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In einer langen Rede erklärt Hugo seiner Seele hauptsächlich, daß <strong>der</strong> Bräutigam ihr nicht nur das Dasein an sich geschenkt habe,<br />

son<strong>der</strong>n ein schönes und geformtes Dasein und überdies eine Ähnlichkeit <strong>mit</strong> ihm selbst.<br />

Dies ist ein außerordentlich wichtiger Punkt, <strong>der</strong> die ganze Idee <strong>der</strong> Individuation enthält. Dieses »schön gestaltete Dasein« ist<br />

vermutlich die einzigartige Form, die zu verwirklichen je<strong>der</strong> die Möglichkeit hat. Sie wird uns gegeben, aber wir haben die Wahl ob<br />

wir sie in die Realität umsetzen o<strong>der</strong> nicht.<br />

Jung verglich sie oft <strong>mit</strong> einem Kristallgitter, aber ob dieses Gitter sich in einen Kristall härtet, hängt wenigstens bis zu einem<br />

gewissen Grade von uns ab.<br />

Bei Jakob Böhme gibt es einen Abschnitt, in dem er davon spricht, daß Gott einen »feinstofflichen Leib« hat, aber daß Lucifer diesen<br />

verloren habe als er vom Himmel fiel. Jung sagte von diesem Abschnitt, daß man den Gedanken eines feinstofflichen Körpers<br />

symbolisch für eine individuelle Gestalt o<strong>der</strong> Form nehmen könnte. Nach Böhme hat <strong>der</strong> Teufel auf seine individuelle Gestalt<br />

verzichtet, d.h. er will dem Individuationsprozeß nicht unterliegen. Deshalb wäre es in unserem Text fatal, wenn die Seele dem<br />

Beispiel des Teufels folgte und auf die Gabe des Bräutigams, »diese schön geformte Existenz« verzichtete, <strong>mit</strong> an<strong>der</strong>en Worten, wenn<br />

sie den Individuationsprozeß verweigerte.<br />

Der nächste Punkt den Hugo hervorhebt ist die Ähnlichkeit <strong>der</strong> Seele <strong>mit</strong> dem Bräutigam selbst. In »Psychologie und Alchemie« sagt<br />

Jung:<br />

Die Innigkeit <strong>der</strong> Beziehung zwischen Gott und Seele schließt jede Min<strong>der</strong>bewertung <strong>der</strong> Seele von vornherein aus. (Daß auch <strong>der</strong><br />

Teufel Besitz von <strong>der</strong> Seele nehmen kann vermin<strong>der</strong>t ihre Bedeutung keineswegs.) Es ist vielleicht zu weit gegangen von einem<br />

Verwandtschaftsverhältnis zu sprechen, aber auf alle Fälle muß die Seele eine Beziehungsmöglichkeit, das heißt eine Entsprechung<br />

zum Wesen Gottes in sich haben, sonst könnte ein Zusammenhang nie zustande kommen. Diese Entsprechung ist psychologisch<br />

formuliert, <strong>der</strong> Archetypus des Gottesbildes.<br />

Dieses Etwas in uns, daß dem göttlichen Wesen entspricht, wird von Hugo als Ähnlichkeit <strong>der</strong> Seele <strong>mit</strong> Gott formuliert. In diesem<br />

Text berühren wir das ungeheure Paradox unserer engen Beziehung zum göttlichen Aspekt des Selbst, <strong>mit</strong> dem wir uns nie ohne die<br />

furchtbarste Inflation identifizieren können. In Hugos Zeit bestand die Gefahr dieses Aufgeblähtwerdens vielleicht weniger, denn<br />

durch den ganzen Text hindurch wird alle Handlung Gott zugesprochen und die Seele ist nur die Empfängerin seiner Gaben.<br />

Die alchemistische Idee, daß die Erlösung des Göttlichen vom Menschen abhängt, fehlt in unserem Text keineswegs gänzlich, obwohl<br />

das Hauptgewicht natürlich immer auf das Wirken Gottes gelegt wird. Man könnte auch sagen, daß das Ziel dieses ganzen Gesprächs<br />

- die Seele aus ihrer Verstrickung o<strong>der</strong> sogar Identität <strong>mit</strong> <strong>der</strong> Welt zu befreien - das grundsätzliche Ziel <strong>der</strong> Alchemie ist, das<br />

Göttliche aus <strong>der</strong> Dunkelheit <strong>der</strong> Materie zu befreien. Diese Idee wird deutlich, als die Seele an ihre Gottähnlichkeit erinnert wird. Wir<br />

verdanken diese Andeutung <strong>der</strong> alchemistischen Seite dieser Vorstellung Hugos außerordentlich wissenschaftlichem Geist, <strong>der</strong> nicht<br />

zögert, den aktuellen Zustand seiner Seele, wie er in dieser Unterredung offenbar wird, zuzugeben.<br />

Er fährt dann fort, durch diese Liebe seien ihr vier Gaben zuteil geworden. Interessanterweise sind diese Gaben eine genaue<br />

Beschreibung <strong>der</strong> vier Funktionen. Die beiden rationalen Funktionen werden sogar wörtlich so genannt: »Fühlen« und<br />

»Unterscheiden«, die Haupteigenschaft <strong>der</strong> Denkfunktion. Ganz passend werden die beiden irrationalen Funktionen auch irrational<br />

beschrieben. »Empfindung« als ihr äußeres Geschmückt sein <strong>mit</strong> den Juwelen <strong>der</strong> Sinne und »Intuition« als ihr inneres »Gewand <strong>der</strong><br />

Weisheit«. Das scheint ein weiterer Beweis für den archetypischen Charakter <strong>der</strong> Jungschen vier Funktionen zu sein. Hugo hat sie im<br />

12. Jahrhun<strong>der</strong>t in diesem authentischen Gespräch <strong>mit</strong> seiner Seele entdeckt. Dann wendet er sich ihr zu und schimpft ganz plötzlich<br />

<strong>mit</strong> ihr, daß sie ihren Bräutigam verlassen habe, ihre Liebe <strong>mit</strong> Fremden abgewertet und seine Gaben verschwendet habe - kurz, sie sei<br />

nicht länger eine Braut, sie sei »eine Hure geworden«.<br />

Bis zu diesem Punkt hat die Seele lange nichts gesagt, außer daß sie ihn höchst verständnisvoll bat fortzufahren, so daß dieser<br />

plötzliche heftige Angriff fast ein Schock für sie ist. Vermutlich realisiert Hugo, daß sie ihn nicht versteht. In längeren Passagen<br />

verfiel er immer mehr in den Ton des »Du solltest«, wahrscheinlich ist er unsicher und for<strong>der</strong>t <strong>mit</strong> einiger Emotion den Wi<strong>der</strong>stand<br />

seiner Seele heraus. Vielleicht hat er sich <strong>mit</strong> seiner Betrachtung des Göttlichen ein wenig über sich selbst erhoben und ist wütend,<br />

daß er seine Funktionen nicht beherrschen kann.<br />

In einem Bekenntnis, das er später ablegt, identifiziert sich Hugo <strong>mit</strong> seiner Seele und nimmt etwas von <strong>der</strong> Schuld für ihre<br />

Unzulänglichkeit auf sich. Daher könnte sein unerwarteter Wutausbruch auch Ärger über seine eigenen Fehler sein. Heftige Emotion<br />

über die Verfehlungen an<strong>der</strong>er wird praktisch immer durch eine Projektion ausgelöst, denn die Schwäche, die uns wirklich unter die<br />

Haut geht, ist immer unsere eigene.<br />

Wir sollten vielleicht einen Augenblick überlegen, was es war, das Hugo in seinem alltäglichen Leben dazu gebracht hat diese

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