Das Argument 91 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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406 Dieter Henkel und. Dorothee Roer<br />
einzelne nicht in der Lage ist, den wissenschaftlichen Fortschritt seines<br />
Faches <strong>für</strong> seine Arbeit zu nutzen 148 . Die Konsequenz ist eine<br />
gegenüber öffentlichen Versorgungsinstitutionen erheblich verminderte<br />
Effizienz. <strong>Das</strong> wird vor allem zur Folge haben, daß die Masse<br />
der Patienten aus der Arbeiterklasse, selbst wenn die GVK bezahlen<br />
würde, nicht in den Genuß kassenpsychologischer Leistungen<br />
kommen wird, weil deren zumeist schwere Krankheitsformen 103 die<br />
geringe Leistungsfähigkeit der psychologischen Kassenpraxis weit<br />
überfordern.<br />
Sowohl durch die organisatorische Form (Einzelpraxis) als auch<br />
durch die inhaltliche Festlegung der Tätigkeit des „nichtärztlichen<br />
Psychotherapeuten" auf Heilkunde im engen Sinne 104 werden psychiatrische<br />
Prävention und Nachsorge enorm erschwert, wenn nicht gar<br />
unmöglich gemacht 105 . Durch die Praxis als Regelfall in der ambulanten<br />
psychiatrischen Versorgung wird zudem der passive Charakter<br />
100 des Gesundheitswesens noch weiter verstärkt. Der Therapeut<br />
sucht nicht den Patienten auf, wie es bei ambulanten Behandlungsteams<br />
der Fall wäre, sondern der Patient sucht den Therapeuten.<br />
Auf diesem Weg stößt er mit der Einrichtung der kassenpsychologischen<br />
Praxis auf weitere klassenspezifische Barrieren, die ihm die<br />
Chance einer frühzeitigen Behandlung vor allem dann verbauen,<br />
wenn er aus der Arbeiterklasse stammt 107 .<br />
Die negativen Auswirkungen der Unterordnung der therapeutischen<br />
Arbeitsbedingungen unter das Interesse der Psychologen nach<br />
Mehrung seines Einkommens auf die Behandlung der Kranken sind<br />
aus der Arztpraxis hinlänglich bekannt 108 . Vor allem aber wird die<br />
Möglichkeit zufriedenstellender Behandlung durch die Bindung der<br />
„nichtärztlichen Psychotherapeuten" an die GKV erheblich eingeschränkt.<br />
Der Kassenpsychologe wird gar keine andere Wahl haben,<br />
als die gesundheitspolitischen Entscheidungen in seiner Praxis zu<br />
reproduzieren, die von den Verwaltungsgremien der Krankenkassen<br />
gefällt werden, und zwar bei der derzeitigen Machtstruktur in der<br />
102 Vgl. auch Gaedt, Ch. und Schagen, U., a. a. O., S. 9.<br />
103 Vgl. Berndt, H., a. a. O.<br />
104 S. „Anhörung zum nichtärztlichen Psychotherapeuten", a. a. O.,<br />
S. 8—9.<br />
105 Mit der Festlegung des „nichtärztlichen Psychotherapeuten" auf<br />
Ausübung von Heilkunde im engen Sinne werden zudem sozialwissenschaftliche<br />
Modellvorstellungen von Entstehung und Behandlung psychischer<br />
Krankheiten zugunsten eines medizinischen Krankheitsmodells aufgegeben,<br />
was erhebliche Konsequenzen auch <strong>für</strong> die Art und Inhalte<br />
der psychotherapeutischen Arbeit hat.<br />
106 Vgl. Moeller, M. L.: Krankheitsverhalten bei Psychischen Störungen<br />
und die Organisation psychotherapeutischer Versorgung. In: <strong>Das</strong> <strong>Argument</strong>,<br />
Nr. 71, 1972, S. 88—109.<br />
107 Vgl. Gleiss, I. et al., a. a. O., S. 105—193.<br />
108 Vgl. Deppe, H.-U.: Strukturwandel der ärztlichen Praxis, a. a. O.<br />
DAS ARGUMENT <strong>91</strong>/1975 ©