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it was really - Mathias Kessler

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In diese vormenschliche Dunkelhe<strong>it</strong> zu reisen, die vielleicht schon näher an nachmenschlicher<br />

Dunkelhe<strong>it</strong> ist, in diese ursprünglichen, fiktiven Strukturen dieser ungastlichen Gefilde, und auf<br />

der Suche nach <strong>was</strong>? Das ist die Frage, die ich stelle, Oswalk, genau wie du. Nichts anderes. Wir gehen<br />

nicht getrennte Wege, wir gehen zusammen. Ich sprach m<strong>it</strong> mir selbst im Dunkeln, hinter meinen<br />

Kameras auf Deck. Ich brachte es nicht über mich, diese Gedanken m<strong>it</strong> Oswalk zu teilen, außerdem<br />

schlief er. Er war kein Mensch, den die Leidenschaft trieb, so wie ich. Oswalk hatte lediglich Enthu-<br />

siasmus. Ich richtete das Objektiv auf mich selbst, und der Bl<strong>it</strong>z explodierte in einem blendend weißen<br />

Licht. Es war das einzige Mal während der dreiwöchigen Exped<strong>it</strong>ion, dass ich dies tat, und ich kam<br />

nicht auf die Idee, es noch einmal zu tun. Heute fällt mir auf, m<strong>it</strong> Reue und m<strong>it</strong> Erleichterung, dass<br />

ich das Objektiv kein einziges Mal auf Oswalk gerichtet habe. Ich hatte gehofft, ihn in der Pose des<br />

Jägers unsterblich zu machen, wenn er seinem einzigen Hobby nachging, m<strong>it</strong> freiem Oberkörper im<br />

Sonnenschein wie Apoll, während er schweigend seine handgeschn<strong>it</strong>zten Pfeilsp<strong>it</strong>zen aus Eis m<strong>it</strong> dem<br />

Compoundbogen tief in die Eisberge trieb. Doch am Ende machte ich keine Fotos bei Tageslicht.<br />

Jetzt wissen wir es. Ich sah es. Oswalk sah es. Es ist auf Film. Es ist in der Kamera. Wir haben<br />

es lebendig gefilmt. Wenn ich wollte, könnte es morgen überall sein. Doch es spielt keine Rolle mehr.<br />

Es wäre, als wollte man aus der Asche den Holzsche<strong>it</strong> rekonstruieren, Öde und Bedeutungslosigke<strong>it</strong>,<br />

reine Taxidermie.<br />

Als er in seinem Hotelzimmer in Bergen die Karten auf dem Doppelbett ausbre<strong>it</strong>et, weist<br />

Oswalk mich freundlich auf ihre Besonderhe<strong>it</strong>en hin. Zuerst ist es nicht leicht, sie zu lesen. Die einen<br />

haben den Nordpol zum Zentrum, um den bestmöglichen Überblick über die ganze arktische<br />

Region zu bieten, die anderen sind stark vergrößert, in nächster Nähe von unbekannten Landmassen.<br />

Wir wissen viel über die kryologischen Konstellationen, in denen Eisberge rund um die Welt<br />

vorkommen, sagt Oswalk und lächelt hinter seiner schwarzen Brille, die er in meiner Anwesenhe<strong>it</strong><br />

bislang nicht getragen hat. Eisberge sind nicht wahllos verteilt, du brauchst also mehr als Glück,<br />

um sie zu finden.<br />

Es ist schwierig, einen Eisberg zu finden?, frage ich, während ich die Veränderungen in Oswalks<br />

Gesicht mustere, jetzt, da es von zwei Rechtecken aus bre<strong>it</strong>em schwarzen Acetat umrahmt ist.<br />

Wie ist das möglich?<br />

Oswalk zuckte die Schultern. Seltsamerweise beantwortete er die Frage nicht. Ich wusste nicht<br />

mehr, auf wessen Exped<strong>it</strong>ion wir eigentlich waren, auf meiner oder Oswalks. Doch eines wusste ich<br />

genau, Oswalk war fehlerlos. Lassen wir es vorerst seine sein.<br />

Auch Software aus Deutschland kann bei der Lokalisierung von Eisformationen helfen, sagte<br />

Oswalk. Cryomod von der Aachener Firma Intergrated Exploration Systems ist ein Standard–<br />

werkzeug in der Branche. Wir geben Dicke, Charakteristika und Alter der Eisberge in das<br />

Programm ein, sagt Oswalk. Der Computer rekonstruiert die kryologische Geschichte der<br />

entsprechenden Stelle. Falls wir Zugang zu der Software erhalten, wissen wir, <strong>was</strong> da ist,<br />

bevor wir da sind.<br />

Sehr interessant, Oswalk. Danke.<br />

Wird der menschliche Geist die Ödnis vernichten, oder wird die Ödnis den menschlichen<br />

Geist vernichten? Wenn wir ihre öde Präsenz entdecken, können wir überhaupt we<strong>it</strong>er leben, in dieser<br />

Präsenz? Oswalk, ich führe dich nicht hinters Licht. Ich stopfe nicht das eine Loch, um ein anderes<br />

aufzumachen, metaphysisch gesprochen. Ich rede Tacheles. Wir müssen es uns zuerst ansehen, das ist<br />

der erste Schr<strong>it</strong>t, denn hier ist kein Gegenstand, bevor Licht ist, wenn wir nicht von Bord gehen, und<br />

wir gehen hier nicht von Bord, Oswalk. Wenn das Licht ausgeht, finden wir es nie wieder. M<strong>it</strong> Licht<br />

definieren wir, wie die Struktur uns erschaffen hat, und m<strong>it</strong> Licht schreiben wir die Schlacht gegen<br />

die absolute quälende Leere des nackten Gesichts, des gesichtslosen, ausdruckslosen, ursprünglichen<br />

Menschen, der aus Lehm gemacht war. Ist das ein Mythos? Der leere, der gesichtslose Kopf?<br />

Der erste Mensch, so unmenschlich. Der letzte Mensch, ein Monster.<br />

In einem Zustand tiefer Gelassenhe<strong>it</strong> beobachtete ich, wie es wie eine Krone aus einer<br />

schwimmenden Scheibe von überirdischem Blau und glänzendem Eis ragte, eine Bewegung fast<br />

dig<strong>it</strong>al in ihrer Unwirklichke<strong>it</strong>, ihrer Unmöglichke<strong>it</strong>. Ein prim<strong>it</strong>ives blaues Feuer, das aus dem Geburtskanal<br />

eines unversöhnlichen weißen Monol<strong>it</strong>hen kam, und ich war mir nicht sicher, ob es sich<br />

eher als et<strong>was</strong>, das aus der Vergangenhe<strong>it</strong>, oder et<strong>was</strong>, das aus der Zukunft kam, beschreiben ließ. Man<br />

hört Berichte von solchen Dingen, doch nur von Menschen, die selbst nicht glauben, dass sie sahen,<br />

KUNSTRAUM DORNBIRN / MATHIAS KESSLER THE TASTE OF DISCOVERY<br />

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