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Der Dialog von Angesicht zu Angesicht als dem christlichen ...

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<strong>Der</strong> <strong>Dialog</strong> <strong>von</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>als</strong> Denkform<br />

Überlegungen <strong>zu</strong>r Begründung einer ‚Christlichen Philosophie‘ 1<br />

Von Martin Thurner, München<br />

1. Die Frage nach Sinn und Berechtigung einer ‚<strong>christlichen</strong> Philosophie‘<br />

Mit den folgenden Überlegungen <strong>zu</strong>r <strong>Dialog</strong>ik <strong>als</strong> christlicher Denkform soll versucht<br />

werden, eine Antwort auf die Grundfrage nach Sinn und Berechtigung einer <strong>christlichen</strong> Philosophie<br />

überhaupt <strong>zu</strong> geben. Die Legitimität einer ‚<strong>christlichen</strong> Philosophie‘ wurde und wird<br />

vielfach in Frage gestellt, und zwar nicht nur <strong>von</strong> außen her, vom Standpunkt einer im Namen<br />

ihrer Autonomie alle nicht-philosophischen Vorgaben ablehnenden säkularen Vernunft, sondern<br />

auch <strong>von</strong> inner<strong>christlichen</strong> Positionen her, die sich dabei auf die Unmöglichkeit berufen,<br />

das nur existentiell erfahrbare, freie Gnadenhandeln des <strong>christlichen</strong> Gottes in vernunftnotwendigen<br />

Kategorien <strong>zu</strong> vermitteln. 2 Wie unterschiedlich Motivation und Intention dieser<br />

beiden Kritikrichtungen an der Berechtigung einer <strong>christlichen</strong> Philosophie auch sind, so haben<br />

sie doch eine gemeinsame Vorausset<strong>zu</strong>ng: Beide Positionen gehen da<strong>von</strong> aus, dass christliche<br />

Glaubenserfahrung und philosophisches Vernunftdenken zwei prinzipiell unabhängig<br />

<strong>von</strong>einander bestehende Größen sind, die dann lediglich nachträglich mit der Gefahr einer<br />

gegenseitigen Wesensüberfremdung additiv aufeinander bezogen werden können. In den folgenden<br />

Überlegungen soll diese <strong>zu</strong>meist unreflektiert in der Kritik an der Möglichkeit einer<br />

<strong>christlichen</strong> Philosophie <strong>zu</strong>grunde gelegte Vorannahme ausdrücklich thematisiert und auf ihre<br />

Berechtigung hin hinterfragt werden, und zwar sowohl aus der Perspektive des <strong>christlichen</strong><br />

Glaubens wie auch aus derjenigen des philosophischen Denkens.<br />

2. Die ursprüngliche Verwiesenheit der philosophischen Vernunft auf das emotionale Erleben<br />

(Platon: páJoV) einer anfänglichen Ausgangs-Erfahrung (Heidegger: Stimmung)<br />

<strong>Der</strong> Auffassung, dass es keinen ursprünglichen und wesenhaften Zusammenhang zwischen<br />

der Erfahrungsdimension des <strong>christlichen</strong> Glaubens und <strong>dem</strong> Bereich philosophischer<br />

Vernunft gebe, soll entschieden widersprochen werden. Dieser Ausschließlichkeitsbehauptung<br />

sei die These entgegengesetzt, dass eine existentielle innere Erfahrung, wie diejenige des<br />

<strong>christlichen</strong> Glaubens, und die rationale Allgemeinheit des philosophischen Begründungsvoll<strong>zu</strong>gs<br />

nicht nur prinzipiell aufeinander bezogen werden können, sondern in einem tieferen<br />

Verwiesenheitsverhältnis sich <strong>als</strong> innere Wesensmomente jeweils gegenseitig implizieren.<br />

Dies soll <strong>zu</strong>nächst ausgehend <strong>von</strong> den inneren Ursprungsgesetzmäßigkeiten des philosophi-<br />

1 <strong>Der</strong> folgende Beitrag ist die überarbeitete und erweiterte Fassung meines Referates beim Habilitationskolloquium<br />

für das Fach Christliche Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München am<br />

17. 6. 2000.<br />

2 Vgl. da<strong>zu</strong> die <strong>zu</strong>sammenfassende Darstellung <strong>von</strong> HEINRICH M. SCHMIDINGER, Zur Geschichte des Begriffs<br />

„christliche Philosophie“, in: Emerich Coreth u.a. (Hg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des<br />

19. und 20. Jahrhunderts, Band 1: Neue Ansätze im 19. Jahrhundert, Graz u.a. 1987, 29-45. DERS.,<br />

Art. Philosophie, christliche, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 886-898. Ferner: RAINER<br />

MARTEN, Christliche Philosophie: Holz und Eisen, in: Edith-Stein-Jahrbuch 4 [= Das Christentum, Band 1]<br />

(1998) 347-360 (mit Be<strong>zu</strong>g auf Cusanus).<br />

1


schen Denkens selbst aufgewiesen werden, um damit gleichsam den systematischen Punkt <strong>zu</strong><br />

identifizieren, an <strong>dem</strong> sich dann eine christliche Philosophie begründen und in ihrer spezifischen<br />

inhaltlichen Gestalt bestimmen lässt.<br />

Kritiker, die unter Berufung auf die Autonomie einer aufgeklärten säkularen Vernunft eine<br />

christliche Philosophie <strong>als</strong> fremdbestimmtes Denken ablehnen, gehen da<strong>von</strong> aus, dass die<br />

philosophische Rationalität <strong>zu</strong> ihrer Verwirklichung sich selbst genügt. Diese Position kann in<br />

einer rein innerphilosophischen Besinnung auf die ursprünglichen Vorausset<strong>zu</strong>ngen des Vernunft-Denkens<br />

widerlegt werden <strong>als</strong> die hybride Selbstüberschät<strong>zu</strong>ng einer beschränkten Rationalität,<br />

die ihre eigenen Ursprünge vergessen hat. Im philosophiegeschichtlichen Rückgang<br />

auf Gestalten <strong>von</strong> Denken, die <strong>dem</strong> Ursprung der Philosophie in der Vorsokratik noch näher<br />

sind, lässt sich noch das Bewusstsein dafür aufweisen, dass die Vernunft <strong>zu</strong> ihrer anfänglichen<br />

Verwirklichung wesenhaft auf eine Ausgangserfahrung angewiesen ist, die nicht ihrerseits<br />

in rational vermittelter Begründung hervorgebracht, sondern dieser vorausgehend nur<br />

unmittelbar emotional erlebt werden kann.<br />

a) Aristoteles: Das Staunen <strong>als</strong> der Ursprung der Philosophie<br />

Welche Bedeutung der Besinnung auf die eigenen Ursprünge für die Hochform des philosophischen<br />

Denkens <strong>zu</strong>kommt, zeigt sich exemplarisch darin, dass ARISTOTELES seine Metaphysikvorlesungen<br />

mit einem philosophiegeschichtlichen Rückblick auf die Anfänge des<br />

Denkens beginnt. In den entsprechenden Kapiteln im ersten Buch der Metaphysik referiert er<br />

die Gedanken der vorsokratischen Philosophen aber nicht nur inhaltlich, sondern fragt auch<br />

nach <strong>dem</strong> ursprünglichen Beweggrund dafür, warum die Menschen überhaupt erstanfänglich<br />

in einem philosophischen Sinn mit <strong>dem</strong> Denken begonnen haben. Dabei formuliert Aristoteles<br />

die berühmte Entdeckung, dass das Staunen der Ursprung des philosophischen Denkens sei:<br />

„Denn aufgrund des Erstaunens begannen die Menschen sowohl jetzt wie auch <strong>zu</strong> allererst<br />

mit <strong>dem</strong> Philosophieren (dià gàr tò Jaumázein oµ †nJrwpoi kaì nûn kaì tò prÔton<br />

ˆrxanto filosojeîn).“ 3<br />

b) Platon: Das denkursprüngliche Erstaunen <strong>als</strong> Pathos<br />

Die Selbstvergewisserung der eigenen ursprünglichen Vorausset<strong>zu</strong>ngen konzentriert sich<br />

für das philosophische Denken somit in einem weiteren Schritt in der Frage nach den näheren<br />

Bestimmungen dieses erstanfänglichen Erstaunens. Wenn man in der Philosophiegeschichte<br />

noch einen Schritt hinter Aristoteles <strong>zu</strong>rück in Richtung auf die Ursprünge des Denkens geht,<br />

so kann man auf einen Gedanken stoßen, in welchem diese ursprüngliche Bestimmung des<br />

Erstaunens noch bewusst ist. Die aristotelische Einsicht in das Staunen <strong>als</strong> Anfang der Philosophie<br />

wird <strong>von</strong> PLATON noch radikaler formuliert: „Es ist gar sehr einem Philosophen <strong>zu</strong><br />

eigen jenes Erleben, das Erstaunen; es gibt nämlich überhaupt keinen anderen Anfang der<br />

Philosophie <strong>als</strong> diesen (mála gàr filosófou toûto tò páJoV, tò Jaumázein. oü gàr †llh<br />

ärcÈ filosofíaV Ÿ aŒth).“ 4 Wie Aristoteles bestimmt auch Platon das Staunen <strong>als</strong> die ursprüngliche<br />

Vorausset<strong>zu</strong>ng des Vernunftdenkens, qualifiziert es darüber hinaus aber auch<br />

näher <strong>als</strong> ein Erleben. In <strong>dem</strong> dafür <strong>von</strong> Platon verwendeten griechischen Wort páJoV<br />

kommt noch besser <strong>zu</strong>m Ausdruck <strong>als</strong> im deutschen Wort ‚erleben‘, dass es sich beim ursprünglichen<br />

Erstaunen um eine Erfahrung handelt, die der Mensch nicht selbsttätig in einer<br />

rationalen Vermittlungsleistung hervorbringt, sondern unmittelbar passiv erlebt, <strong>von</strong> der er<br />

gleichsam unberechenbar überwältigt wird.<br />

3 Metaphysik 982 b 10-18.<br />

4 Theaitetos 155 d 2f.<br />

2


c) Heideggers tieferes Verständnis des platonischen Pathos <strong>als</strong> ‚Stimmung‘<br />

Die <strong>von</strong> Platon noch gewahrte Erlebensqualität der philosophischen Ursprungserfahrung<br />

des Erstaunens wird in ihrer Grundbedeutung für die Verwirklichung der Vernunft noch tiefer<br />

erfasst <strong>von</strong> jenem Denker unseres Jahrhunderts, der wie kaum ein anderer die Philosophie im<br />

Rückgang auf die vorsokratischen Quellen ihres Ursprungs erneuern wollte. Insbesondere in<br />

seinem Denken nach der sogenannten ‚Kehre‘ versucht MARTIN HEIDEGGER, die ursprüngliche<br />

Bedeutung der emotionalen Grunderfahrung des Erstaunens für das philosophische Bewusstsein<br />

wieder <strong>zu</strong> vergegenwärtigen. Da<strong>zu</strong> greift er auf den im Zusammenhang seiner frühen<br />

Existenzialanalyse <strong>von</strong> ‚Sein und Zeit‘ geprägten Begriff der ‚Stimmungen‘ <strong>zu</strong>rück. 5 In<br />

seinem Spätwerk, insbesondere etwa in seinem Vortrag ‚Was ist das – die Philosophie‘ aus<br />

<strong>dem</strong> Jahre 1956, 6 kann Heidegger durch das Verständnis des Staunens <strong>als</strong> einer Stimmung<br />

nicht nur die <strong>von</strong> Platon entdeckte emotionale Erlebensqualität des Erstaunens tiefer erfassen,<br />

sondern darüber hinaus auch die ursprüngliche Bedeutung dieses „Pathos“ für das philosophische<br />

Denken vermitteln. Dies gelingt ihm, in<strong>dem</strong> er in der für sein spätes Denken charakteristischen<br />

Weise das Wort ‚Stimmung‘ auf dessen etymologische Zusammenhänge hin abhört.<br />

Die Stimmung des Erstaunens ist deshalb und in <strong>dem</strong> Sinne der Ursprung des Denkens,<br />

weil sie die Verwirklichung der Vernunft anfänglich be-stimmt. Auf der etymologischen Spur<br />

des Wortes kann Heidegger schließlich jene die Wesensverwirklichung des Denkens ursprünglich<br />

bestimmende Stimmung auf eine ihr tiefer <strong>zu</strong>grunde liegende Größe <strong>zu</strong>rückführen.<br />

Als den Ursprung der ihrerseits für das philosophische Denken anfänglichen Stimmung entdeckt<br />

Heidegger eine ursprüngliche Wirklichkeit, die er <strong>als</strong> die ‚Stimme des Seins‘ bezeichnet.<br />

<strong>Der</strong> etymologische Zusammenhang zwischen Stimmung, Bestimmung und Stimme stellt<br />

sich sachlich im Gedanken dar, dass die Stimme des Seins das philosophische Denken ursprünglich<br />

bestimmt, in<strong>dem</strong> sie die Vernunft durch eine Ge-stimmtheit auf sich ab-stimmt.<br />

Die verschiedenen historischen Gestalten philosophischer Vernunft sind so nach Heidegger<br />

verschiedene Weisen, in denen das Denken des Menschen <strong>dem</strong> Zu-spruch der Stimme des<br />

Seins ant-wortet. Die Stimme des Seins setzt sich in der Wirklichkeit des Denkens durch, in<strong>dem</strong><br />

sie den Menschen durch eine jeweilige Stimmung in die Ent-sprechung <strong>zu</strong> ihrem Zuspruch<br />

fügt.<br />

d) Konsequenzen für die Frage nach einer Christlichen Philosophie<br />

Heideggers tieferes Verständnis des platonischen „Pathos“ <strong>als</strong> Stimmung dient mir nun<br />

<strong>als</strong> Brücke da<strong>zu</strong>, die philosophische Selbstvergewisserung der Staunenserfahrung <strong>als</strong> Ursprung<br />

des Denkens für die Frage nach einer Christlichen Philosophie fruchtbar <strong>zu</strong> machen.<br />

Im Hinblick darauf lässt sich aufzeigen, dass die Zugrundelegung einer inneren Erfahrung wie<br />

des <strong>christlichen</strong> Glaubens nicht nur möglich, sondern <strong>von</strong> einer philosophieimmanenten Notwendigkeit<br />

her systematisch gefordert ist. Und dies aus vier, sich auseinander ergebenden<br />

Gründen:<br />

5<br />

Philosophisch thematisiert wird die ursprüngliche Bedeutung, die der situativen Befindlichkeit des Menschen<br />

für sein ‚Seinsverständnis‘ <strong>zu</strong>kommt, erstm<strong>als</strong> explizit und umfassend in jenen Passagen <strong>von</strong> Sein und Zeit<br />

(Ges.-Ausg. 2, S. 56ff), in denen Heidegger über eine (ihrer Methode nach phänomenologische) Analyse der<br />

Existenz des Menschen <strong>als</strong> desjenigen, <strong>dem</strong> <strong>zu</strong>nächst das Seinsverständnis gegeben ist, die Frage nach <strong>dem</strong><br />

‚Sinn <strong>von</strong> Sein‘ einer Antwort entgegen<strong>zu</strong>führen sucht. <strong>Der</strong> Ansatz <strong>von</strong> Heideggers fundamentalontologischer<br />

Fragestellung bei den menschlichen ‚Stimmungen‘ findet eine kritische Rezeption u.a. bei: OTTO FRIEDRICH<br />

BOLLNOW, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt/M. 1941; LUDWIG BINSWANGER, Grundformen und Erkenntnis<br />

menschlichen Daseins, München-Bern 1942; EUGEN FINK, Grundphänomene des menschlichen Daseins,<br />

Zürich 1942 (Freiburg-München 2<br />

1995).<br />

6<br />

MARTIN HEIDEGGER, Was ist das – die Philosophie?, Pfullingen 1956.<br />

3


a) Die philosophieimmanente ‚Systemstelle‘ der <strong>christlichen</strong> Glaubenserfahrung<br />

-Erstens: Im selbstreflektorischen Rückgang auf seinen Ursprung entdeckt das philosophische<br />

Denken, dass es in seinem rationalen Wesen das emotionale Erleben nicht ausschließt,<br />

sondern im Gegenteil im Prozess seiner Wesensverwirklichung grundlegend da<strong>von</strong><br />

getragen wird. Die Vernunft verdankt sich der Empfindung des Gefühls, weil sie <strong>zu</strong> ihrem<br />

Ursprung mit <strong>dem</strong> Staunen eines emotionalen Beweggrundes bedarf. Das ursprüngliche Staunen<br />

ist die philosophieimmanente Systemstelle, an der die Grunderfahrung des <strong>christlichen</strong><br />

Glaubens für das philosophische Denken bestimmend werden kann, und zwar in einer Weise,<br />

welche die freie Wesensverwirklichung der Vernunft nicht verfremdet, sondern überhaupt erst<br />

begründet.<br />

b) Die christliche Grunderfahrung <strong>als</strong> bestimmend bleibende Denkform<br />

-Zweitens: <strong>Der</strong> Begriff einer <strong>christlichen</strong> Philosophie wäre nicht erschöpfend begründet,<br />

wenn man die christliche Glaubenserfahrung in <strong>dem</strong> Sinne <strong>als</strong> eine besondere Weise des denkursprünglichen<br />

Erstaunens verstehen würde, dass es sich dabei lediglich um einen Ausgangspunkt<br />

handle, den man im Fortschritt der Verwirklichung des Denkens dann schnell<br />

<strong>zu</strong>rücklassen könnte. Die christliche Philosophie versteht sich vielmehr <strong>als</strong> ein Denken, das in<br />

allen Momenten seiner Wesenswirklichkeit <strong>von</strong> der <strong>christlichen</strong> Glaubenserfahrung her bestimmt<br />

bleibt. Um dieses Selbstverständnis <strong>zu</strong> vermitteln, bedarf es keiner über das ursprüngliche<br />

Staunen hinausgehenden philosophischen Kategorien, sondern vielmehr der Besinnung<br />

auf die Bedeutungsdimensionen des anfänglichen Erstaunens, wie sie <strong>von</strong> Heidegger exemplarisch<br />

vergegenwärtigt worden sind: Auf der Spur der etymologischen Doppelbedeutung<br />

des griechischen Wortes für Ursprung (ärcÉ), mit <strong>dem</strong> die Griechen <strong>zu</strong>gleich den zeitlichen<br />

Anfang wie die dauernde Herrschaft bezeichneten, entdeckt Heidegger, dass die Ursprungserfahrung<br />

des Erstaunens im Wesensvoll<strong>zu</strong>g des Denkens <strong>als</strong> der Anfang stets beherrschend<br />

bleibt. Diese Einsicht vermittelt er im Gedanken, wonach die Stimmung des Erstaunens in der<br />

Weise für das Denken ursprünglich ist, dass es die Wirklichkeit der Vernunft in die Entsprechung<br />

<strong>zu</strong> sich be-stimmt. Das ursprüngliche Erstaunen bleibt <strong>als</strong>o dadurch beherrschend,<br />

dass es den Verwirklichungsprozess des Denkens auf sich hin ausrichtet. Wenn die Ursprungs-stimmung<br />

somit <strong>dem</strong> Wesensfortschritt des Denkens die Richtung gibt, ist sie in einer<br />

Weise für die Vernunft be-stimmend, die tiefer ist, <strong>als</strong> die inhaltliche Dimension bestimmter<br />

Gedanken. Die bestimmende Ursprungserfahrung gibt <strong>dem</strong> Denken nicht bestimmte Inhalte<br />

vor, sondern weist der Vernunft vielmehr die Zielrichtung, auf die hin sie ihre Inhalte <strong>zu</strong><br />

verwirklichen hat. Diese all seinen inhaltlichen Vermittlungsleistungen bestimmend<br />

<strong>zu</strong>grunde liegende unmittelbare Ursprungsgestimmtheit des Denkens möchte ich <strong>als</strong> die<br />

‚Denkform‘ bezeichnen. 7<br />

Auf <strong>dem</strong> Hintergrund der Entdeckung, dass die Ursprungserfahrung der Vernunft <strong>zu</strong>gleich<br />

<strong>als</strong> die Denkform bestimmend bleibt, wird nun einsichtig, wie die Grunderfahrung des<br />

<strong>christlichen</strong> Glaubens gerade <strong>als</strong> eine Weise des anfänglichen Erstaunens für alle Momente<br />

einer Philosophie bestimmend sein und diese damit <strong>zu</strong> einer <strong>christlichen</strong> Philosophie formen<br />

kann.<br />

g) Das Selbstverständnis der <strong>christlichen</strong> Philosophie <strong>als</strong> geschichtlich verwurzelte, spezifische<br />

Gestalt <strong>von</strong> Denken<br />

7 Vgl. da<strong>zu</strong>: GOTTLIEB SÖHNGEN, Art. Denkform, in: Lexikon für Theologie und Kirche 2 III, 230ff. H. G. MEIER,<br />

Art. Denkform, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 2, 104-107.<br />

4


-Drittens: Aus Heideggers tieferem Verständnis des denkursprünglichen Erstaunens lässt<br />

sich aber nicht nur die allgemeine Bestimmung der <strong>christlichen</strong> Glaubenserfahrung <strong>als</strong> Denkform<br />

begründen, sondern auch das Selbstverständnis der <strong>christlichen</strong> Philosophie <strong>als</strong> einer<br />

spezifischen Gestalt <strong>von</strong> Denken, die sich ausdrücklich in ihren Inhalten <strong>von</strong> anderen Philosophien<br />

unterscheidet. Nach Heidegger beruhen die spezifischen Unterschiede zwischen den<br />

verschiedenen Gestalten <strong>von</strong> Denken auf einer jeweilig anderen Prägung der be-stimmenden<br />

philosophischen Ursprungserfahrung. Diese Jeweiligkeit einer spezifischen Gestimmtheit des<br />

Denkens versteht Heidegger in einem streng geschichtlichen Sinne. Die Geschichte der Philosophie,<br />

in der sich die Unterschiede der Denkansätze konkret manifestieren, ist nach Heidegger<br />

in ihrer Begründungsdimension vom Wechsel spezifischer Ursprungsstimmungen her<br />

bestimmt. Die geschichtliche Aufeinanderfolge der verschiedenen Grundstimmungen ist für<br />

Heidegger weder beliebig-<strong>zu</strong>fällig noch vom Menschen geleitet, sondern sie entspricht vielmehr<br />

den Weisen, wie das <strong>von</strong> ihm <strong>als</strong> das Ereignis gedachte Sein sich <strong>dem</strong> Menschen <strong>zu</strong>schickt.<br />

Vom Verständnis des Seins <strong>als</strong> des in sich kehrigen Geschehens <strong>von</strong> Aufgehen und<br />

Sichverbergen her deutet Heidegger die Philosophiegeschichte in <strong>dem</strong> Sinne, dass am vorsokratischen<br />

ersten Anfang der Philosophie das Sein sich durch die Stimmung des Erstaunens in<br />

der Weise des Aufganges <strong>zu</strong>geschickt hat, sich aber dann im weiteren Verlauf der Philosophiegeschichte<br />

so weit in die Seinsvergessenheit entzogen hat, dass es seit <strong>dem</strong> Wendepunkt<br />

des <strong>von</strong> Nietzsche verkündigten Todes Gottes nur mehr in der Stimmung des Erschreckens<br />

vernommen werden kann. 8<br />

Im Anschluss an Heideggers Einsicht über die Begründung jeder spezifischen Gestalt<br />

<strong>von</strong> Philosophie in einer sich geschichtlich jeweils anders <strong>zu</strong>schickenden Ursprungsstimmung<br />

lassen sich nun zwei Wesensmomente des Selbstverständnisses einer <strong>christlichen</strong> Philosophie<br />

in ihrem inneren Zusammenhang verstehen: Die christliche Philosophie verwirklicht sich deshalb<br />

<strong>als</strong> eine spezifische Gestalt <strong>von</strong> Denken, weil ihre Denkform auf eine geschichtlich bestimmende<br />

Ursprungsstimmung <strong>zu</strong>rückgeht, nämlich die Grunderfahrung Jesu Christi.<br />

d) Die personal-dialogische Begegnung mit <strong>dem</strong> göttlichen Antlitz <strong>als</strong> inhaltliche Bestimmung<br />

der <strong>christlichen</strong> Grunderfahrung<br />

-Viertens: Die spezifische inhaltliche Prägung jener <strong>als</strong> Denkform eine Philosophie <strong>zu</strong><br />

einer <strong>christlichen</strong> Philosophie bestimmenden Ursprungserfahrung ist bei Heidegger in einer<br />

Weise angedeutet, in der sich sein zwiespältiges Verhältnis <strong>zu</strong>m Christentum überhaupt spiegelt.<br />

In seinem Rückgang auf die Ursprungsstimmung der Philosophie kommt Heidegger in<br />

die Nähe des <strong>christlichen</strong> Grundphänomens, macht aber gleichsam vor einem letzten Schritt<br />

Halt, wenn er es weder in seiner ganzen Tiefendimension erreicht noch gar <strong>als</strong> solches ausdrücklich<br />

benennt. Wenn Heidegger die philosophische Ursprungsstimmung auf die Stimme<br />

des Seins <strong>zu</strong>rückführt und die darauf abgestimmte Wesensverwirklichung des Denkens darin<br />

gegeben sieht, dass der Mensch diesem Zu-spruch der Stimme des Seins ent-sprechend antwortet,<br />

so formuliert er darin die Einsicht, dass das Denken in seinem tiefsten Ursprungsgrunde<br />

<strong>von</strong> einem dialogischen Geschehen her bestimmt wird. Somit trennt ihn nur ein kleiner,<br />

aber entscheidender Schritt <strong>von</strong> der Ursprungserfahrung des <strong>christlichen</strong> Glaubens. Wenn<br />

man <strong>dem</strong> dialogischen Ursprung des Denkens noch tiefer auf den Grund geht, so entdeckt<br />

man, wie sich darin das sich aus grundloser Liebe <strong>zu</strong>sprechende Antlitz des personalen Gottes<br />

des <strong>christlichen</strong> Glaubens offenbart. 9<br />

8 MARTIN HEIDEGGER, Grundfragen der Philosophie, in: Ges.-Ausg. 45, S. 2.<br />

9 Die Rede <strong>von</strong> der Schau <strong>von</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong> findet sich in 1 Kor 13, 12, wo Paulus auf entsprechende<br />

alttestamentliche Wendungen <strong>zu</strong>rückgreift, vgl. z.B. Num 12, 8: „Mit ihm (sc. Moses) rede ich (sc. Gott) <strong>von</strong><br />

Mund <strong>zu</strong> Mund, <strong>von</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong>, nicht in Rätseln.“ Ursprünglich bedeutete die Schau des göttlichen<br />

Antlitzes in den altorientalischen und ägyptischen Religionen das Aufsuchen des Kultbildes, vgl. da<strong>zu</strong>: FRIED-<br />

RICH NÖTSCHER, „Das <strong>Angesicht</strong> Gottes schauen“ nach biblischer und babylonischer Ansicht, Würzburg 1924.<br />

5


In den folgenden Überlegungen soll nun dargelegt werden, wie die christliche Grunderfahrung<br />

des personalen <strong>Dialog</strong>es <strong>von</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>als</strong> eine Denkform für die philosophische<br />

Vernunft bestimmend wird.<br />

3. Die Notwendigkeit einer philosophischen Vermittlung der dialogischen Ursprungserfahrung<br />

des <strong>christlichen</strong> Glaubens<br />

Übergeordnete Intention der hier vorgetragenen Überlegungen <strong>zu</strong>r <strong>Dialog</strong>ik <strong>als</strong> christlicher<br />

Denkform ist die Begründung <strong>von</strong> Legitimation und Sinn einer <strong>christlichen</strong> Philosophie.<br />

Das bisher erreichte Ergebnis lässt sich in der Einsicht <strong>zu</strong>sammenfassen, dass jede historische<br />

Gestalt <strong>von</strong> Philosophie einer spezifischen Ursprungsstimmung bedarf, die im Falle der<br />

<strong>christlichen</strong> Philosophie mit der Glaubenserfahrung des personalen Antlitzes des <strong>christlichen</strong><br />

Gottes der Liebe identifiziert werden kann. Weil dieser Gedanke mit rein philosophieimmanenter<br />

Notwendigkeit argumentiert, sind damit zwar jene kritischen Einwände gegen eine<br />

christliche Philosophie widerlegt, die eine solche unter Berufung auf die Autonomie säkularer<br />

Vernunft ablehnen, noch nicht aber die innertheologische Kritik an einer philosophischen<br />

Vermittlung <strong>von</strong> Glaubensinhalten. Im zweiten Teil meiner Überlegungen soll nun aufgezeigt<br />

werden, wie nicht nur das philosophische Denken auf eine Ursprungserfahrung verwiesen ist,<br />

sondern auch jede unmittelbar erlebte Grundstimmung wie diejenige des <strong>christlichen</strong> Glaubens<br />

aus innerer Notwendigkeit heraus einer rationalen Vermittlung bedarf. Dabei will ich<br />

mich auf drei große Denker der <strong>christlichen</strong> Tradition beschränken, bei denen die Synthese<br />

<strong>von</strong> Emotionalität und Rationalität <strong>zu</strong>r Gestalt einer <strong>christlichen</strong> Philosophie auf höchstem<br />

Niveau gelungen ist, nämlich Augustinus, Anselm <strong>von</strong> Canterbury und Nikolaus <strong>von</strong> Kues. 10<br />

Überblickt man die sekundärliterarischen Interpretationsversuche <strong>zu</strong> diesen Denkern, so<br />

werden sie nur in den wenigsten Fällen der Tatsache gerecht, dass die Texte aller drei Autoren<br />

jeweils in ein und <strong>dem</strong>selben Werk erfahrungshaft-spirituelle und philosophisch-rationale<br />

Aussagen <strong>zu</strong>gleich enthalten. Eine Interpretation wird <strong>dem</strong> darin vermittelten Gedanken wohl<br />

nur dann gerecht, wenn sie sich nicht auf einen dieser beiden Pole beschränkt, sondern nach<br />

deren innerem Zusammenhang sucht. Diesbezüglich soll in den anschließenden Überlegungen<br />

die folgende These verifiziert werden: Die Artikulation innerer Glaubenserfahrung und die<br />

philosophische Argumentation verhalten sich hier <strong>zu</strong>einander wie Frage und Antwort, weil<br />

das Glaubenserleben den Menschen mit einer Aporie konfrontiert, die nur durch die Vermittlung<br />

des philosophischen Denkens gelöst werden kann.<br />

a) Die Ausgangsfrage Augustins<br />

Worin diese Ausgangsaporie inhaltlich besteht, lässt sich aus jenen Fragestellungen rekonstruieren,<br />

die bei Augustinus, Anselm und Cusanus den philosophischen Gedankengängen<br />

jeweils vorausgestellt werden. Paradigmatisch sei dies an den entsprechenden Formulierungen<br />

AUGUSTINs aufgezeigt, denn Augustinus beschreibt diese Ausgangserfahrungen des<br />

10 In Be<strong>zu</strong>g auf Augustinus und Anselm kann ich dabei auf folgende Vorarbeiten <strong>zu</strong>rückgreifen: RUDOLPH BER-<br />

LINGER, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt 1962; KLAUS KIENZLER, <strong>Dialog</strong>ik <strong>als</strong> Denkform bei Anselm<br />

und Augustinus, in: <strong>Der</strong>s., Gott ist größer. Studien <strong>zu</strong> Anselm <strong>von</strong> Canterbury (= BDS 27), Würzburg 1997,<br />

9-36; MICHAEL SCHMAUS, Die Denkform Augustins in seinem Werke „De trinitate“ (=Sit<strong>zu</strong>ngsberichte der<br />

Bayer. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse, Jg. 1962, Heft 6), München 1963. Das Problem der Denkform thematisiert<br />

im Hinblick auf Thomas <strong>von</strong> Aquin: JOHANNES BAPTIST METZ, Christliche Anthropozentrik. Über die<br />

Denkform des Thomas <strong>von</strong> Aquin, München 1962.<br />

6


<strong>christlichen</strong> Philosophierens nicht nur am ausführlichsten, sondern begründet damit auch jene<br />

wirkungsgeschichtliche Linie, in der dann auch Anselm und Cusanus stehen. 11<br />

Am Beginn des ersten Buches seiner ‚Confessiones‘ umschreibt Augustinus das seiner<br />

Denkbewegung ursprünglich vorausliegende Problem in einer bewusst spannungsreich gestalteten<br />

literarischen Komposition. <strong>Der</strong> Text (Conf. 1,1 - 6,7) gliedert sich in drei größere Einheiten:<br />

Zunächst wird das Problem in seinen Polen exponiert (1,1), dann werden die sich daraus<br />

ergebenden Aporien aufgezeigt (1,1 - 4,4), und schließlich folgt ein <strong>zu</strong>sammenfassender<br />

Ausblick (5,5 - 6,7), der <strong>zu</strong>r Autobiographie und den darin enthaltenen philosophischen Gedankengängen<br />

überleitet. Durch diese Positionierung gibt Augustinus <strong>zu</strong> verstehen, dass der<br />

Sinn sowohl seiner Biographie wie auch der philosophischen Reflexionen in den Confessiones<br />

nur <strong>von</strong> jener Erfahrung her erschlossen werden kann, die am Anfang des Werkes geschildert<br />

wird. Seinen eigenen Lebens- und Denkweg stellt Augustinus hier umfassend <strong>als</strong><br />

Konsequenz und Lösung einer Ausgangsaporie dar. In dieser Abfolge <strong>von</strong> Problemstellung<br />

und Biographie mit integrierten philosophischen Gedankengängen zeigt sich bereits eine innere<br />

Logik, die auf die Bestimmungen und Anforderungen dieser Ausgangssituation <strong>zu</strong>rückschließen<br />

lässt: Die Problematik betrifft den Menschen existentiell, sie kann aber nur bewältigt<br />

werden, wenn der Mensch das philosophische Denken in seinen existentiellen Lebensvoll<strong>zu</strong>g<br />

einbezieht.<br />

Die spirituell-philosophische Autobiographie seiner Confessiones eröffnet Augustinus<br />

mit Worten, in denen bereits der Grund für die Dynamik des ganzen Werkes benannt ist:<br />

„‘Groß bist Du, Herr, und hoch <strong>zu</strong> preisen’ (Ps 144, 3), ‘und groß ist Deine Macht und Deine<br />

Weisheit unermesslich’ (Ps 146, 5). Und preisen will Dich der Mensch, ein geringer Teil Deiner<br />

Schöpfung, ja der Mensch, der herumschleppt sein Strebewesen, herumschleppt das<br />

Zeugnis seiner Sünde und das Zeugnis, dass Du ‘den Hochfährigen widerstehst’ (Jak 4, 6).<br />

Und dennoch preisen will Dich der Mensch, ein geringer Teil Deiner Schöpfung. Du selber<br />

reizest an, dass Dich <strong>zu</strong> preisen Freude ist; denn geschaffen hast Du uns <strong>zu</strong> Dir, und ruhelos<br />

ist unser Herz, bis dass es seine Ruhe hat in Dir.“<br />

Welches das Thema dieser Aussagen ist, zeigt Augustinus bereits in der formalen Gestalt<br />

des Textes an, der mit dessen Gehalt eine innere Einheit bildet: Die Worte sind in der Form<br />

eines <strong>Dialog</strong>es gehalten, in welchem der Schriftsteller sein personales Gegenüber mit ‚Du‘<br />

anspricht. Und dieser <strong>Dialog</strong> ist nun auch inhaltlich Gegenstand der Überlegungen. 12 Doch<br />

hier zeigt sich bereits das Paradoxon, welches dann den Gedankengang des gesamten Werkes<br />

herausfordert: <strong>Der</strong> <strong>Dialog</strong> vollzieht sich <strong>zu</strong>nächst, in<strong>dem</strong> er sich selbst in Frage stellt. Diese<br />

Problematisierung des <strong>Dialog</strong>es ergibt sich aus der Ungleichartigkeit der <strong>Dialog</strong>partner: Dem<br />

in Macht und Weisheit unendlich großen Schöpfergott steht der Mensch gegenüber, der <strong>als</strong><br />

geschaffenes Wesen nicht nur endlich und <strong>von</strong> Gott abhängig ist, sondern durch die freie Tat<br />

seiner Sünde noch da<strong>zu</strong> sein Verhältnis <strong>zu</strong> Gott gebrochen hat. Neben der Problematik eines<br />

dialogischen Be<strong>zu</strong>ges zwischen den Polen dieses Kontrastes schildert Augustinus in den zitierten<br />

Sätzen aber <strong>zu</strong>gleich die Notwendigkeit <strong>von</strong> deren dialogischer Vermittlung, sowohl<br />

<strong>von</strong> Seiten Gottes <strong>als</strong> auch <strong>von</strong> Seiten des Menschen: Ebenso wie Gott den Menschen anreizt<br />

und daraufhin geschaffen hat, ihn im Lobpreis an<strong>zu</strong>sprechen, findet der Mensch seine Ruhe<br />

erst dann, wenn er in die liebende Einheit mit seinem göttlichen Gegenüber eingetreten ist. 13<br />

11<br />

Confessiones I, 2, 2: ed. Verheijen (=CCSL 27) 1-2. Vgl. ANSELM, Proslogion 1: ed. Schmitt I, 98, 11. CUSA-<br />

NUS, De quaerendo deum 1: h [=editio critica heidelbergensis] IV, N. 17, Z. 1 - N. 18, Z. 15.<br />

12<br />

Diese Einheit des <strong>Dialog</strong>es <strong>als</strong> Form und Gehalt der philosophischen Überlegungen wird dann auch bei Anselm<br />

und Cusanus begegnen.<br />

13<br />

KIENZLER, op. cit., 14, verweist im Hinblick auf die Struktur dieses Eingangspassus der Confessiones treffend<br />

auf die Analogien <strong>zu</strong>m trinitätsphilosophischen Ternar „memoria - intelligentia - amor“, den Augustinus an<br />

vielen anderen Stellen seines Werkes entwickelt: In der memoria vergewissert der Mensch seinen Stand vor<br />

Gott, in der intelligentia rekurriert er auf das philosophische Denken <strong>zu</strong>r Lösung der damit verbundenen Probleme,<br />

um dann schließlich im amor das angestrebte Gottesverhältnis <strong>zu</strong> verwirklichen.<br />

7


Wenn die liebende Vereinung <strong>von</strong> Gott und Mensch beider Ziel ist, so verstärkt sich darin<br />

die ontologische Spannung zwischen <strong>dem</strong> unendlichen Gott und <strong>dem</strong> endlichen Menschen<br />

in die Spannung jenes Voll<strong>zu</strong>ges, der zwischen dieser Differenz vermitteln soll. In den weiteren<br />

Sinneinheiten des Einleitungspassus der Confessiones zeigt Augustinus nacheinander eine<br />

Reihe <strong>von</strong> Problemen auf, die das Erreichen dieses Zieles <strong>zu</strong>nächst unmöglich <strong>zu</strong> machen<br />

scheinen. Er schildert fünf aporetische Situationen, in die der Mensch gelangt, wenn er den<br />

<strong>Dialog</strong> mit <strong>dem</strong> unendlichen Gott aufnehmen will.<br />

Die erste Aporie ergibt sich aus der Frage nach <strong>dem</strong> Ursprungsvoll<strong>zu</strong>g des dialogischen<br />

Gottesbe<strong>zu</strong>ges des Menschen. Welche der vier dialogischen Be<strong>zu</strong>gsweisen ist die erste, „anrufen,<br />

preisen, wissen, suchen oder glauben“? Man ruft Gott an, um ihn <strong>zu</strong> wissen, aber niemand<br />

ruft jemanden an, den er <strong>zu</strong>vor nicht schon kennt. Und auch wer Gott erst sucht, preist<br />

ihn bereits, weil darin bereits die Größe <strong>von</strong> Gottes Wert anerkannt ist.<br />

Mit der zweiten Aporie benennt Augustinus das Kernproblem des dialogischen Be<strong>zu</strong>ges<br />

zwischen Gott und Mensch, nämlich die Frage nach <strong>dem</strong> „Wo“ des unendlichen Gottes, nach<br />

<strong>dem</strong> „Ort“, wo der Mensch in seiner Endlichkeit Gott finden könne, um <strong>zu</strong> ihm sprechen <strong>zu</strong><br />

können: „Wie aber soll ich meinen Gott anrufen, meinen Gott und meinen Herrn, da ich doch,<br />

wenn ich ihn rufe, in mich herein rufe? Und welches ist der Ort in mir, wohin er kommen soll,<br />

mein Gott? Wohin soll Gott in mir denn kommen, Gott, der den Himmel gemacht hat und die<br />

Erde? (vgl. Gen 1,1).“ Wenn man diese Ausgangsfrage Augustins auf ihre Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

hin untersucht, so werden die Bestimmungspole der Grundaporie des <strong>christlichen</strong> Glaubensvoll<strong>zu</strong>ges<br />

deutlich. In<strong>dem</strong> Augustin hier nach der Weise und <strong>dem</strong> konkreten Ort des Be<strong>zu</strong>ges<br />

<strong>zu</strong> Gott fragt, so artikuliert er damit indirekt eine Erfahrung der Abwesenheit Gottes. Die direkte<br />

Aussage der zitierten Sätze lässt sich <strong>als</strong> zweigestufte Begründung dafür lesen, warum<br />

der Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Gott problematisch wird. Mit der Feststellung, dass jeder Mensch bei der Anrufung<br />

Gottes in sich hinein ruft, stellt sich das Problem, wie der Mensch dabei über sein begrenztes<br />

Ich hinaus <strong>zu</strong>m unbegrenzten Gott finden soll. In der daran anknüpfenden Frage wird<br />

gleichsam der tiefere Grund dafür benannt: In Anbetracht der Größe des Schöpfergottes wird<br />

es unbegreiflich, wie der übergroße Gott je in das kleine Ich des Menschen kommen sollte.<br />

Die zitierten Aussagen artikulieren aber nicht nur eine Abwesenheitserfahrung. Schon allein<br />

in<strong>dem</strong> Augustinus den gesuchten Gott <strong>als</strong> meinen Gott und meinen Herrn bezeichnet, gibt<br />

er damit <strong>zu</strong> verstehen, dass er sich gerade im Moment der Abwesenheitserfahrung paradoxerweise<br />

<strong>zu</strong>gleich bereits in einem Näheverhältnis <strong>zu</strong>m gesuchten Gott aufhält. Wenn Augustinus<br />

den abwesenden Gott durch das Possessivpronomen <strong>als</strong> meinen Gott bestimmt, so<br />

kommt darin <strong>zu</strong>m Ausdruck, wie dieses Näheverhältnis ein Be<strong>zu</strong>g der personal-dialogischen<br />

Liebeshingabe ist.<br />

Zusammenfassend besteht die zweite Ausgangsaporie, mit deren Problematik jeder Gläubige<br />

<strong>zu</strong>nächst unmittelbar konfrontiert wird, <strong>als</strong>o darin, dass der im Glauben angenommene<br />

Gott gerade in der Größe seiner Liebeshingabe <strong>zu</strong>gleich <strong>als</strong> der abwesende erfahren wird, <strong>als</strong><br />

„secretissimus et praesentissimus“. 14 Dieses Problem konkretisiert sich dabei in der Frage<br />

nach <strong>dem</strong> „Ort“, nach <strong>dem</strong> „Wo“ des allgegenwärtigen Gottes.<br />

In der dritten Aporie reflektiert Augustinus, wie eine mögliche Lösung der Frage nach<br />

<strong>dem</strong> „Wo“ Gottes wieder in neue Aporien hineinführt: Wenn Gott deshalb nicht an einem<br />

konkreten Ort gefunden werden kann, weil er <strong>als</strong> der Unendliche überall ist, so ergibt sich<br />

14 Die Erfahrung des Ineinanders <strong>von</strong> Anwesenheit und Abwesenheit ist ein Grund<strong>zu</strong>g religiösen Erlebens überhaupt,<br />

wie dies Rudolf Otto in seinem religionsphänomenologischen Aufweis des Mysterium tremendum et<br />

fascinans <strong>als</strong> des religiösen Grund-Phänomens schlechthin gezeigt hat (vgl. RUDOLF OTTO, Das Heilige, München<br />

26 1947, 12ff, 39ff). Dieselbe religiöse Grund-Erfahrung bringt Romano Guardini im Anschluss an Blaise<br />

Pascal auf den Begriff der Ambiguität der Gotteserfahrung (vgl. ROMANO GUARDINI, Christliches Bewusstsein,<br />

Mainz-Paderborn 1991, 138ff). Im <strong>christlichen</strong> Glauben wird diese Grund-Erfahrung jedoch auf den personalen<br />

Gott bezogen, erst dadurch <strong>zu</strong>m Grund der Problematisierung eines <strong>Dialog</strong>es und damit <strong>zu</strong>m Ursprung einer<br />

dialogischen Denkform.<br />

8


daraus das Problem, wie und ob eine Allgegenwart des Unendlichen im Endlichen überhaupt<br />

denkbar ist. Einerseits können selbst Himmel und Erde <strong>zu</strong>sammen Gott nicht <strong>als</strong> Ganzen fassen,<br />

andererseits kann Gott in der Ungeteiltheit seines Wesens nur <strong>als</strong> Ganzer in allem sein.<br />

In dieser Paradoxie kündigt sich bereits die vierte Aporie an. Wir müssen, wenn wir Gott<br />

in seinem Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>m Endlichen denken, Gegensätzliches für wahr halten, erst recht, wenn die<br />

im Glauben angenommenen heilsgeschichtlichen Taten Gottes mit berücksichtigt werden:<br />

„Als der Ruhende ist Gott <strong>zu</strong>gleich der Wirkende, <strong>als</strong> der nichts Bedürfende ist er der Sammelnde,<br />

<strong>als</strong> der Gerechte ist er der Erbarmende“.<br />

Die fünfte Aporie zieht aus diesen Paradoxien der Gotteserkenntnis abschließend die<br />

Konsequenz für die Frage nach der Möglichkeit eines <strong>Dialog</strong>es. Die Unmöglichkeit der widerspruchsfreien<br />

Denkbarkeit Gottes zieht einerseits die Unmöglichkeit einer Aussagbarkeit<br />

und damit Ansprechbarkeit Gottes mit sich: „Aber was sagt denn ein Mensch, wenn er <strong>von</strong><br />

Dir etwas sagt?“ Da es aber das schöpfungsmäßig eingestiftete und daher wesenhafte Ziel<br />

menschlicher Existenz ist, mit Gott in den <strong>Dialog</strong> <strong>zu</strong> treten, muss andererseits derjenige <strong>zu</strong>grunde<br />

gehen, der ihn nicht anspricht: „Aber wehe denen, die da schweigen wollten über<br />

Dich.“<br />

Infolge der Einsicht, dass die Problematisierung des <strong>Dialog</strong>es mit Gott <strong>zu</strong>gleich eine<br />

existentielle Gefährdung des Menschen ist, lässt Augustinus seine Darlegung der Aporien des<br />

dialogischen Gottesbe<strong>zu</strong>ges in einer dramatischen Zuspit<strong>zu</strong>ng schließen, in der er Gott selbst<br />

inständig darum bittet, mit seinem Heilswort selbst jenen <strong>Dialog</strong> <strong>zu</strong> eröffnen, <strong>zu</strong> <strong>dem</strong> der<br />

Mensch <strong>von</strong> sich aus nicht fähig ist. In der einleitenden Frage „Was bist Du mir?“ werden die<br />

beiden Pole in unmittelbarer Direktheit miteinander konfrontiert und dialogisch aufeinander<br />

bezogen, und zwar in einer Weise, die eine endgültige Entscheidung herausfordern will. Die<br />

entscheidende Antwort auf diese Frage kann nur in der Heils<strong>zu</strong>sage Gottes bestehen: „Sag<br />

meiner Seele: dein Heil bin ich.“ Diese Heils<strong>zu</strong>sage Gottes wird <strong>von</strong> Augustinus deutlich <strong>als</strong><br />

die Eröffnung eines <strong>Dialog</strong>es gesehen, denn er interpretiert sie ausdrücklich <strong>als</strong> die Ermöglichung<br />

der Sprachfähigkeit des Menschen: „Erbarm Dich, dass ich reden kann!“ Dass das<br />

Heil im Prozess des göttlichen Sprechens selbst besteht, mit <strong>dem</strong> der <strong>Dialog</strong> eröffnet wird,<br />

bringt Augustinus <strong>zu</strong>m Ausdruck, in<strong>dem</strong> er weniger den Inhalt <strong>als</strong> mehr den Voll<strong>zu</strong>g des göttlichen<br />

Heilswortes <strong>als</strong> das Ziel seiner Suchbewegung benennt: „Ich will nachlaufen dieser<br />

Stimme, bis ich Dich fassen kann.“ Im darauf folgenden, abschließenden Satz macht Augustinus<br />

dann deutlich, was der Mensch letztlich im <strong>Dialog</strong> mit der Stimme Gottes sucht. Es ist<br />

das Antlitz Gottes, <strong>von</strong> <strong>dem</strong> sein Heilswort ausgeht, und das <strong>zu</strong> schauen für den Menschen<br />

bedeutet, in das ewige Leben der Liebe des personalen Gottes ein<strong>zu</strong>gehen: „Verbirg nicht<br />

Dein <strong>Angesicht</strong> vor mir: ja sterben will ich daran, um nicht <strong>zu</strong> sterben, – auf dass ich es<br />

schaue.“<br />

b) Anselm <strong>von</strong> Canterbury: Das philosophische Argument <strong>als</strong> die Suche nach <strong>dem</strong> Antlitz<br />

Gottes<br />

In der Suche nach einem Ausweg aus diesen Grundaporien des Glaubenslebens gewinnt<br />

nun das philosophische Denken seine glaubensimmanente Notwendigkeit. Wie insbesondere<br />

an der Struktur <strong>von</strong> ANSELMs Hauptwerk, <strong>dem</strong> ‚Proslogion‘, aufgezeigt werden kann, wird<br />

der gläubige Christ aus der Notwendigkeit heraus ursprünglich <strong>zu</strong>m philosophischen Denken<br />

bewegt, den Ort der Anwesenheit des im Glauben in seiner personalen Gegenwart angenommenen<br />

Gottes <strong>zu</strong> finden. Bereits im Titel der Schrift („Anrede“) ist <strong>zu</strong>m Ausdruck gebracht,<br />

dass ihr spiritueller wie philosophischer Gehalt aus <strong>dem</strong> dialogischen Gebetsbe<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Gott<br />

hervorgeht und dessen reflexive Begründung intendiert. Wie Augustins Confessiones ist<br />

ebenso Anselms Proslogion auch formal durchgängig <strong>als</strong> Gebetstext in „Du“-Anrede gestaltet.<br />

Anselm eröffnet seine Schrift mit einem langen Betrachtungsgebet („Excitatio ad contemplandum<br />

Deum“), das in der Zitation des Psalmwortes kulminiert: „Quaero vultum tuum,<br />

9


vultum tuum, domine, requiro - Dein Antlitz suche ich, dein Antlitz, Herr, will ich suchen.“ 15<br />

Wie Augustinus sieht auch Anselm die Problematik des Antlitzdialoges in der Frage nach<br />

<strong>dem</strong> Wo, <strong>dem</strong> Ort Gottes und in der Paradoxie der Antworten, die darauf möglich sind. Dass<br />

Gott an je<strong>dem</strong> Ort abwesend und an allen Orten anwesend <strong>zu</strong>gleich ist, wird <strong>von</strong> Anselm noch<br />

pointierter herausgestellt: „Herr, wenn Du hier nicht bist, wo soll ich suchen Dich Abwesenden?<br />

Wenn Du aber überall bist, warum sehe ich nicht den Anwesenden?“ 16 Noch eindringlicher<br />

<strong>als</strong> bei Augustinus wird bei Anselm die Sünde, der „harte und unheilvolle Fall <strong>von</strong> dam<strong>als</strong>“,<br />

<strong>als</strong> der Grund dafür benannt, dass „Dein Knecht, der ängstlich besorgt ist um die Liebe<br />

<strong>zu</strong> Dir, weit hinweg ‘<strong>von</strong> Deinem Antlitz verstoßen’ (Ps 50, 13) ist“. Schließlich wird auch<br />

bei Anselm die Erfahrung der Ferne des göttlichen Antlitzes mit der Einsicht dramatischexistenziell<br />

<strong>zu</strong>gespitzt, dass der Mensch wesenhaft da<strong>zu</strong> geschaffen wurde, um Gottes Antlitz<br />

<strong>zu</strong> sehen und mit all seiner Sehnsucht danach strebt: „Dein Knecht verlangt, Dich <strong>zu</strong> finden –<br />

und weiß nicht Deinen Ort. Er trachtet, Dich <strong>zu</strong> suchen – und kennt nicht Dein <strong>Angesicht</strong>.<br />

Herr, mein Gott bist Du und mein Herr bist Du – und niem<strong>als</strong> sah ich Dich.“<br />

Wenn Anselm im Einleitungsteil seines ‚Proslogion‘ die <strong>von</strong> Augustinus konstatierte<br />

Grundaporie des <strong>christlichen</strong> Glaubensvoll<strong>zu</strong>ges in der Form des Gebetsdialoges <strong>als</strong> die Suche<br />

nach <strong>dem</strong> göttlichen Antlitz artikuliert, so wird darin deutlich, wie diese Ursprungsaporie<br />

in ihrem tiefsten Sinn die Frage nach der Möglichkeit eines personalen Verhältnisses des<br />

Menschen <strong>zu</strong> Gott ist. Weil das philosophische Denken den Ort finden soll, an <strong>dem</strong> die<br />

personale Begegnung des Menschen mit seinem Gott möglich ist, wird der <strong>Dialog</strong> <strong>von</strong><br />

<strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong>r <strong>dem</strong> <strong>christlichen</strong> Glauben entsprechenden Denkform.<br />

Im berühmten Gedankengang des zweiten Kapitels <strong>von</strong> Anselms Proslogion wird anschaulich,<br />

wie das philosophische Denken seine notwendige Aufgabe im Rahmen der glaubensimmanenten<br />

Grundproblematik bewältigt. In seinem später isoliert vom Gebetskontext so<br />

genannten ontologischen Gottesbeweis erbringt Anselm durch die philosophische Methode<br />

der rationalen Selbsttranszendenz nichts anderes <strong>als</strong> den Aufweis, dass der gesuchte Gott <strong>als</strong><br />

die Bedingung der Möglichkeit des Denkens immer schon in der Vernunft selbst vorausgesetzt<br />

und damit im Menschen bereits gegenwärtig ist. Dabei fasst er jene philosophischen<br />

Wege <strong>zu</strong>r Kürze und Klarheit „eines einzigen Argumentes“ („unum argumentum“) <strong>zu</strong>sammen,<br />

die bereits Augustinus begangen hatte und die bei Augustinus noch deutlicher auf ihre<br />

Quellen hin transparent sind, nämlich die der Philosophie des Neuplatonismus.<br />

In den Confessiones stellt Augustinus im Reflex seiner inneren Selbstbiographie den langen<br />

Weg <strong>zu</strong> jener Einsicht dar, deren transparente Einfachheit dann Anselm im Ergebnis aufscheinen<br />

lässt. Die Suche nach der Gegenwart des personalen Antlitzes Gottes erreicht bei<br />

Augustinus ihr Ziel in einer vierfachen philosophischen Aufstiegsbewegung, den drei ‚ekstatischen<br />

Versuchen‘ im siebten Buch und der ‚Vision <strong>von</strong> Ostia‘ im neunten Buch der Confessiones.<br />

In seiner Suche nach <strong>dem</strong> Ort des göttlichen „Du“ lässt sich der christliche Kirchenlehrer<br />

<strong>von</strong> der Philosophie des antiken Neuplatonismus die Richtung weisen: Gemäß Plotins<br />

‚mystischem Imperativ‘ pánta e¯sw („alles nach innen!“) 17 wendet sich Augustins Suchbewegung<br />

<strong>zu</strong>nächst in die Innerlichkeit des eigenen Selbst: „Von dannen aufgefordert, <strong>zu</strong> mir<br />

selbst <strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>kehren (redire ad memet ipsum), betrat ich, <strong>von</strong> Dir geführt, mein Innerstes<br />

(intima mea)“. 18 In der näheren Bestimmung dieses „Innersten“ greift Augustinus ebenso auf<br />

15 Ps 26,8. Proslogion 1: ed. Schmitt I, 97, 9-10; Proslogion 18: ed. Schmitt I, 114, 9-10. Vgl. auch AUGUSTI-<br />

NUS, Confessiones I, 18, 28: ed. Verheijen 16; Confessiones IX ,3, 6: ed. Verheijen 136.<br />

16 Da<strong>zu</strong>: FERDINAND ULRICH, Cur non video praesentem? Zur Implikation der „griechischen“ und „lateinischen“<br />

Denkform bei Anselm und Scotus Eriugena, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 22<br />

(1975) 70-170.<br />

17 Enneade III, 8, 6, 40. Wie dann Augustinus beschreibt bereits Plotin die Verinnerlichungsbewegung <strong>als</strong><br />

„Rückwendung“, vgl. Enneade V, 1, 12, 13f: eªV tò e¯sw £pistréjein; Enneade I, 2, 6, 25: š e¯sw pròV noûn<br />

strojÉ.<br />

18 Confessiones VII, 10, 16: ed. Verheijen 103.<br />

10


die Vorgaben der platonischen Philosophie <strong>zu</strong>rück. Er versteht es <strong>als</strong> die Seele („anima“)<br />

oder den Geist („mens“), im philosophischen Sinn gedeutet <strong>als</strong> rational-intellektive Fähigkeit<br />

des begrifflichen Erkennens, argumentativen Begründens und der Selbstreflexion des Denkens.<br />

Wie bei Plotin 19 dient aber auch bei Augustinus die Rückwendung in die Innerlichkeit<br />

der intellektiven Seele nur <strong>als</strong> Stufe in einem Aufstiegsgeschehen, <strong>als</strong> dessen eigentliches Ziel<br />

die Selbsttranszendenz des Geistes in den Blick kommt. Doch ganz in den Spuren des Neuplatonismus<br />

wird auch diese „Ekstase“ des Geistes <strong>von</strong> Augustinus streng <strong>als</strong> philosophischer<br />

Prozess konzipiert, denn der Geist gelangt über sich hinaus, wenn er nach den Ermöglichungsbedingungen<br />

seines urteilenden Begreifens fragt: „Wenn ich <strong>als</strong>o fragte, wo<strong>von</strong> mein<br />

bestimmtes Urteil eigentlich bestimmt sei, so stieß ich jenseits meines doch selbst wandelbaren<br />

Geistes auf eine unwandelbare und ewige Wahrheit.“ 20<br />

Dieses „unwandelbare Licht“, das „mit <strong>dem</strong> Auge der Seele hoch über diesem selben<br />

Auge der Seele und hoch über <strong>dem</strong> Geist – in <strong>dem</strong> blitzenden Moment eines zitternden Erblickens<br />

21 – geschaut werden kann“ 22 , entspricht nun bei Augustinus auch insofern der platonischen<br />

Idee des Guten, <strong>als</strong> es nicht nur <strong>als</strong> höchstes Erkenntnisprinzip („Wahrheit“), sondern<br />

auch <strong>als</strong> höchstes Seinsprinzip gedacht wird. 23 Die Identität der erkenntnisbegründenden<br />

Wahrheit mit <strong>dem</strong> „wahren, unbegrenzt-absoluten und wesenhaften Sein“ („vere esse“, „infinitum<br />

esse“, „id ipsum“, „i<strong>dem</strong> ipse“) 24 entdeckt Augustinus, in<strong>dem</strong> er das Wesen der<br />

Wahrheit philosophisch meditiert: Da selbst in der Behauptung, die Wahrheit sei untergegangen,<br />

die Wahrheit dieser Behauptung vorausgesetzt wird, kann die Wahrheit niem<strong>als</strong> untergehen<br />

und offenbart sich darin selbst <strong>als</strong> das unwandelbare Sein. Augustinus begreift die Wahrheit<br />

<strong>als</strong> jene Selbstgegenwart des Seins, die der biblische Exodus-Gott <strong>von</strong> sich aussagt und<br />

<strong>als</strong> sein Wesen benennt: „Ich bin es, der ich bin“.<br />

Mit der Einführung dieses Schriftwortes hat Augustinus den philosophischen Gedankengang<br />

wieder auf die Ebene der Glaubenserfahrung <strong>zu</strong>rückbezogen. Die Philosophie hat es<br />

Augustinus ermöglicht, mit der Einsicht in das notwendige Sein der absoluten Wahrheit einen<br />

Modus der Gegenwart jenes Gottes <strong>zu</strong> finden, der im Gebetsdialog des <strong>christlichen</strong> Glaubens<br />

gesucht wird. So kann sich Augustinus nun schließlich nicht genug daran ergötzen, in der<br />

philosophischen Wahrheit des Seins seinen personalen Gott der Liebe ansprechen <strong>zu</strong> können,<br />

der das Ziel der spirituellen Sehnsucht seines Herzens ist: „O ewige Wahrheit und wahre Liebe<br />

und geliebte Ewigkeit! Du bist es, Du mein Gott, nach Dir ist mein Sehnen Tag und<br />

Nacht.“ 25<br />

Die Transzendenzbewegung <strong>von</strong> der Wahrheit des Denkens <strong>zu</strong>m absoluten Sein Gottes<br />

ist auch Methode und Gehalt <strong>von</strong> Anselms „unum argumentum“ für das Da-Sein Gottes. In<br />

der Wirkungsgeschichte dieses Arguments <strong>als</strong> ‚ontologischer Gottesbeweis‘ 26 geriet in Vergessenheit,<br />

dass die philosophische Argumentation bei Anselm ursprünglich weder Zweck an<br />

sich selbst ist, noch im neuzeitlichen Sinne <strong>als</strong> ‚Beweis‘ <strong>zu</strong> verstehen ist, <strong>von</strong> <strong>dem</strong> der Glaube<br />

19 Vgl. etwa den Gedankengang der Enneade V, 3 im Ganzen. Da<strong>zu</strong>: WERNER BEIERWALTES, Selbsterkenntnis<br />

und Erfahrung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Überset<strong>zu</strong>ng, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt/M.<br />

1991.<br />

20 Confessiones VII, 17, 23: ed. Verheijen 107.<br />

21 Confessiones VII, 17, 23: ed. Verheijen 107.<br />

22 Confessiones VII, 10, 16: ed. Verheijen 103.<br />

23 Seine Konzeption der Idee des Guten <strong>als</strong> höchstes, intelligibles Prinzip <strong>von</strong> Sein und Erkennen entfaltet Platon<br />

in Politeia 506 b 2 - 509 b 10.<br />

24 Confessiones VII, 20, 26: ed. Verheijen 109; und IX, 10, 24: ed. Verheijen 147.<br />

25 Confessiones VII, 10, 16: ed. Verheijen 103.<br />

26 Da<strong>zu</strong>: DIETER HENRICH, <strong>Der</strong> ontologische Gottesbeweis. Sein Problem und seine Geschichte in der Neuzeit,<br />

Tübingen 1960 ( 2 1967); JAN ROHLS, Theologie und Metaphysik. <strong>Der</strong> ontologische Gottesbeweis und seine Kritiker,<br />

Gütersloh 1987; WOLFGANG RÖD, <strong>Der</strong> Gott der reinen Vernunft. Die Auseinanderset<strong>zu</strong>ng um den ontologischen<br />

Gottesbeweis <strong>von</strong> Anselm bis Hegel, München 1992.<br />

11


an die Existenz Gottes dann abhängig wäre. Wie bei Augustinus hat die Philosophie auch bei<br />

Anselm den Sinn, die Gegenwart des im Glauben bereits in seiner Gegenwart angenommenen<br />

Gottes einsichtig <strong>zu</strong> machen: „Ich suche ja auch nicht ein<strong>zu</strong>sehen, um <strong>zu</strong> glauben, sondern<br />

ich glaube, um ein<strong>zu</strong>sehen.“ Weil der Glaube und nicht die Philosophie somit das Apriori<br />

dieses Arguments ist, ist auch die Kennzeichnung <strong>von</strong> Anselms Gedankengang <strong>als</strong> ‚apriorischer<br />

Gottesbeweis‘ nicht <strong>zu</strong>treffend. Für Anselm ist nicht der reine Gottesbegriff des Denkens<br />

der Ausgangspunkt; die seinem Argument <strong>zu</strong>grunde liegende Quasi-Definition Gottes<br />

führt Anselm vielmehr durch ein vorausgesetztes „credimus“ <strong>als</strong> Gegenstand des Glaubens<br />

ein, in einer deutlichen Anspielung an den ersten Satz des <strong>christlichen</strong> „Credo“, des Glaubensbekenntnisses<br />

der Kirche. 27<br />

Bereits in der Weise, wie Anselm den Gott des <strong>christlichen</strong> Glaubens umschreibt, wird<br />

aber deutlich, dass der Glaube allein nach Anselm sich selbst nicht genügt. In der Quasi-<br />

Definition Gottes <strong>als</strong> „etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, greift<br />

Anselm auf eine Begrifflichkeit <strong>zu</strong>rück, die <strong>dem</strong> Bereich der Philosophie entstammt und dort<br />

eine lange Vorgeschichte hat. 28 Welche Intention Anselm mit der Einführung der Philosophie<br />

in den Glauben verfolgt, macht er selbst unmittelbar vor Beginn jenes Kapitels deutlich, welches<br />

sein philosophisches Gottesargument enthält: „Ich versuche nicht, Herr, Deine Höhe <strong>zu</strong><br />

durchdringen, denn auf keine Weise stelle ich ihr meinen Verstand gleich; aber mich verlangt,<br />

Deine Wahrheit einigermaßen ein<strong>zu</strong>sehen, die mein Herz glaubt und liebt.“ Wie Augustinus<br />

im ersten Satz seiner Confessiones, schildert auch Anselm hier – ebenso in Form und<br />

Gehalt – die Grundaporie des dialogischen Be<strong>zu</strong>ges des gläubigen Menschen <strong>zu</strong> seinem Gott:<br />

Die Differenz zwischen der unerreichbaren Erhabenheit Gottes und der Begrenztheit des<br />

menschlichen Verstandes soll in der liebenden Einheit des Herzens überwunden werden. Dies<br />

geschieht durch die Vermittlung des philosophischen Denkens, weil es die Möglichkeit eröffnet,<br />

die Wahrheit des Da-Seins des im Glauben geliebten Gottes „einigermaßen (aliquatenus)<br />

ein<strong>zu</strong>sehen“.<br />

Bereits durch die Kürze, Transparenz und Einfachheit ihrer Argumentation kann die Philosophie<br />

bei Anselm einsichtig machen, dass die Gegenwart des im Glauben gesuchten göttlichen<br />

Antlitzes nicht schwer <strong>zu</strong> finden ist. <strong>Der</strong> Gedanke kommt in Gang, weil Anselm den<br />

Glauben an Gott <strong>als</strong> „etwas, über das hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“ mit der<br />

in den Psalmen (13, 1) überlieferten Aussage eines „Toren (insipiens)“ konfrontiert, der „in<br />

seinem Herzen gesprochen hat: es ist kein Gott“. Gegen diese Infragestellung des Da-Seins<br />

Gottes kommt der Glaube allein im Verweis auf die ihm eigene emotionale Evidenz nicht an.<br />

Er muss vielmehr die rationale Argumentation <strong>zu</strong> Hilfe nehmen, um die Existenz Gottes evident<br />

<strong>zu</strong> machen. Dies geschieht wie bei Augustinus in einem zweifachen Schritt: Die Rückwendung<br />

des Denkens auf die eigene Wahrheit ermöglicht die Selbsttranszendenz des Denkens<br />

auf das absolute Sein dieser Wahrheit.<br />

Die Verinnerlichungsbewegung des Denkens besteht bei Anselm in der Konzentration<br />

auf die Existenz der Quasi-Definition Gottes im menschlichen Verstande. Selbst der Tor, der<br />

Gottes Existenz leugnet, hat die philosophische Bestimmung Gottes <strong>als</strong> „etwas, über das hinaus<br />

nichts Größeres gedacht werden kann“ in seinem Verstande („esse in intellectu“). <strong>Der</strong><br />

Überstieg <strong>von</strong> der Wahrheit dieser Definition im Verstand <strong>zu</strong>m wahren Sein Gottes („vere<br />

esse“, „esse et in re“) gelingt mit der Einsicht, dass allein im Fall dessen, „über das hinaus<br />

nichts Größeres gedacht werden kann“, keine Differenz zwischen <strong>dem</strong> „Sein im Verstand“<br />

und <strong>dem</strong> „Sein in Wirklichkeit“ denkbar ist: Dasjenige, „über das hinaus nichts Größeres<br />

gedacht werden kann“, kann nicht allein im Verstand existieren, weil sonst der selbstwider-<br />

27 Darauf verweist: RICHARD HEINZMANN, Art. Anselm <strong>von</strong> Canterbury, in: Karl-Heinz Weger (Hg.), Argumente<br />

für Gott, Freiburg-Basel-Wien 1987, 20-32. Vgl. auch: MARTIN THURNER, Art. Anselm <strong>von</strong> Canterbury, in:<br />

Markus Vinzent (Hg.), Metzler Lexikon Christlicher Denker, Stuttgart 2000, 31-33.<br />

28 Vgl. z.B. SENECA, Naturalium quaestionum I; AUGUSTINUS, De doctrina christiana I, 7, 7; De libero arbitrio<br />

II, 2, 5; BOETHIUS, De consolatione philosophiae III, 10.<br />

12


sprüchliche Fall eintreten würde, dass darüber hinaus wohl etwas Größeres gedacht werden<br />

könnte, nämlich etwas, was nicht nur im Verstande, sondern auch in Wirklichkeit existiert. In<br />

der Konsequenz seiner eigenen Logik führt das Denken <strong>als</strong>o notwendigerweise <strong>zu</strong>r Einsicht in<br />

die Existenz Gottes, denn „es kann nicht einmal gedacht werden, dass Gott nicht existiert“.<br />

Entscheidend für das Verständnis der Intention <strong>von</strong> Anselms philosophischem Argument<br />

ist es, dass er am Ende des philosophischen Gedankenganges das in seiner notwendigen Existenz<br />

eingesehene Größte des Denkens wieder mit <strong>dem</strong> personalen Gott des Glaubens identifiziert<br />

und dialogisch auf ihn <strong>zu</strong>rück bezieht: „Und das bist Du, Herr, unser Gott. So wirklich<br />

<strong>als</strong>o bist Du, Herr, mein Gott, dass Du <strong>als</strong> nichtexistierend auch nicht gedacht werden<br />

kannst.“ Das philosophische Denken hat die Aufgabe, <strong>dem</strong> Glauben die Einsicht <strong>zu</strong> vermitteln,<br />

dass bereits in jeder Nennung des Namens Gottes seine Existenz vorausgesetzt ist, dass<br />

Gott bereits da ist, wenn der Mensch ihn im Gebet ruft. Wie Augustinus im Be<strong>zu</strong>g auf das<br />

„Ich bin der ich bin“ <strong>von</strong> Ex 3, 14, bringt auch Anselm in seinem Proslogion-Argument <strong>zu</strong>m<br />

Ausdruck, dass Gott selbst sein Sein in der Wahrheit des Denkens nur selbst kundgeben kann<br />

und immer schon bereits geoffenbart hat. Mit dieser rationalen Argumentation erfüllt das philosophische<br />

Denken für den Glauben die unentbehrliche Funktion, das aufgrund seiner Verborgenheit<br />

im Gebetsdialog gesuchte göttliche Antlitz in der Allgegenwart seines Da-Seins <strong>zu</strong><br />

finden.<br />

c) Cusanus: <strong>Der</strong> Gebetsdialog mit <strong>dem</strong> göttlichen Antlitz <strong>als</strong> Vorausset<strong>zu</strong>ng des Denkens<br />

Am tiefsten erfasst wird die ursprüngliche Ausrichtung des Vernunft-Denkens auf den<br />

gebetsdialogischen Be<strong>zu</strong>g des gläubigen Menschen <strong>zu</strong>m göttlichen Antlitz schließlich in der<br />

selbst fast durchgängig in Gebetsform gehaltenen, dabei aber stets philosophisch argumentierenden<br />

Schrift ‚De visione dei‘ des NICOLAUS CUSANUS. 29 Hier verwirklicht und erneuert das<br />

Denken sich selbst ausdrücklich aus der ständigen Vergegenwärtigung der Liebes<strong>zu</strong>wendung<br />

des göttlichen Antlitzes.<br />

Wie bei Augustinus und Anselm geht auch bei Cusanus der philosophischen Entdeckung<br />

des personalen Da-Seins Gottes eine aporetische Infragestellung desselben voraus, welche das<br />

Denken <strong>zu</strong> allererst in Gang bringt. Die Ausgangsaporie seiner Philosophie schildert Cusanus<br />

in seiner Schrift ‚Über das Gott-Suchen‘ (‚De quaerendo deum‘), 30 die für das Verständnis<br />

<strong>von</strong> Intention und Verlauf seiner „Denkbewegung“, seines „motus mentis“, 31 fundamental<br />

ist.<br />

Dass diese Ausgangsaporie <strong>dem</strong> Denken vom Glaubens(er)leben vorgegeben wird, gibt<br />

Cusanus bereits formal dadurch <strong>zu</strong> verstehen, dass er sie anhand der Zitation eines Schriftwortes<br />

einführt. Er greift die <strong>von</strong> Paulus in seiner Areopagrede (Apg 17, 18-29) überlieferte<br />

Aussage auf, wonach der „unbekannte Gott“ <strong>zu</strong>gleich derjenige ist, der „keinem fern“ ist,<br />

„weil wir in ihm sind, in ihm leben und uns bewegen“. In seiner Exegese dieses Pauluswortes<br />

macht Cusanus sodann die innere Paradoxie der darin artikulierten Glaubenserfahrung deut-<br />

29 In der bisherigen, einigermaßen reichhaltigen Literatur <strong>zu</strong> ‚De visione dei‘ wurde diese Schrift bisher weder<br />

im Hinblick auf ihre dialogische Denkform untersucht noch in der geschichtlichen Tradition der großen gebetsdialogisch-philosophischen<br />

Texte <strong>von</strong> Augustinus und Anselm gesehen. Vgl.: NORBERT HEROLD, Bild der<br />

Wahrheit - Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des „Blicks aus <strong>dem</strong> Bild“ in der cusanischen Schrift „De visione<br />

dei“, in: Volker Gerhardt u. Norbert Herold (Hg.), Wahrheit und Begründung, Würzburg 1985, 71-98. AXEL<br />

STOCK, Die Rolle der „icona Dei“ in der Spekulation „De visione Dei“, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge<br />

der Cusanus-Gesellschaft 18 (1989) 50-62. ALOIS MARIA HAAS, Deum mistice videre ... in caligine coincidencie.<br />

Zum Verhältnis Nikolaus’ <strong>von</strong> Kues <strong>zu</strong>r Mystik (=24. Vorlesung der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität<br />

Basel), Basel - Frankfurt/M. 1989. CHRISTIAN TROTTMANN, Facies et essentia dans les conceptions<br />

médiévales de la vision de Dieu, in: Micrologus. Natura, scienze e società medievali V: La visione e lo sguardo<br />

nel Medio Evo I, Tavarnuzze (Firenze) 1997, 3-18.<br />

30 De quaerendo deum 1: h IV, N. 17, Z. 1 - N. 18, Z. 15.<br />

31 De theologicis complementis: h X/2a, N. 2, Z. 70.<br />

13


lich: „Paulus erklärte nämlich, den Philosophen den unbekannten Gott offenbaren <strong>zu</strong> wollen,<br />

und gleich darauf betont er, dass dieser Gott <strong>von</strong> keiner menschlichen Vernunfteinsicht erfasst<br />

werden könne. Denn gerade darin wird Gott offenbar, dass man weiß, jede Vernunfteinsicht<br />

sei <strong>zu</strong> gering, ihn sich vor<strong>zu</strong>stellen und <strong>zu</strong> begreifen.“ Mit der Feststellung, dass Gottes<br />

Offenbarkeit immer <strong>zu</strong>gleich mit seiner Unbekanntheit gegeben ist, bringt Cusanus in der für<br />

ihn charakteristischen erkenntnistheoretischen Zuspit<strong>zu</strong>ng jene Grunderfahrung <strong>zu</strong>m Ausdruck,<br />

die auch Augustinus und Anselm <strong>zu</strong>m Übergang vom Glauben <strong>zu</strong>m Denken motiviert:<br />

Gottes Anwesenheit wird stets gemeinsam mit seiner Abwesenheit erfahren. Diese Grundaporie<br />

der Glaubenserfahrung wird auch bei Cusanus <strong>zu</strong>m Ursprung des Denkens, denn er bezieht<br />

das bereits <strong>von</strong> Platon und Aristoteles <strong>als</strong> denkursprünglich begriffene „Erstaunen“ ausdrücklich<br />

auf das Pauluswort vom <strong>zu</strong>gleich verborgenen und allgegenwärtigen Gott. Die auch<br />

Augustinus und Anselm bewegende Frage nach <strong>dem</strong> Ort, wo für den Menschen eine dialogische<br />

Gottesbegegnung möglich ist, wird bei Cusanus <strong>zu</strong>r Frage nach der richtigen, <strong>zu</strong>m Ziel<br />

des Gott-Findens führenden Weise der Gott-Suche: „Wenn aber der Mensch in dieser sinnlich<br />

erfahrbaren körperhaften Welt <strong>als</strong> solcher Gott nicht erkunden und ertasten kann, [...] da<br />

er, wie Paulus sagt, nichts Gott Ähnliches <strong>zu</strong> begreifen vermag: wie kann dann Gott gesucht<br />

werden, dass man ihn auch finde?“ Als die <strong>zu</strong>m Ziel führende und darum richtige Weise der<br />

Gottsuche erweist sich auch bei Cusanus schließlich die philosophische „Spekulation“, weil<br />

sie den Aufweis <strong>zu</strong> erbringen vermag, dass Gott deshalb nicht (nicht) gefunden werden kann,<br />

weil er überall ist: „Auf diesem Weg, mein Bruder, strebe danach, in gewissenhaftester Spekulation<br />

Gott <strong>zu</strong> suchen, denn er, der überall ist, kann nicht nicht gefunden werden, wenn er<br />

richtig<br />

gesucht wird.“<br />

Kenntnis aufsteigen will, muss an all das glauben, ohne das ein Aufstieg unmöglich<br />

32<br />

Wie bei Augustinus und Anselm beginnt auch bei Cusanus der Prozess der Gottsuche <strong>als</strong><br />

philosophische Verinnerlichungsbewegung, mit einem selbstreflektorischen Rückgang auf die<br />

Wahrheit <strong>als</strong> Bedingung des Denkens. Im 11. Kapitel des III. Buches seiner ‚Docta ignorantia‘<br />

geht Cusanus aber einen ganz originellen Weg <strong>zu</strong>m Aufweis der Gegenwart des Glaubensgottes<br />

im Denken. Die augustinisch-anselmische Auffassung, wonach „der Glaube der<br />

Ursprung des Denkens“ ist, interpretiert er in einem auf die systematische Begründung des<br />

Denkens bezogenen Sinn: „In jeder Disziplin wird nämlich etwas <strong>als</strong> erste Prinzipien vorausgesetzt<br />

(praesupponuntur), die allein durch den Glauben (sola fide) angenommen werden;<br />

aus diesen wird die Einsicht in das <strong>zu</strong> Behandelnde gewonnen. Jeder nämlich, der <strong>zu</strong> wissenschaftlicher<br />

ist.“ 33<br />

Folgende Gründe legitimieren Cusanus da<strong>zu</strong>, den Be<strong>zu</strong>g des Denkens auf seine Wahrheitsprinzipien<br />

<strong>als</strong> Glaubensakt <strong>zu</strong> qualifizieren: Die ersten Erkenntnisprinzipien werden vom<br />

Intellekt nicht selbst hervorgebracht, sondern stets in ihrer voraus-gesetzten Gegebenheit angenommen.<br />

Ebensowenig wie die eigenen Prinzipien vom Denken begründend hervorgebracht<br />

werden können, ebensowenig können sie auch vom Denken begriffen werden. <strong>Der</strong><br />

Grund dafür liegt in einer Wesenseigenschaft dieser Prinzipien selbst: Da sie ‚selbstverständlich‘<br />

sind, können sie <strong>von</strong> nichts anderem her begründet und begriffen werden, sondern sie<br />

bringen ihre Wahrheit in sich selbst und aus sich selbst hervor. Im Hinblick auf ihre Selbstevidenz<br />

entdeckt Cusanus, dass die intellektbegründende Wahrheit ebenso verborgen und<br />

offenbar ist und ihr Geheimnis in einer Selbstoffenbarungsbewegung mitteilt, wie der Offen-<br />

32 De quaerendo deum 1: h IV, N. 31, Z. 15-17.<br />

33 De docta ignorantia III, 11: h I, S. 151, Z. 26 - S. 152, Z. 9 (N. 244, Z. 3-16). Vgl. <strong>zu</strong>m spekulativen Glaubensverständnis<br />

des Cusanus die ausführlicheren Darlegungen und bibliographischen Hinweise in: MARTIN<br />

THURNER, „<strong>Der</strong> Glaube ist der Ursprung des Denkens“. Philosophie <strong>als</strong> Weg der Gottsuche nach Nikolaus <strong>von</strong><br />

Kues. In: Alexius J. Bucher (Hg.), Welche Philosophie braucht die Theologie? (=Eichstätter Studien 47), Regensburg<br />

2002, 33-53; sowie das Kapitel: „Das offenbarungsphilosophische Glaubensverständnis“ in: MARTIN<br />

THURNER, Gott <strong>als</strong> das offenbare Geheimnis nach Nikolaus <strong>von</strong> Kues (=Veröffentlichungen des Grabmann-<br />

Institutes 45), Berlin 2001, 220-300.<br />

14


arungsgott des <strong>christlichen</strong> Glaubens. Infolge einer spekulativen Identifikation der absoluten<br />

Wahrheitsevidenz mit <strong>dem</strong> Offenbarungsgott kann Cusanus daher den Glauben <strong>als</strong> den Begründungsvoll<strong>zu</strong>g<br />

des rationalen Denkens begreifen.<br />

Mit der Einsicht, dass der Glaubensgott in der Wahrheit des Denkens vorausset<strong>zu</strong>ngshaft<br />

anwesend ist, ist zwar der Ort des im Glauben gesuchten Gottes durch die Vermittlung des<br />

philosophischen Denkens entdeckt, der cusanische Denkweg der Gottsuche aber noch nicht<br />

am Ende. Das Finden des Ortes Gottes ist auch für Cusanus ebenso wie für Augustinus und<br />

Anselm nur die Bedingung dafür, dass der Mensch in ein dialogisches Verhältnis mit <strong>dem</strong><br />

personalen Gott der Liebe treten kann. Das philosophische Denken hat letztlich diesen dialogischen<br />

Gottesbe<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> vermitteln. Mit der Entdeckung des Glaubens im Grunde des Denkens<br />

hat sich Cusanus eine wichtige Vorausset<strong>zu</strong>ng da<strong>zu</strong> geschaffen, denn vermittelt dadurch<br />

kann er einsichtig machen, dass der Mensch in der Wesenswirklichkeit des Denkens einen<br />

dialogischen<br />

Grundakt vollzieht.<br />

Mit der Einsicht, dass jeder Intellekt seine Prinzipien nur <strong>von</strong> der Selbstoffenbarung der<br />

Wahrheit her empfangen kann, entdeckt Cusanus <strong>zu</strong>gleich das „Bitten“ um die sich selbst<br />

schenkende Wahrheitserleuchtung <strong>als</strong> Vorausset<strong>zu</strong>ng des Denkens.<br />

lebendiges dialogisches Geschehen sich ereign<br />

34 Damit begreift er ein<br />

worthaftes Geschehen <strong>als</strong> Ermöglichungsbedingung des Denkens, das er dann in einem nächsten<br />

Schritt <strong>als</strong> den inneren, dialogischen Gottesbe<strong>zu</strong>g qualifiziert, in<strong>dem</strong> er es ausdrücklich <strong>als</strong><br />

das „Gebet“ bezeichnet: „Durch den Glauben nähert sich die Vernunft <strong>dem</strong> Wort, durch die<br />

Liebe wird sie mit ihm vereint. Je näher sie kommt, umso mehr wächst ihre Kraft, und je mehr<br />

sie liebt, desto mehr wird sie im Licht des Wortes gestärkt. Das Wort Gottes aber ist in ihr<br />

und es ist nicht nötig, dass sie es draußen sucht, da sie es in sich finden und durch den Glauben<br />

<strong>zu</strong> ihm herankommen kann. Durch Gebet vermag sie <strong>zu</strong> erreichen, dass sie immer näher<br />

<strong>zu</strong> ihm kommen kann, denn das Wort lässt den Glauben wachsen, in<strong>dem</strong> es sein Licht mitteilt.“<br />

35 In<strong>dem</strong> Cusanus den zitierten Text ausdrücklich mit einem „Dank“-Gebet fortsetzt,<br />

gibt er damit indirekt <strong>zu</strong> verstehen, dass dieses Gebet der Vernunft erhört worden ist, und<br />

somit im Grunde des Denkens ein unaufhörlich<br />

et. 36<br />

Zum tiefsten Ursprungsgrund dieses erkenntnisermöglichenden Gebetsdialoges dringt<br />

Cusanus vor, in<strong>dem</strong> er nach jener Eigenschaftsbestimmung fragt, die auf Seiten Gottes vorausgesetzt<br />

sein muss, damit er das Gebet erhören und beantworten kann. Die Identifikation<br />

dieser Wesenseigenschaft Gottes ist <strong>zu</strong>gleich das Ziel der philosophischen Reflexion, weil<br />

darin auch die Weise erkennbar wird, wie sich der verborgene Gott <strong>dem</strong> Menschen zeigt und<br />

damit die Gott-Suche des Glaubens ihre Erfüllung erreicht. Cusanus benennt diesen Wesens<strong>zu</strong>g<br />

Gottes daher konsequenterweise <strong>zu</strong>nächst in einem Gebet, in welchem er mittels der Gotteserkenntnis<br />

des Intellekts den rettenden Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Gott im Glaubens(er)leben erfleht: „Du,<br />

der allmächtige und für jeden Geist unsichtbare Gott, kannst dich so, wie du erfasst werden<br />

möchtest, <strong>dem</strong> sichtbar offenbaren, <strong>dem</strong> du dich zeigen willst. Verbirg dich darum nicht länger,<br />

o Herr! Sei gewogen, Herr, und offenbare dein Antlitz (ostende faciem tuam) und alle<br />

Völker, die den Quell des Lebens und seine noch so selten verkostete Wonne nicht weiterhin<br />

34<br />

Vgl. z.B. De dato patris luminum 1: h IV, N. 92, Z. 1 - N. 93, Z. 4; N. 94, Z. 15-21; N. 96, Z. 1-6. De dato<br />

patris luminum 5: h IV, N. 119, Z. 1 - N. 120, Z. 9. De beryllo 39: h<br />

n: Elenor Jain (Hg.), Probleme philosophischer Mystik. Festschrift für<br />

nt erst danken<br />

be Bd. 13, 30; vgl. auch ebd. 224 das Gedicht „Dank“).<br />

2 XI/1, N. 72, Z. 1-9.<br />

35<br />

De visione dei 24: h VI, N. 113, Z. 7 - N. 114, Z. 3. Zur Philosophie des Gebetes bei Cusanus vgl. das Kapitel:<br />

„Die offenbarungsphilosophische Deutung des Gebetes“ in: MARTIN THURNER, Gott <strong>als</strong> das offenbare Geheimnis<br />

nach Nikolaus <strong>von</strong> Kues, loc. cit., 312-320. Ferner: LUDWIG HÖDL, <strong>Der</strong> Gedanke und das Gebet im Traktat<br />

‚De visione Dei‘ des Nikolaus <strong>von</strong> Kues, i<br />

Karl Albert, St. Augustin 1991, 227-245.<br />

36<br />

Auch bei Heidegger, der das Denken ebenso wie Cusanus <strong>als</strong> dialogisches Geschehen, <strong>als</strong> Ereignis zwischen<br />

„Zu-spruch des Seins“ und „ent-sprechender Ant-wort“ deutet, wird das „Danken“ – etymologisch durch den<br />

sprachlichen Gleichklang der Worte inspiriert – <strong>als</strong> Grundvoll<strong>zu</strong>g des „Denkens“ begriffen: „Ler<br />

– Und ihr könnt denken“ (Gesamt-Ausga<br />

15


verlassen können, werden gerettet sein (vgl. Ps 79, 4ff; Spr 10, 11; Jer 17, 13).“ 37 Die Erkenntnis,<br />

dass die erkenntnisbegründende Wahrheit ihr Geheimnis nur selbst mitteilen kann,<br />

führte Cusanus <strong>zu</strong>r Einsicht, dass das bittende Gebet der Grundvoll<strong>zu</strong>g der intellektuellen<br />

Wesensverwirklichung eines jeden Menschen ist. Das Gebet seinerseits vollzieht sich aber in<br />

einer worthaften Anrede und erreicht sein Sinnziel erst, wenn es <strong>von</strong> seinem Empfänger erhört<br />

und beantwortet wird. Nach Cusanus kann der letzte Ermöglichungsgrund des Gebetes<br />

deshalb<br />

nur ein Gott sein, der ein personales, <strong>zu</strong>m Hören und Sprechen fähiges Antlitz hat.<br />

Für die Frage nach <strong>dem</strong> Verhältnis <strong>von</strong> christlicher Glaubenserfahrung und Philosophie<br />

ist entscheidend, dass Cusanus das Antlitz <strong>als</strong> Modus der Gegenwart des verborgenen Gottes<br />

entdeckt, in<strong>dem</strong> er philosophisch nach den Ermöglichungsbedingungen der menschlichen<br />

Wahrheitserkenntnis fragt: Die in je<strong>dem</strong> Erkenntnisakt vorausgesetzte freie Selbstmitteilung<br />

der Wahrheit ist <strong>zu</strong>gleich die Wesenswirklichkeit der Liebe, die nur <strong>von</strong> einem Wesen verwirklicht<br />

werden kann, dessen Wesen sich in einem Antlitz zeigt.<br />

men<br />

38 Das im Antlitz erscheinende<br />

Wesensgeheimnis ist dasjenige einer personalen Wirklichkeit, die allein <strong>zu</strong> einer freien<br />

Selbstmitteilung des in ihr Verborgenen fähig ist. In<strong>dem</strong> Cusanus den intellektuellen Erkenntnisvoll<strong>zu</strong>g<br />

des Menschen bis auf die Schau des göttlichen Antlitzes <strong>zu</strong>rückführt, entdeckt<br />

er, dass dieser durch die innere Begegnung mit <strong>dem</strong> personalen Gott ermöglicht wird.<br />

Das Antlitz des personalen Gottes des <strong>christlichen</strong> Glaubens wird im innersten Grunde des<br />

Intellektvoll<strong>zu</strong>gs eines jeden Menschen verborgen geschaut. Weil die Selbstreflexion des philosophischen<br />

Denkens bei Cusanus ursprünglich der zielführende Weg der Suche nach <strong>dem</strong><br />

dialogischen Antlitz Gottes ist, wird die „Schau des göttlichen Antlitzes“ <strong>von</strong> Cusanus auch<br />

konsequenterweise im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Selbstverwirklichung der Philosophie<br />

eingeführt, nämlich <strong>als</strong> die Ermöglichungsbedingung eines universalen Wissens: „Wem<br />

es vergönnt ist, dein <strong>Angesicht</strong> <strong>zu</strong> schauen, der sieht alles offen und nichts bleibt ihm verborgen.<br />

Er weiß alles. Alles hat jener, o Herr, der dich hat, und alles hat der, der dich sieht.<br />

Denn niemand sieht dich, <strong>als</strong> nur derjenige, der dich hat. Aber niemand kann dir nahekom-<br />

, da du unnahbar bist. Niemand <strong>als</strong>o wird dich erfassen, außer du schenkst dich ihm.“ 39<br />

Die Bedeutung der „visio facialis“ 40 erschöpft sich bei Cusanus aber keineswegs in ihrem<br />

erkenntnisbegründenden, philosophischen Sinn. Dieser hat vielmehr die Funktion, die<br />

Möglichkeit eines dialogischen Glaubensbe<strong>zu</strong>ges des Menschen <strong>zu</strong>m göttlichen Antlitz einsichtig<br />

<strong>zu</strong> machen. Dies erreicht Cusanus in der Einsicht, dass der Blick Gottes im Modus der<br />

Selbstmitteilung der Wahrheit in je<strong>dem</strong> menschlichen (Erkenntnis-)Blick bereits immer schon<br />

vorausset<strong>zu</strong>ngshaft gegeben ist. Weil das philosophische Denken die Erkenntnis vermittelt,<br />

dass Gott selbst in seinem <strong>zu</strong>vorkommenden Blick bereits immer schon die Vorausset<strong>zu</strong>ngen<br />

dafür geschaffen hat, dass der Mensch ihn leicht finden kann, 41 eröffnet die Philosophie bei<br />

Cusanus schließlich die Glaubenserfahrung <strong>von</strong> Gnade und Erbarmen Gottes: „Was anderes<br />

ist dein Sehen, Herr, wenn du mich mit <strong>dem</strong> Auge des Erbarmens anblickst, <strong>als</strong> dass du <strong>von</strong><br />

37 De pace fidei 1: h VII, N. 5, Z. 11-16.<br />

38 Im Hinblick auf seine Bestimmung <strong>als</strong> Inkarnation der göttlichen Liebe wird die Antlitzoffenbarung <strong>von</strong> Cusanus<br />

stets christologisch vermittelt; vgl. da<strong>zu</strong> insbesondere das Kapitel: „<strong>Der</strong> Glaube in ‘De visione dei’“ in:<br />

ULLI ROTH, Suchende Vernunft. <strong>Der</strong> Glaubensbegriff des Nicolaus Cusanus (= Beitr. z. Gesch. d. Phil. u. Theol.<br />

d. Mittelalters, NF 55), Münster 2000, 211-236.<br />

39 De visione dei 7: h VI, N. 25, Z. 1-5. – Diese Zusammenhänge sind ausführlicher dargelegt im Kapitel „Die<br />

Offenbarungsmitteilung des inneren Erkenntnislichtes <strong>als</strong> personal-dialogisches Geschehen“ in: MARTIN THUR-<br />

NER, Gott <strong>als</strong> das offenbare Geheimnis nach Nikolaus <strong>von</strong> Kues, loc. cit., 321-329.<br />

40 Vgl. da<strong>zu</strong>: WERNER BEIERWALTES, Visio facialis. Sehen ins <strong>Angesicht</strong>. Zur Coincidenz des endlichen und<br />

unendlichen Blicks bei Cusanus (=Sit<strong>zu</strong>ngsberichte der Bayer. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Klasse, Jg. 1988, Heft<br />

1), München 1988.<br />

41 Die <strong>von</strong> Augustinus im Verweis auf das „ich bin der ich bin“ <strong>von</strong> Ex 3, 14 und <strong>von</strong> Anselm im Aufweis der<br />

Implikation der Existenz Gottes in der Quasi-Definition seines Begriffes vermittelte Tatsache, dass Gott sein Da-<br />

Sein in der Wahrheit des Denkens bereits immer schon selbst (kund-)gegeben hat, wird damit <strong>von</strong> Cusanus auf<br />

die Selbstgebung des göttlichen Antlitzes <strong>als</strong> tiefsten Grund <strong>zu</strong>rückgeführt.<br />

16


mir gesehen wirst? In<strong>dem</strong> du mich ansiehst, gibst du, dass du <strong>von</strong> mir gesehen wirst (videndo<br />

me das te a me videri), denn du bist der verborgene Gott. Niemand kann dich sehen, außer<br />

inwieweit du es gibst, dass du gesehen wirst. Es ist nämlich nichts anderes, dich <strong>zu</strong> sehen, <strong>als</strong><br />

dass du denjenigen siehst, der dich sieht. In diesem deinem Bild sehe ich, wie geneigt du bist,<br />

Gott, dein Antlitz allen <strong>zu</strong> offenbaren, die dich suchen.“<br />

siehst sie, <strong>zu</strong> denen du sprichst. Herr, du höchster<br />

Tros<br />

ht <strong>zu</strong> <strong>Angesicht</strong> wird somit in der<br />

cusanischen Gebetsbetrachtung des Antlitzes der göttlichen Person auf beispiellose Weise in<br />

das Denken und die Existenz des Menschen verinnerlicht.<br />

42<br />

<strong>Der</strong> erbarmende Blick des göttlichen Antlitzes wird <strong>von</strong> Cusanus schließlich <strong>als</strong> die<br />

Quelle jener worthaft-dialogischen Selbstmitteilung Gottes begriffen, die je<strong>dem</strong> einzelnen<br />

Menschen die Verwirklichung seines personal-individuellen Wesens ermöglicht: „Und es<br />

kommt mir der Gedanke, dass dein Blick spricht. Dein Sprechen ist ja nichts anderes <strong>als</strong> dein<br />

Sehen, da sich beide in dir, der absoluten Einfachheit, der Sache nach nicht unterscheiden.<br />

[...] Du sprichst <strong>zu</strong> den Einzelnen und<br />

t derer, die auf dich hoffen, du gibst mir ein, dich aus mir <strong>zu</strong> loben. Du hast mir ein Antlitz<br />

gegeben, so wie du es wolltest.“ 43<br />

<strong>Der</strong> <strong>von</strong> Augustinus und Anselm <strong>von</strong> Canterbury <strong>als</strong> <strong>dem</strong> <strong>christlichen</strong> Glauben entsprechende<br />

Denkform etablierte personale <strong>Dialog</strong> <strong>von</strong> Angesic<br />

4.<br />

Zusammenfassung: ‚Christliche Philosophie‘ <strong>als</strong> Ausdrucksgestalt der emotionalrationalen<br />

Einheit des Menschen<br />

Die bisherigen Überlegungen <strong>zu</strong>r Begründung einer Christlichen Philosophie hatten zwei<br />

verschiedene Ausgangspunkte, deren Ergebnisse es nun abschließend <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>fassen gilt.<br />

Im Hinblick auf die systemimmanenten Strukturgesetzmäßigkeiten des philosophischen Denkens<br />

wurde <strong>zu</strong>nächst aufgewiesen, dass die vernünftige Rationalität des Menschen eine Grunderfahrung<br />

wie diejenige des <strong>christlichen</strong> Glaubens nicht nur nicht ausschließt, sondern einer<br />

solchen <strong>zu</strong> ihrer Verwirklichung ursprünglich bedarf. In einer phänomenologischen Analyse<br />

der spezifisch <strong>christlichen</strong> Grunderfahrung wurde sodann entdeckt, dass auch der christliche<br />

Glaubensvoll<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong>r Bewältigung der ihm immanenten Aporetik notwendigerweise das philosophische<br />

Denken impliziert. Fasst man diese beiden Perspektiven <strong>zu</strong> einer Gesamtschau<br />

<strong>zu</strong>sammen, so erweist sich die Christliche Philosophie nicht nur <strong>als</strong> eine Möglichkeit, sondern<br />

<strong>als</strong> eine besonders ursprüngliche Denkform, weil in ihr sowohl die ursprüngliche Bedeutung<br />

der Emotionalität in der Rationalität wie auch umgekehrt der Rationalität in der Emotionalität<br />

noch gewahrt ist. Die Denkform der Christlichen Philosophie vermittelt die emotionalrationale<br />

Einheit des Menschen aus ihrem Ursprung im personal-dialogischen<br />

Glaubensbe<strong>zu</strong>g<br />

<strong>zu</strong> Gott. Eine ständige Aufgabe der Christlichen Philosophie bleibt es freilich, diesen ihren<br />

Charakter der Ursprünglichkeit immer wieder neu ein<strong>zu</strong>holen.<br />

Abstract:<br />

Die Legitimität einer ‚Christlichen Philosophie‘ wird sowohl im Namen der Vernunftautonomie <strong>als</strong> auch im<br />

Namen des Offenbarungsglaubens bestritten. Im Rückgriff aus Aristoteles, Platon und Heidegger wird <strong>zu</strong>nächst<br />

gezeigt, dass das rationale Denken selbst mit <strong>dem</strong> Staunen eines emotionalen Ursprungsgrundes bedarf, der sich<br />

dialogisch-geschichtlich mitteilt. Die christliche Glaubenserfahrung der heilsgeschichtlichen Begegnung mit<br />

42<br />

De visione dei 5: h VI, N. 13, Z. 10 – N. 14, Z. 2. Vgl. <strong>zu</strong>m letzten Satz: Dt 4, 29; Ps 79, 4; 9, 11; 26 [27], 8f;<br />

Weish 6, 13; Jer 29, 13.<br />

43<br />

De visione dei 10: h VI, N. 38, Z. 6 – N. 39, Z. 2.<br />

17


<strong>dem</strong> göttlichen Antlitz kann daher <strong>als</strong> Denkform eine Philosophie bestimmen. An Augustinus, Anselm <strong>von</strong> Can-<br />

terbury und Nicolaus Cusanus wird dann deutlich gemacht, wie auch die Glaubenserfahrung einer philosophischen<br />

Vermittlung bedarf: Die Verborgenheit<br />

des göttlichen Antlitzes stellt <strong>dem</strong> Glaubenden die Frage nach<br />

<strong>dem</strong><br />

„Wo“ Gottes, die nur durch das philosophische Denken beantwortet werden kann. Die Denkform der<br />

Christlichen Philosophie vermittelt die emotional-rationale Einheit des Menschen aus ihrem Ursprung im personal-dialogischen<br />

Glaubensbe<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> Gott.<br />

18

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