Das Argument 91 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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464 Wolf gang Maiers<br />
faßtheit der Modalpersönlichkeit 19 unterschiedlicher ökonomischer<br />
Gesellschaftsformen mit wiederum spezifischen kulturellen Überbauten<br />
differiert.<br />
Desgleichen zeigen sozialepidemiologische Studien, daß intrakulturell<br />
die Beurteilung ein und derselben psychischen Äußerung als<br />
„normal" bzw. „gestört" nicht invariant erfolgt bzw. daß die Verteilung<br />
bestimmter Äußerungsformen über eine Gesellschaft tatsächlich<br />
schiefwinklig ist. 20<br />
Durch seine Beschränkung auf die Erscheinung vermag der positivistische<br />
Untersuchungsansatz solche Widersprüchlichkeit nicht aufzulösen<br />
— sie schlägt statt dessen um in die Begründung eines totalen<br />
Relativismus, letztlich in die Zurückweisung der Aufgabe, wissenschaftlich<br />
fundierte Kriterien der psychischen Gesundheit respektive<br />
Krankheit zu gewinnen.<br />
Die praktischen Konsequenzen dieses Verzichts liegen auf der<br />
Hand: Geht man davon aus — und dies wird innerhalb der Verhaltenstherapie<br />
im labeltheoretisch orientierten Ansatz von Ullmann<br />
und Krasner besonders offenkundig —, daß die Norm, deren Verletzung<br />
zum Etikett „psychisch gestört" führte, lediglich eine innerhalb<br />
der Pluralität der gesellschaftlich wirksamen Normen ist, so entsteht<br />
daraus im Verhältnis von Therapeut-Klient-Auftraggeber bezüglich<br />
des Therapiezieles ein nicht unbeträchtliches Entscheidungsproblem.<br />
Theoretisch stellt sich diese Sichtweise, derzufolge der objektivreale<br />
Sachverhalt psychischer Störungen aus der Wirkung von nicht<br />
weiter abgeleiteten sekundären Erscheinungen des ideologischen<br />
Überbaus — Normen, Erwartungen, askriptive Begriffe — konstituiert<br />
wird, als unhaltbare idealistische Position dar.<br />
Unstrittig kommt dem Label-Ansatz das Verdienst zu, auf die<br />
stigmatisierende Natur (bestimmter Formen) von psychiatrisch-psychotherapeutischer<br />
Praxis, auf die Ausbildung von Sekundärsymptomatik<br />
durch Hospitalisierung etc. aufmerksam gemacht und somit<br />
praktisch relevante Forschungsfragen initiiert zu haben. Indem aber<br />
die Realität des gesellschaftlichen Bewußtseins bzw. nur jener Sektor<br />
psycho(-patho-)logischer Begriffe und Bewertungen <strong>für</strong> die ganze Realität<br />
ausgegeben wird, werden die wirklichen Störungen der Persönlichkeit<br />
und ihrer Entwicklung als Auswirkung wirklicher materieller<br />
gesellschaftlicher Ursachen eskamotiert. 21<br />
19 Im Sinne des statistischen Begriffs des „Modus" — des häufigsten<br />
Wertes in einer Verteilung von Merkmalen — bezeichnet „Modalpersönlichkeit"<br />
die allgemeine Struktur psychischer Charakteristika, wie sie<br />
unter Absehung von der Variation der individuellen Charakteristika erscheint.<br />
20 Eine ausgezeichnete Darstellung der Ergebnisse sozial-epidemiologischer<br />
Überlegungen liefert H. H. Abholz in „Soziale Schicht und psychische<br />
Erkrankung". In: I. Gleiss et al., Soziale Psychiatrie?, Frankfurt/M.<br />
1973, S. 37 ff.<br />
21 Vgl. auch die „Kritik an der Definition psychischer Störungen als<br />
normabweichendes Verhalten" bei Gleiss, 1975, a.a.O., S. 37 f.<br />
DAS ARGUMENT, <strong>91</strong>/1975 ©