it was really - Mathias Kessler

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Kessler die Struktur eines Reliefs ab, auf dem sich eindrucksvoll das Wechselspiel von Erhöhung (Licht) und Vertiefung (Schatten) abzeichnet. Das Werk von Kessler findet in Nietzsches Formel von der „Oberflächlichkeit aus Tiefe“, bei der Oberfläche und Tiefe zur Deckung kommen, seine Korrespondenz. Indem er mit der Umwertung aller Werte zu einem Kopfsprung aus der bürgerlichen Trivialität ansetzt, ruft Nietzsche das ästhetisch untermalte Leben aus: „Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!“ 5 Fotograf der sinnlichen Weltanschauung In der Flutlicht-Fotografie von Kessler finden sich viele abgeschiedene Orte: Inseln, Landschaften, Felsen, Plateaus, Berge und Eisberge. Als „Fotograf der Sensation“ 6 fordert er in seinen Installationen die Betrachter heraus, alle fünf Sinne zur Wirkung zu bringen. Das erlaubt ihm, das Display wohlwollend oder ablehnend wahrzunehmen, unser Empfinden zwischen Leidenschaft und Abscheu oder zwischen Lust und Unlust oszillieren zu lassen. Bei Kessler steht nicht sein Rezeptionsvermögen als Fotograf im Mittelpunkt, sondern sein Produktions- und Projektionsvermögen, das er als Fotograf mit ins Bild setzt. Er betreibt keine Nachahmungsästhetik, sondern eine neue Ausdrucksästhetik. Vom bloßen Wahrnehmen führt der Weg bei Kessler zu einer aktiv interpretierenden „Wahrgebung“, die nicht danach fragt, ob Wahrnehmung wahr ist, sondern der Festlegung einer Deutung und Bedeutung folgt. Als Fotograf der Sensation macht sein abgekühlter Blick auf die Landschaft das Sehen des Sehens selbst zum Thema. In der Ausstellung „The Taste of Discovery“ im Kunstraum Dornbirn wird auch das Erleben des Erlebens sinnlich in Szene gesetzt. Die Besucher begeben sich auf eine Reise zwischen Central for Kessler is not his receptive capacity as a photographer, but the productive and projective capacity of his pictures. His is not an imitative, but a new expressive, aesthetic. In it, the way leads from bare perception to an actively interpretative “endowing of truth” that does not ask if a perception is true, but rather posits an interpretation and a meaning. As a photographer of sensation, with his chilled view of the landscape, Kessler turns the seeing of seeing itself into his subject. In the exhibition The Taste of Discovery at the Kunstraum Dornbirn, Kessler also stages the “experiencing of experience.” Visitors embark on a journey between polarities. The temperature in one cube is high, while the other is ice-cold. The contents of the stiflingly hot room—table, locker, cooling unit, and diverse sea charts—put one in mind of the engine room of a fishing cutter stinking of oil and diesel and sweat-soaked overalls. Using these scents, a perfume maker manufactured a new fragrance for Kessler called “The Taste of Discovery.” It conjures up the aura of the discoverer and warns of imminent oil pollution. In the damp, cold room, a large-size, ice-covered mirror hangs on one wall. Opposite, a video projection shows a pan- 28 den Polaritäten. Während in einem Kubus hohe Temperaturen herrschen, ist es im zweiten eiskalt. Die Möblierung des stickigen Hitzeraums mit Tisch, herumliegendem Kartenmaterial, Spindkasten und knarrendem Kühlaggregat evoziert die Vorstellung an den Maschinenraum eines Fischerkutters, in dem es nach Motorenöl, Diesel und dem Schweiß getragener Overalls stinkt. Aus diesen „Düften“ hat ein Parfümier für Kessler eine neue Duftnote mit dem Namen „The Taste of Discovery“ hergestellt, das die Aura des Entdeckers und die Warnung vor einer drohenden Ölpest versprüht. Im nassfeuchten Kälteraum gefriert an einer Wand ein großflächiger Spiegel, während auf der gegenüberliegenden Seite in einer Videoprojektion ein Schiff in einer Kamerafahrt um einen Eisberg kreist: Die pathetische Poesie des Eisbergs erinnert daran, dass das Erhabene, wie Kant bemerkte, in keinem Ding der Natur steckt, sondern erst als Gefühl in uns selbst seine Erregung findet. Die Ausstellung in Dornbirn versammelt in dichten Atmosphären Erinnerungen, Momente und Sedimente von Kesslers Reiseerlebnissen in Grönland und vermag das sinnliche Repertoire der Wahrnehmung anzusprechen und zu beleben. Was immer wir sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen, erleben wir nicht als passiven Prozess, sondern als aktiven Akt. Mit dem Wechsel vom Festland aufs Wasser gerät ein anderer Aggregatszustand in Aktion: Fixiertes wandelt sich zu im Fluss Befindlichem, das Geschlossene öffnet sich in eine Weite des Empfindens, dem Alltäglichen wird durch das Moment der neugierigen Suche die Kraft zur Entdeckung beigegeben. Kessler ist drei bis vier Monate im Jahre auf Reisen, um sich mit ruhigem Auge auf die Unmittelbarkeit der Welt einzulassen, um direkt auf die Phänomene zu reagieren und nicht „in der Natur“, sondern „aus der Natur“ zu fotografieren. Die Kamera dient ihm dabei als „Weltauge“, mit ihr gewinnt er eine neue Perspektive: diejenige einer sinnlichen Weltanschauung. ning shot taken from a ship circling an iceberg. The pathosladen poetry of the iceberg reminds one that the sublime, as Kant pointed out, inheres in no natural object but is a feeling that is excited in ourselves. The video shows how Kessler views phenomena as a geographer: his videogeography oscillates between the real and the imaginary, bringing to light the point where ego and geo part ways, as well as the fragility of reality. The Dornbirn exhibition unites memories, moments, and sediments of Kessler’s travel experiences in Greenland in an atmospheric density that both addresses and stimulates the sensual repertoire of perception. Whatever we see, hear, taste, smell, and feel is not experienced passively as a process but actively as an act. The shift from land to water brings a new set of conditions into play: the fixed becomes fluid, closure opens onto a breadth of sensation, and the element of curious inquiry endows the mundane with the power of discovery. Kessler travels for three or four months every year, opening himself with a steady eye to the immediacy of the world, reacting to phenomena directly, and photographing not “in” but “from” nature. His camera serves him as a “world eye” with which he gains a new perspective: that of a sensual world view. – Translated from the German by Christopher Jenkin-Jones
Fußnotentexte 1 Vgl. Hartmut Böhme, Berg, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), „Wörterbuch der philosophischen Metaphern“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, S. 46–61. 2 Zit. nach ebd., S. 49. 3 Zit. nach ebd., S. 49. 4 Vgl. Thomas Rolf, „Tiefe“, in: Ralf Konersmann (Hrsg.), „Wörterbuch der philosophischen Metaphern“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2007, S. 458–470; hier S. 459. 5 Nietzsche zitiert nach Rolf, a. a. O. [3], S. 468. (Friedrich Nietzsche, „Die fröhliche Wissenschaft“, in: „Kritische Studienausgabe“, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 1988, 2. Auflage, S. 352.) 6 Vgl. Paolo Bianchi, „Ästhetik der Fotografie. Typologie von sechs Wahr- nehmungsformen von Fotografen und Fotografien“, in: „Kunstforum International“, Band 192, Ruppichteroth 2008, S. 118–177; hier insbesondere S. 160 ff. zum Thema „Fotografie der Sensation“. Notes 1 Hartmut Böhme, “Berg,” in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, ed. Ralf Konersmann, 46–61 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, “HE 2007). WAS CHEW- 2 Ibid., 49. 3 Ibid. 4 See Thomas Rolf, “Tiefe,” in Wörterbuch der philosophischen Metaphern, ING ed. Kon- ON HER, HE ersmann, 458–70; in particular at p.459. 5 Friedrich Nietzsche, quoted here from Rolf (see n. iii), 468. (Friedrich Nietzsche, “The Joyful Wisdom,” in The Complete Works of Friedrich Nietzsche WAS Vol. 10, ed. CHEWING and trans. Oscar Levy, 10 [New York: Macmillan, 1924]). 6 Paolo Bianchi, “Ästhetik der Fotografie: Typologie von sechs Wahrnehmungsfor- ON HER, LIKE, men von Fotografen und Fotografien,” Kunstforum International 192 (Ruppichteroth: Verlag Kunstforum, 2008), 118–77; in particular at p.160 on the “photography of sensation.” LOWER PART OF HER LEG HER EXCERPT FROM YOUTUBE VIDEO: WOMAN GETS MAULED BY A POLAR BEAR CALF, HER FOOT HER SHOE...” KUNSTRAUM DORNBIRN / MATHIAS KESSLER THE TASTE OF DISCOVERY 29
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