Das Argument 91 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Normalität und Pathologie des Psychischen 4<strong>91</strong><br />
lichem Sinn bei bestimmten Arten der Lebenserhaltung eine notwendige<br />
und daher immanent unaufhebbare pathogene Konstellation<br />
liegt, die im gesellschaftlichen Mitglied als Disposition erscheint;<br />
welches die — ihrerseits zu qualifizierenden — psychischen Mechanismen<br />
sind, die im gesellschaftlichen Durchschnitt eine Realisierung<br />
der Pathogenität im einzelnen verhindern, d. h. diesen davor „bewahren",<br />
auch <strong>für</strong> die bestimmte Form der Lebenserhaltung unter<br />
den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen „untauglich" zu werden.<br />
Umgekehrt hat der Ansatz die Bedingungen zu erforschen, die<br />
diese Mechanismen bei jenem Teil der Gesellschaft, der tatsächlich<br />
psychisch erkrankt, versagen lassen.<br />
Über diesen Weg der Forschimg läßt sich eine differenzierte Ätiopathogenese<br />
begründen, die prä-therapeutische Kriterien <strong>für</strong> die<br />
Qualität der „Abweichungen" — von welchem Typus — definiert<br />
und auf dieser Basis die Angabe der möglichen und erforderlichen<br />
therapeutischen Ziele erlaubt.<br />
<strong>Das</strong> maximale Ziel findet seine Grenze in der „Etablierung" eines<br />
Entwicklungsstandes psychischer Integrität, der sich dem historisch<br />
Möglichen „asymptotisch annähert". Dieses Ziel ist durch das üblicherweise<br />
verfolgte Therapieziel nicht abgedeckt.<br />
Es kann dies dort nicht sein, wo ein Klient (und mit ihm der „Auftraggeber")<br />
den Therapeuten mit seiner berechtigten Erwartung<br />
konfrontiert, vom Leidensdruck völliger psychischer Desorganisation<br />
befreit zu werden, was den Therapeuten zum sofortigen, auch pragmatisch<br />
orientierten Handeln zwingt. In dem Maße, wie der Klient<br />
orientierungslos ist, d. h. hinter das in utilitaristischer Praxis erreichte<br />
Niveau gesellschaftlicher Lebensführung und des diese widerspiegelnden<br />
und regulierenden Psychischen fällt 61 , ist er zu modaler<br />
Lebenspraxis unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen<br />
zu befähigen — nötigenfalls mittels solcher (verhaltenstherapeutischer<br />
o. ä.) Verfahren, deren Funktionsweise theoretisch noch nicht<br />
erfaßt ist.<br />
Ob Therapie mit der Befähigung zu modaler gesellschaftlicher<br />
Praxis abgeschlossen ist oder ob sie noch den weiteren Schritt gehen<br />
kann und muß: Anstöße zur Aufbrechung der gerade restituierten<br />
Orientierungsweise zu liefern, ist unter formal-therapeutischem Gesichtspunkt<br />
immer auch in Abhängigkeit des „Falles" (Typ der Störung)<br />
zu entscheiden. Dabei gilt einschränkend: der Ort, um tenden-<br />
61 Fiktiv denkbar wäre die „Überspitzung" des an sich <strong>für</strong> kapitalistische<br />
Produktionsverhältnisse funktionalen Modus psychischer Tätigkeit:<br />
Widersprüche zu eliminieren — geschähe dies in einem Ausmaß,<br />
daß man von „genereller Realitätsverkennung" sprechen müßte, so geriete<br />
das System des Psychischen (als Moment der Produktivkraft Mensch) in<br />
völligen Widerspruch zu den, wenn auch historisch begrenzten, Anforderungen<br />
kapitalistischer Produktionsweise an die Erhaltung und Entwicklung<br />
der Produktivkräfte.<br />
DAS ARGUMENT <strong>91</strong>/1975 ©