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starb und die älteste Tochter sehr viel später Selbstmord beging.<br />

So hatte <strong>der</strong> unglückliche Mann seine Frau und zwei Kin<strong>der</strong> verloren und alles was ihm blieb, war die eine Tochter, unsere Patientin.<br />

Diese Tochter war neurotisch und daher ein Dorn im Fleisch des Vaters, <strong>der</strong> stets äußerste Verachtung für Neurotiker fühlte. Er starb<br />

im Alter von 78 Jahren an den Folgen einer Operation. Es war ein langsamer und schleichen<strong>der</strong> Tod. Das Ende trat im Krankenhaus<br />

ein, in dem er sechs Monate lang gepflegt wurde und wo unsere Patientin ihn jeden Tag besuchte. In seinen letzten Lebenswochen<br />

fing sein Geist an nachzulassen. Sein Bewusstsein verlöschte allmählich. In diesem Geisteszustand bat er seine Tochter einmal sich<br />

auszuziehen. Da seine Stimme sehr schwach geworden war, mußte sie sich über ihn beugen um seine Worte zu hören, worauf er<br />

versuchte ihre Bluse <strong>mit</strong> seinen sterbenden Händen aufzuknöpfen und noch Tage danach war er ärgerlich, weil sie sich seinem Zugriff<br />

entzogen hatte. Er war in seinen letzten Tagen ein jammervoller Anblick, gequält von Träumen und Halluzinationen. Er phantasierte,<br />

daß er im Gefängnis in Ketten lag, weil er seine beiden Töchter ermordet hatte, wie er zu ihr sagte. Es stünde alles in <strong>der</strong> Zeitung,<br />

meinte er. Schließlich erlöste <strong>der</strong> Tod den armen alten Mann von seiner Qual. Er starb an einem Sonntagmorgen. Gerade im Augenblick<br />

seines letzten Atemzuges begann ein Chor <strong>der</strong> Krankenschwestern die üblichen Sonntagmorgen-Choräle im Korridor des<br />

Gebäudes zu singen. Das war Zufall, wenn man will. Aber in den Ohren <strong>der</strong> Tochter, die am Bett des gerade entschlafenen Vaters saß,<br />

erschien <strong>der</strong> Gesang wie eine himmlische Begleitung für den Weg <strong>der</strong> Seele ihres Vaters ins Jenseits. Dieses synchronistische Ereignis<br />

schien ihr die Tatsache zu rechtfertigen, daß sie trotz allem was geschehen war, nie aufgehört hatte ihren Vater zu lieben.<br />

Ein Versuch <strong>der</strong> Großen Mutter, das sexuelle Tabu <strong>der</strong> Patientin zu heilen<br />

Die oben beschriebene Familientragödie mußte hier wegen <strong>der</strong> bisher nicht erwähnten Details wie<strong>der</strong>gegeben werden. Ohne diese<br />

Details könnten wir den Standpunkt nicht verstehen, den die Große Mutter in den folgenden Dialogen einnimmt. Aber zuerst möchte<br />

ich einen Abschnitt aus »Psychologie und Alchemie« zitieren. In diesem Werk schreibt Jung:<br />

Was immer die Eltern und Voreltern am Kinde gesündigt haben, erklärt <strong>der</strong> erwachsene Mensch als seine Gegebenheit, <strong>mit</strong> <strong>der</strong> er zu<br />

rechnen hat. Nur einen Dummkopf interessiert die Schuld des an<strong>der</strong>en, an <strong>der</strong> sich nichts än<strong>der</strong>n läßt. Nur von <strong>der</strong> eigenen Schuld<br />

lernt <strong>der</strong> Kluge. Er wird sich die Frage vorlegen. Wer bin ich, dem all das geschieht? Er wird in seine eigene Tiefe blicken, um dort<br />

die Antwort auf diese Schicksalsfrage zu finden.<br />

Diese bedeutsamen und weisen Worte drücken genau die Vorstellung <strong>der</strong> Großen Mutter aus, die sie im Hinblick auf die Erziehung<br />

ihrer Schülerin hatte. Die Große Mutter betont, wie Jung, immer den Wert <strong>der</strong> darin liegt die Verantwortung auf sich zu nehmen, statt<br />

seine eigene Schuld hinter dem Schatten von jemand an<strong>der</strong>em zu verstecken. Deshalb befiehlt sie nun dem Schatten <strong>der</strong> Patientin, die<br />

Geschichte <strong>mit</strong> ihren eigenen Worten zu erzählen, auch wenn diese Worte nicht sehr sorgfältig gewählt sein sollten. Und die Große<br />

Mutter for<strong>der</strong>t die Patientin auf, sich über ihre eigene Rolle in <strong>der</strong> Tragödie bewußt zu werden, die sie <strong>mit</strong>tels des Schattens spielte,<br />

<strong>der</strong> ein Teil ihrer selbst ist. Das Ergebnis ist eine Unterredung zwischen drei Figuren: Ich, Schatten und Große Mutter. Der Schatten<br />

spricht zuerst.<br />

Gespräch <strong>mit</strong> dem Schatten unter <strong>der</strong> Aufsicht <strong>der</strong> Großen Mutter<br />

Schatten (zur Patientin): Warum (meinst du) hat deine Mutter gelitten und ist gestorben? Warum (meinst du) starb dein Bru<strong>der</strong> so jung<br />

und brachte deine Schwester sich um? Und wie kannst du übersehen, was in den letzten Lebenstagen deines Vaters geschah, als er<br />

deutlich zeigte, daß er dich sexuell begehrte? Sei kein Kind! Versteh endlich!<br />

Patientin: Meine Liebe zu meinem Vater hat mich geblendet.<br />

Schatten: Deine törichte Liebe! Er wollte mich und er hatte mich! Du hast es vorgezogen unschuldig und ahnungslos zu sein. Du hast<br />

alles unterdrückt, indem du es als harmlos ansahst, du dummes Kind! Aber ich nahm meine Chance bei ihm wahr. Er war selber ein<br />

Kind, sage ich dir. Der Arzt sagte deine Mutter könne keine Kin<strong>der</strong> mehr haben.<br />

Patientin: Ich weiß, er hat es mir selbst gesagt. Sie ist fast bei <strong>der</strong> Geburt meines kleinen Bru<strong>der</strong>s gestorben und mehr Geburten<br />

durften nicht riskiert werden.<br />

Schatten: Er rührte sie danach nicht mehr an und flüchtete sich in Perversionen. Er befriedigte seine Lust durch Grausamkeit.<br />

Patientin (sich an die Große Mutter wendend): Bitte, Große Mutter; darf ich <strong>mit</strong> dir statt <strong>mit</strong> dem Schatten reden?<br />

Große Mutter: Du kannst diesen Teil <strong>der</strong> Geschichte von mir haben. Hör zu! Dein extravertierter Vater wußte als rechtschaffener<br />

Denktyp genau wo die Rechtschaffenheit endete und wo die Sünde begann. Solange er keinen direkten Koitus <strong>mit</strong> dir hatte,<br />

betrachtete er alles als väterlich erlaubt. Er sah seinen sexuellen Schatten nicht, noch sah er, daß er diesen Schatten lebte. Er liebte die<br />

Macht. Er wollte, daß je<strong>der</strong> ihm nachgab, jedoch nicht in einem normalen Koitus. Er ließ die Leute nach ihm verlangen und zog sich<br />

dann in die Rechtschaffenheit zurück. Das ist es, woran du gelitten hast und darum fühltest du eine brennende unerwi<strong>der</strong>te Liebe zu

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