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it was really - Mathias Kessler

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Paolo Bianchi<br />

M<strong>it</strong> ruhigem Auge<br />

<strong>Mathias</strong> <strong>Kessler</strong> als<br />

Fotograf der Sensation<br />

Ein hoher Berggipfel gilt in vielen Kulturen als Symbol für<br />

Erhabenhe<strong>it</strong> und Spir<strong>it</strong>ual<strong>it</strong>ät. Seine alles überragende<br />

Höhe spiegelt die Sphäre des Unerreichbaren. So weist die<br />

Grundgeste aller Religionen „nach oben“, sie ist „jense<strong>it</strong>ig“<br />

oder „überirdisch“. Das Göttliche und Himmlische sind immer<br />

m<strong>it</strong> dem „Oben“ verbunden. Wenn Berge Sehnsucht erzeugen<br />

und Imaginationen wachrufen, überrascht es nicht, dass die<br />

sogenannten Hochreligionen – Judentum, Christentum, Islam,<br />

Buddhismus, Hinduismus – in ihrer jeweiligen Symbolmatrix<br />

heilige Berge aufweisen. 1<br />

Nicht als Prophet des Untergangs, sondern als Ästhet<br />

des Lichts reiste <strong>Mathias</strong> <strong>Kessler</strong> nach Grönland, die größte<br />

Insel Europas, wo 80 Prozent der Fläche von Eis und Schnee<br />

bedeckt sind und wo riesige Eisberge durch ihre wundersame<br />

Einzigartigke<strong>it</strong> beeindrucken. An diesem unwirtlichen<br />

Ort der Erde lässt sich eine faszinierende Naturlandschaft<br />

erleben, und zugleich handelt es sich um den Ground Zero der<br />

Klimakrise. Se<strong>it</strong> 2003 ist hier der Jakobshavn-Gletscher um<br />

beängstigende 15 Kilometer zurückgegangen.<br />

<strong>Kessler</strong> ist als Künstler an der Ambivalenz von Tremendum<br />

und Faszinosum interessiert, am Pendelschlag zwischen<br />

Paolo Bianchi<br />

W<strong>it</strong>h a Steady Eye<br />

<strong>Mathias</strong> <strong>Kessler</strong><br />

as Photographer<br />

of Sensation<br />

Many cultures consider high mountain peaks as symbols of<br />

sublim<strong>it</strong>y and spir<strong>it</strong>ual<strong>it</strong>y. Their all-surpassing height suggests<br />

the sphere of the unattainable. The fundamental gesture of all<br />

religions is upward, other-worldly, celestial. The divine and the<br />

heavenly are invariably connected w<strong>it</strong>h the “upper.” Given that<br />

mountains evoke such yearnings and fantasies, <strong>it</strong> is no surprise<br />

that holy mountains are among the symbols in the so-called<br />

“high” religions—Judaism, Christian<strong>it</strong>y, Islam, Buddhism,<br />

Hinduism. 1<br />

It is not as a prophet of doom, but as an “aesthete of light”<br />

that <strong>Mathias</strong> <strong>Kessler</strong> traveled to Greenland, Europe’s biggest<br />

island, w<strong>it</strong>h <strong>it</strong>s eighty percent surface-cover of ice and snow<br />

and giant icebergs impressive for their awe-inspiring uniqueness.<br />

This inhosp<strong>it</strong>able location is the ground zero of the<br />

climate crisis. Simultaneously, <strong>it</strong> presents a fascinating natural<br />

landscape. Here, since 2003, the Jakobshavn Glacier has<br />

retreated by an alarming fifteen kilometers. The ambivalence of<br />

the tremendous and the fascinating, the sudden swing from the<br />

awe-inspiring to the uncanny, the enchanted, and the sublime<br />

24<br />

Schauervollem, Unheimlichem und Verzaubertem, Erhabenem.<br />

Seine Kunstwerke lassen das Gefühl aufkommen, an et<strong>was</strong><br />

Übermächtigem teilzuhaben. Die Eisberge erscheinen dabei<br />

nicht als S<strong>it</strong>z der Götter, sondern als Orte der Wildnis. Im<br />

Angesicht dieser gewaltigen, (noch) nicht beherrschten Natur<br />

lassen sich die „Grenzen der Menschhe<strong>it</strong>“ (Goethe) erfahren.<br />

Eis-Berg als absolute Metapher<br />

Ein Eisberg hat das Potenzial, sich als eindrucksvolles Realsymbol<br />

für das Ze<strong>it</strong>alter der globalen Finanzkrise ins Bild zu<br />

bringen. Der wesentliche Grund der Krise war, dass viele Anleger<br />

die Risiken von Derivaten und Hedge Funds unterschätzt<br />

haben. Sie ließen sich von verlockenden Gewinnaussichten,<br />

der vordergründig glänzenden Oberfläche der Versprechungen<br />

blenden und schenkten den Risiken zu wenig Beachtung. Eisberge<br />

und Gletscher, wie sie <strong>Mathias</strong> <strong>Kessler</strong> ablichtet, führen<br />

ihre Raumachse von oben nach unten. Sie faszinieren durch<br />

ihre Schönhe<strong>it</strong> und Fremdhe<strong>it</strong>. Für Schiffe ist der Eisberg<br />

erfahrungsgemäß bedrohlich, denn die Gefahr lauert im Verborgenen.<br />

Der größte Teil seines Volumens liegt unter Wasser,<br />

nur ungefähr ein Neuntel des Gesamtkörpers ist sichtbar.<br />

Berge bilden bei Hans Blumenberg eine „absolute Metapher“,<br />

weil sie, ähnlich wie Licht, ein Urphänomen sind. Für<br />

Kulturen ist es unvermeidlich, Berg-Metaphern zu kreieren.<br />

Durch sie ist es möglich, die Grundstrukturen einer kulturellen<br />

und religiösen Ordnung auszubilden. Hartmut Böhme spricht<br />

in diesem Zusammenhang davon, dass es „auf allen Kontinenten<br />

reale Berge sind, die symbolische Räume bilden. Es gibt<br />

m<strong>it</strong>hin eine prätextuelle und präpikturale universale Textur des<br />

Montanen, die den gesamten Globus umspannt.“ 2<br />

are what interest <strong>Kessler</strong> as an artist. His works give one the<br />

sensation of partaking in some formidable power. The icebergs<br />

are not the seats of gods but wildernesses. Face to face w<strong>it</strong>h<br />

nature so formidable and (still) untamed, one experiences the<br />

“lim<strong>it</strong>s of mankind” (Goethe).<br />

Iceberg as Absolute Metaphor<br />

The iceberg can function as an impressively real symbol of the<br />

current era of financial crisis. The root cause of the crisis <strong>was</strong><br />

that many investors underestimated the risks of derivatives<br />

and hedge funds. Letting themselves be dazzled by tempting<br />

prospects of gain, by the gl<strong>it</strong>tering surfaces of promises, they<br />

attended insufficiently to risks. The spatial axes of the icebergs<br />

and glaciers <strong>Kessler</strong> photographs run from top to bottom.<br />

These forms fascinate w<strong>it</strong>h their beauty and strangeness.<br />

Icebergs, as is well known, are a threat to ships, for the danger<br />

lurks unseen. The bulk of their volume lies submerged. Only<br />

around a ninth of their total mass is visible.<br />

Mountains for Hans Blumenberg are an “absolute metaphor,”<br />

because, like light, they are an ur-phenomenon. Cultures<br />

inev<strong>it</strong>ably create mountain metaphors. Such metaphors underlie<br />

cultural and religious systems. Hartmut Böhme has pointed<br />

out in this context that “real mountains on all continents generate<br />

symbolic spaces. There is, therefore, a pre-textual, prepictural,<br />

universal texture of the montane embracing the entire<br />

globe.” 2 Mountain symbolism is independent of the achievements<br />

of high culture (wr<strong>it</strong>ing, the book, authorship, reading).<br />

As Böhme remarks: “Every mountain and everything about a<br />

mountain can speak symbolically and become a metaphor. 3<br />

On his two exped<strong>it</strong>ions, to Ilulissat (Danish: Jakobshavn)<br />

in North Greenland and to the Chimantá Massif in Venezuela,<br />

Ilulissat H001,<br />

Grönland. 2007<br />

Ilulissat H001,<br />

Greenland. 2007

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