner oder einem infantilen Popstar, der seine Hausapotheke<br />

nicht unter Kontrolle hatte. Es steht schließlich genug auf dem<br />

Tisch und wenn das alle ist, gibt’s ja Nachschub an der nächsten<br />

Ecke. Und doch sind wir trotz aller täglich genossenen<br />

Annehmlichkeiten auf Vorratswirtschaft programmiert. So<br />

ganz trauen wir dem Vollkomfort doch nicht; bereits bei einem<br />

Anflug von Krise wird panisch gebunkert.<br />

Wie viel uns diese Vorratswirtschaft wert ist, zeigen die Millionen<br />

mit Nahrungsherstellung, -verarbeitung, -verpackung, -


0.24 __ //// TITELTHEMA<br />

verteilung, -bewerbung und -entsorgung befassten Arbeitsplätze.<br />

Das sind insgesamt 3 Millionen direkt Beschäftigte und damit<br />

genauso viele, wie in der immer wieder beschworenen Autoindustrie.<br />

Indirekt liegt die Zahl weit höher, wenn man alle<br />

Dienstleistungen rund um das Essen hinzurechnet, wie Lieferservice,<br />

Kochbuchverlage, Geschirrhersteller usw. Wie das<br />

Wirtschaftsmagazin „brandeins“ titelt, ist Essen das erste Element<br />

der Wirtschaft, auf dem alle anderen aufbauen. Oder<br />

auch: Gegessen wird immer. Hier wird nichts dem Zufall überlassen.<br />

Vom Landwirt bis zur Supermarktkassiererin ist ein hyperkomplexes<br />

Geflecht aus eng verzahnten Abläufen und<br />

wechselseitigen Verquickungen entstanden, um uns jeden Tag<br />

im Jahr ein taufrisches Radieschen auf den Tisch zu bringen.<br />

Paradiesische Zustände im Abendland: Von allem für jeden<br />

überall im Überfluss.<br />

Hunger<br />

Bis zum 13. Oktober 2008. An diesem Tag ignorierten die Medien<br />

beinahe kollektiv eine Regierungsnachricht, die ihr Volk<br />

beschwor, nur noch für die wichtigsten Güter des täglichen Lebens<br />

Geld auszugeben: Nahrung, Medikamente und Öl. Die<br />

Nachricht kam aus Island - das Land, das auf dem Human Development<br />

Index (HDI) seit Jahren auf Platz 1 steht (Deutschland:<br />

Platz 22). Was Islands Regierung finanztechnisch möglicherweise<br />

falsch gemacht hat, warum eine Bevölkerung der<br />

Meinung ist, sie könne bereits in Jugendjahren Schulden anhäufen,<br />

für die noch vor kurzer Zeit zwei arbeitsreiche Leben<br />

nicht ausgereicht hätten, und welche Rolle die isländischen<br />

Banken und deren Kreditvergabepolitik spielte, ist im Moment<br />

unerheblich. Er ist wieder da, hier bei uns. Heute. Ein guter, alter<br />

Bekannter: der Hunger. Er ist gut und nützlich, erinnert<br />

uns an wirkliche Bedürfnisse, hält uns wach und neugierig und<br />

lässt uns Wagnisse eingehen, neue Länder entdecken. Oder die<br />

Röntgenstrahlung. Wir hatten einfach vergessen, dass Hunger<br />

nicht nur verlässlicher Trieb, sondern auch Normalzustand ist.<br />

Und seine Beseitigung der kleinste gemeinsame Nenner aller<br />

Lebewesen dieses Planeten. Wer sich das nicht immer mal wieder<br />

klar macht, gerät schnell Gefahr, der trügerischen Illusion<br />

aufzusitzen, dass Hunger der Vergangenheit angehört. Diese<br />

Arroganz und mit ihr einhergehend die gesamte Organisation<br />

unseres Lebens, ja unserer Gesellschaft, bringt uns nicht nur in<br />

unsinnige und inzwischen bedrohliche Abhängigkeiten.<br />

So hat man beispielsweise festgestellt, dass Kochen schon seit<br />

zwei Generationen nicht mehr zum Bildungskanon gehört.<br />

Hunderttausende Menschen, die nicht mehr in der Lage sind,<br />

eine einfache Mahlzeit zuzubereiten und sich wundern, dass<br />

die Hartz-IV-Kohle nicht ausreicht, um sich via Fertiggericht<br />

oder Fastfood zu ernähren. Es werden Häuser ohne Keller und<br />

Vorratskammern gebaut, was Bewohner in die direkte Abhängigkeit<br />

von Supermarktketten und deren z.T. umstrittener Lebensmittelqualität<br />

bringt. Eigenanbau und Kleingärten sind inzwischen<br />

Spezifika einer aussterbenden Generation. Kaum jemand<br />

weiß mehr, wie man eine Kartoffel anbaut, Korn drischt,<br />

Äpfel lagert, Marmelade kocht oder Kaninchen hält. Monsanto<br />

- seit dem Vietnamkrieg kritisiert als Lieferant des Kampfstoffes<br />

„Agent Orange“ - bringt immer mehr Landwirte in direkte<br />

Abhängigkeit durch genverändertes bzw. in zweiter Generation<br />

steriles Saatgut, was inzwischen weltweit zur Zerstörung ganzer<br />

Landwirtschaftsstrukturen geführt hat.<br />

Diese Entfremdung von der Herstellung unserer Nahrung<br />

zwingt uns ein Konsumentendasein auf. Wir bekommen inzwischen<br />

ein Gespür für die Schattenseiten des Allzeitglücks:<br />

Milchbauern, die unter Erzeugerpreisen verkaufen, dioxinverseuchter<br />

Markenhonig aus den östlichen Nachbarstaaten, quasi<br />

in „Käfighaltung“ lebende Discounter-Kassiererinnen, Analogkäse,<br />

Gammel- und Formfleischskandale, von Ökosteuer, Maut<br />

und Staus genervte Truck-Fahrer, radioaktiv bestrahltes Obst<br />

oder industrielle Massentierhaltung sind als Themen allgegenwärtig<br />

und irgendwie hofft jeder, persönlich nicht betroffen zu<br />

sein. Und so genau möchten es die meisten ohnehin nicht wissen.<br />

Oder machen eine Religion daraus.<br />

Billigheimer<br />

Die, die es nicht so genau wissen wollen, sind froh, dass es alles<br />

so schön billig gibt. Das hat Tradition in Deutschland, nachdem<br />

mehrere Generationen hintereinander von Krieg zu Krieg<br />

geschlittert sind und sich das Nichtsattwerden in die Proletenseele<br />

gebrannt hat. Untersuchungen über das aktuelle Kaufverhalten<br />

der Europäer in Krisenzeiten kommen zu dem Ergebnis,<br />

dass in Deutschland nach wie vor der Preis dominiert. Sie geben<br />

nicht einmal 11% ihres Einkommens für Essen aus. In den<br />

meisten OECD-Staaten sind es knapp 16%. Den Italienern<br />

und Franzosen ist die Lebensmittelqualität am wichtigsten.<br />

Und die Briten wurden wahrscheinlich gar nicht gefragt, weil<br />

das Essen dort seinen Status als solches verloren hat. In<br />

Deutschland wird Essen noch immer mit Sattwerden gleichgesetzt,<br />

nicht mit Genuss und Qualität.<br />

Menschen, denen der Preis über alles geht, sind in vielen Fällen<br />

nicht einmal arm, sondern halten sich in aller Regel für sparsam<br />

– oder schlimmer noch – sogar schlau. Für sie werden Woche<br />

für Woche tonnenweise Zeitungsbeilagen gedruckt, in denen<br />

nicht die gute Qualität, sondern nur der günstige Preis Erwähnung<br />

findet. Um den Preis vergleichen zu können, muss ich<br />

Vergleichbarkeit herstellen. Und das geht nicht mit der Gemüsefrau<br />

um die Ecke oder dem Fleischer zwei Straßen weiter. Das<br />

geht nur mit industrieller Massenware.<br />

Kindergarten<br />

Prinzipiell kann über Qualität, Herkunft und Zubereitung seines<br />

Essens jeder selbst entscheiden. Problematisch wird es erst,<br />

wenn wir unsere Kinder auf industrielle Fertignahrung hin<br />

konditionieren. Und das beginnt bei denen, die wir mit am<br />

schlechtesten ausbilden und bezahlen - den Köchen. Wer heute<br />

in einer Kita- oder Schulspeisungsküche kocht, hat - was das<br />

gesellschaftliche Ansehen betrifft - den Tiefpunkt seiner Karriere<br />

erreicht. Das mag für Großküchenköche, die mit Neugier,<br />

Engagement und Experimentierwillen dabei sind, keine Rolle<br />

spielen. Aber gemeinhin findet man solche Köche in Kita- und<br />

Schul-Großküchen eher selten, vielmehr Menschen, die vor 30<br />

Jahren Kochen gelernt und danach nie wieder eine Weiterbil-


dung besucht haben. Und die prägen - oft unterbezahlt und bei<br />

mäßig offenen Betriebsklima - ganze Generationen von Kindern,<br />

deren Essverhalten, Geschmack und Anspruch. Auch wir<br />

sind am DDR-Schulessen nicht zugrundegegangen, aber das<br />

waren wenigstens noch nur sehniges Fleisch, halbgare Kartoffeln<br />

und zerkochter Kohl. Heute benötigt man allein zum Verständnis<br />

der Inhaltsstoffe ein Diplom als Lebensmittelchemiker.<br />

Wie wenig das Verständnis für zeitgemäßes Essen ausgeprägt<br />

ist, zeigt die Kindertagesstätte unserer Töchter. Allein die<br />

Frage: „Was genau ist eigentlich Biobrot?“, hat mich ein wenig<br />

fassungslos auf die Gesamtzusammenhänge des Kita-Essens<br />

blicken lassen. Da wird den Kleinsten das billigste Lidl-Dauerbrot<br />

vorgesetzt, abgepackte Industrie-Muffins und Trinkpäckchen<br />

mit klebrig-süßem Emulgatoren-Gesöff, von denen ich<br />

annahm, sie seien laut Genfer Konvention längst verboten.<br />

Und es ist schon erstaunlich, auf welche inneren Barrikaden<br />

man bei der Kita-Leitung, aber auch bei vielen Eltern trifft.<br />

Schon der „Frische“-Aspekt gilt als Überfremdung, wogegen<br />

man sich wehren müsse, um seine Identität zu wahren. Da fühlt<br />

man sich, als jemand, der sich gar nicht ideologisch sondern<br />

ganz pragmatisch bewusst zu ernähren meint, wie ein Kommunist<br />

auf einem CSU-Parteitag. Die Frage, ob und welche gesamtgesellschaftlichen<br />

Auswirkungen eine solche verantwortungslose<br />

Prägung auf das Ess- und Kaufverhalten unseren Kindern<br />

hat, wird gar nicht erst gestellt.<br />

Nichtessen<br />

Wer etwas über sich und seinen Körper erfahren möchte, sollte<br />

sich einmal im Jahr einem Heilfasten stellen. Bekanntlich geht<br />

es dabei weniger um Abnehmen, sondern um Entschlacken. Da<br />

gibt es viele Theorien und mindestens noch einmal so viele<br />

Methoden, zu allem Überfluss zu jedem noch einmal ein Dutzend<br />

Bücher, was die Verwirrung eher vergrößert, als für Klärung<br />

sorgt.<br />

In einem sind sich die meisten Heilfastenkuren aber einig. Und<br />

Ute und Roland Jentschura haben das sehr treffend zusammengefasst:<br />

Wir sind viel zu sauer. Biologisch sind wir ja eher basisch,<br />

zumindest was die pH-Werte von Blut, Fruchtwasser usw.<br />

anbelangt. Dummerweise erzeugt vieles von dem, was wir als<br />

angenehm empfinden Säureüberschüsse, die unsere Vitalstoffe<br />

aufzehren, wie z.B.:<br />

_ Fleisch: Harnsäure<br />

_ Schweinefleisch, Eier: Schwefel- und Salpetersäure<br />

_ Süßes, Zucker, Weißmehl: Essigsäure<br />

_ Süßstoff: Ameisensäure<br />

_ Softdrinks: Phosphorsäure<br />

_ Kaffee, Schwarztee, Rotwein: Gerbsäure<br />

_ Schmerzmittel: Azetylsalizylsäure<br />

_ Körperliche Überanstrengung: Milchsäure<br />

_ Bewegungsmangel: Kohlensäure<br />

_ Stress, Ärger: Salzsäure<br />

Der Zusammenhang ist recht einfach und schlüssig. Gerät das<br />

Säure-Basen-Gleichgewicht im Körper aus seiner Balance, folgt<br />

zunächst der Strukturverlust, d.h. der drohenden Verätzung<br />

von Zellen, Gewebe, Organen, Gelenken und Knochen gefolgt<br />

von Entzündungsprozessen und Diabetes wird entgegengewirkt,<br />

indem aus Haut, Knochen, Haaren und Zähnen Basenstoffe<br />

zur Kompensation herangezogen werden. Die möglichen<br />

Folgen sind bekannt.<br />

Um die sauren Überschüsse loszuwerden, werden mit Hilfe der<br />

Basen neutrale Salze gebildet, die ausgeschieden werden müssen,<br />

um den Körper nicht zu vergiften. Aber auch hier ist<br />

schnell ein Maximum der Leistungsfähigkeit von Nieren,<br />

Darm und Lunge erreicht. Was folgt, sind Ausscheidungen<br />

über Haut (Körpergeruch, Akne, Ekzeme, Neurodermitis, Allergien,<br />

offene Beine) bzw. Pilzbefall.<br />

Ein dritter Aspekt sind die Ablagerungen nicht abbaubarer<br />

Säuren in Form von Schlacken, d.h. als neutrales Salz mit Wasser<br />

und Fetten. Im günstigsten Fall erzeugen sie Zellulite, im<br />

ungünstigeren Gicht, Rheuma, Nieren- und Blasensteine, Lipome<br />

usw.<br />

Wir fassen zusammen: Wir sind - mehr oder weniger - mobile<br />

Giftmülldeponien, dei sich über Entschlackung temporäre Absolution<br />

holen.<br />

„Essen kann tödlich sein“<br />

Seit ich faste, sehe ich selbst gut sortierte Supermärkte mit anderen<br />

Augen. Ganze Regalfronten müssten konsequenterweise<br />

mit Warnhinweisen wie auf Zigarettenpackungen versehen<br />

werden. Was unter dem Gutfürmich-Aspekt übrigbleibt, passt<br />

wirklich in einen kleinen Eckladen. Für mich wäre dann zwar<br />

der Spaß am Leben zu Ende, aber vielleicht ist auch das nur eine<br />

Frage der Prägung/Neuorientierung weg vom suchtgesteuerten<br />

Konsumenten hin zum bewussten Entscheider. Was mich<br />

allerdings noch immer irritiert, sind die Menschen, denen man<br />

in Ökoläden meistens begegnet. Da frage ich mich dann doch<br />

manchmal, ob ich mir meine persönliche Freiheit nicht etwas<br />

teuer erkauft ist.<br />

Und dennoch: Als Konsumenten haben wir weit mehr Einfluss,<br />

als wir uns selbst eingestehen. Lidl-Affäre, Finanzkrise<br />

und Vatten-Fall zeigen durch massenhafte Neuorientierung,<br />

dass viel mehr möglich ist, als wir je gedacht hätten. Wir müssen<br />

uns nur trauen, es dann auch tun und natürlich darüber reden.<br />

¬


0.26 __ //// TITELTHEMA<br />

Warmes Essen<br />

für Schulkinder<br />

in der Kinder- und Jugendeinrichtung<br />

„Fischkutter“ in Toitenwinkel<br />

BRIGITTE KRAUSE ____// 1944 IN ROSTOCK GEBOREN, NACH DER ARBEIT ALS PHYSIOTHERAPEUTIN HAT SIE EINE KIRCHLICHE AUSBIL-<br />

DUNG ZUR GEMEINDEPÄDAGOGIN ABSOLVIERT. SIE WAR 12 JAHRE ALS JUGENDLEITERIN IM STIFT BETHLEHEM TÄTIG, 7 JAHRE OBERIN<br />

IM DIAKONIEWERK BERLIN, 5 JAHRE REFERENTIN FÜR GEMEINDEAUFBAU, BAUTZEN UND ZULETZT 15 JAHRE GEMEINDEPÄDAGOGIN IN<br />

ROSTOCK<br />

In den Zeitungen wird der Leser hin und wieder über die neuen Armutszahlen informiert: Da heißt es dann: „Jedes fünfte Kind in Deutschland<br />

lebt heute in Armut: Mehr als zwei Millionen Kinder in Deutschland wissen, wie sich Armut anfühlt. Kinderarmut ist heute keine Ausnahme<br />

mehr und betrifft nicht nur soziale Randgruppen. Daraus resultieren unübersehbare Tatsachen, denen wir uns stellen müssen: Vielen Eltern<br />

fehlen die Mittel für die grundlegenden Bedürfnisse der Familie, wie Kleidung, Nahrung, Wohnung und medizinische Notfallhilfe. Ihr Einkommen<br />

liegt unter dem Existenzminimum. Sozial benachteiligte Kinder essen unregelmäßig, bewegen sich zu wenig. Die Quote an psychosomatischen<br />

Beschwerden ist extrem hoch. Wer in Armut aufwächst, hat als Erwachsener meist gesundheitliche Probleme. Die beruflichen Chancen<br />

sind aufgrund einer häufig schlechten Ausbildung niedrig. Die Armut von Kindern und Jugendlichen hat in den letzten Jahren drastisch zugenommen.<br />

Viele davon betroffene Kinder und Jugendliche haben somit häufig nicht die Möglichkeit, sich Wünsche oder erstrebenswerte Ziele<br />

zu erfüllen.“<br />

So konkret kannten wir 2005 in <strong>Rostock</strong>-Toitenwinkel diese<br />

Fakten nicht. Aber was wir sahen, waren Kinder, die z.B. bei<br />

Festen der Kirchgemeinde Unmengen von Kuchen verschlangen,<br />

sich Kuchenstücke in die Tasche steckten, nach Hause liefen.<br />

Kurze Zeit später kamen Peter, Luise und Max mit und das<br />

Spiel begann von vorne: essen, Taschen voll stopfen, abhauen.<br />

Oder sie kamen auf dem Nachhauseweg von der Schule bei mir<br />

vorbei und baten „nur“ um ein paar Kekse o. ä.. Eine Zeitlang<br />

beobachtete ich weiter und tauschte mich dann mit Lehrern<br />

aus. Eine Lehrerin sagte: „Etwa vier bis sechs Kinder in jeder<br />

Klasse erhalten mittags oder abends kein warmes Essen, etwa<br />

zehn bis zwölf Kinder kommen in jeder Klasse ungefrühstückt<br />

und ohne Frühstücksbrot in die Schule.“ Nun machten wir eine<br />

Exkursion nach Berlin, um in der „Arche“ (einer Einrichtung,<br />

die bereits seit vielen Jahren Kinder mit Essen versorgt) nähere<br />

Informationen einzuholen, denn fest stand: wir wollten die Situation<br />

der Kinder ändern. Können wir dies nicht grundlegend,<br />

so doch wenigstens, indem wir ihnen selbst gekochtes,<br />

warmes Essen geben. Die Eltern zahlten dafür 50 Cent, der<br />

„Rest“ wurde durch Spenden gedeckt.<br />

Durch die Informationen und Berichterstattungen in Presse<br />

und Fernsehen erkannte der eine und andere die Kinder seiner<br />

Nachbarn. Einige riefen bei uns wütend und vorwurfsvoll an:<br />

Den versorgt ihr? Da liegt die Mutter doch nur im Bett herum<br />

und ist zu faul zu kochen. Mit eurer Aktion fördert ihr die<br />

Gleichgültigkeit. Oder: Ihr lasst euch ausnutzen, die Eltern<br />

sind nur zu geizig oder auch sehr gerissen - im Sommer nach<br />

Mallorca fahren aber im ganzen Jahr sich nicht um die Kinder<br />

kümmern. Ja, das mag alles stimmen – aber sind die Kinder<br />

nicht trotzdem oder gerade deswegen die Betrogenen? Und um<br />

die Kinder geht es uns!<br />

Wir sind dankbar für alle konstruktive Kritik. Gerne würden<br />

wir mit den Kritikern in ein faires Gespräch einsteigen und uns<br />

auch über Themen wie Bildung (auch Bildung des Herzens!),


über Vernachlässigung und ihre Ursachen, über Vorbildwirkung,<br />

über Liebe, Zeit und Wertschätzung unterhalten. Könnte<br />

es sein, dass manche Eltern gerne anders leben würden, aber<br />

nicht wissen wie, könnte es sein, dass Eltern selber Ermutigung,<br />

Stärke, Hilfe, Korrektur benötigen?<br />

Der Warnowpass ist ein gewisses Kriterium für Armut: wer ihn<br />

erhält, kann mit Hilfe und Unterstützung rechnen. Doch was<br />

geschieht mit den Kindern, deren Eltern sich nicht die Mühe<br />

machen einen solchen Pass zu beantragen? Und was geschieht<br />

mit den Kindern, deren Eltern einen solchen Pass nicht erhalten,<br />

weil sie evtl. sogar beide arbeiten, dem Kind aber täglich<br />

„nur“ Geld geben, damit es sich etwas kaufen kann? Solche<br />

Kinder sitzen nun am Tisch (nicht stehend am leeren oder vollen<br />

Kühlschrank!), und es sind andere Kinder da zum Erzählen,<br />

anschließend zum Spielen, es sind Mitarbeiter der Kirchgemeinde<br />

und des „Fischkutters“ da, die zuhören, wenn es um<br />

Streit in der Schule, um ein verhauenes Diktat geht oder um<br />

die Tatsache eine ganze Woche ohne Eintrag geschafft zu haben.<br />

Auch die Hausaufgabenhilfe wird - nicht immer mit dem<br />

lautesten Freudenschrei! – in Anspruch genommen. Insgesamt<br />

sind die Angebote vielfältig, reichen vom kreativen Gestalten,<br />

Töpfern, Theater spielen, Musikunterricht, gemeinsamen Musizieren<br />

oder Singen und Spielen. Gern nehmen die Kinder<br />

und Jugendlichen auf dem weiträumigen Gelände der Einrichtung<br />

in der Krummendorfer Straße 15 in <strong>Rostock</strong>-Toitenwinkel<br />

auch die sportlichen Möglichkeiten wahr. Neben Billard,<br />

Dart und Tischtennis sind außerdem Volley- und Basketball<br />

möglich und bei schönem Wetter lässt es sich auch vorzüglich<br />

auf der Wiese hinter dem Haus herumtoben.<br />

Auch die Fahrradselbsthilfewerkstatt wird gerne genutzt. An<br />

zwei Nachmittagen kann hier repariert, geflickt und gebastelt<br />

werden. Dabei steht eine helfende Hand zur Seite, sollten die<br />

Jungen oder Mädchen einmal selbst nicht weiter kommen.<br />

Als wir starteten, nannten wir den Aufruf „Aktion fürs Leben“.<br />

Es war erstaunlich, dass die Spenden Monat für Monat einkamen.<br />

So reichte es nicht nur fürs Essen, sondern wir konnten<br />

auch die Köchin für vier Stunden bezahlen und auch der Sozialpädagoge<br />

blieb nicht ohne Lohn. Denn dies hatten wir sehr<br />

schnell entdeckt: Hunger haben ist das eine, aber Hunger und<br />

Durst nach Liebe, nach Anerkennung, nach Wertschätzung ist<br />

das andere. Das Engagement für die Kinder ist nur möglich,<br />

weil viele Bürger <strong>Rostock</strong>s und auch der Umgebung den Hilferuf<br />

gehört haben und ihr Herz für diese Kinder geöffnet haben.<br />

Ihnen allen gilt im Namen der Kinder unser herzliches<br />

Dankeschön!<br />

Hin und wieder schreibe ich einen „Denkanstoß“ für die Ostseezeitung.<br />

Kürzlich schrieb ich von Oliver. „Beim Mittagessen<br />

im „Fischkutter“ sitzt Oliver neben mir. Plötzlich fragt er:<br />

„Baust du heute wieder einen Turm mit mir?“ In mir rattert es:<br />

Eigentlich hast du jetzt keine Zeit, jedenfalls nicht für so `n<br />

Turm aus Bauklötzen. Olli sollte besser nach dem Essen seine<br />

Hausaufgaben machen oder mit anderen Kindern spielen.<br />

Aber gleichzeitig fällt mir ein, dass er gestern beim Turmbau<br />

gesagt hat, dass er es soooo schön fand, dass mein Turm einkracht,<br />

seiner aber stehen blieb. Und dann sagte er noch: „Du<br />

musst eben noch ein bisschen lernen, wie man das macht“. Diese<br />

und weitere Überlegungen pädagogischer und soziologischer<br />

Art gingen mir blitzschnell durch den Kopf, denn eigentlich<br />

wollte ich nicht schon wieder bauen. Doch Olli ließ nicht lokker.<br />

„Komm, ich helfe dir auch dabei und wenn der Turm kaputt<br />

geht, ist es nicht so schlimm. Es ist so cool, wenn du jetzt<br />

mit mir baust.“<br />

Kann „man“ da widerstehen? Also ging ich mit Olli in den großen<br />

Raum und ließ meinen Turm wachsen. Olli prüfte die Stabilität<br />

und veränderte hier und da etwas. Plötzlich schlug er das<br />

Bauwerk kaputt. Ich sagte: „He, Olli, warum machst du meinen<br />

Turm kaputt?“ Olli: „Dann musst du noch einmal anfangen,<br />

dann mach ich ihn wieder kaputt, und so bleibst du lange<br />

hier.“ Hören wir Erwachsene noch den Schrei unserer Kinder<br />

nach Zeit und nach Zuwendung?<br />

Ich erzählte Freunden dieses Erlebnis mit Olli und gemeinsam<br />

stellten wir fest: Zeit zu haben ist oft wirklich nicht einfach.<br />

Da gibt es Verpflichtungen, Absprachen, da ruft die Arbeit, die<br />

getan werden muss, manches lässt sich nicht verschieben. Aber:<br />

Zeit ist nicht gleich Zeit. Viel Zeit zu haben heißt noch nicht,<br />

dass es erfüllte Zeit ist. Weniger kann oft mehr sein. In die Zuwendung<br />

zum Menschen Zeit zu investieren lässt erkennen,<br />

dass Liebe, Achtung, Wertschätzung dahinter stehen. Bekanntlich<br />

soll Zeit die Cousine der Liebe sein. Solche Verwandtschaft<br />

ist nur wünschenswert, für Olli und für jeden von uns.“<br />

Inzwischen sind wir 3 ½ Jahre dabei, Kindern, die aus schwachen<br />

sozialen Verhältnissen kommen, an Schultagen ein warmes<br />

Essen anzubieten. Seit zwei Monaten ist dieses Essen nun<br />

sogar kostenlos, weil Patenschaften von Betrieben, Einrichtungen,<br />

auch Einzelpersonen übernommen worden sind und das<br />

Geld bis Ende des Jahres für 38 Kinder reicht. Wir sind aber<br />

stark am Überlegen, ob wir nicht die 50 Cent, die die Eltern<br />

zahlten, wieder einführen sollten, weil wir den Eltern die Sorgen<br />

für ihre Kindern nach Möglichkeit abnehmen wollen, aber<br />

nicht die Verantwortung für ihre Kinder. Wir merken es auch<br />

an den Kindern: die Wertschätzung für das Essen verringert<br />

sich, wenn alles umsonst ist.<br />

Das Sprichwort, das wir beim Start der Aktion ein bisschen abgewandelt<br />

in den Flyer schrieben, gilt auch jetzt noch: Wenn<br />

viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte<br />

tun, können sie das Gesicht von Toitenwinkel verändern!<br />

---<br />

Die Initiative sucht Helfer und Unterstützer – praktisch und finanziell.<br />

Kontakt: brigitte.krause@freenet.de (siehe auch<br />

www.fischkutter.org)<br />

Kontoverbindung: Fischkutter - <strong>Rostock</strong>er Volks -- und Raiffeisenbank<br />

eG, BLZ: 13 09 00 00; Nr.: 191 23 99


0.28 __ //// TITELTHEMA<br />

Hintergrund -<br />

informationen<br />

Erklärung der Landesarmutskonferenz<br />

„Kinder sind arm, weil ihre Eltern es sind. Kinder werden<br />

durchschnittlich häufiger krank, wenn sie in armen Verhältnissen<br />

leben und aufwachsen müssen.“<br />

Sozialwissenschaftliche Studien und praktische Erfahrungen<br />

von Medizinern in Deutschland belegen:<br />

_ Aus der Pränatalforschung ist bekannt, dass sich die sozialen<br />

Verhältnisse und die Lebensweise der werdenden Mutter<br />

auf die embryonale Entwicklung des Kindes auswirkt.<br />

_ Auswertungen von Einschulungsuntersuchungen bestätigen,<br />

dass fast doppelt so häufig bei Kindern aus sozial benachteiligten<br />

Familien die Notwendigkeit einer Frühförderung<br />

diagnostiziert wird als bei Kindern aus höheren sozialen<br />

Schichten. Sinn einer Frühförderung ist eine frühe therapeutische<br />

Intervention zur Kompensation von Entwicklungsstörungen.<br />

_ Ernährungswissenschaftler weisen darauf hin, dass die finanziellen<br />

Möglichkeiten von Familien, die auf Sozialhilfeniveau<br />

leben, eine ausreichende und ausgewogene Ernährung<br />

entsprechend den Regeln der Deutschen Gesellschaft<br />

für Ernährung als fast unmöglich erscheinen lässt. Kennzeichen<br />

der Mangel- und Fehlernährung ist eine fettreiche<br />

und vitaminarme Kost sowie ein geringerer Kohlehydratund<br />

Obstanteil als im Bevölkerungsdurchschnitt.<br />

_ Die Sportwissenschaft hat schon sehr früh auf den Zusammenhang<br />

zwischen Gesundheitsförderung und sportlichen<br />

Aktivitäten hingewiesen. So ist häufig bei sozial benachteiligten<br />

Kindern ein Bewegungsmangel feststellbar, der die<br />

kompensatorische und entlastende Wirkung sportlicher<br />

Betätigung in Hinblick auf Stressbewältigung und Gesundheitsprävention<br />

im Alltag kaum zur Entfaltung bringt bzw.<br />

individuell kaum nutzbar gemacht werden kann.<br />

_ Die häufigsten Krankheitsbilder von Kindern aus prekären<br />

Verhältnissen, die bei Vorschuluntersuchungen in Greifswald<br />

festgestellt wurden, sind: Psychovegetative Krankheitssymptome<br />

(psychophysische Belastbarkeit), Übergewicht,<br />

Zahngesundheitsstörungen (Karies, Zahnfehlstellungen),<br />

Sprachstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Probleme<br />

bei der Grob- und Feinmotorik sowie bei der Merkfähigkeit<br />

und beim Abstraktionsvermögen.<br />

_ Untersuchungen weisen Zusammenhänge zwischen dem<br />

Sozialstatus von Kindern und deren Gesundheitsrisiken<br />

verursacht durch unzureichenden Impfschutz und unzureichende<br />

Teilnahme an den Vorsorgeuntersuchungen U8<br />

und U9 sowie hinsichtlich Zahnerkrankungen, durch Gewaltanwendung<br />

gegenüber Kindern, Beteiligung an Unfällen<br />

und insbesondere psychosomatische Erkrankungen.<br />

In Mecklenburg-Vorpommern leben 59.499 Kinder (33,6 %)<br />

bis 15 Jahren in Bedarfsgemeinschaften mit Hartz IV-Bezug,<br />

also unter Armutsbedingungen. Damit liegt MV an 15. Stelle<br />

der 16 Bundesländer (Stand März 2007).<br />

Die Landesarmutskonferenz Mecklenburg-Vorpommern<br />

fordert:<br />

von der Bundespolitik:<br />

_ Verbesserung der sozialökonomischen Situation der von<br />

Armut betroffenen Familien mit Kindern<br />

_ Einführung kindgerechter Regelsätze<br />

_ Erhöhung des Kindergeldes<br />

_ Sicherung eines existenzsichernden Mindestlohnes<br />

_ Nichtanrechnung des Kindergelds auf die Regelleistung<br />

von Hartz IV-Bezügen<br />

_ Unterstützung der Länder bei der Einrichtung von Ganztagsbetreuungsplätzen<br />

in Kitas und Schulen insbesondere<br />

für benachteiligte Kinder<br />

_ Gesetzliche Regelungen zur verpflichtenden Teilnahme an<br />

Vorsorgeuntersuchungen<br />

_ Investitionen in Kinderbetreuungskosten<br />

von der Landes- und Kommunalpolitik<br />

_ Vernetzung von Sozial- und Gesundheitsberichterstattung<br />

in Form von Lebenslagenforschung in M-V sowie daraus<br />

Ableitung von politischen Handlungserfordernissen für<br />

die Verbesserung der Kindergesundheit<br />

_ Fortsetzung der Erhebung des Sozialstatus bei den Eltern<br />

im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen<br />

_ Stärkung von Selbsthilferessourcen, Eigeninitiative und Elternkompetenz<br />

durch Sicherung und Ausbau von Hilfsund<br />

Beratungsangeboten und der Förderung einer gesundheitsbezogenen<br />

Netzwerkarbeit<br />

_ finanzielle Stärkung der Kommunen zur Wahrnehmung<br />

der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe<br />

_ Unterstützung der Kommunen durch das Land bei der<br />

Übernahme von Beiträgen für Ganztagsplätze für arbeitslose<br />

Eltern<br />

_ Absicherung des Anspruchs auf vorschulische Bildung sowie<br />

gesundheitliche Betreuung, keine Mittelkürzung in<br />

diesem Bereich!<br />

_ Ermöglichen einer kostenlosen Teilnahme am Mittagessen<br />

für Kita- und Grundschulkinder aus sozial benachteiligten<br />

Familien<br />

_ Förderung der Einrichtung von öffentlichen Ganztagsschulen<br />

_ Förderung von Vereinen und Verbänden, die preisgünstige


Freizeitangebote für benachteiligte Kinder zur Verfügung<br />

stellen<br />

_ ausreichende Personalausstattung in den verantwortlichen<br />

Jugend- und Gesundheitsämtern<br />

_ Weiterentwicklung der Kindergesundheitsziele des Landes<br />

durch die Kindergesundheitskonferenz M-V<br />

_ Bereitstellung von Mitteln aus dem Sportförderungsgesetz<br />

M-V für Kinder- und Jugendbreitensport<br />

von Vereinen und Verbänden<br />

_ Entwicklung stadtteil- und projektbezogener, niedrigschwelliger<br />

und kostengünstiger Angebote für einkommensschwache<br />

Familien<br />

Konkrete Projekte gegen Kinderarmut<br />

_ Entwicklung der Kompetenz für eine gesundheitlichen<br />

Präventionsarbeit der Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen<br />

durch Fort- und Weiterbildung<br />

_ Initiierung von Netzwerken von Kinder- und Jugendärzten,<br />

Beschäftigten in Kita und Schulen, in Jugend- und Sozialämtern,<br />

der Fachhochschulen bzw. Universitäten und<br />

politischen Verantwortungsträgern für die Gesundheitsförderung<br />

von Jungen und Mädchen<br />

Die Deutsche Lebensbrücke unterstützt Projekte in München, Berlin, Hamburg und Stuttgart. Bald auch in Essen und Leipzig<br />

wenn wir die erforderlichen Mittel haben um eine kontinuierliche Unterstützung zu gewährleisten. In Kooperationen mit Einrichtungen<br />

für Kinder und Jugendliche fördert die Deutsche Lebensbrücke Möglichkeiten, um sozial schwachen Kindern kostenlose<br />

Mahlzeiten, wie Frühstück und Mittagessen anbieten zu können.<br />

Mittelfristige Ziele neben dem Angebot des kostenlosen Mittagstisches sind:<br />

1. informative & und unterhaltsame Workshops zu verschiedenen Themen, wie z.B. Körper- und Zahnhygiene, Talentwettbewerbe<br />

um verborgene Fähigkeiten zu entdecken, Theater-Musikworkshops, Bastelkurse und sportliche Aktionen.<br />

2. eine gut funktionierende Vernetzung von medizinischen und sozialpädagogischen Dienstleistungen: denn nur wenn alle an einem<br />

Strang ziehen, stellt sich ein Erfolg ein.<br />

3. Freizeitbetreuung in den Ferien, aber auch während der Schulzeit um die Kinder weg von der Straße, hin zu sinnvollen und unterhaltsamen<br />

Aktivitäten zu führen.


FOTO: TOM MAERCKER


0.31 __ //// TITELTHEMA<br />

Herzlich willkommen in<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

JÜRGEN HOLZAPFEL<br />

Es wird Sommer und da reist jeder einmal gerne an einen anderen<br />

Ort. In dieser Jahreszeit entstehen die so genannten Urlauberströme,<br />

die sowohl ans Meer als auch in die Berge fließen.<br />

Das ist individuell verschieden. Die meisten Urlauber-Gebiete<br />

machen schon frühzeitig Werbung, damit die Menschen die ihren<br />

Bedürfnissen entsprechende Entscheidung treffen können.<br />

Mecklenburg Vorpommern präsentiert sich gerne als das „Gesundheitsland<br />

Nr. 1“. In den vergangenen Monaten allerdings<br />

wurden wir geradezu überschwemmt mit Projekten und Realitäten,<br />

die nicht sehr gesundheitsfördernd sind. Allein in unserer<br />

unmittelbaren Umgebung gibt es dafür einige Beispiele. In<br />

Dargun soll eine Sondermüllverbrennungsanlage gebaut werden,<br />

in Güstrow entsteht die größte Biogasanlage, für die auf<br />

10.000 ha Land Mais angebaut werden soll, in Alt Tellin soll<br />

Europas größte Ferkelaufzuchtsanlage für 250.000 Ferkel gebaut<br />

werden, 10 Projekte für Schweinemastanlagen mit bis zu<br />

80.000 Schweinen sind geplant, in Groß Lüsewitz werden alle<br />

Gentechnikversuche mit Pflanzen durchgeführt, die in anderen<br />

Bundesländern abgelehnt werden, in Lubmin soll ein Kohlekraftwerk<br />

gebaut werden, in Röbel werden 20 Hektar mit der<br />

genveränderten Kartoffel Amflora als Versuch deklariert.<br />

Die Krise und die Landwirtschaft<br />

Weil es eine Energiekrise gibt, wurde beschlossen „Biotreibstoffe“<br />

zu fördern, das heißt, den Anbau von Raps, Mais, Weizen,<br />

Soja, Zuckerrüben und anderen guten Dingen, wenn daraus<br />

„Treibstoff “ hergestellt wird. Das breitet sich nun hier, in den<br />

USA und in Lateinamerika wie ein Strohfeuer aus, dass einem<br />

Angst und Bange werden kann.<br />

Weil es aber die Spekulationskrise gibt, investieren heute viele<br />

Spekulanten ihr Geld nicht mehr in Pusteblumen sondern in<br />

die Landwirtschaft, indem sie zum Beispiel Boden kaufen. Dadurch<br />

sind in unserem Landkreis (Demmin) im letzten Jahr die<br />

Bodenpreise um 20% gestiegen. Auf diese Weise entstehen natürlich<br />

immer größere Betriebe, denn wer Geld hat kauft Land<br />

und wer keins hat verkauft. Das hat dazu geführt, dass die Mega-Betriebe<br />

die Preise drücken und Mittel- und Großbetriebe<br />

nicht mehr genug Geld verdienen (siehe Milchbauern).<br />

Als Reaktion auf die Bauernproteste der letzten Zeit gegen die<br />

niedrigen Milchpreise hat die Regierung in die Tasche der<br />

Steuerzahler gegriffen und subventioniert den Dieselverbrauch<br />

der Landwirte noch mehr als bisher. Genauer gesagt: Sie hebt<br />

die bisherige Begrenzung auf 10.000 Liter im Jahr auf und hilft<br />

so - wieder den Mega-Betrieben, die die Kleinen vertreiben.<br />

Wer das alles verstanden hat, stellt fest, dass die Regierung den<br />

Dieselverbrauch subventioniert, um Biodiesel gegen die „Dieselkrise“<br />

zu produzieren. Die Folge dieser Konzentration von<br />

Land in der Hand von immer weniger Großbetrieben treibt die<br />

Abwanderung der Menschen vom Land noch weiter voran.<br />

Bürgerinitiativen wehren sich gegen den Ausverkauf<br />

ihrer Region<br />

In Dargun ist eine Bürgerinitiative entstanden, die das Projekt<br />

einer Sondermüllverbrennungsanlage genauer untersucht und<br />

ihren ungesunden Charakter in die Öffentlichkeit gebracht<br />

hat. Dass ausgerechnet die Darguner Brauerei und die Darguner<br />

Molkerei sich dieses schöne Projekt angelacht haben, um<br />

ihren Bedarf an Wärme möglichst billig zu decken, spricht<br />

nicht gerade für die Qualität ihrer Produkte. Die Bürgerinitiative<br />

hat die nötigen 18% der Wahlberechtigten zur Unterschrift<br />

gewonnen, damit ein Volksentscheid herbeigeführt<br />

wird. Das hat vorläufig genügt, damit der Herr Investor das<br />

Projekt noch einmal neu berechnet und abwartet bis nach der<br />

Wahl.<br />

In Groß Lüsewitz haben sich Gentechnikgegner aus den anderen<br />

Bundesländern zu Wort gemeldet und mit der lokalen Bürgerinitiative<br />

verständigt. Anfang April wurde das Feld, auf dem<br />

gentechnisch veränderte Gerste ausgesät werden soll, besetzt.<br />

Wir haben davon durch die Medien erfahren und als wir am<br />

frühen Abend hingefahren sind, um den Besetzern Essen zu<br />

bringen, war das Feld von der Polizei besetzt. Die hatte genug<br />

Verpflegung dabei und so ließen wir uns von einem freundlichen<br />

Nachbarn des Felds zum Kaffee einladen und haben erfahren,<br />

dass er Klage gegen den Anbau eingereicht hat, weil er<br />

in seinem Garten alte Gerstensorten ausgesät hat. Sogar die<br />

Brauerei in Stralsund hat jetzt zu einem großen Fest gegen die<br />

Gentechnik und für das Reinheitsgebot für Bier eingeladen.<br />

Ob nun die Polizei und der private Wachschutz, der seither neben<br />

dem Feld kampiert, das beste Mittel sind, um seine Gerste<br />

vor Einkreuzungen zu schützen, daran hatte der freundliche<br />

Nachbar erhebliche Zweifel.


0.32 __ //// TITELTHEMA<br />

Die geplante „Ferkelproduktionsanlage“ in Alt Tellin hat uns<br />

mehr beschäftigt. Seit über einem Jahr wehrt sich in der Gemeinde<br />

die Bürgerinitiative „Leben im Tollensetal“ gegen dieses<br />

Projekt. Sie argumentiert zu Recht, dass das Tollensetal eine<br />

sehr schöne Landschaft ist, die Urlauber anzieht, die zum Beispiel<br />

in Ruhe auf der Tollense paddeln wollen. Diese fließt in<br />

einem Urstromtal, das ganz gemächlich in Richtung Ostsee<br />

führt. Jede Verseuchung, die hier produziert wird, folgt ungehindert<br />

diesem Weg in das Meer, welches schon heute eine<br />

alarmierende Verseuchung aufweist.<br />

Die Befürworter in der Gemeinde haben wie überall das Argument,<br />

dass durch die Anlage Arbeitsplätze geschaffen werden,<br />

obwohl sie sich ausrechnen können, wie viele kleine Schweinezüchter<br />

dadurch ruiniert werden. Es geht bei dem Für und<br />

Wieder also nicht nur um die direkt betroffene Gemeinde,<br />

auch wenn die Politiker in Schwerin sich feige zurückhalten<br />

und so tun, als hätten sie keinen Einfluss auf die Entscheidung.<br />

Wir haben uns auf verschiedene Wiese eingemischt. Ein Höhepunkt<br />

war die Theateraufführung von Tobias Morgenstern,<br />

Thomas Rühmann, Jens Uwe Bogadke und Ursula Karusseit<br />

im Gemeindehaus von Schmarsow. Der Saal war brechend voll<br />

und viele haben in dem Stück „Mitten in Amerika“ nach dem<br />

Roman von Annie Proulx, mit den bitterbösen und komischen<br />

Geschichten über Windräder und Schweinemastanlagen in Texas,<br />

ihre eigene Region entdeckt.<br />

Uns hat auch die Frage interessiert, womit die Schweine gefüttert<br />

werden. In Lateinamerika zerstört der Anbau von Soja für<br />

die modernen Geflügel- und Schweinemastbetriebe in Europa,<br />

Nordamerika und Asien die traditionellen Kulturen der Kleinbauern<br />

und den Regenwald. Dabei ist es ganz und gar nicht so,<br />

dass die modernen Tiere nur noch Soja fressen wollen und keine<br />

Kartoffeln aus Mecklenburg mehr vertragen. Es geht nur<br />

um einige Tage die der Mäster gewinnt, weil er die Tiere ein<br />

bisschen früher zur Schlachtbank führen kann. Um hier in der<br />

Region deutlich zu machen, dass die Entwicklung in Lateinamerika<br />

direkt mit dem Bau solcher Massenmastanlagen zusammenhängt,<br />

haben wir Angélica und Marcelo von der Bewegung<br />

der Landlosen in Brasilien „MST“, eingeladen. Sie kamen<br />

gerade zum Zeitpunkt, als das Umweltamt in einer öffentlichen<br />

Sitzung alle Beschwerden der Bevölkerung gegen den Bau der<br />

Anlage verhandelte. Die Brasilianer erhielten die Möglichkeit,<br />

über die Folgen des Soja-Anbaus in Brasilien zu berichten und<br />

danach die Antwort, dass das Umweltamt dafür nicht zuständig<br />

sei. Dabei hatten sie gar nicht gefragt, wer für die Zustände<br />

zuständig ist.<br />

Am Abend haben sie dann auf einer öffentlichen Veranstaltung<br />

in Demmin sehr ausführlich über die Entstehung ihrer Bewegung<br />

und die Landbesetzungen in Brasilien erzählt.<br />

Bei uns ging es so weiter, dass wir am 17. April das Gelände in<br />

Alt Tellin besetzt haben, auf dem die Schweine-Anlage gebaut<br />

werden soll. Wir haben dieses Datum gewählt, weil es von der<br />

weltweiten Kleinbauern und Landlosenbewegung „La Via<br />

Campesina“ zum internationalen Tag der Kleinbauern ausgerufen<br />

wurde, in Erinnerung an die Ermordung von Landbeset-<br />

zern in Brasilien. Zu der Besetzung aufgerufen hatte das „Aktionsbündnis<br />

Globale Landwirtschaft“, mit dem wir seit den<br />

Protesten gegen den G8-Gipfel in <strong>Rostock</strong> zusammenarbeiten.<br />

Ungefähr 120 Menschen kamen auf dem Gelände zusammen,<br />

aus der näheren Umgebung, aus Greifswald, <strong>Rostock</strong> und Berlin,<br />

aus Polen kam Marek Krydal und von der „Arbeitsgemeinschaft<br />

bäuerliche Landwirtschaft“ kam Georg Janssen. Eine<br />

Volksküche hatte ihre Zelte aufgebaut, eine Samba-Band und<br />

einige Musiker aus der Umgebung waren gekommen, jeder hatte<br />

Transparente oder Ideen dafür mitgebracht, und so entstand<br />

innerhalb kurzer Zeit ein kleines spontanes Dorfleben mit Diskussionen<br />

und Gesprächen zwischen Menschen, die sich noch<br />

nie begegnet waren, und Musik und Tanz bis spät in die<br />

Nacht.<br />

Besonders interessant war der Beitrag von Marek, der in Polen<br />

gegen den amerikanischen Schweinemastkonzern Smithfild zu<br />

Felde zieht. Die Schweinegrippe ist bei einer Anlage dieses<br />

Konzerns in Mexiko ausgebrochen, wo der Güllesee und die<br />

Schweinekadaver die Mücken begeistert hat, die nichts besseres<br />

zu tun hatten, als die Krankheit auf die Menschen zu übertragen.<br />

Er hat erzählt, dass Smithfield in Polen die Arbeiter nur<br />

für jeweils zwei Jahre anstellt, weil er weiß, dass sie danach gesundheitlich<br />

ruiniert sind. Das Umweltamt prüft ja nur die Gestank-Emissionen,<br />

die aus der Anlage in die Umgebung kommen,<br />

es prüft aber nicht den Gestank, in dem die Arbeiter und<br />

die Schweine leben müssen, dafür ist es nicht zuständig.<br />

In der Nacht konnten wir noch ein Telefongespräch mit dem<br />

Journalisten Reto Sonderegger führen, der am gleichen Tag in<br />

Paraguay an einer Versammlung von Kleinbauern teilgenommen<br />

hatte. Die Kleinbauern berichteten von den Gesundheitsschäden,<br />

die die Spritzmittel auf den großen Plantagen von<br />

genmanipuliertem Soja bei ihren Kindern, ihren Haustieren<br />

und ihren kleinen Feldern verursachen. Es sieht so aus als ob<br />

die Soja-Konzerne absichtlich die Dörfer besprühen, in denen<br />

die Kleinbauern ihr Land nicht verkaufen wollen.<br />

Am 18. April unternehmen wir, die Besetzer und die Bürgerinitiative,<br />

gemeinsam einen Sternmarsch nach Alt Tellin, was eigentlich<br />

ein schönes kleines Dorf bleiben könnte, wenn nicht<br />

Futtermittel, Schweine und Gülle in riesigen Lastwagen täglich<br />

über die Dorfstrasse gefahren werden müssten.<br />

Noch ist nicht entschieden, ob die Anlage bewilligt wird.<br />

Wenn sie bewilligt wird, ist ein Damm in Mecklenburg-Vorpommern<br />

gebrochen und mindestens 10 weitere Mega-Mastanlagen<br />

warten auf ihre Bewilligung. Deshalb halten wir es für<br />

sinnvoll, dass ganz viele Freunde von uns an die Regierung von<br />

Mecklenburg Vorpommern schreiben. Meint sie es ernst mit<br />

dem Gesundheitsland oder kehrt sie zurück in die Zustände<br />

der DDR, die ja zur Genüge thematisiert worden sind – vor 20<br />

Jahren. Eine Argumentationshilfe schicken wir gerne zu.<br />

___<br />

Kontakt:<br />

Hof Ulenkrug, Stubbendorf 68, 17159 Dargun<br />

Email: ulenkrug@t-online.de


„Genversuche?<br />

Nein danke.“<br />

INGE WENZL ___// GEBOREN 1972 IN HEIDELBERG, IST DIPLOMPOLITOLOGIN. SEIT 2001 SCHREIBT SIE ALS FREIE JOURNALISTIN FÜR<br />

VERSCHIEDENE SPANISCHE UND DEUTSCHE PUBLIKATIONEN VOR ALLEM ÜBER UMWELTTHEMEN<br />

In Mecklenburg Vorpommern formiert sich zunehmend Widerstand gegen<br />

die Versuche an gentechnisch veränderten Pflanzen. Die Landesregierung<br />

dagegen kompromittiert sich dieser Technologie mehr denn je.<br />

FOTO: INGE LASS ___// BIOGERSTEFELD FAMILIE STRAUß


0.34 __ //// TITELTHEMA<br />

Die Grüne Gentechnik hat in Mecklenburg Vorpommern immer<br />

noch Hochkonjunktur: Nach ihren letzten Äußerungen<br />

will die Landesregierung auch weiterhin satte Beträge in die<br />

Forschung genmanipulierter Pflanzen stecken. „Damit ist<br />

Mecklenburg Vorpommern das letzte verbliebene Bundesland,<br />

das Gentechnik fördert, nachdem auch Sachsen Anhalt gemerkt<br />

hat, dass die Bevölkerung das nicht will und ihr den<br />

Hahn abgedreht hat“, so Andreas Bauer, Gentechnik-Experte<br />

am Umweltinstitut München. Nicht weniger als neun Versuche<br />

an gentechnisch veränderten Kartoffeln, Weizen, Gerste und<br />

Mais sind im nordöstlichsten Bundesland genehmigt worden<br />

und werden derzeit angebaut.<br />

Das Gros dieser Versuche findet im Genversuchsgarten der<br />

biovativ GmbH in Thulendorf und in Groß Lüsewitz auf Flächen<br />

des Landes statt. Die Professorin für Agrobiotechnologie<br />

an der Uni <strong>Rostock</strong> Inge Broer, ihre Mitarbeiter und Studenten<br />

forschen unter anderem an einer Kartoffel, die ein Blaualgen-<br />

Gen in sich trägt und somit in Blättern und Knolle Cyanophycin<br />

bilden kann. Aus diesem Protein lässt sich ein biologisch<br />

abbaubarer Kunststoff produzieren, der, so hoffen die Forscher,<br />

bald herkömmliche, auf Erdölbasis hergestellte Kunststoffe ersetzen<br />

könnte. Ein Bestandteil des Cyanophycins könnte überdies<br />

als Wasserenthärter in Waschmitteln Anwendung finden.<br />

Andreas Bauer dagegen bezweifelt den Nutzen der Genpflanze:<br />

„Die Veränderung durch die Genmanipulation ist so gravierend,<br />

dass sie in den Kartoffelstoffwechsel eingreift“, erklärt er.<br />

In Konsequenz sähen die Knollen anders aus und seien kleiner.<br />

„Bayer war auch zuerst bei der Entwicklung der ‚Plastikkartoffel’<br />

dabei, ist aber ausgestiegen“, untermauert der Agrarwissenschaftler<br />

seine Aussage.<br />

Eine andere gentechnisch manipulierte Kartoffelsorte, an der<br />

in Lüsewitz geforscht wird, trägt ein Gen eines Kaninchenseuchevirus<br />

in sich. Aus ihr wollen die Wissenschaftler einen<br />

Impfstoff gegen diese Krankheit entwickeln. Einen ähnlich gearteten,<br />

stark umstrittenen Versuch an einer Kartoffel, der ein<br />

Gen des Cholera-Bakteriums eingefügt wurde, zogen die Antragsteller<br />

zurück.<br />

Umstrittener Gerstenversuch<br />

Ebenfalls im Genversuchsgarten führt der Gießener Professor<br />

Karl-Heinz Kogel einen Versuch an Gengerste durch. Untersuchungsgegenstand<br />

ist, wie diese auf Bodenorganismen – insbesondere<br />

die nützlichen Mikorrhizapilze – wirkt. Unter derselben<br />

Fragestellung hatte Kogel seinen Versuch bereits von 2006<br />

bis 2008 in Gießen angemeldet. Doch in den ersten beiden Jahren<br />

zerstörten Gentechnikgegner das Feld, im letzten Jahr verhinderten<br />

Umweltaktivisten mit einer Feldbesetzung bereits im<br />

Vornherein die Aussaat. Um sein Gesicht zu wahren, ließ der<br />

Professor verlauten, er habe eine Aussaat für dieses Jahr sowieso<br />

nicht mehr vorgesehen. Dann meldete er den Versuch im als<br />

widerstandsärmer verschrienen Mecklenburg-Vorpommern an.<br />

Doch auch hier ereilte seine Pflanzen dasselbe Schicksal. Eine<br />

Sprecherin des Landesministeriums für Landwirtschaft, Um-<br />

welt und Verbraucherschutz teilte mit, Unbekannte hätten sich<br />

in den frühen Morgenstunden des 18. Mai das Feld erneut zerstört.<br />

Obwohl der Vorfall von offizieller Seite geheimgehalten<br />

wurde, sickerte die Nachricht dennoch durch: Nachbarn wollen<br />

in der Nacht gehört haben, wie das Wachpersonal sich laut<br />

unterhielt. Anderen Anwohnern gegenüber erzählten Wachleute,<br />

das Gengerstenfeld sei „hin“.<br />

Einige Tage später entdeckten Nachbarn neben dem zerstörten<br />

Feld ein zweites von derselben Größe: „Das Feld war doppelt<br />

umzäunt, mit einem Vogelschutznetz darüber. Schilder waren<br />

nicht zu erkennen.“, erzählt Ute Strauß. Datiert auf den 19. Mai<br />

erschien im Standortregister die Anmerkung, ein zweites Feld<br />

sei genehmigt, da das erste zerstört worden wäre. Da das erste<br />

Feld aber stehen blieb und somit zwei Felder existierten, erstattete<br />

Familie Strauß Anzeige beim Landwirtschaftsministerium<br />

in Schwerin: „Da war die Gerste bereits 20 bis 30 Zentimeter<br />

hoch“, berichtet die Anwohnerin, „und danach stand sie noch<br />

über eine Woche!“ Aus demselben Grund reichte der Gießener<br />

Umweltaktivist Jörg Bergstedt seinerseits Strafanzeige bei der<br />

<strong>Rostock</strong>er Staatsanwaltschaft gegen die Betreiber des Versuchsfelds<br />

ein.<br />

Auf Presseanfragen erklärte sich Inge Broer, Gesellschaftsvorsitzende<br />

der biovativ GmbH, der Pächterin der Flächen, jedoch<br />

für nicht zuständig. Die Geschäftsführerin Kerstin Schmidt<br />

teilte ihrerseits der Ostseezeitung mit, alles sei ordnungsgemäß<br />

abgelaufen. So sieht das auch die Landesbehörde. Sie argumentiert,<br />

man habe sich entschlossen, das Gerstenfeld erst niederzuspritzen,<br />

nachdem alle Körner ausgetrieben hätten, um einen<br />

Durchwuchs im nächsten Jahr zu vermeiden. Dies sei am 19.<br />

Juni auch geschehen. Anwohner und Umweltschützer werfen<br />

dagegen der Behörde vor, erst auf die Anzeige Bergstedts reagiert<br />

zu haben.<br />

Veranstaltungen, Infostände und eine Feldbesetzung<br />

In der Region formiert sich bereits seit einigen Jahren Widerstand<br />

gegen die Genversuche und den jetzt verbotenen kommerziellen<br />

Anbau der Genmaissorte MON810, von der 2008<br />

noch rund 74 Hektar auf den Äckern Mecklenburg-Vorpommerns<br />

standen. Der Gentechnikreferent des BUND, Burkhard<br />

Roloff, führt Informationsveranstaltungen durch und engagiert<br />

sich für die Gründung gentechnikfreier Regionen. Zwölf<br />

Stück mit insgesamt 120.000 Hektar Fläche gibt es in Mecklenburg<br />

Vorpommern bereits. Jüngst ist der Klützer Winkel<br />

hinzugekommen.<br />

Im Jahre 2006 gründete sich die Bürgerinitiative <strong>Rostock</strong>er /<br />

Güstrower Land Gentechnikfrei, die unter anderem alljährlich<br />

in <strong>Rostock</strong> den „Tag gegen Gentechnik“ organisiert. Vergangenes<br />

Jahr beteiligte sie sich außerdem an dem Landwirtschaftstag<br />

im Rahmen der Gegenaktivitäten zum G8-Gipfel, dieses<br />

Jahr unterstützte sie die Mahnwache in Sagerheide, neben dem<br />

Versuchsgelände. Diese führten Umweltaktivisten durch, die<br />

zuvor eines der Versuchsfelder besetzt und sich an einem dreibeinigem<br />

Turm und Betonfässern angekettet hatten.


Die Beweggründe der überwiegend jungen Menschen waren<br />

vielschichtig. Einige der Besetzer befürchten, die genmanipulierten<br />

Pflanzen könnten auskreuzen, andere argumentieren<br />

politisch: „Bei der Gentechnik geht es nicht um Menschen,<br />

sondern um Profite. Die Landwirte sollen abhängig gemacht<br />

werden von Saatgutmultis, die die Kontrolle über einen komplett<br />

patentierten Saatgutmarkt anstreben“, erklärt Johanna<br />

Rehse. „Das wollen wir verhindern.“ Auch hätten sich an und<br />

um das Agrobiotechnikum jede Menge Firmen und Vereine gegründet.<br />

„Es besteht die Vermutung, dass es hier weniger um<br />

Forschung, als primär um Imagepflege für die Gentechnik und<br />

das Abgreifen von Fördergeldern in Millionenhöhe geht“, so<br />

Rehse.<br />

Lebensmittel bekamen Rehse und ihre Mitstreiter von der Firma<br />

Biofrisch, die in der Region einen Biogroßhandel und einen<br />

Hofladen betreibt. „Wir führen schon länger Verhandlungen<br />

darüber, Flächen in der Nähe des Versuchsgeländes zu pachten,<br />

und da ärgert uns das ziemlich, dass aus ganz Deutschland Universitäten<br />

und Firmen hierher kommen, um ihre Versuche zu<br />

machen, weil der Widerstand hier am niedrigsten ist“, sagt<br />

Martin Lamp, Mitbetreiber der GbR.<br />

Auch die Familie Strauß unterstützte die Besetzer. Als das Feld<br />

geräumt wurde, kamen dort einige, die einen Platzverweis erhalten<br />

hatten, unter. Verhandlungen mit der Polizei fanden<br />

dort auf privatem Boden statt und dies bot den Aktivisten<br />

Schutz gegen Übergriffe. Für die Mahnwache organisierte Ute<br />

Strauß ihnen ein öffentliches Grundstück, gleich am Feld und<br />

versorgte sie mit Strom, Wasser und WC.<br />

Auch die Gemeindevertretung stellte sich hinter die Mahnwache:<br />

„Wir haben sie begrüßt und gerne das Grundstück zur<br />

Verfügung gestellt“, sagt Gemeinderatsmitglied Thomas Bittorf.<br />

„Im Gegensatz zu der Firma biovativ haben sie uns gefragt,<br />

ob sie es benutzen können.“ Inzwischen lehnt der Gemeinderat<br />

Thulendorf die Freisetzungsversuche einstimmig ab.<br />

„Wir sind nicht sonderlich erbaut, dass biovativ uns nicht an<br />

der Entscheidung beteiligt hat, dass die Versuchsflächen in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft zu Wohngrundstücken liegen und<br />

die Polizei ständig präsent sind“, ärgert sich Bittorf.<br />

Anders ist die Lage in Groß Lüsewitz: An diesem traditionellen<br />

Züchtungsstandort hängen viele Arbeitsplätze. Ob Züchtung<br />

oder Gentechnik ist dabei vielen der Arbeiter egal. Ähnlich<br />

gespalten ist auch der AStA der Uni <strong>Rostock</strong>. „Ich finde<br />

Forschung auf diesem Gebiet in Ordnung, man sollte aber<br />

nicht mit dem Feuer spielen. Deshalb lehne ich Freisetzungsversuche<br />

ab“, versucht Robert Haack, Umweltreferent des<br />

AStA, der bei Broer studiert und drei Monate als studentische<br />

Hilfskraft gearbeitet hat, einen Spagat. Im Gremium habe man<br />

aber bisher nicht über das Thema geredet. Auch im Fachschaftsrat<br />

Agrarökologie gibt es keine einheitliche Position.<br />

Einzelne Studenten nahmen aber an der Mahnwache teil.<br />

Mit der Zwille auf’s Versuchsfeld<br />

Auch in anderen Teilen Mecklenburg Vorpommerns gibt es<br />

Versuchsfelder: In Gerdshagen (Lohmen) führt ein Bauer im<br />

Auftrag Monsantos einen Versuch an Bt- und herbiszidresistenten<br />

Mais durch. In Bütow, im Süden des Bundeslandes,<br />

kultiviert der Pflanzenzüchter Karl-Heinrich Niehoff auf 20<br />

Hektar Fläche für BASF Amflora-Kartoffeln. Obwohl als Versuchsanbau<br />

beim BVL registriert, handelt es sich tatsächlich<br />

dabei – wie auch Niehoff einräumt – darum, Saatgut zu vermehren.<br />

Denn sollte die EU im nächsten Jahr die Stärkekartoffel<br />

zulassen, möchte der Saatgutriese nicht mit leeren Händen<br />

dastehen.<br />

Im vergangenen Jahr versuchten Gentechnikgegner den Anbau<br />

der ‚Amflora’ bereits im Vorfeld mit einer Feldbesetzung zu unterbinden.<br />

BASF ließ sie jedoch noch am selben Tag in einer<br />

unverhältnismäßig rabiaten Aktion räumen, wobei sie das Leben<br />

eines an einem Dreibein festgeketteten Aktivisten fahrlässig<br />

aufs Spiel setzte.<br />

Um eine erneute Besetzung zu erschweren, zog Niehoff dieses<br />

Jahr einen Zaun um das Gelände, und ließ das Feld Tag und<br />

Nacht bewachen. Doch damit war der Widerstand nicht zu<br />

Ende: Mit einer Riesenzwille schossen Umweltaktivisten dieses<br />

Frühjahr vom Zaun aus Biokartoffeln auf den Versuchsacker.<br />

Dabei handelte es sich um eine symbolische Aktion, denn anwachsen<br />

werden diese kaum. „Dafür gab es ganz nette Bilder<br />

für Presse und Fernsehen“, meint Ilse Lass von der Bürgerinitiative<br />

„Müritzregion gentechnikfrei“.<br />

Lass ist Biologin und beschäftigt sich seit langem mit der Gentechnologie.<br />

Die Versuche an Amflora-Kartoffeln lehnt sie wegen<br />

ihrer unabsehbaren Folgen für die Gesundheit ab. Denn<br />

diese enthalten als Marker Resistenzen gegen die Antibiotika<br />

Neomycin und Kanamycin, das gegen multiresistente Tuberkulose<br />

eingesetzt wird. Sollten die Resistenzgene in die Umwelt<br />

und bis in die Krankheitserreger gelangen, stünden noch weniger<br />

wirksame Medikamente gegen diese zur Verfügung. „Es<br />

gibt genauso eine konventionell gezüchtete Kartoffel mit denselben<br />

Eigenschaften: Die ‚Eliane’ der niederländischen Firma<br />

Avebe“, so Lass.<br />

Hände weg vom Kartoffelfeld<br />

Sorgen macht der Biologin auch die Verwechslungsgefahr:<br />

„Die Amflora-Kartoffel sieht aus wie eine Kartoffel, aber sie<br />

hat andere Eigenschaften“, erklärt sie. „Sie trägt ein Bakteriengen<br />

in sich, das da gar nicht reingehört.“ Lass erinnert sich an<br />

den Versuch vor zwei Jahren, als der Bauer ebenfalls auf 20<br />

Hektar Land dieselben Kartoffeln anbaute - damals jedoch ohne<br />

Genehmigung. Als das herauskam, wurden sie mit schwerem<br />

Gerät beseitigt. Doch danach hätten noch zentnerweise<br />

Kartoffeln auf dem Feld gelegen, die von Menschen aufgesammelt,<br />

aufgegessen, an ihre Tiere verfüttert oder sogar einpflanzt<br />

worden seien.


0.36 __ //// TITELTHEMA<br />

Davor schützt dieses Jahr der Zaun, ebenso wie um die Anlagen<br />

des Genversuchgartens. Sollten die Pflanzen, an denen derzeit<br />

geforscht wird, jedoch einmal kommerziell zugelassen werden,<br />

werden kaum Zäune und Vogelschutznetze um jedes Feld gezogen<br />

werden. Die Imkerin Magret Peters warnt schon jetzt davor,<br />

dass Bienen den Pollen und damit das Erbmaterial der<br />

Genpflanzen in die Umwelt und den Honig trügen. Gerade bei<br />

starker Trockenheit oder fehlender Fruchtfolge fielen vermehrt<br />

Läuse über das Getreide her. Bienen nähmen den austretenden<br />

Saft der Pflanze, den sogenannten Honigtau, auf. Auch der<br />

Pollen stelle eine Verunreinigungsquelle dar: „Obschon von<br />

minderwertiger Qualität ist der Maispollen lebenswichtig für<br />

die Ernährung der Brut, der heranwachsenden Bienen, aber<br />

auch für die ausgewachsenen Tiere, um sich ein Fettpolster für<br />

den Winter anzulegen“, erklärt Peters.<br />

Mit dem Verbot der kommerziellen Genmaisfelder fällt zumindest<br />

ein Risiko weg. Die Landwirte aus Regionen mit starkem<br />

Maiszünslerbefall, wie etwa aus dem Grenzgebiet zum Oderbruch,<br />

müssen dennoch nicht um ihre Maisernte bangen, denn<br />

zum Bt-Mais gibt es durchaus Alternativen: „In Regionen, in<br />

denen gepflügt wird, gibt es kein Problem mit dem Schädling“,<br />

erklärt Bernd Hommel, Agrarwissenschaftler am Julius Kühn<br />

Institut. Denn dadurch würden die Larven, die in den Stengelresten<br />

im Boden überwintern, an die Oberfläche befördert und<br />

stürben.<br />

Landwirte, die dies wegen der Bodenerosion ablehnen oder an<br />

Orten leben, an denen die Erde zu schwer ist, können die Falter<br />

mittels eines Eiparasiten bekämpfen oder – wenn ihnen gar<br />

nichts Besseres einfällt - die chemische Keule gegen ihn einzusetzen.<br />

Besonders gefördert wird die Verbreitung der Schädlinge<br />

durch großflächige Monokulturen, wie sie hierzulande üblich<br />

sind. Und so birgt die Frage nach Alternativen zur Gentechnik<br />

auch immer die nach einer Rückkehr zu einer naturnäheren<br />

Landwirtschaft.<br />

---<br />

Vom 9. bis 15. September 2009 planen Gentechnikgegner aus<br />

ganz Deutschland gemeinsam mit Gruppen und Einzelpersonen<br />

vor Ort Aktionstage in Lüsewitz.<br />

Genehmigte Versuche an Genpflanzen in MV im Überblick<br />

_ Die Professorin Inge Broer forscht im Genversuchsgarten an gentechnisch verändertem Weizen, der gegen Weizenflugbrand,<br />

einen Pilz, resistent ist.<br />

_ In Groß-Lüsewitz beobachteten Broer und Mitarbeiter, wie genmanipulierte Kartoffeln auf dem Acker den Winter überstehen.<br />

_ In mehreren Versuchen untersucht Broer die Eigenschaften der Cyanophycin-Kartoffel, die in der Zukunft unter anderem zur<br />

Kunststoffherstellung verwendet werden soll. Die Aminosäure Aginin, ein Sekundärprodukt des Cyanophycins, soll dem Futtermittel<br />

beigefügt die Gesundheit der Tiere fördern und den Stickstoffgehalt im Harn mindern.<br />

_ Ebenfalls im Genversuchsgarten wächst eine Kartoffel, aus der ein Impfstoff gegen eine Kaninchenseuche entwickelt werden<br />

soll.<br />

_ Karl-Heinz Kogel, Professor für Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschutz an der Gießener Universität, wiederholt dort außerdem<br />

seinen Versuch an Gengerste. Forschungsgegenstand sind mögliche Auswirkungen der Genpflanze auf Bodenorganismen,<br />

insbesondere auf die nützlichen Bodenpilze Mykorrhiza.<br />

_ In Bütow baut der Pflanzenzüchter Karl-Heinrich Niehoff auf einem 20ha großen Acker für BASF die umstrittene Stärkekartoffel<br />

Amflora an. Die Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner hatte im Frühjahr den Versuchsanbau erlaubt, die Genehmigung<br />

ihres kommerziellen Anbaus durch die EU steht kurz bevor.<br />

_ In Gerdshagen (Gemeinde Lohmen) baut ein Landwirt für Monsanto Bt-Mais der Sorte MON810 und herbiszidresistenten<br />

Mais der Sorte NK603 an. Eine Kreuzung der beiden Sorten steht ebenfalls auf dem Acker.


Gentechnik-Verflechtungen in den neuen Bundesländern<br />

MMecklenburg-Vorpommern kl b V<br />

Fassung g Juni 2009<br />

Umweltinstitut München e.V. (www.umweltinstitut.org)<br />

FINAB gründet AgroBioTechnikum<br />

FINAB e.V. e V AgroBioTechnikum Groß Lüsewitz<br />

Verein zur Förderung Innovativer und Nachhaltiger<br />

AgroBiotechnologie<br />

g g<br />

Vorstand:<br />

Prof. Dr. Inge Broer (Universität <strong>Rostock</strong>)<br />

Stellvertreter<br />

Stellvertreter:<br />

Dr. Heike Mikschofsky (Universität <strong>Rostock</strong>)<br />

Schatzmeisterin:<br />

Heike Baaske (Universität <strong>Rostock</strong>)<br />

Schriftführer:<br />

Dr. Holger Junghans (NORIKA GmbH)<br />

Mitglieder uu.a.: a :<br />

Kerstin Schmidt (u.a. BioMath GmbH, Biovativ, BioTechFarm, BioOK)<br />

Prof. Dr. Wilhelm Flamme (Julius-Kühn-Institut)<br />

Gemeinde Sanitz<br />

Nordsaat Saatzucht GmbH<br />

PROPHYTA GmbH Malchow / Poel<br />

Prof. Dr. Manfred Schwerin (FBN Dummerstorf)<br />

NPZ Lembke Malchow / Poel<br />

Dr. Wolfgang-Bernhard Souffrant (FBN Dummerstorf)<br />

BTL Bio-Testlabor GmbH Sagerheide<br />

NORIKA GmbH<br />

FBN Dummerstorf<br />

D t f<br />

Dr. Peter Junghans (FBN Dummerstorf)<br />

Prof. Dr. Reinhard Walther (Universität Greifswald)<br />

Dr. Josef Vinnemeier (Roche ( Diagnostics g GmbH) )<br />

Dr. Jan-Wolfhard Kellmann (Max Planck Inst. f. Chem. Ökol.)<br />

Kürzinger GbR - agro nord (Robert Kürzinger)<br />

KWS Saat AG<br />

Prof Prof. Dr Dr. Peter Leinweber (Steinbeis (Steinbeis-Transferzentrum, Transferzentrum Universität<br />

<strong>Rostock</strong>)<br />

Universität <strong>Rostock</strong><br />

Agrar- und Umweltwissenschaftl. Fakultät<br />

IInstitut tit tfü für LLandnutzung d t<br />

Agrarbiotechnologie<br />

Biovativ: Tochterunternehmen<br />

des Vereins FINAB<br />

Steinbeis-Transferzentrum Soil Biotechnology gy<br />

Biovativ<br />

Prof. Dr. Inge g Broer<br />

mbH<br />

FMV (Forschungsverbund Mecklenburg Mecklenburg-Vorpommern<br />

Vorpommern<br />

e.V.)<br />

Vorstand:<br />

Prof. Dr. Inge g Broer<br />

Finanzierung: Bundesministerium für<br />

Bildung und Forschung<br />

Projektverbund BioOK<br />

Geschäftsführerin: Kerstin Schmidt<br />

BioMath GmbH<br />

Geschäftsführerin: Kerstin Schmidt<br />

Biovativ<br />

Geschäftsführerin: Kerstin Schmidt<br />

Gesellschaftervorsitzende: Prof. Inge Broer<br />

Julius Kühn-Institut (ehemals Biologische Bundesanstalt BBA)<br />

Universität <strong>Rostock</strong> (Fakultäten Mathematik und Agrar)<br />

Steinbeis-Transferzentrum Soil Biotechnology<br />

Geschäftsführer: Prof. Leineweber<br />

BTL Bio-Testlabor GmbH Sagerheide<br />

Julius Kühn Kühn-Institut Institut (ehemals<br />

Gesellschafter u.a.<br />

Biologische Bundesanstalt BBA)<br />

Bundesamt für Verbraucherschutz<br />

und Lebensmittelsicherheit (BVL)<br />

en<br />

ZKBS<br />

örde<br />

Bundesinstitut für<br />

Risikobewertung (BfR)<br />

Beh<br />

Europäische Behörde für<br />

Lebensmittelsicherheit (EFSA)<br />

Legende:<br />

Betreiberin des<br />

AgroBioTechnikums<br />

Landgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern<br />

mbH<br />

Aufsichtsratsvorsitzender<br />

Dr. Till Backhaus<br />

Minister für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Gesellschafter u a<br />

Land Mecklenburg-Vorpommern 50,50 %<br />

Land Mecklenburg-Vorpommern<br />

Mecklenburg Vorpommern<br />

Wissenschaftlicher Beirat Umweltministerium<br />

Wissenschaftlicher Beirat Landwirtschaftsministerium<br />

personelle / organisatorische Verflechtung<br />

finanzielle Verflechtung<br />

Verbindung<br />

FOTO: JÖRG BERGSTEDT ___// GROß LÜSEWITZ | ZUSAMMENSTELLUNG INFOGRAFIK: ANDREAS BAUER, UMWELTINSTITUT MÜNCHEN


0.38 __ //// TITELTHEMA | REZENSION: GESEHENES<br />

Politisch essen<br />

JENS LANGER<br />

An einem Maiabend landen wir <strong>Rostock</strong>erInnen auf dem<br />

„Ulenkrug“, einem Ausbau von 17159 Stubbendorf bei Dargun.<br />

Wir wollen wieder einmal bei der mecklenburgischen Präsentanz<br />

der Europäischen Kooperative „Longo mai“ reingukken<br />

und uns informieren, wie es um landwirtschaftliche Entwicklungen<br />

in der Region steht. Schockierendes Ergebnis: Der<br />

Bodenpreis wird von Großflächenkäufern immer höher getrieben.<br />

Der uns bekannte Agrarwirt kann nicht mithalten, und<br />

der uns unbekannte Immobilist mit der dicken Brieftasche<br />

zeigt vorerst sein Gesicht nicht. Dazu Ferkelproduktionen<br />

enormer Ausmaße im stillen Lande MV, das doch allen gut tun<br />

soll, den Tieren aber anscheinend nicht - und wem alles noch<br />

schließlich nicht!<br />

Es beginnt zu dämmern, als wir an die Tafel zum Nachtmahl<br />

gehen. Das klingt gravitätisch altfränkisch und ist rasant aktuell.<br />

Der Tisch steht im Freien neben der Scheune. Es wird nicht<br />

gegrillt. Wir essen Gemüsepfanne vom Hof und Dorsch aus<br />

Norwegen, den Angler des Ulenkrugs von dort mitgebracht<br />

haben. Die Idylle ist keine oder weltweit. Auf diesem Acker<br />

wächst auch die europäische Bürgerrechtsbewegung, deren Teil<br />

die Frauen und Männer vom Ulenkrug sind. Die <strong>Rostock</strong>er haben<br />

sich unter fünfzehn Hofbewohner gemischt, und das Gespräch<br />

breitet sich aus (der Duft des Essens ebenfalls). Ohne<br />

dass die Aufmerksamkeit für das Nachtmahl nachlässt und der<br />

Wein übergangen wird, geht es weiter um die Situation in der<br />

Region. Zwischendurch zur Abkürzung des Verfahrens sprechen<br />

auch schon einmal Hofbewohner Französisch miteinander,<br />

eine Mehrsprachigkeit, in die die Kinder von klein auf hineinwachsen.<br />

Politisch Lied - garstig Lied ?<br />

Politische Lieder sollen garstig sein. Drückt politisches Essen<br />

auf den Magen? Es wäre gut, wenn das häufiger passierte: Die<br />

Massen billigsten Fleisches und menschlicher Heißhunger darauf<br />

oder unsere Gewöhnung daran sind höchstpolitisch (siehe<br />

oben!). Auf diesem Gebiet grassiert eine Politikverdrossenheit,<br />

die das Thema kaum auf den Tisch kommen lässt. Aber immer<br />

mehr Putenkeulen und Hähnchenschenkel zu Dumpingpreisen!<br />

In Stubbendorf setze ich mich gern an den Tisch. Was darauf<br />

kommt, wird zu auskömmlichen Preisen verkauft und gekauft.<br />

Und die Debatten sind kurz, medium oder durch, jedenfalls<br />

sind sie präsent.<br />

Die Situationen und die Gesprächslagen sind verschieden, aber<br />

ein Tisch ist dabei. Andrè Appel, ein französischer Protestant,<br />

hat vor fünfzig Jahren Jugendlichen geraten, die ihn nach den<br />

Bedingungen für eine Reformation oder Revolution fragten:<br />

„Ihr braucht nur einen Tisch.“<br />

Bei dem Konzert eines bekannten niederländischen Barockensembles<br />

im entlegenen transilvanischen Dorf Trappold/Apold<br />

kam die Musik zu Menschen, die vielleicht noch nie ein professionelles<br />

Konzert erlebt hatten, und nun passiert es mit ihnen.<br />

Da sind welche zu ihnen gekommen und machen Musik<br />

für sie. Die dringt nun in Herz und Gemüt, quillt über und<br />

wird zum Rhythmus ihrer Hände beim Applaus und zum Ausdruck<br />

ihrer strahlenden Augen. Im wilden Sommergarten voller<br />

Wärme ist danach am späteren Abend eine lange Tafel gedeckt.<br />

Jetzt zeigt sich das Königreich der Gastfreundschaft.<br />

Diese nächtlichen Stunden auf dem verwunschenen siebenbürgischen<br />

Pfarrhof ist wiederum keine Idylle, jedenfalls keine<br />

selbstverständliche. Die Wunden des rasanten Exodus der Siebenbürger<br />

Sachsen nach Deutschland und Österreich sind in<br />

den mürben Gebäuden und verlassenen Seelen sichtbar. Eine<br />

Gemeinschaft ist aus ihrer Kultur abgereist. Was jetzt an Kultur,<br />

Kommunikation und Festmahl sich ereignet, kann darum<br />

nicht selbstverständlich sein. Dieses Geschehen heute ist eine<br />

Warnung an die Gegenwärtigen. Lasst euch nicht durch Legenden<br />

aus eurem Alltag verführen, und macht es euch nicht<br />

leicht! Nach der Selbstauflösung der alten Gemeinschaft und<br />

nach dem Verlust der Verlässlichkeit muss vom Brot bis zum<br />

Konzert alles hart erarbeitet werden im Geist von Zukunft und<br />

Offenheit, die niemand für sich pachten kann. Darum freuen<br />

sich die Dörfler nach programmierter Resignation, Flucht der<br />

Nachbarschaft und oft erlebter Vergeblichkeit.<br />

Denn neben der Musikgruppe sind auch Jugendliche aus einer<br />

politisch ganz anderen Koalition der Willigen zu ihnen gereist,<br />

die mit Siebenbürgen etwas anfangen können und Dank ausdrücken<br />

möchten: Praktikanten aus Sibiu und Dresden, Neusiedler<br />

aus Münster und Polen, Gäste aus Skandinavien und<br />

Deutschland. In ein Dorf am Rande der Magistralen, herbeigewünscht,<br />

herbeigefahren oder herbeigezaubert! Wir müssen an<br />

der Tafel nicht über Politik reden. Wir sind Politik, Einsatz für<br />

die Polis, die bewohnte, organisierte Gegend. Jetzt freuen wir<br />

uns alles Gelungenen, essen und trinken mit vertrauten und<br />

fremden Personen, als wäre jede/r ein Teil der/s anderen.<br />

Was auf die Beine stellen - Kommunikation auf die<br />

Zunge legen<br />

Seit einem guten Jahr gibt in der Region um Hermannstadt/Sibiu<br />

im selben Land einmal im Monat das Transilvanian<br />

Brunch. Das Treffen beginnt um 11 Uhr SOESZ und endet gegen<br />

15 Uhr. Die Erwachsenen zahlen einen kleinen Obolus,<br />

Kinder sind gratis dabei. Auf der Tafel werden einheimische<br />

Gerichte und Getränke angeboten. Die Köchin ist Ungarin,<br />

und aus der Milch ihrer 60 Ziegen zaubert Luijza Boldizsar zusammen<br />

mit ihrer Co-Unternehmerin Gabriela Cotaru Käse,<br />

der jedes Vorurteil gegenüber Produkten aus Ziegenmilch auf<br />

der Zunge zergehen lässt.


Alkohol muss übrigens extra bezahlt werden, wenn es ihn überhaupt<br />

gibt. Anliegen dieses Monatstreffens ist es, Zukunftsagenten<br />

zusammenzuführen, Menschen also, die nicht kulturelle<br />

Sonnenuntergänge begehen möchten, sondern Land und<br />

Ideen beackern wollen für kommende Generationen. Diese<br />

Leute sollten ihre Partnerschaften fürs Kommende kennen. Es<br />

kommen 20 Gäste, auch 100 können es sein, aber es musste<br />

auch schon abgesagt werden, weil der Anmeldungen zu wenige<br />

waren. Für Urlauber die nächsten Termine: Metis/Martinsdorf<br />

Sommertheater wetterfest<br />

CORNELIA MANNEWITZ<br />

Wetterfest überdacht und im Windschatten segelt „That's<br />

Broadway“. Während draußen in einer Werfthalle geparkt und<br />

geshoppt werden kann, die „Residenz Warnowblick“ kranbewehrt<br />

mit Eigentumswohnungen individuellsten Zuschnitts<br />

um solvente Kundschaft wirbt und gegenüber durch die zerschlagenen<br />

Fenster des Kulturhauses der Neptunwerft der<br />

Wind pfeift, kann in der Broadway getauften Werkshalle<br />

nichts passieren. Schon auf dem Vorplatz wird man zu demokratischer<br />

Currywurst mit Pommes mit Straßenlärm beschallt,<br />

in den sich Fetzen von „New York, New York“ mischen. Nun<br />

müsste nur noch jemand erzählen, der Broadway sei eine Fußgängerzone<br />

(übrigens danke, liebe Realität: Er wird es gerade,<br />

in Teilen)...<br />

Aber es wird ja auch nicht darüber geredet, dass es am Broadway<br />

neben dem Mainstream Off- und Off-Off-Theater mit intelligiblen<br />

Programmen gibt, genauso wie Hollywoods Drehbuchschreiber<br />

manchmal für höhere Löhne streiken. Und<br />

schon gar nicht, dass die meisten Musicals ein gerüttelt Maß<br />

Sozialkritik enthalten: Aus „A Chorus Line“ über die Erbarmungslosigkeit<br />

der Jobsuche, zumal in einem Metier, in dem<br />

ohnehin Narzissmus und Ausgrenzung herrschen, wird nur das<br />

Finale gewählt. „Anatevka“ über die Gratwanderung jüdischen<br />

Lebens im zaristischen Russland wird mit zwei Szenen zitiert,<br />

die gerade einmal entweder nicht nach Pogrom riechen oder<br />

eben stark desodoriert werden: Das Publikum klatscht freudig,<br />

als bei „Zum Wohl!“ die Russen auftauchen und zum Tanz auffordern<br />

(im Musical selbst gehen an dieser Stelle alle Lampen<br />

an).<br />

Von „West Side Story“, wo sich Latinos im Land der so genannten<br />

unbegrenzten Möglichkeiten verirrt haben, ist gar nur eine<br />

Tanzfantasie übrig; „I like to be in America ... everything's free<br />

in America ...“, den Gesang der Naiven, intonieren die Musiker<br />

beim Stimmen, sonst kommt er nicht wieder vor. Dafür gibt es<br />

im Saal Schulterfreiheit (einige rücken doch tatsächlich im<br />

Abendkleid an) und mit ihr alles andere, was Musiktheater so<br />

hassenswert macht: Posieren wie lange vor der Erfindung des<br />

Regisseurs und doppelte Portionen der feigen Schwüle, die<br />

kleinbürgerlich als Erotik gilt.<br />

Man muss sich natürlich fragen, ob man sich ärgern soll, wenn<br />

(25.7.9.), Hosman/Holzmengen (29.8.), SUPRISE LOCATI-<br />

ON (26.9.). Weitere Informationen gibt es unter:<br />

www.kulturland.net.<br />

Suppenküchen sind hartes Essen, zwangsverordnet von der<br />

herrschenden Politik und der diese beherrschenden Wirtschaft.<br />

Darüber wird noch zu schreiben sein.<br />

Broadway-Klischees schlecht gelingen. Über das Musikalische<br />

müssen auch Berufenere schreiben. Aber Kunst ist nicht so eindimensional.<br />

Wer sich in diesem Genre auf die Musik zurückziehen<br />

will, wird nicht einmal ihr gerecht. „That's Broadway“<br />

ist so gehalten wie die „Broadway“-Buchstaben, die als, zugegeben,<br />

hübscher Reklamegag überall in der Stadt liegen: flach.<br />

Nun könnte man ja annehmen (auch anhand einiger Besorgnis<br />

erregender Rezensionen in der Lokalpresse, die mit „Berlin ist<br />

groß und Neustadt klein“ beginnen), auch die sozialen Verwerfungen<br />

der Endzwanziger in Kästners Roman hätten sich in<br />

„Emil und die Detektive“ auf dem Broadway etwa in einem<br />

Clash of Cultures aufgelöst und es bliebe einem nur, wehmütig<br />

an die Berliner Volksbühne zu denken, wo „Emil“ letztens sogar<br />

explizit in einer Inszenierung mit Alfred Döblins „Berlin<br />

Alexanderplatz“ verschränkt wurde.<br />

Aber das ist nicht so. „Emil“ ist richtig gut. Er hat Komplexität<br />

und Tempo, eine Menge nebensächliche Dallerei zum Entzükken<br />

des kindlichen Publikums, auch mal eine Länge, besonders<br />

bei den Songs, aber die ist zur Erholung da, und derweil kann<br />

die Beweglichkeit des Bühnenbildes genossen werden, unter<br />

anderem mit der perfekten Illusion eines abfahrenden Zuges<br />

und dem nachfolgenden filmreifen Übergang in die Totale des<br />

einzelnen Abteils. Und man stellt wieder mal fest, dass Bernd<br />

Hölscher ein toller Schauspieler ist: Wie er gegenüber den Hotelpagen<br />

stimmlich auch noch den Löwen spielt, ist hörenswert<br />

und fügt der Figur des Grundeis Nuancen hinzu, die sie in der<br />

literarischen Vorlage gar nicht hat. (Sorry, die anderen sind natürlich<br />

auch alle sehr gut!)<br />

Positiv bleibt der Eindruck: Alle Sparten sind wichtig. Das ist<br />

für <strong>Rostock</strong> auch schon eine Erkenntnis, aber so künstlerisch<br />

endogen denkt ja nicht jeder. Sommertheater bringt Geld und<br />

ist daher der Traum aller Strategen, laut denen sich Kunst selbst<br />

finanzieren muss. Das hier muss aber auch schon vorher ganz<br />

schön gekostet haben: Die Bestuhlung ist top, die Sicht tadellos,<br />

die mobilen Toiletten besser als jede fest installierte in irgendeinem<br />

<strong>Rostock</strong>er Theaterbau. Allerdings: Keine Fahrradständer.<br />

Hoffentlich verludert das Volkstheater nicht auf dem<br />

Broadway.


0.40 __ //// INTERNATIONALES | TEZENSION: GELESENES<br />

Gedanken zum Kommunalwahl-<br />

recht für Nicht-EU AusländerInnen<br />

BJÖRN KLUGER<br />

Ausgangslage<br />

In der Bundesrepublik Deutschland sind alle Deutschen im<br />

Sinne des Grundgesetzes (Art.116 Abs. 1 GG) aktiv und passiv<br />

wählbar. In vielen Bundesländern besteht die Möglichkeit einer<br />

Wahlbeteiligung auch für junge Menschen ab dem 16.Lebensjahr<br />

für die Kommunalwahl und generell für die Europawahl.<br />

Den Deutschen gleichgestellt wurden EU-Ausländer, die seit<br />

1992 an den Kommunalwahlen und seit 1994 auch an den<br />

Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen können.<br />

Grundlage dafür bildet das „Maastricht-Urteil“ von 1993 des<br />

Bundesverfassungsgerichtes, das den Begriff des „deutschen<br />

Staatsvolkes“, also die Kopplung des Wahlrechts an die Staatsangehörigkeit<br />

durchbrochen wurde. Eine weitergehende Ausweitung<br />

des Wahlrechts ist bislang an der rigiden Auslegung<br />

seitens des Bundesverfassungsgerichtes gescheitert, mit der Argumentation,<br />

dass die Ausübung staatlicher Macht auf das<br />

„deutsche Staatsvolk“ zurückzuführen sein muss, außer eben<br />

der Ausnahme EU-AusländerInnen im Bereich der EU-Wahl<br />

und den Kommunalwahlen. Einzelne Vorstöße zum Kommunalwahlrecht<br />

für AusländerInnen auch aus Drittstaaten scheiterten<br />

Anfang der 1990er Jahre.<br />

Bekanntlich fanden in diesem Zeitraum verschiedene pogromartige<br />

Übergriffe auf AusländerInnen auf dem Territorium der<br />

Bundesrepublik mit mehreren Toten statt. Vor diesem Hintergrund<br />

war der politische Grundkonsens eher an der Konservierung<br />

staatlich konstruierter Volkszusammenhänge interessiert,<br />

die sich im Asylkompromiss 1992 widerspiegelte, als an einer<br />

Öffnung des Landes hin zu einer Einwanderungsgesellschaft.<br />

Seitdem wurde das Zuwanderungsgeschehen möglichst weit<br />

weg, an die Außengrenzen der EU verlagert. In Italien, Malta<br />

oder Zypern sowie Marokko werden die Flüchtlinge auf- und<br />

teilweise gefangen gehalten.<br />

Die Zahl der eingereisten AusländerInnen nahm somit seit den<br />

1990er Jahren durch rigide Zuwanderungsgesetze und durch<br />

strenge Maßstäbe einer Einbürgerung in der Bundesrepublik<br />

ab. Die Zahl der Asylsuchenden lag im Frühjahr 2009 mit<br />

1.835 Anträgen auf einem sehr geringen Niveau. Dazu sank im<br />

letzten Jahr die Zahl der Eingebürgerten von 113.000 des Vorjahres<br />

auf 94.500. Die Zahl der im Land lebenden AusländerInnen<br />

liegt momentan bei 8,8% der Gesamtbevölkerung – das<br />

sind 7,25 Mio Menschen.<br />

Ein Großteil dieser Menschen sind die in den 1960er Jahren<br />

eingewanderten Arbeitskräfte aus Italien, der Türkei, Jugoslawien<br />

oder Griechenland. Auf Grund ihrer Herkunft aus einem<br />

EU-Land dürfen sie, außer der türkischen Bevölkerungsgruppe,<br />

in Deutschland kommunal wählen. Gerade durch ihren Anteil<br />

von 25% an der Gesamteinwohnerzahl mit ausländischem<br />

Hintergrund stellt die türkische Gemeinde eine der größten<br />

Gruppe dar, die ihrerseits vom Wahlrecht in Deutschland<br />

gänzlich ausgeschlossen ist, wenn nicht zumindest die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft erlangt wurde.<br />

Der Anteil ausländischer EinwohnerInnen in einzelnen Kommunen<br />

in den Stadtstaaten und alten Bundesländern beträgt<br />

manchmal bis zu 40 %. Oftmals stellen die aus der Türkei eingewanderten<br />

Menschen einen Großteil der Bevölkerung mit<br />

Migrationshintergrund.<br />

Auch wenn im Bereich der neu installierten Integrationskurse<br />

ca. 500.000 Menschen teilnehmen, von denen eine Integration<br />

verlangt, aber gleichzeitig die Teilhabe im unmittelbaren Umkreis<br />

verweigert wird, lässt sich faktisch schlussfolgern, dass der<br />

politische Wille bewusst und auch unbewusst die Ausgrenzung<br />

einer erheblichen Bevölkerungszahl betreibt.<br />

Im Parteienspektrum wendet sich die CDU/CSU am konsequentesten<br />

gegen eine Ermöglichung von Mitbestimmung und<br />

Teilhabe von Menschen aus Ländern außerhalb der EU. FDP<br />

und SPD plädieren anscheinend für Öffnungsklauseln, die<br />

kommunale Mitbestimmungsregelungen eröffnen sollen.<br />

In dieser Hinsicht ein der Demokratie innewohnende systemintegratives<br />

Recht zu garantieren, ist derzeit zwar in der Diskussion,<br />

doch eine Änderung des Grundgesetzes scheiterte erst<br />

im Mai 2009 an der Großen Koalition und der FDP. Hier<br />

stimmte die SPD wie so oft gegen eigene Zielvorstellungen.<br />

Die Grünen und die Linkspartei verfehlten dadurch das nötige<br />

Quorum. In Deutschland ist so bezeichnenderweise immer<br />

noch das Abstammungsprinzip das entscheidende Medium demokratischer<br />

Partizipation und somit Kanalisationsinstanz für<br />

Machtzugang, -ausübung und -kontrolle.<br />

Es geht auch anders<br />

In einer Vielzahl von Staaten in Lateinamerika (u. a. in Uruguay,<br />

Argentinien, Chile, Ecuador) sowie in Neuseeland und


den USA gibt es seit längerem oder kürzerem sogar die Wahlmöglichkeit<br />

für AusländerInnen bei nationalen Wahlen. Verschiedene<br />

Übergangsfristen, die an den Aufenthalt gekoppelt<br />

sind, ermöglichen nach einem gewissen formellen Ablauf das<br />

Wahlrecht. Spanien eröffnet eine Anerkennung des Wahlrechts<br />

auf Gegenseitigkeit, also auf der Ebene von bilateralen Abkommen.<br />

So existieren momentan ca. 15 Verträge mit Staaten, vornehmlich<br />

in Lateinamerika und der Karibik, die die Wahlbeteiligung<br />

von Ausländern zwischen den beteiligten Staaten regeln.<br />

Sonderfall Chile<br />

Obwohl auch Chile die Beteiligung von Ausländern bei Wahlen<br />

im nationalen Rahmen zulässt, dies jedoch an den Wohnort<br />

koppelt, ist die Nichtwahlmöglichkeit von Exil-Chilenen kritisch<br />

zu betrachten. Hier wird nicht nur der Ausschluss von<br />

Exil-Chilenen bei jedweder Wahl im Heimatland mit der chilenischen<br />

Verfassung von 1980 betrieben. Aus Kalkül der konservativen<br />

Kreise wurden somit schon zur Diktaturzeit bis heute<br />

die traditionell eher links- bis liberal abstimmenden BürgerInnen<br />

ausgrenzt und der Wohnort als Voraussetzung zur Wahlbeteiligung<br />

gemacht. Gepaart mit der Nichtberücksichtigung<br />

beim Wahlrecht, wie z.B. in Deutschland, ist diese Gruppe<br />

komplett von Wahlen ausgeschlossen. Eine Paradoxie am Rande:<br />

Die Gesetzeslage in der DDR räumte ihnen Ende der<br />

Die uns angebotene Welt glokal. -<br />

Region und literarische Welt<br />

JENS LANGER<br />

Am 20. Juli wäre Uwe Johnson 75 Jahre alt geworden und ist<br />

schon mehr als 25 Jahre tot. Am 28. August wird Joachim<br />

Wittstock 70 Jahre alt und lebt in seiner Heimatstadt Hermannstadt/Sibiu<br />

im rumänischen Transsilvanien. Beide<br />

Schriftsteller sollen nicht miteinander verglichen werden. Es<br />

soll lediglich auf eine Gemeinsamkeit in der Herkunft ihres<br />

Schreibens verwiesen werden. Sie stammen aus randständigen<br />

Provinzen, nimmt man die europäischen Machtzentralen als<br />

das, was sie wohl auch gern wären, nämlich Mittelpunkt einer<br />

kommunikativen Kultur. Der eine aus dem Nordosten<br />

Deutschlands, der andere, der deutschprachigen Minderheit<br />

zugehörig, aus dem südöstlichen Europa.<br />

Johnson wurde geboren im heutigen Kamién Pomorski - „mit<br />

einem Akzentzeichen auf dem n“, betonte er - wegen der von<br />

der Wöchnerin gewünschten Nähe zu Mutter und Vater, die in<br />

Darsewitz am Westufer der Dievenow auf der Insel Wollin ei-<br />

1980er Jahre das kommunale Wahlrecht ein, dass ihnen heute<br />

in beiden Gesellschaften in Deutschland und Chile verwehrt<br />

bleibt.<br />

Fazit<br />

Öffnungsklauseln, die Teilnahme und Mitwirkung garantieren,<br />

die das Abstammungsprinzip durch ein Territorialprinzip (Geburtsland<br />

= Staatsbürgerschaft) ersetzen, oder die doppelte<br />

Staatsbürgerschaft etablieren - das sind Realitäten, die die Bundesrepublik<br />

zur Kenntnis nehmen muss, um zukünftig gewählte<br />

Parlamente auch wirklich zu legitimieren. Ein Ausschluss<br />

von bis zu einem Viertel der Wohnbevölkerung in einzelnen<br />

Kommunen oder die Missachtung der Realität von gut 4 Millionen<br />

gänzlich vom Wahlprozess ausgeschlossenen Menschen<br />

zeugt von einer antiliberalen Auffassung von Zuwanderung,<br />

Einwanderung und Teilhabe.<br />

Tatsache ist, dass in Einzelkommunen Minderheiten über<br />

Mehrheiten entscheiden, Die Verhinderung pluralerer Machtoptionen<br />

zeugt von Misstrauen und auch Angst der Mehrheitsgesellschaft,<br />

angestammte Zugangsmechanismen zu Entscheidungen<br />

weiterhin der weißen Schicht zu überlassen. Dem eine<br />

Option entgegenzusetzen wird also weiterhin eine Aufgabe der<br />

Selbstorganisation der MigrantInnen bleiben müssen.<br />

nen kleinen Bauernhof bewirtschafteten. Hier empfing der<br />

Junge auch am 9.September 1934 die Heilige Taufe. Seine Eltern<br />

lebten schon im vorpommerschen Anklam, wo er auch<br />

aufwuchs, bis die Familie vor der heranrückenden Front ins<br />

Mecklenburgische floh, zunächst zur Verwandtschaft in das<br />

kleine Dorf Recknitz mit seiner gewaltigen Kirche und entsprechenden<br />

Orgel, später in die nahegelegene Stadt Güstrow,<br />

in der Ernst Barlach (1870-1938) um seiner großen Kunst willen<br />

von hasserfüllten Nazigeistern verfemt worden war. Von<br />

diesem Ort aus ging Johnson in die Welt, von <strong>Rostock</strong> über<br />

Leipzig und Berlin (W) in die USA oder England, wohin er<br />

konnte und wollte. Die Kleinteiligkeit der Anfänge ist unübersehbar,<br />

die Weite will gewonnen und - von der Leserschaft -<br />

auch erlesen sein.<br />

Joachim Wittstock wurde in Hermannstadt/ Sibiu geboren. In<br />

Klausenburg/ Cluj studierte er Germanistik und Rumänistik,


00.42 __ //// REZENSION: GELESENES<br />

war Deutschlehrer und Bibliothekar, 1971-1999 Literaturhistoriker<br />

an einem Forschungsinstitut der Rumänischen Akademie<br />

der Wissenschaften in Hermannstadt. Sein Vater war<br />

der Schriftsteller Erwin Wittstock (1899-1962). Der fernvergessene<br />

Südosten verhält sich zu dem kulturell ebenfalls nicht<br />

überschätzten Nordosten komplementär, hier aber bürgerliche<br />

Verhältnisse samt den dazugehörigen Repressalien aus politischen,<br />

ideologischen und ethnischen Gründen, dort 1800 km<br />

gen Norden bescheidene wirtschaftliche Verhältnisse in der Familie<br />

einer Güstrower Witwe mit zwei Kindern. Ich möchte<br />

diese Feststellungen verstanden wissen als Elemente einer betont<br />

regionalen Verwurzelung beider Autoren in ganz verschiedenen<br />

kulturellen Kontexten, welche Bodenständigkeit sich<br />

freilich in keinem der Fälle zum Regionalismus als Selbstzweck<br />

entwickelte, vielmehr zielt sie auf Weite.<br />

Bei Johnson liegt es auf der Hand. Er wusste, wo er zu Hause<br />

war, ohne der Heimattümelei zu erliegen. Er stößt das Fenster<br />

zur Realität auf: Die schöne mecklenburgische Seelandschaft<br />

war doch auch Schauplatz von Judenpogromen, schon im Mittelalter<br />

und ab 1933, ist z.B. 1953 und 1956 von Menschen bewohnt,<br />

die mit Gewalt ideologische Attacken reiten, die andere<br />

bestehen oder auch nicht - im Vertrauen auf höchste Gerechtigkeit,<br />

durch Bestehen auf Wahrhaftigkeit oder beim Verlust<br />

von eigenständiger Orientierung mittels Überanpassung.<br />

Nicht zu vergessen diejenigen, die ehrlich auf eine neue Erde<br />

setzten. Der Mythos von Blut und Boden wird widerlegt, indem<br />

Johnson die Provinz durch Konfrontation und Diversität<br />

als Teil der internationalen Welt vorstellt, und der Weltgewandtheit<br />

zeigt er ihre Verwurzelung in der Region. Der Bildteppich,<br />

der so entsteht, ist gewebt aus einer Poetik der Unterschiede<br />

der jeweils anderen, e i n Werk, zugleich bodenständig<br />

und transkulturell.<br />

Johnsons Roman-Gebirge „Jahrestage“ steht dafür exemplarisch<br />

als Brücke zwischen den USA und Mecklenburg. Das<br />

Buch endet am 20.August 1968, einen Tag vor der Besetzung<br />

der Tschechoslowakei durch die Warschauer-Pakt-Armeen und<br />

erinnert dergestalt brutal an die Offenheit der Geschichte auch<br />

in überschaubaren Zeiträumen (U. Johnson, Jahrestage. Aus<br />

dem Leben von Gesine Cresspahl. 4 Bände, Frankfurt a. M.<br />

1970-1983).<br />

Joachim Wittstock ist ein urbaner Siebenbürger Sachse, und<br />

gern wird die europäische Kulturmetropole von 2007 selbstbewusst<br />

von altersher als Haupt- und Hermannstadt bezeichnet.<br />

Er ist der penible literarische Chronist seiner ethnischen Gemeinschaft<br />

und hat ihre leidvolle Geschichte notiert, ohne Versagen<br />

in den eigenen Reihen zu retuschieren. Seine Sache ist<br />

auch kein Isolationismus, so dass wir selbstverständlich viel<br />

vom Leben der rumänischen Gesamtgesellschaft mitbekommen.<br />

Sein Stil zeichnet sich durch protokollarische Strenge aus.<br />

Das oft umschwiegene Versagen auch der Evangelischen Kirche<br />

in Siebenbürgen gegenüber den Juden als älteren Geschwistern<br />

im Glauben benennt er deutlich.<br />

Seiner stilistischen Präzision entspricht es, wenn ein Anwalt die<br />

Hauptgestalt eines Romans über die Monate zwischen Herbst<br />

1945 und Sommer 1946 ist ( J. Wittstock, Bestätigt und besiegelt.<br />

Roman in vier Jahreszeiten, ADZ-Verlag:Bukarest 2003).<br />

Ihm geht es - mit einem anderen Buchtitel - um die uns angebotene<br />

Welt (ders., Die uns angebotene Welt. Jahre in Klausenburg,<br />

ADZ-Verlag:Bukarest 2007). Sorgfältig seziert er in diesem<br />

Werk Gesellschaft und Individuen in der Universitätsstadt<br />

Klausenburg/Cluj vor und nach 1960. Ein rumäniendeutscher<br />

Gesellschaftsroman über Liebe auch in Zeiten der Diktatur,<br />

Verweigerung von Anpassung und dieselbe pur, politische Abstrafung<br />

und Resignation, aber ebenso alle die Wege dazwischen.<br />

Für eine Art von „Kleiner Pathologie“ seiner Gemeinschaft<br />

notiert er auch die Spuren einer Rumänisierung seines Idioms.<br />

Wie Eginald Schlattner, aus dessen beeindruckendem freundlichen<br />

Schatten er durch seine originale Rekonstruktion der<br />

Wirklichkeit sowie eine wachsende Publizität und Leserschaft<br />

über Siebenbürgen hinaus heraustritt, stellt er Rumänien in<br />

schlimmer Zeit dar und verbindet es so mit der Welt. Der Unstern<br />

am damaligen europäischen Himmel ist über uns allen<br />

derselbe gewesen, und der Stern der Verheißung gehört gleichermaßen<br />

keiner Kultur exklusiv. An der Welt ist es, dieses<br />

Angebot von Lebenswirklichkeit zu ergreifen, wenn unser Kulturverständnis<br />

denn wirklich global sein will. Die lokalen und<br />

regionalen Kulturen werden international als immer selbstbewusster<br />

wahrgenommen und bilden damit eine notwendige<br />

Gegenbewegung zur unvermeidlichen Globalisierung. Diese<br />

Dialektik wird mit dem neuen Kunstwort „Glokalisierung“ zu<br />

bestimmen gesucht.<br />

Die erhellende Strenge der Diktion dieses politischen Protokollanten<br />

aus Profession und Konfession klärt uns via Siebenbürgen<br />

souverän und ohne Wehleidigkeit über die uns einst angebotene<br />

Welt auf. Damals schon war anderswo vieles anders,<br />

und heute scheint manchem die Welt neu geschaffen. Die Angebote<br />

müssen geprüft werden. Die literarische Fotografik des<br />

Künstlers Joachim Wittstock stellt das Beispiel einer kritischen<br />

Sondierung in einer Region dar, die des Austauschs mit anderen<br />

Landschaften bedarf, die ihrerseits durch die Begegnung<br />

mit dieser Geschichte, Kultur und Literatur nur reicher werden<br />

können.


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