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Könnten wir daraus nicht entnehmen, daß die Stimme in <strong>der</strong> Vision diese Parallelen auswählte, um eine Marien-Phantasie nahe<br />

zulegen, daß die Stimme durch diese drei Punkte dem Mädchen zu sagen versuchte, daß sie wie Maria sein muß, demütig und<br />

gehorsam das Leben erfüllend, das Gott für sie gewählt hat und daß sie nicht danach streben soll, Ruhm und Ehre zu erringen, wenn<br />

das nicht das Ziel ihres Lebens war? Denn wenn wir unseren Ausgangspunkt ein wenig verän<strong>der</strong>n und Marias Leben als Mythos<br />

betrachten, können wir diesen Mythos (o<strong>der</strong> dieses Leben) als ein Symbol für die äußerste Weiblichkeit <strong>der</strong> Seele deuten, die sich in<br />

<strong>der</strong> Hingabe an den Willen Gottes entfaltet.<br />

Im »Stundenbuch« beschreibt Rilke diese weibliche Ergebung <strong>der</strong> Seele an Gott. Er gebraucht folgende Worte: »Meine Seele ist ein<br />

Weib vor dir.« Und weiter: »Spann deine Flügel über deine Magd.« Es war diese Haltung <strong>der</strong> Demut und Hingabe, die das Mädchen<br />

lernen mußte. Ähnlich wie es die Große Mutter im fünften Gespräch gesagt hatte: »Wenn wir unser Schicksal bewußt in einer Haltung<br />

geistiger Hingabe erfüllen, schaffen wir Gott, wie er uns geschaffen hat.« In weiblicher Sprache heißt dies, Gott erschaffen ist<br />

gleichbedeutend <strong>mit</strong> Gott gebären. Und da die Große Mutter das Schicksal auch <strong>mit</strong> einem »göttlichen Keim« verglichen hat, können<br />

wir das Symbol auf folgende Art verstehen. Wenn wir unser sich entfaltendes Schicksal in einer Haltung geistiger Hingabe leben,<br />

dann gebären wir symbolisch ein göttliches Kind.<br />

Aus bestimmten Dingen, die Jung einmal zu <strong>der</strong> Patientin sagte, gewann sie den Eindruck, daß Gott das Leben in uns ist, daß wir seine<br />

Augen und Ohren sind und daß wir Gott Bewusstsein geben müssen!<br />

Wenn wir das tun können, dann wird aus unserem menschlichen Bewusstsein göttliches Bewusstsein. Dieses göttliche Bewusstsein<br />

wird durch unsere irdische Erfahrung aus unserer Seele geboren, es entsteht durch unser angenommenes und aktiv gelebtes Schicksal.<br />

Könnte das nicht das Ziel sein, auf das die Stimme in <strong>der</strong> Vision hinwies? Gott als <strong>der</strong> Schöpfer des Schicksalskeimes in unserer Seele<br />

war <strong>der</strong> geheimnisvolle »Vater des Kindes«, den die Patientin suchen sollte und dies bedeutete, daß sie sich darüber bewußt werden<br />

mußte, daß Gott <strong>der</strong> Vater des Kindes ist. Und weiter war es ihre Berufung diesen göttlichen Keim wachsen zu lassen, da<strong>mit</strong> er aus ihr<br />

als göttliches Bewusstsein geboren werden konnte. Symbolisch sollte nicht nur <strong>der</strong> Vater des Kindes, son<strong>der</strong>n auch das Kind selbst<br />

Gott sein. Die Vision war wirklich eine Marien-Phantasie.<br />

Natürlich sagt uns die Bibel dasselbe viel kürzer und direkter durch die Worte Christi: »Nicht mein Wille, son<strong>der</strong>n Dein Wille<br />

geschehe.« Aber Jung sagt, daß jedes Symbol, sogar das angemessenste und passendste, im Laufe <strong>der</strong> Zeit sein Mana verlieren kann.<br />

Manchmal ist ein Symbol verbraucht, abgenutzt, erschöpft. Wo dies <strong>der</strong> Fall ist, muß ein neues Symbol in <strong>der</strong> Person geboren werden,<br />

die den Kontakt <strong>mit</strong> dem alten Symbol verloren hat. Diese individuelle Geburt eines neuen Symbols, daß das Mana des<br />

vorhergehenden enthält, war tatsächlich <strong>der</strong> schwierige Wachstumsprozeß im inneren Leben <strong>der</strong> Patientin. Als sie es erlangt hatte und<br />

es ins Bewusstsein auftauchen konnte, war sie fähig wie<strong>der</strong> in Berührung zu kommen <strong>mit</strong> den erwähnten Bibelworten, denen sie nun<br />

all das Mana geben konnte, das in ihrer Seele lebte. In späteren Jahren erwies sich ihre verwandelte Haltung dem Leben und dem<br />

Schicksal gegenüber als die Quelle <strong>der</strong> Heilung für ihre Neurose. Aber es wirkte nicht so schnell. Einsicht allein war nicht genug.<br />

Diese Einsicht mußte ein lebendiger Faktor werden, <strong>der</strong> sich in ihrem täglichen Leben ausdrückte.<br />

Das Examen des Mädchens<br />

Wir wollen zu dem Mädchen zurückkehren, daß gerade die Große Vision gehabt hat und am folgenden Tag zu ihrem Examen als<br />

Konzertpianistin antreten sollte. Vielleicht war die gebieterische Stimme im ersten Teil <strong>der</strong> Vision als praktische Hilfe für das<br />

Mädchen gedacht, da<strong>mit</strong> sie sich die Prüfung nicht durch Lampenfieber verdarb. Wir haben schon gesehen, wie sie sich in dieser<br />

Hinsicht hilfreich auswirkte. Möglicherweise hätte <strong>der</strong> erste Teil <strong>der</strong> Vision genügt, daß sie dieses Ziel erreichen konnte, aber das<br />

scheint zweifelhaft. Denn <strong>der</strong> erste Teil war nicht so stark <strong>mit</strong> Mana geladen wie <strong>der</strong> zweite Teil. Die Patientin konnte den einfacheren<br />

ersten Teil nicht als religiöse Erfahrung erlebt haben, jedenfalls nicht ausreichend um das Gefühl in dem Moment zur Hand zu haben,<br />

da das Lampenfieber sie überwältigen würde. Der zweite Teil war viel wichtiger, <strong>der</strong> nicht nur ihre musikalische Darbietung<br />

behandelte, son<strong>der</strong>n auch ihr ganzes zukünftiges Leben und grundsätzlich das künftige Leben ihrer Seele. Hierin lag die religiöse<br />

Erfahrung. In dieser ereignisreichen Nacht hatte sie einen Augenblick lang Gott gesehen und konnte nie mehr dieselbe Person sein.<br />

Als sie sich am nächsten Morgen an den Flügel setzte, um ihre Prüfungsstücke zu spielen, war sie noch vollkommen im Banne dessen,<br />

was ihr in <strong>der</strong> Nacht begegnet war. Deshalb spielte sie so gut. Sogar das Prüfungsko<strong>mit</strong>ee spürte die Nähe Gottes. Als sie ihr Spiel<br />

beendet hatte, erhoben sich alle Examinatoren instinktiv von ihren Plätzen, um sie vorbeigehen zulassen. Sie waren sprachlos.<br />

Archetypische Kämpfe in <strong>der</strong> Seele<br />

Sogar wenn das Unbewusste nur beabsichtigt hätte, dem Mädchen die Befriedigung eines erfolgreich bestandenen Examens zu geben,<br />

wäre <strong>der</strong> zweite Teil <strong>der</strong> Vision nötig gewesen, da<strong>mit</strong> sie es erreichen konnte. Jedoch hatte das Unbewusste weit mehr als das<br />

beabsichtigt, offensichtlich war es sein Ziel, das Mädchen in den Tiefen ihrer Seele anzurühren, da<strong>mit</strong> sie sich ihres gefährlich<br />

ehrgeizigen Schattens und ihres mächtigen dämonischen Animus bewußt wurde. Es sollte ihr nicht gestattet werden, ihre Seele als<br />

Bezahlung für den weltberühmten Namen zu geben, den sie in <strong>der</strong> Musik so eifrig zu erlangen suchte. Der Teufel sollte ihre Seele<br />

nicht haben, jedenfalls nicht solange ihre Große Mutter <strong>mit</strong> ihr in Kontakt blieb. Es sieht fast so aus, als hätte das Mädchen einen<br />

persönlichen Schutzengel in Gestalt <strong>der</strong> Großen Mutter erhalten. Geschah das vielleicht, da<strong>mit</strong> sie sich gegen den negativen Einfluß<br />

ihres übermächtigen Animus stellen konnte? Wer kann das sagen? Was wissen wir wirklich von den archetypischen Kräften von Licht<br />

und Finsternis, die in unserer Seele kämpfen? Solange wir darüber völlig unbewusst sind, können wir wahrscheinlich nichts an<strong>der</strong>es<br />

als ihr Schlachtfeld sein. Unsere eigene kleine Rolle beginnt wohl erst, nachdem wir wenigstens einen gewissen Grad von Einsicht in

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