Es begann mit einem Quadrat - Deutsche Guggenheim
Es begann mit einem Quadrat - Deutsche Guggenheim
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Das legendäre<br />
„Schwarze<br />
suprematistische<br />
<strong>Quadrat</strong>“<br />
(80 x 80 cm)<br />
von 1914/15.<br />
Die einst glatte<br />
Bildfläche<br />
ist inzwischen<br />
aufgerissen<br />
<strong>Es</strong> <strong>begann</strong> <strong>mit</strong> <strong>einem</strong> <strong>Quadrat</strong><br />
Russland 1915. Der Maler Kasimir Malewitsch mutiert zum Visionär und will die<br />
Kunst vom Gegenstand erlösen. Als Symbol seiner „Suprematismus“ genannten<br />
Lehre stellt er ein schwarzes Viereck aus. Diese spröde Geste macht ihn zum<br />
Pionier der Avantgarde, aber auch zum politischen Gegenspieler der Kommunisten.<br />
Vor 125 Jahren wurde er geboren<br />
10 art 1/03<br />
Alle abstrakten Bildelemente scheinen sich in unablässiger Bewegung zu befinden: „Suprematismus“ (88 x 72 cm, 1915)<br />
art 1/03 11
Kosmisches<br />
Chaos, das nach<br />
Ordnung strebt,<br />
dynamisiert im Bild<br />
„Suprematismus<br />
(Supremus Nr. 58:<br />
Gelb und Schwarz)“<br />
(80 x 71 cm, 1916).<br />
Unten ein kontemplatives<br />
Gegenstück:<br />
„Suprematismus<br />
(<strong>mit</strong> blauem Dreieck<br />
und schwarzem<br />
Rechteck)“ (67 x<br />
57 cm, 1915)<br />
Der neue Stil –<br />
höchst umstritten<br />
Mit Bildkompositionen aus geometrischen<br />
Elementen experimentierten<br />
kurz vor der Revolution von 1917<br />
auch russische Künstler wie Wladimir<br />
Tatlin, Ljubow Popowa oder Iwan<br />
Klujn. Doch Malewitsch verdammte deren<br />
„Konstruktivismus“ als rein dekorativ.<br />
Nur sein „Suprematismus“ schlug,<br />
wie er glaubte, der Menschheit systematisch<br />
die Brücke in eine humanere<br />
„gegenstandslose Welt“. Und seine in<br />
vielen Schriften propagierte Kunst-<br />
Religion fand Anhänger – zunächst in<br />
Russland, doch seit den zwanziger<br />
Jahren auch im westlichen Ausland<br />
Abstrakte<br />
Ikone. Außer<br />
<strong>Quadrat</strong>en und<br />
Kreisen hat<br />
Malewitsch wiederholt<br />
auch das<br />
Kreuz dargestellt,<br />
selten jedoch<br />
so christlich wie<br />
hier: „Suprematismus“<br />
(101x<br />
60 cm, 1921<br />
oder 1927)<br />
art 1/03 13
VON ALFRED NEMECZEK<br />
Er war ein zähes russisches<br />
Dorfkind, ältestes von 14 Geschwistern.<br />
Mit 13 konnte<br />
Kasimir Malewitsch (1878 bis<br />
1935) perfekt stricken und sticken,<br />
aber leider nicht malen,„wie die Kühe<br />
nach dem Regen durch die Pfützen<br />
liefen und sich im Wasser spiegelten“.<br />
So sehr er sich <strong>mit</strong> dem Aquarellkasten<br />
auch mühte – „schlecht kam es auf<br />
dem Papier heraus!“.<br />
Also verließ er eines Tages das<br />
Dorf Parchomowka bei Belopolje in<br />
Weißrussland und erwarb zwischen<br />
1895 und 1910 an den Kunstschulen<br />
von Kiew, Kursk und Moskau nicht<br />
nur die Fähigkeit, immer virtuoser<br />
abzubilden, „was ich gesehen hatte“.<br />
Rasch überwand Malewitsch auch<br />
die Pariser Stil-Importe Neo-Impressionismus,<br />
Fauvismus und Kubismus,<br />
die neben dem italienischen<br />
Futurismus die vor dem Ersten Weltkrieg<br />
höchst vitale und weltoffene<br />
russische Szene prägten. Und eroberte<br />
<strong>mit</strong> <strong>einem</strong> eigenen Ismus die internationale<br />
Kunstwelt.<br />
Im Herbst 1915 zog sich Malewitsch<br />
zurück, verbot selbst Freunden<br />
sein Moskauer Atelier. Im Geheimen<br />
malte er an Bildern für eine Futuristen-Ausstellung<br />
in Petrograd (heute<br />
wieder St. Petersburg, wie vor 1914).<br />
Und so glückte Malewitsch am 19. Dezember<br />
im Kunstsalon Dobytschina<br />
ein Überraschungscoup: Der Maler,<br />
damals 37, düpierte sein Publikum <strong>mit</strong><br />
dem „langweiligsten Bild, das je gemalt<br />
worden ist“ (so 70 Jahre danach die<br />
„Neue Zürcher Zeitung“): Das provokante<br />
Gemälde, vor dem viele den<br />
Kopf schüttelten, hing im Malewitsch-<br />
Raum der Schau „0,10“ hoch unter der<br />
Decke über Eck und zeigte ein von<br />
weißen Rändern umgebenes „Schwarzes<br />
<strong>Quadrat</strong>“. Und sonst gar nichts.<br />
Jeder hätte es nachmalen können,<br />
doch nur einer konnte es interpretieren.<br />
Malewitsch verteilte ein<br />
Manifest, in dem er das dunkle Abstraktum<br />
zur „nackten Ikone meiner<br />
Zeit“ und zur Urform einer neuen<br />
Kunstreligion erklärte, die er „Suprematismus“<br />
nannte. Sie sollte nicht<br />
nur ihren Propheten „aus dem stinkenden<br />
Morast der akademischen For-<br />
14 art 1/03<br />
Expressiv<br />
und zielgerichtet<br />
stürmt<br />
der „Badende“<br />
(105 x 69 cm,<br />
1911) über rote<br />
Erde ins nasse<br />
Element. Als<br />
Vorbild dienten<br />
damals wohl<br />
Arbeiten von<br />
Pablo Picasso<br />
Harmonie<br />
und Augenlust:<br />
„Auf dem<br />
Boulevard“<br />
(55 x 66 cm,<br />
1903). Später<br />
tritt die Ökonomieabstrakter<br />
Zeichen<br />
bei Malewitsch<br />
an die Stelle<br />
der Schönheit<br />
In der<br />
Collage<br />
„Partielle<br />
Finsternis.<br />
Komposition<br />
<strong>mit</strong><br />
Mona Lisa“<br />
(62 x 50<br />
cm, 1914)<br />
wird<br />
Leonardo<br />
da Vincis<br />
Schönheitsidealprogrammatischdurchkreuzt<br />
Reise auf dem<br />
Karussell der Stile<br />
„In einer geradezu anarchischen<br />
Weise“, schrieb der Experte Werner<br />
Haftmann, habe sich Moskau vor<br />
dem Ersten Weltkrieg den europäischen<br />
Kunstströmungen geöffnet:<br />
„Die junge französische Malerei war<br />
dort besser bekannt als in Frankreich.“<br />
Und so erprobte auch Malewitsch<br />
auf der Suche nach s<strong>einem</strong><br />
Weg den Impressionismus, eiferte<br />
Paul Cézanne nach und orientierte<br />
sich in einer „kubofuturistischen“<br />
Phase an Pablo Picasso und Fernand<br />
Léger. Auch einen von der<br />
russischen Volkskunst stammenden<br />
Pri<strong>mit</strong>ivismus hat er erprobt<br />
men“ herausführen, sondern buchstäblich<br />
die ganze Menschheit aus der<br />
Knechtschaft der Gegenstände erlösen.<br />
„Die Dinge“, lehrte Malewitsch,<br />
„sind verschwunden wie der Rauch.“<br />
Angesagt sei ein „neuer malerischer<br />
Realismus“ als Fenster in eine humanere<br />
„gegenstandslose Welt“.<br />
Und der über Nacht zum Visionär<br />
gewordene Künstler wurde erhört.<br />
Nicht sogleich von der ganzen<br />
Menschheit, aber spontan von Kollegen<br />
wie Puni, Iwan Kljun und Nadeschda<br />
Udalzowa, die als erste das<br />
„Schwarze <strong>Quadrat</strong>“ als epochale Geste<br />
begriffen und 1916 in Moskau eine<br />
Suprematistengruppe gründeten.<br />
Mit einigem Abstand honorierte<br />
auch die Kunstgeschichte<br />
den spektakulären<br />
Alleingang. Denn Malewitsch hatte<br />
der Forschung – so der Kritiker Gregor<br />
Wedekind – ein „Halluzinogen<br />
der Theorie“ verabreicht, an dem<br />
sich die Avantgarden des 20. Jahrhunderts<br />
ebenso berauschten wie an<br />
den Behauptungen des Franzosen<br />
Marcel Duchamp (1887 bis 1968).<br />
Dessen Ikonen hießen „Ready-Mades“<br />
und waren unscheinbare Alltagsdinge,<br />
die sich durch ihren Kontext<br />
und die geistige Mitarbeit des<br />
Betrachters als Kunst legitimieren<br />
sollten – ganz so, wie das nahezu<br />
gleichzeitig entstandene Viereck von<br />
Petrograd.<br />
Malewitschs radikale Abstraktionen<br />
– darunter auch Kreuze, Kreise,<br />
<strong>Quadrat</strong>e in Rot und dynamische<br />
Balken-Konstruktionen – kamen zügig<br />
in den Westen. Früh zählten seine<br />
Bilder zum Bestand des Amsterdamer<br />
Stedelijk Museum sowie des<br />
New Yorker Museum of Modern Art.<br />
Der Suprematismus inspirierte Strömungen<br />
wie De Stijl, Konstruktivismus,<br />
Op Art, Zero sowie Minimal<br />
Art und erlebt auch in diesem Jahr<br />
wieder – Malewitsch wäre am 26. Februar<br />
125 Jahre alt – opulente Ausstellungen<br />
in Berlin, New York und<br />
Houston. Alle können auf Leihgaben<br />
aus russischen Museen zurückgreifen,<br />
die das Sowjetregime fast 60<br />
Jahre lang blockiert hatte. Aber nun<br />
dürfen sie ausreisen, um das reiche<br />
Entwicklungsspektrum eines Künst-<br />
art 1/03 15
lers zu offenbaren, der sich als Maler,<br />
Philosoph, Lehrer, Architekt, Designer<br />
bewährte und s<strong>einem</strong> Land bei<br />
der Oktoberrevolution von 1917 als<br />
Kulturfunktionär diente. Nach dem<br />
Tod von Lenin, den er als Messias<br />
verehrt und zugleich ideologisch bekämpft<br />
hatte, wurde er degradiert.<br />
Sogar im Gefängnis hat er gesessen.<br />
Auch im Dezember 1915, als das<br />
„Schwarze <strong>Quadrat</strong>“ seine von<br />
den Kritikern verspottete Premiere<br />
feierte, quälten Malewitsch<br />
noch andere Sorgen: Er hatte einen<br />
Mythos in die Welt gesetzt, dessen<br />
Tragweite er selber nur mühsam begriff.<br />
Als die Arbeit vollbracht war,<br />
konnte der Künstler (so seine Mitarbeiterin<br />
Anna Leporskaja) „eine<br />
Woche lang weder trinken noch essen<br />
noch schlafen“. Er zog Bilanz:<br />
Schließlich war das erhabene Signet<br />
ja nicht aus Übermut entstanden,<br />
sondern <strong>einem</strong> experimentierfreudigen<br />
Milieu entwachsen, in dem geniale<br />
Künstler wie Michail Larionow<br />
und Natalja Gontscharowa, Wladimir<br />
Tatlin und Alexander Rodtschenko<br />
sich ernsthaft um eine lebensnahe<br />
Synthese von Kubismus und Futurismus<br />
bemühten.<br />
Die Abstraktion – lag denn dieses<br />
Thema nicht längst in der Luft?<br />
Wassily Kandinsky hatte sich ihr genähert,<br />
und die Gontscharowa hatte<br />
für „die Kunstwerke des Ostens“ gefordert:<br />
„Sie kopieren die Natur nicht<br />
… sie schaffen sie neu.“ In dieselbe<br />
Kerbe hieb die kakophonische Oper<br />
„Sieg über die Sonne“ von Michail<br />
Matjuschin (1913), an deren Skandalerfolg<br />
in St. Petersburg Malewitsch<br />
<strong>mit</strong> abstrakten, den Bühnenraum<br />
zum Kosmos weitenden Szenenbildern<br />
beteiligt war. „Zerschlagen ist<br />
die Sonne“, jubiliert zum Finale der<br />
Chor, „es lebe die Dunkelheit … unser<br />
Licht ist in uns.“ Malewitsch erfand<br />
diesem Licht ein Symbol und<br />
einen Namen.<br />
Eigentlich alles ganz konsequent;<br />
dennoch, andererseits, auch eine Ungeheuerlichkeit:<br />
„<strong>Es</strong> wäre wert“, grübelte<br />
der <strong>Quadrat</strong>-Maler, „darüber<br />
nachzudenken, was das ist und was in<br />
ihm ist. Niemand tat dies bisher. Und<br />
ich selbst bin nun <strong>mit</strong> der unver-<br />
16 art 1/03<br />
Ikonen der Arbeitswelt: Die „Mädchen auf dem Feld“ (106 x 125 cm, 1928/1929) boten eine<br />
Zu neuen Ufern<br />
oder krass zurück?<br />
Parteichef Lenin tolerierte<br />
die Abstraktion als Kunst der<br />
russischen Revolution; nach<br />
s<strong>einem</strong> Tod (1924) kehrte der<br />
Gegenstand wieder – auch<br />
bei Malewitsch. Konzession an<br />
das immer rigidere Sowjetregime,<br />
dem er als Kulturfunktionär<br />
gedient hatte oder Fortentwicklung<br />
des Suprematismus,<br />
wie der Maler behauptete? Die<br />
Frage bleibt ungeklärt. Fest<br />
steht: Auch das späte Selbstbildnis<br />
als Renaissance-<br />
Fürst (1933) ist künstlerisch<br />
von hoher Qualität<br />
Der Landarbeiter als Guru und suprematistisches<br />
Idol: „Kopf eines Bauern“<br />
(72 x 54 cm, 1928/1929). Rechts:<br />
„Schnitterin“ (72 x 72 cm, 1928/1929),<br />
ein Monument der Plackerei<br />
Alternative zum sozialistischen Realismus<br />
Selbstporträt (73 x 66 cm) von 1933<br />
Natalja Malewitsch (68 x 56 cm, 1933)<br />
wandten Betrachtung seiner geheimnisvollen<br />
schwarzen Fläche beschäftigt<br />
… In ihm, dem <strong>Quadrat</strong>, sehe ich<br />
das, was die Menschen einstmals im<br />
Angesicht Gottes sahen.“<br />
Im dumpfen „Donner der Oktoberkanonen“<br />
(Malewitsch) mutierte<br />
der Seher allerdings jäh zum quirligen<br />
Macher. Wie fast alle Intellektuellen<br />
begrüßte er die Revolution<br />
und diente ihr als Exponent so seltsamer<br />
Chiffren wie „Ginchuk“, „Inchuk“,<br />
„Wchutemas“ oder „Unowis“.<br />
Das waren bürokratische Abkürzungen<br />
für staatlich geförderte, utopische<br />
Künstlerprojekte, wie sie die<br />
Moderne kein zweites Mal erlebt hat.<br />
Allein 36 neue Museen wurden gegründet<br />
und 26 weitere geplant, als<br />
sich Malewitsch 1917 in der Moskauer<br />
„Kommission zum Schutz der<br />
Kunstschätze“ nützlich machen durfte.<br />
„Alles Gestrige“, lobte der Kommissar,<br />
„wurde abgestreift.“<br />
Hinter dem Kürzel „Unowis“<br />
(Begründer der neuen Kunst)<br />
verbarg sich folgende Aktion:<br />
Malewitsch – damals zugleich Lehrer<br />
für Malerei und Textilkunst an der<br />
neuen Moskauer Kunstgewerbeschule<br />
„Wchutemas“ – wurde 1920 <strong>mit</strong> <strong>einem</strong><br />
Rollkommando seiner Kunstjünger<br />
nach Witebsk in Weißrussland delegiert,<br />
um die vom Kollegen Marc<br />
Chagall (1887 bis 1985) geleitete<br />
Kunstakademie aufzumischen. Er<br />
drängte Chagall aus dem Amt und<br />
bedeckte jede geeignete Fassade und<br />
jeden Gartenzaun <strong>mit</strong> seinen suprematistischen<br />
Symbolen. „Mir war, als<br />
sei ich in eine verzauberte Stadt geraten,<br />
aber zu jener Zeit war alles möglich<br />
und wunderbar“, schrieb eine<br />
Zeitzeugin.<br />
„Inchuk“ nannten die Moskauer<br />
Revolutionäre eine neue Kunstschule,<br />
an der Kandinsky bis 1921 <strong>mit</strong><br />
Kursen über psychische Kunstwahrnehmung<br />
den Lehrplan beherrschte,<br />
und an der Malewitsch neben Tatlin<br />
und Lissitzky nur Vorlesungen<br />
hielt. Chef wurde er 1924 am 1922<br />
gegründeten Leningrader „Ginchuk“<br />
(Staatliches Institut für künstlerische<br />
Kultur), einer interdisziplinären Akademie,<br />
an der er seinen Suprematismus<br />
predigen, aber auch Porzellan-<br />
art 1/03 17
Letzter<br />
Auftritt in<br />
der Öffentlichkeit:Malewitsch<br />
<strong>mit</strong> seinen<br />
Werken<br />
in der Leningrader<br />
Schau<br />
„15 Jahre<br />
sowjetische<br />
Kunst“ (1932)<br />
Umkämpfter Besitz<br />
Den größten Bestand an Malewitsch-<br />
Werken hüten zwei staatliche russische<br />
Museen – die Tretjakow-Galerie<br />
in Moskau und das Russische Museum<br />
in St. Petersburg. Stolz darauf<br />
sind sie erst seit etwa 20 Jahren. Wer<br />
sich vor der Perestroika-Zeit <strong>mit</strong> dem<br />
Künstler vertraut machen wollte,<br />
musste in die USA oder nach Holland<br />
reisen; denn die Sowjetunion hielt den<br />
Nachlass des seinerzeit Verfemten unter<br />
Verschluss.<br />
Das New Yorker Museum of Modern<br />
Art (MoMA) und das Amsterdamer<br />
Stedelijk Museum dagegen zeigten Arbeiten<br />
aus <strong>einem</strong> umfangreichen Konvolut,<br />
das Malewitsch 1927 dem Ar-<br />
chitekten Hugo Häring übergeben<br />
hatte. Häring, gestorben 1958, verbarg<br />
es <strong>mit</strong> Erfolg vor den Nationalsozialisten<br />
und entschloss sich schließlich<br />
zum Verkauf. Erben, die an der Rechtmäßigkeit<br />
dieser Transaktion zweifelten,<br />
bedrohten das MoMA Anfang<br />
der neunziger Jahre <strong>mit</strong> einer Klage;<br />
angeblich hat es Entschädigung geleistet.<br />
Das Stedelijk Museum rettete<br />
sich durch Gründung einer gemeinsamen<br />
Stiftung <strong>mit</strong> dem Russischen Museum<br />
vor Ansprüchen der Moskauer<br />
Regierung, bleibt aber privaten Ansprüchen<br />
ausgesetzt (art 5/2001).<br />
Unterdessen können sich Museen in<br />
Ost und West über das Wachsen ihrer<br />
Malewitsch-Bestände freuen: Dem<br />
Stedelijk fielen rund 300 Arbeiten aus<br />
dem Nachlass des 1993 aus Moskau<br />
emigrierten Sammlers Nicolai Chardschijew<br />
(1903 bis 1996) als Dauerleihgabe<br />
zu; der russische Staat erwarb<br />
auf dem Kunstmarkt für nur eine<br />
Million Dollar die vierte Version des<br />
„Schwarzen <strong>Quadrat</strong>s“, die nun in die<br />
Sammlung der Ere<strong>mit</strong>age integriert<br />
wird. Die Kaufsumme stiftete der Bankier<br />
Michail Potanin.<br />
18 art 1/03<br />
dekore und fantastische Bauten („Architectona“)<br />
entwerfen konnte.<br />
Malewitsch, kein Zweifel, war<br />
der Kunstpapst des revolutionären<br />
Erstschlags. Der dreimal verheiratete<br />
Eiferer agitierte in den Gremien und<br />
nutzte seinen Einfluss, um vor allem<br />
das eigene Œuvre umfassend auszustellen.<br />
Und unentwegt brachte er<br />
Traktate zu Papier.„Erde und Mond“,<br />
halluzinierte der Raumfahrt-Visionär<br />
schon 1920, „zwischen beiden<br />
kann ein neuer, <strong>mit</strong> allen Elementen<br />
ausgerüsteter suprematistischer Satellit<br />
konstruiert werden.“<br />
Und wenn Malewitsch den von<br />
ihm so genannten „Futtertrog-Realismus“<br />
seiner Zeitgenossen bekämpfte,<br />
brach er, lange vor den Grünen,<br />
eine Lanze für die Ökologie:<br />
„Schließlich kann man nicht den<br />
ganzen Erdball zusammenkratzen“,<br />
gab er zu bedenken, „nicht das ganze<br />
Wasser aus den Meeren schöpfen<br />
und nicht alles erfinden. So<strong>mit</strong><br />
gleicht der gegenstandsbesessene<br />
Mensch <strong>einem</strong> Verrückten, der sich<br />
abmüht, alle Schätze der Erde in seine<br />
Tasche zu stecken.“<br />
Dumm nur, dass Malewitschs<br />
Analyse auch den herrschenden Sozialismus<br />
nicht ausließ, dem er Ämter<br />
und Spielräume verdankte. Unter<br />
dem Titel „Suprematismus als reine<br />
Erkenntnis“ tolerierte er ihn 1922 gerade<br />
mal als Ideologie des Übergangs<br />
– als eine an Nützlichkeit orientierte<br />
„gegenständliche Lehre“, die „das Alte“<br />
nicht abschaffe, sondern bestenfalls<br />
weiter entwickele – leider auf<br />
rein „animalischer Ebene“.<br />
Der Sozialismus stützt sich nur<br />
auf einen Teil der arbeitenden<br />
Menschen“, behauptete Malewitsch<br />
dreist und fragte rhetorisch,<br />
„ob die Sozialisten selbst schon erkannt<br />
haben, dass der Sozialismus<br />
die letzte Etappe zum gegenstandslosen<br />
Suprematismus ist“. Und den<br />
definierte er als „Ganzheit gegenstandsloser,<br />
naturbedingter Erregungen<br />
ohne Ziel und irgendwelche<br />
Zweckbestimmungen“ – so<strong>mit</strong> als<br />
sanfte Form der Anarchie.<br />
Über derart wolkige Verheißungen<br />
mochten die sowjetischen Machthaber<br />
lächeln; der defätistische Ton<br />
solcher Pamphlete missfiel ihnen<br />
jedoch gründlich. Und so ergriffen<br />
sie Maßnahmen. 1926, zwei Jahre<br />
nach dem Tod des Künstler-Freundes<br />
Lenin, diffamierte das Parteiblatt<br />
„Leningrader Prawda“ die Experimentierstätte<br />
„Ginchuk“ als „Kloster<br />
auf Staatskosten“. Prompt verlor Malewitsch<br />
sein Amt als Direktor. Am<br />
Jahresende wurde das „Ginchuk“ aufgelöst,<br />
immerhin durfte der Künstler<br />
danach am Leningrader Institut für<br />
Kunstgeschichte forschen.<br />
Der abgehalfterte Star aktivierte<br />
nun seine Beziehungen und reiste im<br />
März 1927 über Warschau erstmals ins<br />
westliche Ausland – nach Berlin. Wichtiger<br />
als eine umfangreiche Schau seiner<br />
Bilder im Rahmen der „Großen<br />
Berliner Kunstausstellung“ war ihm<br />
Anfang April ein Abstecher zum Dessauer<br />
Bauhaus. Malewitsch hoffte dort<br />
auf eine Professur, doch Bauhaus-<br />
Chef Walter Gropius verwies auf seine<br />
leere Kasse. Enttäuscht fuhr der<br />
Maler am selben Abend nach Berlin<br />
zurück und verließ am 5. Juni die<br />
deutsche Hauptstadt – angeblich war<br />
sein Visum abgelaufen. Aber weil er<br />
ein dickes Textkonvolut zurückließ<br />
und zudem alle seine ausgestellten Bilder<br />
treuhänderisch dem Berliner Architekten<br />
Hugo Häring vermachte,<br />
vermuteten Freunde hinter der plötzlichen<br />
Abreise auch politischen Druck.<br />
Richtig ist: Malewitsch sah seine<br />
Berliner Bilder nie wieder, doch von<br />
neuerlichen Repressionen war in<br />
Moskau zunächst keine Rede. Im<br />
Gegenteil: Mit s<strong>einem</strong> Schüler Nikolai<br />
Sujetin konnte der Rückkehrer in<br />
Leningrad ungestört Trabantenstädte<br />
konzipieren, und die renommierte<br />
Moskauer Tretjakow-Galerie verhieß<br />
ihm für 1929 die Ehre einer großen<br />
Museumsretrospektive. Also machte<br />
sich Malewitsch ans Malen. Dabei<br />
entstanden im Jahr 1928 außer abstrakten<br />
Bildern auch impressionistische<br />
und neopri<strong>mit</strong>ivistische Gemälde,<br />
die – taktisch rückdatiert auf<br />
die Jahre 1903 bis 1912 – das Gewicht<br />
des gegenständlichen Frühwerks verstärken<br />
sollten.<br />
Die große Moskauer Schau, obwohl<br />
pünktlich im November 1929<br />
eröffnet, fand dann unter düsteren<br />
Vorzeichen statt: Im September war<br />
Malewitsch seine Leningrader Professur<br />
entzogen worden, und im<br />
Katalog der Moskauer Ausstellung<br />
distanzierte sich Tretjakow-Direktor<br />
Alexej Fedorow-Dawidow kaltschnäuzig<br />
von Malewitschs Kunst,<br />
die „uns … ideologisch weitgehend<br />
fremd“ ist. Aber wegen der „Meisterschaft<br />
seiner Werke“ blieb die Retrospektive<br />
unbehelligt und wanderte<br />
1930 sogar an seinen Geburtsort<br />
Kiew – wurde dort aber kurz nach<br />
der Vernissage verboten.<br />
Als die kommunistische Partei<br />
1932 den Sozialistischen Realismus<br />
zur Staatskunst erhob, reagierte Malewitsch<br />
– inzwischen vom Regime<br />
verhört, inhaftiert und nach Freilassung<br />
auf Provinzjobs angewiesen –<br />
<strong>mit</strong> <strong>einem</strong> dramatischen Stilwandel:<br />
Er malte nun stilisiert gegenständliche,<br />
oft gesichtslose Monumental-Porträts<br />
und Gruppenbilder von<br />
arbeitenden Bauern, die sich in Komposition<br />
und Farbwahl an der Tradition<br />
altrussischer Ikonen orientierten.<br />
Und weil Malewitsch, seit 1933<br />
krebskrank, zwar schikaniert, aber<br />
nie <strong>mit</strong> Ausstellungsverbot bestraft<br />
wurde, konnten sich russische Galeriebesucher<br />
vor s<strong>einem</strong> Tod (Mai<br />
1935 in Leningrad) auch noch über<br />
minuziöse Herrscherporträts des<br />
Künstlers und seiner dritten Ehefrau<br />
Natalja wundern – realistisch getüpfelt<br />
im Stil der italienischen Hochre-<br />
„Selbstporträt“<br />
von<br />
1908 (oder<br />
1910/11)<br />
im Stil der<br />
Pariser<br />
Fauves: Ein<br />
russischer<br />
Bürger vor<br />
s<strong>einem</strong><br />
Debüt als<br />
Avantgardist<br />
(46 x<br />
41 cm)<br />
naissance. Malewitsch – einst Seher<br />
und Vordenker der Avantgarde, doch<br />
jetzt, am Ende seiner Tage, nur noch<br />
schlapper Renegat und Opportunist?<br />
Zumindest im Westen blieb<br />
diese Frage lange unerörtert,<br />
denn die späten Bilder wurden<br />
hier erst während der achtziger Jahre<br />
des 20. Jahrhunderts bekannt. Bis<br />
dahin stützte sich die Kenntnis des<br />
Kunstpioniers Malewitsch auf frühe<br />
Bilder und Schriften sowie seine in<br />
Berlin deponierten suprematistischen<br />
Gemälde, die nach und nach – siehe<br />
Kasten auf Seite 18 – den Weg in<br />
westliche Museen gefunden hatten.<br />
Die Perestroika-Phase des Sowjetregimes<br />
ermöglichte Ausstellungen in<br />
Düsseldorf (1980), Amsterdam (1989)<br />
und Washington (1990), die <strong>mit</strong> Werken<br />
aus russischen Geheimdepots<br />
endlich den ganzen Malewitsch dokumentierten.<br />
Sie lösten einen Schock<br />
aus, denn allzu offenkundig waren<br />
die Brüche zwischen Abschaffung<br />
und malerischer Wiederverwertung<br />
des Gegenstands. Auch diese Debatte<br />
hat sich <strong>mit</strong>tlerweile beruhigt. Geblieben<br />
ist eine erhabene Schlussinszenierung,<br />
<strong>mit</strong> der sich der todkranke Malewitsch<br />
1935 fotografieren ließ: Die<br />
Aufnahme zeigt ihn auf dem Sterbebett;<br />
links steht der vom Schüler Sujetin<br />
geschreinerte Sarg <strong>mit</strong> suprematistischen<br />
Symbolen. Zu Häupten hängt<br />
das letzte realistische Selbstporträt<br />
einträchtig neben dem „Schwarzen<br />
<strong>Quadrat</strong>“ – und dazu dicht an dicht<br />
die kraftvollen bäurischen Ikonen<br />
des Spätwerks. So selbstbewusst tritt<br />
keiner ab, der seine irdische Mission<br />
als gescheitert betrachtet.<br />
Ausstellungen: Kasimir Malewitsch: Suprematismus,<br />
vom 18. Januar bis 27. April im <strong>Deutsche</strong>n<br />
<strong>Guggenheim</strong> Berlin, danach im <strong>Guggenheim</strong> Museum<br />
New York (22. Mai bis 4. September) und<br />
in der Menil Collection Houston (3. Oktober bis<br />
11. Januar 2004). Gemälde Malewitschs aus dem<br />
Stedelijk Museum Amsterdam sind im Musée d’Art<br />
Moderne de la Ville de Paris zu sehen (20. Januar<br />
bis 15. April). Abgebildete Werke in öffentlichen<br />
Sammlungen: Russisches Museum St.Petersburg:<br />
S.11, S.12 o., S.14 u., S.15, S.16/17, S.19 Stedelijk<br />
Museum, Amsterdam: S.12 u., S.13, S.14 o.<br />
Tretjakow-Galerie, Moskau: S.10. Literatur: Jeannot<br />
Simmen: Kasimir Malewitsch – Das schwarze<br />
<strong>Quadrat</strong>, Frankfurt 1998. Heiner Stachelhaus: K. M.<br />
Ein tragischer Konflikt, Düsseldorf 1989. Evelyn<br />
Weiss (Hrsg.) K. M. Werk und Wirkung, Köln 1995<br />
art 1/03 19<br />
Schlussbild<br />
1935, vom<br />
Künstler inszeniert:<br />
Malewitsch<br />
auf dem<br />
Sterbebett<br />
<strong>mit</strong> aufrecht<br />
stehendem<br />
Sarg und<br />
Schlüsselwerken<br />
seiner<br />
Karriere –<br />
abstrakt und<br />
figurativ