Das Argument 91 - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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Normalität und Pathologie des Psychischen 489<br />
Entwicklung des Menschen zum gesellschaftlichen Gattungswesen die<br />
biologischen Systemeigenschaften des Psychischen und die Bedingungen<br />
ihrer „Labilisierung" zu bestimmen:<br />
Es ist dem wissenschaftlichen-materialistischen Standpunkt selbstverständlich,<br />
die psychischen Prozesse auf eine anatomisch-physiologische<br />
Grundlage zu beziehen — freilich nicht im Sinne morphologistischer<br />
Lokalisationslehren, sondern im Sinne der <strong>Theorie</strong> der Bildung<br />
funktionaler Hirnorgane (als relativ beständiger reflektorischer<br />
Systeme).<br />
In der Einheit des menschlichen Psychischen (mit seinem Mechanismus<br />
der „gesellschaftlichen Vererbung", Leontjew) einerseits und<br />
seines nervösen Organs andererseits liegt die Möglichkeit der relativ<br />
unabhängigen und unterschiedlichen Affektion beider bei (Störungen)<br />
der Lebenstätigkeit eingeschlossen. 58 <strong>Das</strong> heißt, es ist von der<br />
Existenz zweier Grundklassen psychischer Störungen auszugehen:<br />
solchen, in die konstitutiv Veränderungen des materiellen Substrats<br />
eingehen (seien es organische oder funktionelle), und solchen, in denen<br />
derartige Veränderungen höchstens als Sekundärprozesse ohne<br />
ätiopathogenetische Bedeutung ablaufen. Es sind, lassen wir die organisch<br />
begründeten beiseite, als Resultat von Stressoren-Einwirkung,<br />
die jenseits der „Maßverhältnisse" der biologisch normalen<br />
Adaption bzw. Adaptionsfähigkeit liegt (Pawlow spricht in diesem<br />
Zusammenhang vom „Schadmilieu"), Störungen der psychischen Widerspiegelungs-<br />
und Regulationsfunktionen denkbar — mit Klumbies<br />
möchte ich sie als „funktionelle Erkrankungen der zerebralen<br />
Reizverarbeitung in Form von nachhaltigen vegetativen Affektreaktionen<br />
und/oder nachhaltigen bedingt-reflektorischen Störungen"<br />
bezeichnen. 69<br />
Die qualitativ andere Hauptgruppe psychischer Störungen ist davon<br />
als „psychische Fehlentwicklung" abzuheben.<br />
Darunter verstehe ich (s. o.) „alogische" Veränderungen der Beziehungen<br />
zwischen den Momenten der Makrostruktur der Tätigkeit bei<br />
intaktem physiologischem Ablauf (der sich allenfalls sekundär —<br />
parabiotisch — verändern mag). Die da<strong>für</strong> grundlegende Konzeption<br />
des „gesellschaftlichen Menschen" verliert ihre Abstraktheit durch<br />
den Auf weis der objektiven Strukturmomente einer je konkreten<br />
Gesellschaftsformation, aus deren Entwicklungseigentümlichkeiten<br />
die historisch bestimmte Charakteristik der Tätigkeitsmöglichkeiten<br />
resultiert.<br />
Es ist bei der Frage nach der Formbestimmtheit des Psychischen<br />
und seiner Störungen zu klären, inwieweit es Störungen gibt, die in<br />
jeder Form der Aneignungstätigkeit (ihrer Formbestimmtheit durch<br />
58 Vgl. Rubinstein, a.a.O., S. 161 ff.<br />
59 G. Klumbies, Zur Definition der Neurosen. In: Höck et al. (Hg.), Neurosen.<br />
Berlin/DDR 1971, S. 18 ff.<br />
DAS ARGUMENT <strong>91</strong>/1975 ©