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DIE BESTE ZEIT<br />
Das Magazin für Lebensart<br />
Wuppertal und Bergisches Land Ausgabe 9, 2011 - 3,50 Euro<br />
Sisley kommt!<br />
Von der Heydt-Museum<br />
Klaus Armbruster<br />
Die Städte sind für dich gebaut<br />
Von der Heydt-Museum<br />
Zeichnungssammlung Klüser<br />
Unausgesprochene Dinge<br />
Hochschule für Tanz und Musik<br />
Die Dummheit<br />
Schauspiel von Rafael Spregelburd<br />
Zwei Paare - zwei Schwestern<br />
Georg Köhl inszeniert „Arabella“<br />
Schloss Lüntenbeck<br />
Textilmarkt erleben<br />
Nico Ueberholz<br />
Baumeister der Kommunikation<br />
Johanna Hilbrandt<br />
Über die Altersgrenze<br />
Verlag Edition 52<br />
Literatur in graphischer Gestaltung<br />
Andreas Steffens<br />
Höfl ichkeit - Essay<br />
Ulrich Land<br />
Fundsache<br />
1
Bezugsquellen:<br />
„Die Beste Zeit – Das Magazin für Lebensart“ erhalten Sie ab sofort:<br />
Friedrich-Ebert-Str. /<br />
Ecke Laurentiusstr. 12<br />
42103 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 30 40 01<br />
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Barmer Bahnhof<br />
Winklerstraße 2 · 42283 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 59 53 85<br />
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Karlstraße 37 · 42105 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 2 44 34 40<br />
www.lichtbogen-wuppertal.de<br />
<strong>Druckservice</strong> <strong>HP</strong> <strong>Nacke</strong> <strong>KG</strong><br />
Mediapartner · Druck · Verlag<br />
Friedrich-Engels-Allee 122<br />
42285 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 28 10 40<br />
www.hpnackekg.de<br />
Impressum<br />
„Die beste Zeit“ erscheint in Wuppertal und im<br />
Bergischen Land<br />
Erscheinungsweise: 5 – 6 mal pro Jahr<br />
Verlag <strong>HP</strong> <strong>Nacke</strong> <strong>KG</strong> - Die beste Zeit<br />
Friedrich-Engels-Allee 122, 42285 Wuppertal<br />
Telefon 02 02 - 28 10 40<br />
E-Mail: verlag@hpnackekg.de<br />
V. i. S. d. P.: HansPeter <strong>Nacke</strong> und Frank Becker<br />
Erfüllungsort und Gerichtsstand Wuppertal<br />
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Telefon (0202) 97 65 808<br />
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42103 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 563-6231<br />
www.von-der-heydt-museum.de<br />
Galerie<br />
Friedrich-Ebert-Straße 152a<br />
42117 Wuppertal · Tel.: 4 26 52 62<br />
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Hauptstraße 17<br />
42349 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 47 28 70<br />
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Bildnachweise/Textquellen sind unter den<br />
Beiträgen vermerkt.<br />
Gastbeiträge durch Autoren spiegeln nicht<br />
immer die Meinung des Verlages und der Herausgeber<br />
wider. Für den Inhalt dieser Beiträge<br />
zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich.<br />
Umschlagabbildung: La rade de Cardiff, (Bateaux<br />
dans la Baie de Cardiff),<br />
1897 Reims, Musée des Beaux-Arts de Reims<br />
Copyright Foto: C. Devleeschauwer /Musée des<br />
Beaux-Arts de la Ville de Reims<br />
Bücher Köndgen<br />
Werth 79 · 42103 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 24 800-50<br />
www.koendgen.de<br />
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Telefon (0202) 31 72 98 9<br />
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Jutta Lücke<br />
Hünefeldstraße 83<br />
42285 Wuppertal<br />
Telefon (0202) 88 353<br />
Kürzungen bzw Textänderungen, sofern nicht<br />
sinnentstellend, liegen im Ermessen der<br />
Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge<br />
kann keine Gewähr übernommen werden.<br />
Nachdruck – auch auszugsweise – von Beiträgen<br />
innerhalb der gesetzlichen Schutzfrist nur mit der<br />
ausdrücklichen Genehmigung des Verlages.<br />
Trotz journalistischer Sorgfalt wird für Verzögerung,<br />
Irrtümer oder Unterlassungen keine<br />
Haftung übernommen.
Editorial<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
auch Sie werden es bemerkt haben: Mitleid ist in Verruf geraten.<br />
Kranke, Behinderte, Menschen, die einen schweren Schicksalsschlag erlitten<br />
haben, versichern meist vehement: ‚Wir wollen kein Mitleid‘.<br />
Vielleicht, weil dieser Begriff mittelalterliche Bilder von barmherzigen<br />
Spendern heraufdämmern lässt, die dem elenden Bettler vor der<br />
Kirchentür von der Höhe ihres Wohlergehens ihr ‚Mitleid‘ in Gestalt<br />
einer kleinen Münze hinabreichen.<br />
An die Stelle des Mitleids hat man heute die Empathie gestellt,<br />
die Fähigkeit, sich in Situation und Lage eines Anderen hineinzuversetzen.<br />
Das Fremdwort klingt sachlicher, scheint irgendwie cooler als das<br />
sentimentalitätsverdächtige Mitleid. Leider fehlt es in unsrer Gesellschaft<br />
an allen Ecken an Empathie, etwa wenn jugendliche Gewalttäter ihre<br />
wehrlosen Oper immer grausamer zurichten, oder wenn ein Mann<br />
ein Kind umbringt, weil er sich über seinen Chef geärgert hat.<br />
Der Andere, in den hineinzuversetzen Empathie ermöglichen sollte,<br />
bleibt in solchen Fällen ausgeblendet, wird zum bloßen Objekt.<br />
Aber vielleicht ist es gerade auch unsere Weigerung, in diesem Bereich Gefühle<br />
zuzulassen, vielleicht sogar die Ablehnung des Mitleids,<br />
wodurch etwas wie Empathie bei uns immer seltener wird.<br />
Denn eine auf das rein Verstandesmäßige beschränkte Empathie<br />
ist ein Papiertiger. Wo mangelnde Phantasie und Trägheit des Herzens<br />
die gefühlsmäßige Reaktion verhindern, die auf das verstandesmäßige<br />
Erfassen einer Situation erfolgen müsste, kann Empathie keine positiven<br />
Folgen haben. Was unsere Gesellschaft wieder braucht, ist Mitfühlen<br />
mit dem andern und Mitleiden – denn nicht anderes bedeutet Mitleid.<br />
Kein Almosengeben, das die Distanz zum Leidenden, zu all den Armen,<br />
Vertriebenen, Kranken und Verletzten in aller Welt und in unserer Nähe<br />
aufrechterhalten soll. Sondern Mitleiden fremder Schmerzen:<br />
‚Fac me vere tecum fl ere‘, wie es im Stabat mater heißt – ‚Lass mich<br />
wahrhaft mit dir weinen‘. Es ist nicht den Christen vorbehalten.<br />
Wir sollten es wieder zulassen – es würde unsere Welt zu einem weniger<br />
kalten Ort machen. Überall und hier.<br />
Dorothea Renckhoff<br />
3
4<br />
Keine Angst vor Berührung<br />
Barbara Neusel-Munkenbeck und die Urne “moi“<br />
seit 1813<br />
Alles hat seine Zeit.<br />
Berliner Straße 49 + 52-54 · 42275 Wuppertal · www.neusel-bestattungen.de Tag und Nacht 66 36 74
Inhalt<br />
Ausgabe 9, 2. Jahrgang, Mai 2011<br />
Sisley kommt!<br />
Von der Heydt-Museum Wuppertal<br />
von Frank Becker<br />
Geld oder Wahrheit<br />
„Die Dummheit“ – Schauspiel<br />
von Rafael Spregelburd<br />
von Daniel Diekhans<br />
Zettels Traum<br />
Seite 6<br />
Seite 10<br />
Die Zeichnungssammlung Bernd und<br />
Verena Klüser im Von der Heydt-Museum<br />
von Dr. B. Eickhoff und F. Becker Seite 13<br />
Die unausgesprochenen Dinge<br />
Begegnungen in der Hochschule<br />
für Musik und Tanz – Variation IV<br />
von Marlene Baum Seite 16<br />
Zwei Paare, zwei Schwestern<br />
Georg Köhl inszeniert in Wuppertal<br />
„Arabella“ von Richard Strauss<br />
von Martin Hagemeyer Seite 20<br />
Schloss Lüntenbeck stoffl ich erlebt<br />
Textilmarkt Schloss Lüntenbeck<br />
2. – 5. Juni 2011<br />
von Antonia Dinnebier Seite 22<br />
Baumeister der Kommunikation<br />
Nico Ueberholz setzt Meilensteine<br />
in der temporären Architektur<br />
von Andrea Weiß Seite 25<br />
Die Städte sind für Dich gebaut<br />
Tafelbildmontage von<br />
Klaus Armbruster auf Zollverein<br />
von Frank Becker Seite 30<br />
Wo man ankommt,<br />
wenn man die über die Altersgrenze<br />
spaziert<br />
von Johanna Hilbrandt Seite 36<br />
Literatur in hochwertiger graphischer<br />
Gestaltung<br />
Der Wuppertaler Verlag Edition 52<br />
von Frank Becker Seite 40<br />
Höfl ichkeit<br />
Eine historische Abhandlung<br />
von Andreas Steffens Seite 43<br />
Fundsache<br />
von Ulrich Land Seite 46<br />
Neue Kunstbücher<br />
Alte Meister<br />
vorgestellt von Thomas Hirsch Seite 48<br />
Zwischen den Fronten<br />
Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels,<br />
wiederentdeckt von Michael Zeller<br />
von Johannes Vesper Seite 50<br />
Kulturnotizen<br />
vom Frank Becker und<br />
Andreas Rehnolt<br />
Seite 52<br />
5
6<br />
Als hätten Sie einen Sommertag im Arm<br />
Von der Heydt-Museum Wuppertal<br />
Sisley kommt!<br />
Im September öffnet die große Wuppertaler<br />
Sisley-Ausstellung ihr Pforten<br />
Man merkt Dr. Gerhard Finckh neben<br />
der hellen Begeisterung des Kunstfreundes<br />
die große persönliche Freude an,<br />
wenn er von der kommenden Impressionisten-Ausstellung<br />
berichtet, mit der er<br />
die Erfolgslinie Barbizon – Renoir – Monet<br />
– Bonnard fortschreibt. Der Direktor<br />
des Städtischen Wuppertaler Von der<br />
Heydt-Museums holt nämlich für die<br />
erste Einzel-Ausstellung Alfred Sisleys in<br />
Deutschland überhaupt weltweit Werke<br />
des wohl zartesten, feinsten, „impressionistischsten“<br />
Malers des französischen<br />
Impressionismus in sein Haus, das sich<br />
durch sein Engagement längst einen Ruf<br />
als Tempel dieser Epoche gesichert hat.<br />
Als Franzose darf Sisley (1839-1899)<br />
durchaus gelten, wenn er auch aus einem<br />
englischen Elternhaus stammte und<br />
seine erste Erziehung in London bekommen<br />
hat, wo er schon als junger Mann<br />
Interesse für englische Vorläufer der<br />
Kunstrichtung zeigte, als deren Vertreter<br />
er posthum Weltruhm erlangen sollte.<br />
Richard Parkes Bonnington, William<br />
Turner und John Constable waren damit<br />
quasi seine künstlerischen Taufpaten,<br />
denen alsbald in Frankreich sein Lehrer<br />
Charles Gleyere folgte, bei dem er von<br />
1860 bis 1863 studierte. Aus dieser<br />
Zeit rührt auch Sisleys Freundschaft zu<br />
Auguste Renoir und Claude Monet her,<br />
die wie er zu den Begründern der Schule<br />
wurden, die auch Camille Pissarro, Edgar<br />
Degas und Edouard Manet unter dem<br />
1874 durchaus zunächst von der Kunstkritik<br />
nicht positiv gemeinten Dach des<br />
„Impressionismus“ vereinte. Als legitime<br />
Erben der Schule von Barbizon führten<br />
diese Maler ihren wundervoll lebensnahen,<br />
Licht und Leichtigkeit atmenden<br />
Stil zu der Blüte, die dessen Bilder heute<br />
zu den begehrtesten Objekten auf dem<br />
Kunstmarkt macht.<br />
Kanal – Le canal du Loing, 1884<br />
Von der Heydt-Museum Wuppertal
8<br />
Les Champs, 1874 Leeds, City Art Galleries Copyright Foto: Leeds Museums and Galleries (City ArtGallery) U.K./Bridgeman Berlin<br />
Die Leihgaben u.a. aus Paris, New York,<br />
Toronto, Wien, London, München,<br />
Köln, Madrid, Zürich, Hamburg, Lille<br />
und Denver werden in „10-11 Kapiteln“<br />
nach Lebensabschnitten gehängt, vom 13.<br />
September 2011 bis zum 29. Januar 2012<br />
also in Wuppertal Alfred Sisleys Werden<br />
und Wirken zeigen. Die Vorarbeiten<br />
begannen bereits 2009 – erste Bilder der<br />
Leihgeber werden etwa drei Wochen vor<br />
Ausstellungsbeginn erwartet. Immerhin<br />
bisher 80 Bilder des 884 Gemälde umfassenden<br />
Œuvres Sisleys konnte Dr. Finckh<br />
bis heute zusammentragen, wobei unter<br />
diesen zehn Prozent des Gesamtwerks<br />
sicher einige der Kernstücke vertreten sein<br />
werden. Man kann in Wuppertal dabei<br />
auch auf eigene Bestände zurückgreifen,<br />
denn das Bild „Le canal du Loing“ (1884)<br />
gehört der Städtischen Galerie. Die<br />
Bereitschaft der Museen, sich gegenseitig<br />
mit Leihgaben zu unterstützen, macht<br />
eine solche Ausstellung erst möglich.<br />
Gefragt, was denn andere Häuser sich in<br />
Gegenzug aus Wuppertal erbitten, kann<br />
Gerhard Finckh spontan Paus Cézanne<br />
nennen und Edvard Munchs „Sternennacht“.<br />
Was wird in Wuppertal zu sehen sein?<br />
Natürlich die Flußlandschaften, für die<br />
Alfred Sisley so berühmt war, die Kirche<br />
von Moret-sur Loing, die er in vielen Variationen<br />
gemalt hat, ländliche Szenen aus<br />
der Umgebung von Paris und Lille, seine<br />
dokumentarische Serie „Überschwemmung<br />
in Pont-Marly“ aber auch Motive<br />
aus England, die er während späterer<br />
Aufenthalte gemalt hat. Gerhard Finckh<br />
umreißt Sisleys Œuvre mit einer treffen-<br />
den Bemerkung: „Zauberhaft, duftig,<br />
bewegt – als hätten Sie einen Sommertag<br />
im Arm.“<br />
Möglich gemacht wurde auch diese<br />
Ausstellung, wie schon andere zuvor,<br />
von der Jäckstädt Stiftung. Nun wird die<br />
Werbetrommel gerührt – mit guten Ideen<br />
und einer Kompanie von 100 Pappkameraden,<br />
besser gesagt: 100 Sisleys in<br />
Lebensgröße, die überall da Reklame für<br />
die Ausstellung machen sollen, wo Organisationen,<br />
Firmen, Geschäftsleuten das<br />
durch das Aufstellen gerne im Interesse<br />
des Museums tun möchten. 30 von den<br />
Herren sind schon vergeben, Anfragen<br />
können an das Von der Heydt-Museum<br />
gerichtet werden.<br />
Was auch schon jetzt ins Auge gefaßt<br />
werden sollte, sind Anmeldungen zu<br />
Führungen durch die Ausstellung. Die
Unsere Kulturförderung<br />
ist gut für die Sinne.<br />
Sparkassen-Finanzgruppe<br />
Kunst und Kultur prägen die gesellschaftliche Entwicklung. Die Sparkassen-Finanzgruppe ist der größte nicht-staatliche Kulturförderer<br />
Deutschlands. Auch die Stadtsparkasse Wuppertal ist ein wichtiger Partner für Kunst und Kultur in unserer Stadt. Das ist gut für<br />
die Kultur und gut für Wuppertal. www.sparkasse-wuppertal.de<br />
Sparkasse. Gut für Wuppertal.<br />
Erfahrungen der früheren Impressionisten-Ausstellungen<br />
haben gelehrt, daß<br />
man gut daran tut, sich rechtzeitig eine<br />
solche kundige Führung zu sichern. Alle<br />
Informationen über Kosten, Öffnungszeiten<br />
und Anreise bekommen Sie in einem<br />
Faltblatt des Museums und im Internet:<br />
Kontakt:<br />
von-der-heydt-museum@stadt.wuppertal.de<br />
Informationen unter:<br />
www.sisley-ausstellung.de und<br />
www.von-der-heydt-museum.de<br />
Telefon: 0202-563-2626<br />
Frank Becker<br />
La rade de Cardiff, (Bateaux dans la<br />
Baie de Cardiff), 1897 Reims, Musée des<br />
Beaux-Arts de Reims Copyright Foto: C.<br />
Devleeschauwer /Musée des Beaux-Arts de<br />
la Ville de Reims<br />
S<br />
9
10<br />
„Die Dummheit.<br />
Teil IV der Heptalogie des<br />
Hieronymus Bosch“.<br />
Schauspiel von<br />
Rafael Spregelburd<br />
Inszenierung: Christian von Treskow<br />
Ausstattung: Kristina Böcher<br />
Musik: Jens-Uwe Beyer<br />
Fotos: Uwe Stratmann<br />
Die Besetzung: Laetitia Hanon,<br />
Emma Toogood, Jane Pockett,<br />
Berta Wilkinson (Sophie Basse)<br />
Veronica Aldgate, Ivy Posgate, Maggie Dorset,<br />
Flo Cohen, Susan Price (Maresa Lühle)<br />
Robert Finnegan, Martin Stacey-Waddy,<br />
Offi cer Zielinsky, Lee Okazu Buckley,<br />
Carlo Bonelli (Lutz Wessel)<br />
Brad Finnegan, Ken Lemon, Offi cer Wilcox,<br />
John Posgate, Mr. Bancroft (Hendrik Vogt)<br />
Richard Troy, Ralph Dorset,<br />
Offi cer Davis, Donnie Crabtree,<br />
Lino Venutti (Holger Kraft)<br />
v. l. n. r. Maresa Lühle, Hendrik Vogt<br />
Geld oder Wahrheit !<br />
Christian von Treskow setzt für „Die<br />
Dummheit“ auf fünf Verwandlungskünstler<br />
und gewinnt.<br />
Maresa Lühle sieht schrecklich aus. Erschöpft<br />
sitzt sie im Rollstuhl, das Gesicht<br />
mit Kunstblut verschmiert, die Perücke<br />
zerzaust. Als Ivy Posgate erleidet sie in der<br />
Wuppertaler Inszenierung der Komödie<br />
„Die Dummheit“ eine Demütigung nach<br />
der anderen. Gelähmt und stumm, ist sie<br />
den Schikanen ihres sadistischen Bruders<br />
John hilfl os ausgeliefert. Von den skrupellosen<br />
Kunsthändlern Troy und Toogood,<br />
die auf der Suche nach ergaunertem Geld<br />
sind, wird sie überfallen und mißhandelt.<br />
Die größte Demütigung steht Ivy freilich<br />
noch bevor. Als einzige könnte sie den<br />
Millionenbetrug der beiden Kunsthändler<br />
ans Licht bringen und dadurch endlich<br />
aus ihrem Schattendasein heraustreten.<br />
Doch die Polizisten, die sie befragen,<br />
können oder wollen ihre Gebärdenspra-<br />
che nicht verstehen. Schlimmer noch,<br />
am Ende machen sie sich lustig über Ivys<br />
verzweifelte Verständigungsversuche.<br />
Was aber macht das Publikum? Es lacht<br />
aus vollem Halse. Erst wenn das Gelächter<br />
verebbt, wird sich mancher Zuschauer<br />
fragen, ob er eher über die dummen<br />
Polizisten oder über das Opfer ihrer<br />
Dummheit lacht. Und vielleicht wird er<br />
sich ertappt fühlen und erkennen, wie<br />
nahe ihm die Figuren des Stücks tatsächlich<br />
stehen.<br />
Im amerikanischen Nirgendwo<br />
Das Geschehen um Ivy Posgate ist nur<br />
einer von mehreren Handlungssträngen,<br />
die in „Die Dummheit“ zunächst parallel<br />
laufen und sich dann – in Anlehnung an<br />
Robert Altmans „Short Cuts“ – virtuos<br />
miteinander verknüpfen. Alle Handlungen<br />
sind in den tristen Vorstädten von<br />
Las Vegas mit ihren anonymen Highway
motels situiert. Dieser Gesichtslosigkeit<br />
entspricht das einheitlich weiße Hotelzimmer<br />
mit kleinem Bad und Minibar,<br />
das Bühnenbildnerin Kristina Böcher auf<br />
die Bühne des Kleinen Schauspielhauses<br />
stellt. Eine ideale Projektionsfl äche im<br />
doppelten Sinn, denn einerseits wechselt<br />
die Handlung tatsächlich nur von einem<br />
Motel zum nächsten und andererseits<br />
lassen sich auf den kleinen weißen Raum<br />
weite Wüstenlandschaften projizieren –<br />
zum Schluß des Stücks sogar ein Abspann<br />
in Schwarz-Weiß als Hommage an den<br />
Hollywoodfi lm.<br />
Der Tanz ums Goldene Kalb<br />
Natürlich ist die räumliche Nähe zum<br />
amerikanischen Mekka der Glücksspieler<br />
vom Autor Spregelburd bewußt gewählt.<br />
Sein Stück illustriert auf ebenso anschauliche<br />
wie komische Weise das Sprichwort<br />
“Money talks, truth only whispers!”.<br />
v. l. n. r. Holger Kraft, Lutz Wessel, Maresa Lühle, Sophie Basse<br />
Mit Ausnahme von Ivy, die durch ihre<br />
zweifache Behinderung außen vor bleibt,<br />
sind alle Figuren eifrig darum bemüht,<br />
entweder an Geld zu kommen oder es<br />
zu behalten. Da sind die drei korrupten<br />
Polizisten, die unterschlagenes Geld<br />
geradezu zwanghaft ausgeben müssen.<br />
Da ist die skurrile Spielergemeinschaft,<br />
die beim Roulette statt dem großen Geld<br />
jeden Abend nur 151 Dollar gewinnt.<br />
Den Kunsthändlern Troy und Toogood<br />
geht es ganz so wie ihren Kunden nicht<br />
um Kunst, sondern um das Kapital,<br />
das man daraus schlagen kann. Ihr fast<br />
vollständig verblichenes Gemälde, das sie<br />
als „neo-modernes“ Meisterwerk ausgeben,<br />
erinnert an das monochrome Bild in<br />
Yasmina Rezas „Kunst“.<br />
Selbst der idealistische Wissenschaftler<br />
Robert Finnegan kann sich dem hektischen<br />
Tanz um das Goldene Kalb nicht<br />
entziehen, obwohl er deutlich vor Augen<br />
hat, wohin die große Gier führt: „Wir<br />
leben in Zeiten enormer Dummheit!“<br />
So will er denn auch ursprünglich seine<br />
Lösung der berühmten Lorenz’schen Gleichung<br />
um keinen Preis veröffentlichen,<br />
weil er die Welt noch nicht reif dafür hält.<br />
Doch die prekäre Lage seines Sohnes, der<br />
ebenso gefährlichen wie falschen Mafi osi<br />
Geld schuldet, zwingt ihn zum Umdenken.<br />
Als er seine Erkenntnisse schließlich<br />
in die Öffentlichkeit bringt, ist diesen ein<br />
ähnliches Schicksal beschieden wie Ivys<br />
Wahrheiten. Denn das Geld hat das große<br />
Wort …<br />
Verwandlungskünstler<br />
Rafael Spregelburd hat seinen Bilderbogen<br />
nach Hieronymus Bosch mit einem<br />
wunderbar bunten Figurenensemble<br />
bevölkert. Christian von Treskow vertraut<br />
die zwei dutzend Rollen zwei Schauspielerinnen<br />
und drei Schauspielern an. Das<br />
Ergebnis ist großartig. Dank der Professi-<br />
11
12<br />
onalität von Maresa Lühle, Sophie Basse,<br />
Lutz Wessel, Holger Kraft, Hendrik Vogt<br />
gelingt noch der schnellste Kostüm- und<br />
Rollenwechsel. Selbst wenn gegen Ende<br />
der fast dreistündigen Inszenierung die<br />
eine oder andere Perücke schief sitzt oder<br />
ein Schnurrbart halb von der Oberlippe<br />
absteht, stört dies kein bißchen die<br />
Illusion, es hier mit weit mehr als fünf<br />
Spielern zu tun zu haben. Neben Maresa<br />
Lühle glänzt besonders Lutz Wessel<br />
Sophie Basse, Holger Kraft, Lutz Wessel<br />
durch seine Darstellung des japanischen<br />
Geschäftmanns Lee Okazu Buckley, die<br />
das Romanklischee des geheimnisvollen<br />
Asiaten auf die groteske Spitze treibt.<br />
Mit „Die Dummheit“ hat Regisseur von<br />
Treskow nach „Eine Billion Dollar“ und<br />
„Der Kirschgarten“ dem großen Thema<br />
„Geld“ eine weitere gelungene Inszenierung<br />
gewidmet. Gelungen auch deshalb,<br />
weil das Stück Wahrheiten ausspricht, die<br />
bei Diskussionen ökonomischer Natur<br />
keinen Platz haben – auch auf das Risiko<br />
hin, daß dem Zuschauer mitunter das<br />
Lachen im Halse stecken bleibt.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.wuppertaler-buehnen.de<br />
Daniel Diekhans<br />
Fotos: Uwe Stratmann
Die Zeichnungssammlung<br />
Bernd und Verena Klüser<br />
15. März – 19. Juni 2011<br />
„Zeichnung ist Kammermusik und keine<br />
große Oper.“<br />
(Bernd Klüser)<br />
Taddeo Zuccaro (1529-66), Satyr<br />
Feder, laviert, 25,9 x 20,1 cm<br />
Sammlung Bernd und Verena Klüser,<br />
Salvator Rosa (1615-73), Studie eines<br />
jungen Mannes, Feder und Kreide, laviert<br />
14,5 x 9,2 cm, Zeichnungssammlung<br />
Bernd und Verena Klüser, München<br />
Zettels Traum<br />
Das Hauchartige wahrnehmen<br />
Das „Hauchartige wahrzunehmen als<br />
ästhetisches Konzept“ empfahl Joseph<br />
Beuys dem Betrachter von Arbeiten seines<br />
Schülers Blinky Palermo. Unschwer läßt<br />
sich diese Idee auch auf die Kunst der<br />
Zeichnung früherer Jahrhunderte beziehen:<br />
Anrührend feine Federzeichnungen<br />
italienischer Künstler des 16. Jahrhunderts<br />
wie Giovanni Francesco Barbieri,<br />
Stefano della Bella oder Fra Bartollomeo<br />
bilden den chronologischen Auftakt<br />
zu der überaus reichen Sammlung von<br />
Zeichnungen aus fünf Jahrhunderten,<br />
die Bernd und Verena Klüser über vierzig<br />
Jahre hinweg zusammen getragen haben.<br />
Ihre ersten Blätter von Joseph Beuys erwarben<br />
die Klüsers bereits Ende der 60er<br />
Jahre – mittlerweile ist alleine ihr Bestand<br />
an Beuys-Arbeiten auf 130 angewachsen.<br />
Unter dem Titel „Zettels Traum“ stellt<br />
das Von der Heydt-Museum die Sammlung<br />
des aus Wuppertal stammenden<br />
Galeristenpaars Bernd und Verena Klüser<br />
erstmalig der Öffentlichkeit in diesem<br />
Umfang vor. Die Parallele zu Arno<br />
Schmidts hochkomplexem Meisterwerk<br />
„Zettels Traum“ liegt auf der Hand: Wie<br />
dem Schriftsteller, so genügt oft auch<br />
dem bildenden Künstler ein einfacher<br />
Papiergrund und ein Stift oder eine Feder,<br />
um spontan und unmittelbar Ideen und<br />
Notate festzuhalten. Und im Verlaufe der<br />
fünf Jahrhunderte, in der sich die Sammlung<br />
Klüser bewegt, sind die technischen<br />
Mittel erstaunlich gleich geblieben.<br />
Ein Bogen von 500 Jahren<br />
Ein Schädel, von unbekannter italienischer<br />
Hand im 17. Jahrhundert mit Rötel<br />
skizziert, zauberhafte Landschafts- und<br />
Naturdarstellungen und Reminiszenzen<br />
an die Antike eröffnen den Reigen der<br />
ausgestellten Arbeiten. Anthonys van<br />
Dyck und Rembrandt van Rijn gehören<br />
zu den Meistern, die hier vertreten sind,<br />
ebenso wie Jean-Honoré Fragonard, Johann-Heinrich<br />
Füssli, Jean-Auguste-Dominique<br />
Ingres oder Wilhelm Leibl. Zu<br />
den jüngeren zeitgenössischen Künstlern<br />
der genau 220 Werke, die in Wuppertal<br />
bis zum 19. Juni zu sehen und nur ein<br />
Auszug aus der umfangreichen Sammlung<br />
sind, gehören Sean Scully, Jan Fabre und<br />
David Godbold. Die Berliner Künstlerin<br />
Jorinde Voigt, der innerhalb der Ausstellung<br />
ein eigener Raum gewidmet ist und<br />
deren Werk von Julia Klüser betreut wird,<br />
ist mit ihren zarten, federleicht wirkenden<br />
graphischen Großformaten sicherlich eine<br />
der spannendsten Neuentdeckungen.<br />
Hier begegnen sich in fesselnder Phantasie<br />
Musik, Poesie und Zeichenfeder.<br />
Mit umfangreicheren Werkkomplexen<br />
sind neben Beuys und Palermo so unterschiedliche<br />
Künstler wie Andy Warhol<br />
(Lenin) oder Alberto Giacometti in der<br />
Sammlung vertreten. Zur Kunst der<br />
klassischen Moderne zählen des weiteren<br />
Henri Matisse, Francis Picabia, Ernst<br />
Ludwig Kirchner, Julio Gonzales (Junges<br />
Mädchen, lesend) oder Giorgio Morandi,<br />
von denen ebenfalls Blätter von ausgesuchter<br />
Qualität zu sehen sind. Weitere<br />
Höhepunkte der Zeichnungskunst<br />
stammen von den Malern der italienischen<br />
Transavanguardia, Enzo Cucchi<br />
und Mimmo Paladino. Ein Blatt von Max<br />
Beckmann zeigt mit dem „Frauenraub“<br />
eine kraftvolle Studie, Ernst Wilhelm<br />
Nays Aquarell 1964 erinnert zart an Emil<br />
Nolde, während Nay Otto Freundlichs<br />
„Komposition“ (1938) wie einen Impuls<br />
empfunden haben könnte.<br />
Schwerpunkt 20. Jahrhundert<br />
„Munch … war der Auslöser meines<br />
Interesses an der Moderne. Vor 50 Jahren<br />
schrieb ich über ihn die ersten unbeholfenen<br />
Zeilen im Kunstkontext – in<br />
der Schülerzeitung meines Wuppertaler<br />
Gymnasiums“, erzählt Bernd Klüser im<br />
Interview des zweibändigen Katalogs.<br />
Munchs lithographiertes Selbstportrait<br />
aus dem Jahr 1895 (sein erstes) zeigt<br />
in reifer Klarheit den nachdenklichen,<br />
in sich gekehrten Blick des expressionistischen<br />
Künstlers, dessen zwei Jahre<br />
zuvor gemalter „Schrei“ ein Manifest des<br />
Expressionismus ist.<br />
Jannis Kounellis (4 – o.T.), Tony Cragg<br />
oder Olaf Metzel sind nur einige weitere<br />
Künstler, die in den folgenden Jahren<br />
als brillante Zeichner und Grafi ker die<br />
Aufmerksamkeit des Sammlerpaares auf<br />
sich zogen. Aber auch Außenseiter wie der<br />
taubstumme amerikanische Autodidakt<br />
James Castle oder bekannte Größen wie<br />
13
14<br />
Sean Scully, Ohne Titel, 4.28.97, Aquarell auf Bütten, 76 x 57,2 cm, © Sean Scully Zeichnungssammlung Bernd und Verena Klüser, München
Victor Hugo, Louise-Adolphe Soutter<br />
oder John Cage, deren grafi sche Arbeiten<br />
noch zu entdecken sind, entgingen dem<br />
Kennerblick nicht.<br />
Der Schwerpunkt der Sammlung liegt auf<br />
der Kunst des 20. Jahrhunderts. Es ist die<br />
selbst gestellte Herausforderung, Neues<br />
kennen zu lernen und zu vertiefen, die<br />
Bernd und Verena Klüser - als Galeristen<br />
ausgewiesene Spezialisten im Bereich der<br />
modernen Kunst – weiter dazu veranlaßten,<br />
für die eigene Sammlung auch alte<br />
Kunst zu erwerben. Ihnen geht es um die<br />
Zeichnung als Medium, nicht um die<br />
historische Einordnung. Der Bezug zu<br />
heutigen modernen Ansätzen leitet den<br />
Blick auf die vorangegangenen Jahrhunderte<br />
und sucht nach Parallelen, wie an<br />
einem prominenten Beispiel deutlich<br />
wird: etwa der nervös suchenden Linie,<br />
die sich bei Palma Il Giovane genauso wie<br />
im graphischen Oeuvre Alberto Giacomettis<br />
nachverfolgen läßt.<br />
Die Zeichnung als autonomes Kunstwerk<br />
Auch die Themen verbinden historische<br />
und aktuelle Kunst, wobei es sich<br />
eher um philosophische und poetische<br />
Sentenzen handelt, als um das repräsentative<br />
Motiv oder die große Erzählung.<br />
Die Sammlungstätigkeit orientiert sich<br />
folglich nicht an Bildmotiven; relevant<br />
ist einzig die individuelle, künstlerische<br />
Umsetzung einer Bildidee in das Medium<br />
der Zeichnung.<br />
Eine grundlegende Eigenschaft der Zeichnung<br />
über die Jahrhunderte hinweg, die<br />
in dieser Sammlungsausstellung deutlich<br />
wird, ist, daß Künstler hier oftmals<br />
experimentelle Gestaltungsansätze wagen,<br />
die der Malerei oder Skulptur den Weg<br />
zu neuen Methoden weisen. Die „intime<br />
Nähe zum Arbeitsprozeß“ wird zwar erst<br />
in der aktuellen Kunst zum Programm,<br />
das Ringen um Idealform und persönlichem<br />
Stil wird jedoch bei Künstlern aller<br />
Jahrhunderte gerade in der Zeichnung<br />
offenbar. Deshalb ist das Faszinierende<br />
so vieler älterer Zeichnungen, daß sie,<br />
wie Bernd Klüser sagt, bereits vor dem<br />
Beginn der eigentlichen Moderne im 19.<br />
Jahrhundert erstaunlich modern sind.<br />
Die Zeichnung wird in dieser Sammlung<br />
als autonomes Kunstwerk begriffen,<br />
nicht als Beiwerk, etwa als Vorstufe zum<br />
elaborierten Gemälde. Sie ist eine intime,<br />
private, eine sehr persönliche Zwiesprache<br />
des Künstlers mit sich selbst, mit<br />
seiner Beobachtungsgabe, mit seinen<br />
künstlerischen Möglichkeiten und seinem<br />
technischen Können, mit seinen Ideen<br />
und Zielen, und mit einem eher zufällig<br />
in diesen Prozeß eintretenden Betrachter.<br />
„Eine Zeichnungsausstellung ist keine<br />
große Oper, sondern eher ein Kammerkonzert“,<br />
folgert Bernd Klüser. Weder<br />
spektakulär noch populistisch, lädt die<br />
Zeichnung zum ästhetischen Kunstgenuß,<br />
zum Nachdenken, zum kritischen<br />
Vergleichen und Erkenntnisgewinn ein.<br />
Opulentes Katalogwerk<br />
Zur Ausstellung erscheint im Verlag des<br />
Museums ein opulenter, zwei Bände<br />
umfassender Katalog, herausgegeben von<br />
Bernd Klüser, mit insgesamt 642 Seiten<br />
und zahlreichen Abbildungen, einem<br />
Interview mit dem Herausgeber, einem<br />
Einführungstext von Michael Semff, Leiter<br />
der Staatlichen Graphischen Sammlung<br />
München und ausführlichen Werktexten<br />
von Christian Quaeitzsch. Provenienzen<br />
und Indexe erschließen die Bände<br />
mustergültig. Der Preis von nur 50,- ist<br />
angesichts der hohen Qualität und des<br />
Umfanges der in Ganzleinen gebundenen<br />
und mit Schutzumschlägen versehenen<br />
beiden Katalogbände gering.<br />
Ein zusätzlicher großformatiger Einzelband<br />
im Softcover zum Werk Jorinde<br />
Voigts gibt hervorragend Einblick in deren<br />
humorvolle Arbeits- und Gedankenwelt,<br />
die spontan an den Federstrich Paul Floras<br />
erinnert. Der Band von 144 Seiten ist im<br />
Verlag Hatje Cantz erschienen und kostet<br />
25,– Euro.<br />
Dr. Beate Eickhoff<br />
und Frank Becker<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.von-der-heydt-museum.de und<br />
www.hatjecantz.de<br />
Anton van Dyck (1599-1641), Diana und Acteon, circa 1618/20, Feder und Kreide, laviert, 9,5 x 22,3 cm, Sammlung Bernd und Verena Klüser<br />
15
16<br />
Begegnungen in der Hochschule<br />
für Musik und Tanz Köln /<br />
Standort Wuppertal<br />
„Günter Wand-Haus“<br />
Variation IV:<br />
Musikalische Außenseiter<br />
Es geht um die unausgesprochenen<br />
Manchen Musikinstrumenten gegenüber<br />
haben manche Menschen Vorurteile<br />
– dazu gehörte auch ich. Bei Gitarre,<br />
Mandoline und Akkordeon assoziierte<br />
ich Folklore und war eher skeptisch. Bei<br />
der Gitarre noch am wenigsten, da mir<br />
bekannt war, dass sie eine lange Tradition<br />
als Soloinstrument in der Konzertmusik<br />
besitzt und auch im Flamenco<br />
eine bedeutende Rolle spielt. Unnötig<br />
zu sagen, dass meine Vorurteile durch<br />
den Besuch so mancher Konzerte in der<br />
Musikhochschule verschwunden sind.<br />
Erst recht eines Besseren belehrt wurde<br />
ich durch Gespräche und Hospitationen<br />
im Unterricht.<br />
Professor Gerhard Reichenbach spielt ausschließlich<br />
Konzertgitarre. Ihn faszinieren<br />
der Obertonreichtum und der individuelle<br />
Klang dieses Instrumentes. E-Gitarre<br />
lehrt er nicht. „Bei der klassischen Gitarre<br />
ist der Spieler mit seiner Seele und mit<br />
seinem Körper dem Instrument so nah<br />
wie sonst nur Sänger und Harfi nisten,<br />
denn beide Hände berühren unmittelbar
Dinge, die nie geschrieben stehen<br />
das schwingende Medium. Daher entsteht<br />
ein sehr persönlicher Ton.“<br />
Reichenbachs Vater war Amateurmusiker.<br />
Jeden Abend, wenn er von der Arbeit<br />
kam, hat er seine Gitarre zur Hand genommen<br />
und gesungen und gespielt. Dabei<br />
wirkte er so entspannt, dass der Sohn<br />
es dem Vater nachtat. Schnell erkannten<br />
die Eltern das Talent des Kindes, und bereits<br />
nach vier Jahren Musikschule durfte<br />
der junge Reichenbach sein Studium an<br />
der hiesigen Musikhochschule fortsetzen.<br />
Bei Professor Kreidler wusste er, dass er<br />
„exellent unterrichtet und motiviert wurde,<br />
denn der Dozent hat es verstanden,<br />
die Lust am Instrument zu wecken.“ Alle<br />
bisherigen Hochschulleiter, die Reichenbach<br />
kennen gelernt hat – Ingo Schmidt,<br />
Karlheinz Zarius, Dieter Kreidler und<br />
Lutz-Werner Hesse sind in seinen Augen<br />
Persönlichkeiten mit Visionen, die alle<br />
kraft einer Fülle von kulturellem Wissen<br />
und Erfahrung der Phase ihrer jeweiligen<br />
Tätigkeit ihren persönlichen Stempel<br />
aufzudrücken wussten und vor allem stets<br />
offen waren und sind.<br />
So arbeiten auch alle Dozenten für Gitarre<br />
wie in einer großen Familie miteinander<br />
im gegenseitigen Austausch. Die Studenten<br />
dürfen überall hospitieren, Bewertungskriterien<br />
liegen offen, und man macht<br />
gemeinsam Pläne.<br />
Reichenbach ist seit 16 Jahren Hochschullehrer<br />
und gehört darüber hinaus zu den<br />
international erfolgreichsten Konzertgitarristen<br />
mit zahlreichen Einladungen<br />
zu Gitarrenfestivals an großen Konzerthäusern.<br />
Bei Schnupperkursen und bei Anmeldungen<br />
zur Aufnahmeprüfung ist die<br />
Gitarre das weitaus beliebteste Instrument,<br />
und Studierende aus Wuppertal sind bei<br />
Wettbewerben häufi g unter den Preisträgern<br />
zu fi nden.<br />
Die Gitarre ist äußerst vielseitig, man kann<br />
ebenso melodisch wie akkordisch spielen,<br />
und als Begleitinstrument ist sie recht<br />
einfach zu lernen. Man kann sie schlagen<br />
oder zupfen und homophon und polyphon<br />
spielen. Sie hat ihren Platz ebenso in<br />
der Folklore wie in der Kunstmusik. Die<br />
Melodiegestaltung ist allerdings technisch<br />
äußerst anspruchsvoll und subtil. Das Publikum<br />
muss sich jeweils in den sehr persönlichen<br />
Ausdruck des Interpreten einhören,<br />
„denn jeder gezupfte Ton verzaubert, weil<br />
er seinen eigenen Mikrokosmos hat.“<br />
Deshalb bleiben Konzerte für die akustische<br />
Gitarre den Kennern und Liebhabern<br />
vorbehalten.<br />
Um den optimalen Klang zu erwirken,<br />
braucht der Spieler eine bestimmte Körperhaltung<br />
und eine Körperspannung, die<br />
besonders für ein Kind schwer durchzuhalten<br />
ist und in der Ausbildung zu Krisen<br />
führen kann. Zum Beispiel ändert sich die<br />
Körperhaltung, je nachdem ob die Saite<br />
von Innen oder von Außen gezupft wird.<br />
Bei Flamencospielern kann man beobachten,<br />
dass sie entsprechend den klanglichen<br />
Erfordernissen alle möglichen Körperbewegungen<br />
vollführen, deshalb ist Flamenco<br />
ein guter Ausgleich. Allerdings - „um ihn<br />
richtig zu spielen, muss man ihn mit der<br />
Muttermilch eingesogen haben.“<br />
Wie werden die Absolventen der Hochschule<br />
ihr Hauptfachinstrument berufl ich<br />
nutzen können? Überall gibt es Konzertreihen<br />
für klassische Gitarre, sie ist das meist<br />
gefragte Instrument im Privatunterricht, an<br />
Musikschulen und an Musikhochschulen,<br />
nicht nur an der hiesigen. Auch bei Festivals<br />
und bei Wettbewerben sind Gitarristen<br />
17
18<br />
beliebt. In Wuppertal gibt es sogar einen<br />
Lehrauftrag für Gitarrenkorrepetition:<br />
Rupert Gehrmann begleitet die Mandolinenspieler<br />
auf der Gitarre, je nach Bedarf ist<br />
die Gitarre dann Akkord- oder Melodieinstrument.<br />
Wahrscheinlich ist die Gitarre im 13. Jahrhundert<br />
aus dem Orient über Spanien nach<br />
Europa gelangt. Im 18. Jahrhundert wurde<br />
sie ein beliebtes höfi sches Instrument, bis<br />
sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend<br />
von der Jugendbewegung vereinnahmt<br />
wurde. Im Jazz verdrängte sie das Banjo,<br />
und in der Rock- und Popmusik wird sie<br />
elektronisch verstärkt, aber das ist eine andere<br />
Welt.<br />
Die Mandoline kommt aus Italien und ist<br />
wie die Gitarre ein Saiten- und Zupfi nstrument.<br />
In der klassischen europäischen<br />
Musik erklingt sie hauptsächlich als<br />
Melodieinstrument; ihre Hochblüte erlebte<br />
sie im 17./18. Jahrhundert in Paris,<br />
als zahlreiche Mandolinisten aus Italien<br />
dorthin ausgewandert sind. Die Literatur<br />
für Mandoline ist weniger zahlreich<br />
als die für Gitarre, aber sie erfreut sich<br />
zunehmender Beliebtheit in der Neuen<br />
Musik. Schon Gustav Mahler hat das<br />
leuchtend hell klingende Instrument in<br />
seiner 8. Sinfonie eingesetzt, aber auch<br />
Respighi, Schönberg, Webern und Henze<br />
und viele andere verwendeten es in ihren<br />
sinfonischen Werken.<br />
Frau Professor Lichtenberg hat mindestens<br />
europaweit die einzige Professur<br />
für Mandoline inne. Sie probt für ein<br />
Konzert ein Stück von Alessandro Rolla,<br />
einem Komponisten der Wiener Klassik,<br />
mit einem Quartett aus Querfl öte, zwei<br />
Mandolinen und Gitarre. Die Studierenden<br />
haben das Stück bereits vorbereitet,<br />
und nun geht es um die musikalische<br />
Gestaltung: „Wir müssen den Reiz herauskitzeln.“<br />
Die Dozentin bittet um „ein<br />
wenig mehr Schmelz, ein bisschen Wiener<br />
Schmäh, schließlich liegt Österreich<br />
zwischen Deutschland und Italien.“ Jeder<br />
Spieler soll die Stimme der anderen so gut<br />
kennen, dass man bewusst miteinander<br />
kommunizieren kann und sich die Leichtigkeit<br />
der Musik im gegenseitigen Zulächeln<br />
spiegelt. „Alles muss genießerisch<br />
vorgetragen werden, mit Charme! Die<br />
Gitarre mit der scheinbar langweiligsten<br />
Stimme hat die größte Herausforderung.<br />
Sie muss sich an entsprechenden Stellen<br />
hervortun, sich wichtig machen und so<br />
zelebriert werden, dass sie die Mitspieler<br />
wie auf einem Tablett tragen kann. Alles<br />
soll galant klingen, nicht preußisch.“ So<br />
anschaulich teilt sich die Dozentin mit.<br />
Immer wieder zieht sie Parallelen zur<br />
Sprache. Dazu gibt es Tricks für die Tongestaltung:<br />
Bereits die Art des Fingeraufsatzes<br />
auf die Saite kann dem Ton eine bestimmte<br />
Farbe geben: „Der Ton muss noch<br />
einen Bauch kriegen nach dem Anschlag.“<br />
Wichtig sind die Phrasierungen. Damit<br />
die einzelnen Teile des Stückes ineinander<br />
übergehen, müssen Übergänge musikalisch<br />
„abgefangen“ werden. Wiederholungen<br />
dürfen niemals gleich gespielt werden,<br />
„sonst klingt es so langweilig wie bei der<br />
Telefonansage.“<br />
Frau Lichtenberg hat bereits mit 6 Jahren<br />
mit dem Mandolinenspiel begonnen und<br />
damals als Kind in Magdeburg in einem<br />
Mandolinenorchester mitgewirkt. Ihr
ist es sehr wichtig, dass ihre Studenten<br />
beizeiten mehrere Standbeine fi nden. Sie<br />
sollen möglichst konzertieren, an Musikschulen<br />
arbeiten, unterrichten und<br />
Lehrgänge abhalten, um frühzeitig ihre<br />
berufl ichen Möglichkeiten zu fi nden.<br />
Ihre Klasse ist international – neben den<br />
deutschen Studenten kommen auch einige<br />
aus Osteuropa, Kolumbien oder Asien,<br />
sie selbst konzertiert in der ganzen Welt.<br />
Inzwischen interessieren sich immer mehr<br />
Komponisten für die Reize dieses kleinen<br />
Instrumentes. Sogar Lutz-Werner Hesse,<br />
Geschäftsführender Direktor der Hochschule,<br />
hat Werke für Mandoline Solo und<br />
für Mandolinenorchester geschrieben.<br />
Auch das Akkordeon ist ein Instrument, das<br />
bei zeitgenössischen Komponisten zunehmend<br />
an Beliebtheit gewinnt.<br />
Beim Akkordeon wird der Ton durch eine<br />
Metallzunge erzeugt, die mittels eines luftgefüllten<br />
Balges in Schwingung versetzt wird.<br />
Akkordeon heißt es, weil die linke Hand<br />
durch Drücken von Knöpfen feststehende<br />
Akkorde spielen kann. Die Anfänge dieses<br />
Instrumentes liegen fast 3000 Jahre zurück<br />
in Ostasien; in China war es als Mundorgel<br />
bekannt. Um 1821 verwendete Friedrich<br />
Buschmann Metallzungen auf Holzbrettchen<br />
zum einfacheren Stimmen von Orgeln.<br />
Von ihm stammt die Idee, mehrere solcher<br />
Zungen auf einem Klangholz so anzuordnen,<br />
dass man sie mit dem Mund anblasen und in<br />
Schwingung versetzen konnte, daraus wurde<br />
dann die Mundharmonika. Bis zur hochkomplizierten<br />
Konstruktion des modernen Akkordeons<br />
sollten noch hundert Jahre vergehen.<br />
Helmut Quakernack, Lehrbeauftragter für<br />
Akkordeon an der Musikhochschule, erzählt<br />
von der Entwicklung des Instrumentes.<br />
Das Schifferklavier galt als Instrument des<br />
kleinen Mannes, es gab weder Literatur noch<br />
Ästhetik, der Spieler war in der Regel Autodidakt.<br />
Das änderte sich nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg, als durch technische Neuerungen<br />
polyphones Spiel möglich wurde. Vorher<br />
konnte man lediglich mit der rechten Hand<br />
auf der Tastatur Melodien spielen und mit<br />
der linken Akkorde. „Erst als die technische<br />
Entwicklung es ermöglichte, dass auch die<br />
linke Hand Melodien spielen konnte, weckte<br />
das Instrument allmählich das Interesse<br />
der Komponisten. Inzwischen haben unter<br />
anderen bedeutenden Komponisten der<br />
Neuen Musik wie Luciano Berio, Mauricio<br />
Kagel und Sofi a Gubaidulina eine Reihe von<br />
anspruchsvollen Stücken für das Akkordeon<br />
geschrieben. Auch Werke des Bandoneon-<br />
Interpreten und Komponisten Astor<br />
Piazolla werden gern von Akkordeonisten<br />
in Konzertprogramme aufgenommen.“ Das<br />
„Bajan“ ist eine weitere Form des Akkordeons.<br />
Es hat einen ebenso großen Tonumfang<br />
wie das Klavier und besitzt für beide Hände<br />
ausschließlich Knöpfe. Der Klang ist etwas<br />
wärmer und voller als der des Akkordeons.<br />
Der Spieler muss beide Varianten beherrschen.<br />
In Wuppertal kann man im Haupt- und<br />
Nebenfach Akkordeon studieren.<br />
In der Unterrichtsstunde wird intensiv an<br />
einem schwierigen Stück des Japaners Maki<br />
Ishii von 1987 gearbeitet. Es heißt „Tango.<br />
Prism“ und ist zum einen eine Persifl age<br />
auf den Rhythmus des Tango, zum anderen<br />
auf die verschiedenen Emotionen, die<br />
dieser Tanz evozieren kann. Daher besteht<br />
das Stück aus mehreren Teilen. Helmut<br />
Quakernack sieht die Schwierigkeit darin,<br />
es nicht „patchworkartig“ zu spielen,<br />
sondern den großen Zusammenhang<br />
hörbar zu machen. Peter Lohmer, der im<br />
ersten Semester Akkordeon studiert, rät er,<br />
innerlich mitzuatmen und die Abschnitte<br />
ausschwingen zu lassen, indem unmerklich<br />
Lautstärke und Tempo reduziert werden: „Es<br />
geht um die unausgesprochenen Dinge, die<br />
nie geschrieben stehen. Du musst Dir Dein<br />
inneres Dirigat geben. Als Solist ist man sein<br />
eigener Dirigent.“<br />
Eine besondere Schwierigkeit ist der Registerwechsel,<br />
der durch das Drücken von<br />
Knöpfen mit dem Kinn auf der Oberseite<br />
des Instrumentes erfolgt . Auch das muss<br />
mitgeübt werden. Das Akkordeon kann<br />
theoretisch endlos lange Töne halten, doch<br />
irgendwann muss der ausgezogene Balg wieder<br />
zusammengedrückt werden. Auch dieser<br />
Balgwechsel muss mitgeübt werden, denn<br />
er soll möglichst unhörbar erfolgen. Das ist<br />
besonders diffi zil bei den tiefen Tönen, da<br />
die größeren Zungen schwerer ansprechen.<br />
Hört man in das Instrument hinein, wird<br />
schnell deutlich, welche besonderen klanglichen<br />
Möglichkeiten es bietet. „Tango.Prism“<br />
beginnt z.B. mit einem Tangorhythmus, der<br />
fast tonlos, nur durch ruckartiges Bewegen<br />
des Balges erzeugt wird.<br />
Besondere Prüfsteine sind für Quakernack<br />
polyphone Klangwerke der Barockmusik<br />
und der Klassik. „Durch sehr variables und<br />
differenziertes Artikulieren des Tones durch<br />
jeden einzelnen Finger wird versucht, diese<br />
Musik äußerst transparent zu spielen. Im<br />
Gegensatz zum Klavier, dessen Ton sofort<br />
nach dem Anschlag leiser wird und damit<br />
nachfolgenden Tönen Raum zur Entfaltung<br />
lässt, erklingt beim Akkordeon ein Dauerton.<br />
Dies führt besonders bei vielstimmigen<br />
Fugen häufi g zu einem zu dichten<br />
Klangbild.“ Für Helmut Quakernack ist das<br />
Studium von Bachs polyphonen Stücken<br />
ein unbedingtes „Muss“, um sich in der<br />
Spieltechnik weiter zu entwickeln.<br />
Das Akkordeon hat nicht nur unglaublich<br />
vielfältige Klangmöglichkeiten, sondern es<br />
lässt sich problemlos mit zahlreichen anderen<br />
Musikinstrumenten oder mit Gesang<br />
kombinieren. Das war besonders gut bei den<br />
Konzerten zum Ende des Wintersemesters<br />
zu hören. Im Zusammenspiel wird deutlich,<br />
wie der vergleichsweise warme Ton der<br />
Gitarre die silbrig hell klingende Mandoline<br />
kontrastiert. Gerade die zeitgenössischen<br />
Komponisten entlocken allen drei Instrumenten<br />
ungeahnte Klangmöglichkeiten.<br />
So ist der „Rail Road Song“ von Yasuo<br />
Kuwahra eine witzige musikalische Eisenbahnfahrt<br />
zweier duettierender Mandolinen.<br />
Das Akkordeon erscheint geradezu beseelt,<br />
wenn das Atmen des Balges in die Musik<br />
einbezogen wird. Man darf gespannt sein,<br />
wie sich die einstigen Außenseiter in den<br />
verschiedenen Ensembles moderner Musik<br />
behaupten werden.<br />
Marlene Baum<br />
19
20<br />
Georg Köhl<br />
inszeniert in Wuppertal „Arabella“<br />
von Richard Strauss<br />
Musikalische Leitung: Hilary Griffi ths<br />
Inszenierung: Georg Köhl<br />
Bühnenbild: Peter Werner<br />
Kostüme: Claus Stump<br />
Dramaturgie: Ulrike Olbrich<br />
Fotos: Sonja Rothweiler<br />
Die Besetzung: Arabella: Banu Böke<br />
Mandryka: Kay Stiefermann<br />
Zdenka: Dorothea Brandt<br />
Graf Waldner: Michael Tews<br />
Gräfi n Adelaide: Joslyn Rechter<br />
Matteo: Oliver Ringelhahn<br />
Elemer: Boris Leisenheimer<br />
Dominik: Miljan Milović - Lamoral:<br />
Thomas Schobert - Fiaker-Milli: Elena Fink<br />
Kartenaufschlägerin: Marina Edelhagen<br />
Welko: Philipp Werner<br />
Zimmerkellner: Mario Trelles Diaz<br />
Chor der Wuppertaler Bühnen<br />
Sinfonieorchester Wuppertal<br />
Fink, Böke, Chor - Foto: Sonja Rothweiler<br />
Zwei Paare, zwei Schwestern<br />
Für die Oper „Arabella“ von Richard<br />
Strauss steuerte der Dichter Hugo von<br />
Hofmannsthal zum letzten Mal vor seinem<br />
unerwarteten Tod 1929 das Libretto<br />
bei. Die Wuppertaler Bühnen bringen das<br />
Werk nun in der Regie von Georg Köhl<br />
und unter der musikalischen Leitung von<br />
Hilary Griffi ths heraus.<br />
Die Titelheldin ist Tochter des Grafen<br />
Waldner, der das Familienvermögen beim<br />
Glücksspiel durchgebracht hat und jetzt<br />
nach einer guten Partie für sie sucht. Es<br />
fehlt nicht an passenden Kandidaten; aber<br />
die eigensinnige Arabella (raumgreifend:<br />
Banu Böke) ist für einen unbekannten<br />
Fremden entbrannt. Schon ihr Wechselbad<br />
der Gefühle spiegelt sich deutlich<br />
in der Musik: Ihr Gesangspart vor dem<br />
Faschingsball, von dem sie sich ein<br />
Treffen mit dem Geliebten erhofft, drückt<br />
bald Zuversicht aus, bald Zweifel, und<br />
schließlich mischen sich schon die ersten<br />
Walzerklänge hinein.<br />
Wie es der Zufall des Textes will, hat ihr<br />
Vater (Michael Tews als komische Figur)<br />
Arabellas heimliche Liebe, den Grafen<br />
Mandryka, durch einen Irrtum bereits<br />
auf seine Tochter aufmerksam gemacht;<br />
und der wohlhabende Kroate schwärmt<br />
zu Beginn des Balls auch gleich: „Das ist<br />
ein Engel, der vom Himmel niedersteigt“<br />
(Bariton Kay Stiefermann eröffnet kraftvoll<br />
den zweiten Akt). Kaum einander<br />
vorgestellt, folgt schon Arabellas Versprechen:<br />
„Und du wirst mein Gebieter sein<br />
und ich dir untertan“ – trotz der heute<br />
womöglich befremdlich anmutenden<br />
Unterwerfungsrhetorik eine der bekanntesten<br />
Strauss-Arien.<br />
Doch dann drängt der andere Handlungsstrang<br />
in den Vordergrund, der der<br />
Oper den nötigen Konfl iktstoff verleiht:<br />
Arabellas Schwester Zdenka (zart:<br />
Dorothea Brandt) wurde gezwungen, als<br />
Junge herumzulaufen, und hat sich in den<br />
Kopf gesetzt, ihre privilegierte Schwester
mit deren verzweifeltem Verehrer Matteo<br />
(Tenor Oliver Ringelhahn) zusammenzubringen,<br />
den eigentlich Zdenka selbst<br />
liebt. Wenn sie diesem dann den Schlüssel<br />
zu Arabellas Zimmer übergibt, um ihn<br />
dort selbst zu empfangen, übernimmt<br />
ihre ehrliche Sorge für Matteo die Funktion,<br />
für die es sonst in vielen Stücken eine<br />
Intrige gibt: Irritation und (hier vorübergehende)<br />
Trübung des Liebesglücks. Ihr<br />
doppeltes Spiel aus besten Motiven weckt<br />
Mandrykas Eifersucht, der den Schlüssel<br />
mißversteht und Untreue Arabellas vermutet;<br />
es verwirrt aber auch den unglücklichen<br />
Matteo, der nicht verstehen kann,<br />
wieso die Angebetete ihm nur mit Kühle<br />
begegnet – trotz mehrerer verliebter Briefe<br />
(die in Wahrheit von Zdenka stammen).<br />
„Mir graut vor so viel Virtuosität“, läßt<br />
das Libretto ihn ironisch klagen, und die<br />
Partitur macht die Konfusion mit gehetztem<br />
Tempo hörbar. Zwischendurch sorgt<br />
die frivole Fiaker-Milli (Elena Fink) mit<br />
schrillen Intervallen für Bewegung.<br />
Böke, Ringelhahn - Foto: Sonja Rothweiler<br />
Am Ende löst sich alles in (auch musikalische)<br />
Harmonie auf, und Arabella bekennt<br />
durchaus selbstkritisch: „Zdenkerl,<br />
du bist die Bessre von uns zweien: Du<br />
hast das liebevollere Herz.“ Übrigens ist<br />
die Kontrastierung der beiden ungleichen<br />
Schwestern vielleicht sogar interessanter<br />
als die Haupthandlung, und das Duett<br />
Zdenkas und Arabellas im ersten Akt<br />
gehört zu den rührendsten Momenten<br />
des Abends.<br />
Fazit: Starke Charaktere, sichere Stimmen,<br />
sinnfällige Musik – und eine Regie,<br />
die eine eher handlungsarme Geschichte<br />
mit einem Augenzwinkern zum Vergnügen<br />
macht.<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.wuppertaler-buehnen.de<br />
Martin Hagemeyer<br />
Brandt, Ringelhahn -<br />
Foto: Sonja Rothweiler<br />
21
22<br />
Schloss Lüntenbeck stoffl ich erlebt<br />
Textilmarkt Schloss Lüntenbeck<br />
Fotos Jörg Lange<br />
Textil in Wuppertal steht für eine erfolgreiche<br />
Vergangenheit, von der in der Stadt nur<br />
wenige Spuren geblieben sind. Im Verborgenen<br />
aber ist das Thema ganz gegenwärtig.<br />
Zu den herausragenden Traditionsbetrieben<br />
zählt die Bandweberei Kafka, in der Frauke<br />
Kafka der Spagat gelungen ist, historische<br />
Technik und modernes Design zu verbinden.<br />
Die dort entstehenden Bänder sind<br />
schon lange kein Geheimtipp mehr. Vor<br />
einigen Jahren hatte Frau Kafka die schöne<br />
Idee, die Gegenwart textiler Produkte und<br />
Techniken auf einem Markt in Schloss<br />
Lüntenbeck zu zeigen und damit ein sehr lebendiges<br />
Lebenszeichen der nur anscheinend<br />
ausgestorbenen Branche im Tal zu setzen.<br />
Immer wieder Himmelfahrt - nun öffnet<br />
der Textilmarkt Schloss Lüntenbeck schon<br />
zum sechsten Mal seine Pforten. In der<br />
stimmungsvollen Schlossatmosphäre von<br />
Hof und Garten bieten 50 Aussteller ein<br />
vielseitiges Angebot. Die unterschiedlichen<br />
Gestaltungsweisen und stilistischen<br />
Aussagen der angebotenen Kollektionen<br />
zeigen eine Varietät, wie sie selten in einem<br />
solchen Rahmen zu fi nden ist. Die breite<br />
Palette der Anbieter überzeugt durchweg<br />
mit anspruchsvollem Design in qualitativ<br />
hochwertiger und modisch aktueller<br />
Ausführung.<br />
In und um Wuppertal sind auch heute<br />
noch mehr im besten Wortsinne eigenwillige<br />
Kreative tätig, als man vermuten<br />
würde. Frau Niehage, die neue Besitzerin<br />
der Bandweberei Kafka, wirft ihre alten<br />
Jacquard-Webstühle an, um die Eintrittskarten<br />
für den Textilmarkt zu weben. Mit<br />
der Karte hält man ein handwerkliches<br />
Andenken und schon die erste Aufforderung<br />
zu nähen in Händen. Natürlich wird<br />
Kafka auch an ihrem Stand viele „Wuppertaler<br />
Originale“ aus ihrer großen Bänderkollektion<br />
präsentieren. In den Wuppertaler<br />
Westen kommen Aussteller aber auch<br />
aus der ganzen Republik, und die Besucher<br />
halten es ebenso. Kenner wissen schließlich<br />
die qualifi zierte Mischung von Mode und<br />
Material zu schätzen, die einmal im Jahr in<br />
Schloss Lüntenbeck zu sehen ist.<br />
Den an Mode interessierten Damen ist die<br />
Arbeit unseres lokalen Aushängeschilds
Ölberger Taschenmanufaktur (oben) – Biergarten (unten)<br />
23
24<br />
Nicola Tigges sicher schon ein Begriff. Ihre<br />
eleganten Kleider, Oberteile und Mäntel<br />
begeistern durch eine ganz eigene Formensprache.<br />
Echte Gegenstücke sind die<br />
zarten Feenkleider von Isabella’s Art oder die<br />
robusteren, aber dennoch sehr weiblichen<br />
Strickstücke von Sabine Hofi us. Vilma zeigt<br />
legere, naturnahe Mode aus unbehandeltem<br />
Flachsfaden. Junge Schneiderkunst von Monika<br />
Eisele, ragaga couture, COMO YOKi<br />
oder Sisie kommt bunt und frech daher.<br />
Dagegen beeindruckt die eigenwillige Mode<br />
von Bao Bao durch raffi nierte Schlichtheit.<br />
Die Herren geben eher der kernigen,<br />
irischen Country Ware von Out of Ireland<br />
den Vorzug. Oder werden sie doch eher bei<br />
dem afrikanisch inspirierten Label Djahstone<br />
fündig? Die süßen Kleinen bekommen<br />
bei den „liebhabsachen“ von Kalajoki oder<br />
den originellen Shirts und Kleidchen von<br />
Merle Design leuchtende Augen. Für die<br />
ganz kleinen, aber auch die großen Füße<br />
bietet Lederstrumpf eine Auswahl handgefertigter<br />
Hausschuhe aus hochwertigem<br />
handverlesenem Rindsleder.<br />
Ein nach wie vor großes Thema ist das Material<br />
Filz. Beim Textilmarkt Schloss Lüntenbeck<br />
verblüfft die Vielfalt der vorgestellten<br />
professionellen Verarbeitungsmethoden.<br />
Feste Industriefi lze, zarte Gespinste, ganze<br />
Outfi ts aus einem Stück, Perlen, Knöpfe<br />
und Hüte belegen, welche Kreativität die<br />
Technik freisetzt. Filzfrieda, Filzwerk, Filz-<br />
Woll-Lust, Filzware Handfi lz oder Linner<br />
FilzArt etwa zeigen unterschiedliche Versionen<br />
des kunstvollen Umgangs mit dem<br />
wolligen Material. Margret Riedel wendet<br />
sich vollends ins Künstlerische und fertigt<br />
beeindruckende Wandobjekte aus Filz.<br />
Das Kleid allein macht nicht die Mode.<br />
Interessierte wissen, dass der individuelle<br />
Stil auch die passenden Accessoires braucht.<br />
Hüte, Tücher und Taschen werden in unterschiedlichen<br />
Ausführungen und Stilrichtungen<br />
angeboten. Die Bandbreite geht von<br />
den eher klassischen Arbeiten des Hutsalons<br />
bis zu den trendigen Taschen der Ölberger<br />
Taschenmanufaktur. Einen Höhepunkt<br />
ganz eigener Art bieten die Schmuckstücke<br />
der Wuppertaler Designerin Fiona Fischer.<br />
Sie weiß biegsame Drähte, textil zu verarbeiten.<br />
Edle Ringe und Ketten gestrickt<br />
oder gehäkelt - wirklich ausgefallen. Einen<br />
ganz anderen Schwerpunkt setzt Rocailles<br />
Schmuck und zeigt bunten Schmuck aus<br />
böhmischen Glasperlen.<br />
Der Textilmarkt bietet auch ausgefallenes<br />
Material und Zubehör für die Gestaltung<br />
der eigenen Entwürfe. Schöne französische<br />
Stoffe in warmen Farben etwa bietet Marie<br />
Lind. In der breiten Auswahl an verführerischen<br />
Spitzen bei Fine French Laces<br />
oder Roosenrausch lohnt es sich, genauer<br />
hinzusehen. Am K(n)opfstand der Schwestern<br />
Burrow gehen begeisterte Sachensucher<br />
in geheimnisvollen Kisten auf die Jagd. Sehr<br />
ausgefallen sind auch die mit Gold oder<br />
Platin bemalten Kristallglasknöpfe sowie<br />
der daraus gefertigte Schmuck. Bei My Königskind<br />
fi nden sich eher verspielte Stoffe,<br />
Knöpfe und alle Zutaten, die es braucht,<br />
um selber zu nähen. Wer lieber stickt, fi ndet<br />
bei Der feine Faden, Kreatives und Sticken<br />
und der MWI Stickgalerie eine breite Auswahl<br />
an Material und Vorlagen. Deutlich<br />
voluminösere Fäden für die strickende<br />
Zunft bietet das Sortiment von Wolle im<br />
Atelier oder die handgefärbte Multicolorwolle<br />
von Kaschka.<br />
Auf der Suche nach Nützlichem und Schönem<br />
für Haus und Garten stößt man auf<br />
dem Lüntenbecker Textilmarkt auf einige<br />
Besonderheiten. Pottlappen fertigt kultige<br />
Produkte aus Grubenhandtüchern nicht nur<br />
für Ruhrpott-Fans. Die Tuchmacherin bietet<br />
handgewebte Tischwäsche und Handtücher<br />
aus eigener Produktion. Shalimar Garden<br />
entführt uns in die verzauberte Welt von<br />
Kashmir und Rajasthan, bestehend aus Uni-<br />
katen und Lieblingsstücken, die nach traditioneller<br />
Handwerkskunst aus hochwertigen<br />
natürlichen Materialien gefertigt wurden.<br />
Wem vom Gucken, Fühlen und Probieren<br />
der Kopf schwirrt, der gönnt sich zwischendurch<br />
mal eine Pause. Die entspannte<br />
Atmosphäre rund um die Hofwiese oder ein<br />
stiller Platz im Garten lädt zu besinnlichen<br />
Momenten ein. Das im Schloss ansässige<br />
Restaurant Küchenmeisterei bietet mit seiner<br />
Innen- und Außengastronomie einen kultivierten<br />
Rahmen, um sich kulinarisch verwöhnen<br />
zu lassen. Hier kann man in aller Ruhe<br />
genießen, plaudern und Pläne schmieden.<br />
In Sichtweite des Restaurants warten<br />
auf den Nachwuchs täglich wechselnde<br />
Angebote zum textilen Gestalten. Hier<br />
dürfen die Kleinen selbst Hand anlegen. Als<br />
Höhepunkt für die Großen bietet Schloss<br />
Lüntenbeck in diesem Jahr eine Modenschau.<br />
Wenn Donnerstag und Samstag der<br />
rote Teppich entrollt wird, schlüpfen die<br />
ausgestellten Kleider vom Bügel und stellen<br />
in lebhafter Bewegung ihre Tragbarkeit an<br />
echten Menschen unter Beweis. Derart<br />
inspiriert geht es dann wieder an den Ständen<br />
mit der auf dem Laufsteg präsentierten<br />
Mode auf Tuchfühlung.<br />
Antonia Dinnebier<br />
Textilmarkt Schloss Lüntenbeck<br />
2. – 5. Juni 2011, 11 – 18 Uhr<br />
Eintritt 3 Euro, Dauerkarte 5 Euro<br />
Kinder bis 12 Jahre frei<br />
Modenschau Do + Sa 14 Uhr
Nico Ueberholz<br />
setzt Meilensteine in der<br />
temporären Architektur<br />
In Wuppertal zu Hause, international als<br />
temporärer Architekt erfolgreich:<br />
Nico Ueberholz<br />
Baumeister der Kommunikation<br />
Andere bauen für die Ewigkeit, Nico<br />
Ueberholz für den Moment. Denn was<br />
der 52-Jährige gestaltet, ist per Defi nition<br />
meist vergänglich - egal, ob es um Messe-,<br />
Museums-, Veranstaltungsarchitektur<br />
oder den Ladenbau geht. Zusammengefasst<br />
nennt sich das „temporäre Architektur“,<br />
ein weites Feld, über das Nico Ueberholz<br />
in einem Büro nachdenkt, das in<br />
Wuppertal kaum schöner liegen könnte:<br />
Die Schwebebahn scheint fast durch das<br />
Dachgeschoss der Cleffschen Kornmühle<br />
zu gleiten, in dem sein Schreibtisch steht.<br />
Der ideale Platz für einen echten „Jungen<br />
aus dem Tal“, der als Kreativer längst internationalen<br />
Ruf hat. Davon erzählt eine<br />
stattliche Trophäensammlung, für die der<br />
Glastisch im Entrée der außergewöhnli-<br />
chen Arbeitsstätte inzwischen zu klein geworden<br />
ist: Ein „Who is Who“ sämtlicher<br />
deutscher Design-Auszeichnungen, dazu<br />
die wichtigsten Awards aus den USA.<br />
Allesamt verliehen für herausragende Leistungen<br />
auf dem Gebiet der temporären<br />
Architektur. Und erwachsen aus der Philosophie,<br />
die fast alle Ueberholz-Projekte<br />
verbindet: „Ich will Orte der Begegnung<br />
schaffen, die eine Bühne für die Kommunikation<br />
zwischen Menschen bieten.“<br />
Beim „Bühnenbildner“ Ueberholz nehmen<br />
diese Orte anfangs ganz klassisch mit<br />
Hilfe von Papier und Bleistift Kontur an.<br />
Ein kreativer Prozess, der auf seine Vita<br />
verweist: Nico Ueberholz schloss parallel<br />
zum Architektur-Studium Anfang der<br />
25
26<br />
80er Jahre auch als einer der ersten Absolventen<br />
den damals neuen Studiengang<br />
Diplom-Kommunikationsdesign an der<br />
Bergischen Universität ab. Nach der Mitarbeit<br />
im Architekturbüro seines Vaters<br />
wagte er früh den Sprung in die Selbständigkeit:<br />
unter anderem mit der Gründung<br />
der Firma „artlight“, die individuelle<br />
Leucht- und Lichtobjekte entwarf. Licht<br />
war und ist für Nico Ueberholz immer<br />
ein ganz besonderer Stoff. Und es spielte<br />
eine wichtige Rolle bei der Umsetzung<br />
seiner Ideen für den weiten Bereich des<br />
Designs im Raum, den er 1987 mit der<br />
Gründung seines „Büros für temporäre<br />
Architektur“ erschloss. Seitdem liegt er<br />
international auf Erfolgskurs - natürlich<br />
auch Ausdruck für die Qualität der in<br />
Wuppertal ausgebildeten Kommunikationsdesigner.<br />
Dass dieser Studiengang jetzt<br />
zerschlagen wurde, hält (nicht nur) Nico<br />
Ueberholz für eine Katastrophe...<br />
Aber zurück zur temporären Architektur<br />
- und dem scheinbaren Widerspruch, der<br />
Nico Ueberholz so sehr daran reizt: „Ob-<br />
wohl temporäre Architektur dem Betrachter<br />
nur für einen gewissen Zeitraum zur<br />
Verfügung steht, soll sie sich in seinen Kopf<br />
brennen und für lange Zeit in Erinnerung<br />
bleiben.“ Und die Mittel dazu? „Eine interessante<br />
Architektur zeichnet sich aus durch<br />
die spannungsvolle Auseinandersetzung<br />
mit Material, Form, Farbe, Größe, Proportionen<br />
und der Lichtgestaltung.“ In der<br />
richtigen Kombination ist das alles dann<br />
nicht Selbstzweck, sondern die Plattform<br />
um Kommunikation in Gang zu setzen.<br />
Wie so etwas ideal funktioniert, führte<br />
Ueberholz mit einem auch für Insider<br />
verblüffenden Messeauftritt in eigener<br />
Sache auf dem Branchen-Marktplatz<br />
„EuroShop“ in Düsseldorf vor: Riesige<br />
„Klangsteine“ luden Besucher dazu ein, die<br />
Macht der Musik als Urform der non-verbalen<br />
Kommunikation zu entdecken. Die<br />
mystischen Töne, die Gäste auf dem Stand<br />
selbst mit Hämmern unter anderem einem<br />
symbolhaft in Form einer Stimmgabel der<br />
Länge nach gespaltenen, fünf Meter hohen<br />
Monolithen entlockten, wurden an einer<br />
36 Quadratmeter großen LED-Wand vor<br />
Kopf in Bildwellen umgesetzt. Angeleitet<br />
vom eng mit der „documenta“ verbundenen<br />
Klang-Künstler Olaf Pyras und von<br />
Zeit zu Zeit durch Spontan-Auftritte der<br />
Tänzerin Nusara Mai-ngarm begleitet<br />
wurde das Publikum zum Bestandteil<br />
einer Inszenierung, die jedem Besucher<br />
tatsächlich weit über den Moment hinaus<br />
in Erinnerung blieb. Für Ueberholz eine<br />
Art Grundlagenexperiment: „Wir haben<br />
einen Raum für die Demonstration erinnerbarer<br />
Kommunikation geschaffen, der<br />
beispielhaft zeigt, wie man sich durch den<br />
kreativen Umgang mit den Teildisziplinen<br />
temporärer Architektur völlig jenseits des<br />
Messe-Mainstreams positionieren kann.“<br />
Aus dieser Philosophie heraus sind im Lauf<br />
der Jahre ganz unterschiedliche „Bühnen“<br />
entstanden: Sehr große und ganz kleine<br />
Messestände, verblüffende Ausstellungskonzepte<br />
und neuerdings sogar Unternehmensauftritte<br />
„out of the box“ - mobile<br />
Container, die ein einziger Mensch in<br />
nur 25 Minuten zu einem vollwertigen
Mit diesem Stand rund um einen 250<br />
Jahre alten Olivenbaum machte Ueberholz<br />
auf der Euroshop 2005 Eigenwerbung.<br />
Der Wuppertal wurde dafür als erster<br />
Deutscher überhaupt mit dem amerikanischen<br />
„Edge Award“ für herausragende<br />
Leistungen im Bereich des internationalen<br />
Messe-Designs ausgezeichnet.<br />
Die leuchtenden Lichtwände waren über<br />
Jahre hinweg das von Ueberholz geprägte<br />
Markenzeichen der Messeauftritte des<br />
Haustechnik-Spezialisten GIRA.<br />
Tonnenschwere Steine, auf denen Besuchern<br />
mit Hämmern Urklänge erzeugen,<br />
die im Hintergrund in Bilder umgesetzt<br />
werden: Mit diesem Kommunikations-<br />
Experiment überraschte Ueberholz auf der<br />
Euroshop 2008. Der vielfach prämierte<br />
Stand gilt als Musterbeispiel dafür, wie sich<br />
temporäre Architektur in die Erinnerung<br />
brennt...<br />
Realisiert mit kleinem Budget und doch<br />
prämiert im Wettbewerb „Gute Gestaltung“<br />
des Deutschen Designer-Clubs: Der<br />
Ueberholz-Stand für den Lichttechnik-<br />
Hersteller BOCOM auf der Light &<br />
Building 2010.<br />
27
28<br />
Präsentationsraum entfalten kann. Was sie<br />
alle verbindet, ist der besondere Anspruch<br />
an ihre Gestaltung. Und zwar ganz egal,<br />
ob es um einen zweistöckigen Messestand<br />
mit über 1.000 Quadratmetern<br />
Fläche oder den winzigen Auftritt eines<br />
Nischenunternehmens geht. „Design“,<br />
fi ndet Ueberholz, „ist keine Frage des<br />
Budgets. Ein guter Designer kann für<br />
jeden Etat kreative Lösungen fi nden!“ Wie<br />
ein Uebeholz-Beitrag zum renommierten<br />
Wettbewerb „Gute Gestaltung“ des<br />
Deutschen Designer-Clubs eindrucksvoll<br />
bewies: Dessen Jury hatte den von Ueberholz<br />
entworfenen Auftritt eines Fachunternehmens<br />
für Farblichtsteuerungen auf der<br />
Messe „Light & Buidling“ prämiert - und<br />
den ganze 60 Quadratmeter großen Stand<br />
in der Kategorie „Raum/Architektur“<br />
damit eine Stufe mit einem Mega-Prestigeobjekt<br />
wie dem Deutschen Pavillon auf<br />
der Weltausstellung in Shanghai gestellt! In<br />
Asien wurde dafür ein Millionetat verbaut,<br />
hier dagegen mit einem Gesamtbudget<br />
von gerade einmal 14.000 Euro große<br />
Wirkung entfaltet.<br />
Apropos Etats: Dass viele Unternehmen in<br />
Zeiten der Wirtschaftskrise gerne an der<br />
Außendarstellung sparen, hält Nico Ueberholz<br />
für einen gefährlichen Irrweg. Nicht<br />
aus Eigennutz, sondern aus der Überzeugung<br />
heraus, dass Konjunktur ebenso wie<br />
Kreativität im Kopf entsteht. In einem<br />
Editorial für die Fachzeitschrift „wörkshop“<br />
brachte der Wuppertaler das 2009 mit<br />
Blick auf die Hannover-Messe zu Papier,<br />
bei der zahlreiche Unternehmen bis zuletzt<br />
über einen Teilnahmeverzicht nachdachten.<br />
„Ein fatales Signal im Hinblick auf<br />
die wirtschaftliche Gemütslage, die durch<br />
die Unsicherheit weiter negativ befeuert<br />
wurde“, so seine Überzeugung. Gegen die<br />
Depression setzte er die Aufforderung,<br />
die Krise als Chance zu begreifen - auch<br />
für die eigene Branche: „Wer es schafft,<br />
innerhalb eines für die Aussteller machbaren<br />
wirtschaftlichen Rahmens kreative Sonderlösungen<br />
zu fi nden und dabei aufregend<br />
anders zu sein, wird sich durchsetzen.“<br />
Für den Marktführer KME setzte Ueberholz auf der Bau 2007 Kupfer als Werkkunststück in Szene.<br />
Wenn Nico Ueberholz von solchen<br />
aufregend anderen Ideen erzählt, hört<br />
man gerne zu und staunt. Zum Beispiel<br />
darüber, wie ein profanes Rohr vom Weltmarktführer<br />
für Kupfererzeugnisse wirkt,<br />
wenn man es als „Werkkunststück“ begreift<br />
und im Stile eines Juwels auf tiefschwarzem<br />
Grund präsentiert. Oder über die Herausforderung,<br />
in der temporären Architektur<br />
absolut plane Wand- und Deckenfl ächen<br />
herzustellen, bei denen kein unerwünschter<br />
Schattenwurf die Lichtkomposition stört.<br />
Und natürlich über ein Vorzeige-Objekt<br />
wie den soeben eröffneten Info-Pavillon<br />
für die Großbaustelle am Düsseldorfer<br />
Kö-Bogen, den der Wuppertaler in Zusammenarbeit<br />
mit dem Designer-Kollegen<br />
Lutz Menze realisierte.<br />
Dass ein international beachteter Designer<br />
wie Nico Ueberholz ausgerechnet in seiner<br />
Heimatstadt bisher kaum Spuren hinterlassen<br />
hat, erinnert an den alten Spruch<br />
vom Propheten, der im eigenen Land<br />
nichts gilt. Den Satz „Wir haben eigentlich<br />
nur Auftraggeber von außerhalb“ streut er
deshalb in Gesprächen gerne ein. Nicht<br />
um der Aufträge willen, sondern weil Wuppertal<br />
dem bodenständigen Barmer sehr<br />
am Herzen liegt. Und weil kaum etwas<br />
kann seine Diskussionsfreude so befeuern<br />
kann wie manches Beispiel für gelinde<br />
gesagt merkwürdige lokale Stadtplanung.<br />
Umso größer ist seine Freude, wenn<br />
er sich einmischen darf. So wie bei der<br />
Planung für die Nordbahntrasse, wo Nico<br />
Ueberholz kräftig zu dem ausgeklügelten<br />
Beleuchtungskonzept beitrug, mit dem im<br />
großen Stil Fördermittel für das wegweisende<br />
Projekt gewonnen wurden. Wieder<br />
ein Fall von „aufregend anders“. Genau wie<br />
die drei neuen Kundencenter der Wuppertaler<br />
Stadtwerke, deren Innenausstattungen<br />
die Ueberholz-Handschrift tragen. Sie<br />
wurden dadurch zu einladenden Service-<br />
Landschaften, in denen sich Besucher und<br />
Mitarbeiter von intelligenten Lichtsystemen<br />
gelenkt vor vertikal mit Pfl anzen<br />
begrünten Wänden treffen. Hightech<br />
und Natur prägen hier Hand in Hand die<br />
einladende Atmosphäre. Die Sache mit<br />
dem Propheten scheint sich also langsam<br />
zu verbessern.<br />
Ob man sich im WSW-Kundencenter<br />
am Wall, auf einem Messestand des<br />
Haustechnik-Spezialisten „GIRA“ oder auf<br />
der viel beachteten Wanderausstellung des<br />
NRW-Fachverbandes der Tischler umsieht<br />
- überall wird man die unverkennbare<br />
Ueberholz-Handschrift wiederentdecken:<br />
klare Linien, das geschickte Spiel mit Gegensätzen<br />
und Licht als prägendes Element<br />
einer überraschenden Inszenierung. Ein Stil,<br />
mit dem Ueberholz speziell den Messeauftritten<br />
vieler Unternehmen über Jahrzehnte<br />
hinweg bei aller Wandlung der Stände ein<br />
unverwechselbares Gesicht gegeben hat.<br />
Das amerikanische Fachblatt „Exhibitor“<br />
vergibt genau dafür bei seinen jährlichen<br />
„Exibition Design Awards“ sogar Preise in<br />
einer eigenen Wettbewerbskategorie: Die<br />
heißt „Design Consistency“ und hebt auf<br />
das Problem ab, bei immer neuen Präsentationsideen<br />
doch die Markenidentität erkennbar<br />
zu wahren - Ueberholz durfte sich<br />
jenseits des Atlantik bereits über mehrere<br />
dieser Awards freuen. Und mehr noch: Erstmals<br />
in der mehr als zwei Jahrzehnte langen<br />
Geschichte der „Exhibition Design“-Prämierungen<br />
holte der Wuppertaler 2006 den<br />
„Edgde Award“ nach Deutschland! Mit die-<br />
Nico Ueberholz und Mitarbeiter André Füsser mit zwei von vielen Awards aus dem In- und<br />
Ausland, die sich mittlerweile im Büro in der Cleff‘schen Kornmühle angesammelt haben.<br />
Dem WSW-Anspruch auf Nachhaltigkeit und perfekten Service hat Nico Ueberholz in den<br />
neuen WSW-Kundencentern ein eigenes Gesicht gegeben.<br />
ser Auszeichnung würdigt eine hochkarätig<br />
besetzte Jury herausragende Leistungen im<br />
Bereich des internationalen Messe-Designs.<br />
Prämiert wurde ein Aufsehen erregender<br />
Messestand, den Ueberholz zur Euroshop<br />
2005 in Düsseldorf als Werbung in eigener<br />
Sache entworfen hatte: Er zeigt exemplarisch<br />
die Umsetzung des Unternehmens-<br />
Leitsatzes „Wir bauen Atmosphäre“ – unter<br />
anderem durch die spektakuläre Integration<br />
eines 250 Jahre alten Olivenbaums in ein<br />
High-Tech-Umfeld. Bei der Preisverleihung<br />
im deYoung-Museum von San Francisco<br />
schwärmte Design-Nestorin Deborah<br />
Sussman – unter anderem verantwortlich<br />
für das Erscheinungsbild der Olympischen<br />
Spiele in Los Angeles – dazu: „Es ist so weit<br />
entfernt von allem, was wir sonst gesehen<br />
haben. Ich wünschte mir, ich hätte es<br />
gemacht!“<br />
Nach dem Edge-Award holte Ueberholz<br />
dieses Jahr übrigens erneut einen Sonderpreis:<br />
Mit dem schon beschriebenen<br />
„Einklang“-Stand gewann Ueberholz Gold<br />
in der zum Jubiläum der US-Awards ausgeschriebenen<br />
Wettbewerbs-Kategorie „Best<br />
of 25 Years“. Die beiden „Amerikaner“<br />
stehen demnächst einträchtig nebeneinander<br />
auf dem Glastisch in der Kornmühle.<br />
Die Erinnerung ist also nicht das Einzige,<br />
was den Moment überdauert...<br />
Andrea Weiß<br />
29
30<br />
Tafelbildmontage von Klaus<br />
Armbruster auf Zollverein: Eine<br />
Hommage an das Ruhrgebiet<br />
Die Städte sind für Dich gebaut<br />
Große Bilder einer großen Geschichte<br />
präsentiert die Stiftung Zollverein vom<br />
14. April bis 27. Mai 2011 mit der Tafelbildmontage<br />
DIE STÄDTE SIND FÜR<br />
DICH GEBAUT von Klaus Armbruster.<br />
Damit setzt sie das Programm des vergangenen<br />
Kulturhauptstadtjahres fort und<br />
zeigt die Werkschau eines Künstlers, der<br />
das Ruhrgebiet und seine Menschen zum<br />
Thema seines Schaffens machte.<br />
25 Jahre lang hat sich Armbruster als<br />
Film- und Medienkünstler immer wieder<br />
mit der Region auseinandergesetzt. Inzwischen<br />
zu seiner ursprünglichen Profession<br />
als Maler zurückgekehrt, bringt er ihre<br />
Geschichte und Gegenwart seit nunmehr<br />
vier Jahren mit dem Pinsel auf die Lein-<br />
wand. Bevor er das Ruhrgebiet zum Ende<br />
des Jahres wieder verläßt, widmet er ihm<br />
jetzt ein monumentales Werk.<br />
Hinter dem Ausstellungstitel DIE STÄD-<br />
TE SIND FÜR DICH GEBAUT aus<br />
Bertolt Brechts „Lesebuch für Städtebewohner“<br />
steckt ein vielschichtiges künstlerisches<br />
Gesamtwerk, das die Grundthemen<br />
des Ruhrgebiets als Brennpunkt<br />
existenzieller Menschheitsfragen aufgreift<br />
und sich den hier lebenden Menschen<br />
widmet. DIE STÄDTE SIND FÜR<br />
DICH GEBAUT refl ektiert die Entwicklung<br />
vom Industriezeitalter bis zum<br />
gegenwärtigen Strukturwandel, die ihren<br />
Ausdruck in alltäglichen Szenen, in dra-
matischen Ereignissen und in den Gesichtern<br />
der Menschen fi ndet. 81 Tafelbilder<br />
sind in 27 Triptychen unterschiedlicher<br />
Formate miteinander verbunden und in<br />
fünf Sequenzen übereinander zu einem<br />
groß dimensionierten Gesamt-Triptychon<br />
zusammengefaßt. Es wird auf einem 18<br />
Meter breiten und 6 Meter hohen Tableau<br />
in der ehemaligen Zentralwerkstatt,<br />
Halle 5, auf Zollverein gezeigt.<br />
Klaus Armbruster hat zentrale Video-<br />
Einzelbilder aus seinem letzten großen<br />
Multimedia-Projekt, dem 1998 in der<br />
Bochumer Jahrhunderthalle uraufgeführten<br />
RUHRWERK, ausgewählt<br />
und ihr fl üchtiges Aufscheinen in die<br />
dauerhafte Materialität des Tafelbildes<br />
transformiert. Durch die von ihm aus<br />
seiner Medienarbeit entwickelte, in dieser<br />
Form einzigartige Montage der Tafelbilder<br />
entstehen vielfältige Beziehungen<br />
zwischen den einzelnen Motiven, vom<br />
Maler thematisch und kompositorisch<br />
strukturiert und zugleich offen gelassen<br />
für die individuelle Rezeption des<br />
Publikums.<br />
Das bildmächtige Triptychon wird als<br />
Raum-Installation in die Architektur<br />
der Halle eingefügt. Auch das mit dem<br />
Komponisten Wolfgang Hufschmidt<br />
erarbeitete RUHRWERK wird in einem<br />
Projektionsraum zu sehen und in der Ausstellung<br />
zu hören sein.<br />
Für die Besucher bietet sich so die Möglichkeit,<br />
die Herkunft der Bildmotive in ihrem<br />
szenischen Zusammenhang aufzuspüren<br />
und den von Hufschmidt geschaffenen<br />
Klangraum auch beim Betrachten der Tafelbildmontage<br />
als Kommentar und emotionale<br />
Basis in das eigene Sehen, Erinnern und<br />
Assoziieren hineinzunehmen.<br />
In Armbrusters Tafelbildmontage werden die<br />
von ihm selbst in die Welt gebrachten, viel-<br />
schichtig gestalteten, immateriellen Film-/<br />
Video-Einzelbilder Pinselstrich um Pinselstrich<br />
in eine reale Tafelbild-Existenz überführt<br />
und inhaltlich wie formal noch weiter<br />
verdichtet. Gleichzeitig werden sie in der<br />
Montage aus dem linearen Fluss der Film-<br />
Zeit und der ausformulierten Film-Erzäh-<br />
31
34<br />
lung herausgelöst und in eine zeitunabhängige,<br />
fortwährende Gegenwart still gestellt.<br />
Die einzelnen Bildmotive folgen, ihrem Ursprung<br />
als Filmkameraeinstellungen entsprechend,<br />
der Bewegung der Handlung und<br />
drängen dabei im Unterschied zu fotografi -<br />
schen Abbildungen über den Bildausschnitt<br />
hinaus.<br />
In der Tafelbildmontage nehmen sie mit den<br />
danebenstehenden, aber auch mit darüber-,<br />
darunter- oder weiter entfernt montierten<br />
Bildern Kontakt auf.<br />
So entstehen formale und inhaltliche Bezüge<br />
und Verbindungen, die jeder Betrachter,<br />
seiner persönlichen Resonanz und Assoziation<br />
folgend, entdecken und darin eigene<br />
Erlebnisse und Erzählungen einweben kann.<br />
Mehrteilige Bildmontagen spielten auch in<br />
Armbrusters multimedialen Bühnen-<br />
Installationen eine wesentliche Rolle, bei<br />
denen er mit Choreographen wie Pina<br />
Bausch, Bühnenregisseuren wie Ruth<br />
Berghaus und Hansgünther Heyme und<br />
Komponisten wie Wolfgang Hufschmidt,<br />
Nikolaus A. Huber und Gerhard Stäbler<br />
zusammenarbeitete.<br />
Trotz eines komplexen theoretischen und<br />
konzeptionellen Hintergrundes kommt<br />
Armbrusters erstes Tafelbildmontage-Projekt<br />
sehr einfach und bescheiden aus dem<br />
Atelier. Dem Leben, Arbeiten, existenziellen<br />
und oft vergeblichen Kämpfen der<br />
Menschen im Ruhrgebiet gewidmet, in<br />
Anteil nehmender, fast demütiger Haltung<br />
Schicht um Schicht sehr sorgfältig gemalt<br />
und jedem, auch dem Laien, in seinem<br />
malerischen und erzählerischen Reichtum<br />
unmittelbar zugänglich.<br />
Drei Konzerte in der Ausstellung (am 14.<br />
April, 19. und 27. Mai 2011, jeweils um<br />
20.00 Uhr), darunter eine Uraufführung aus<br />
Wolfgang Hufschmidts Zyklus „Engel der<br />
Geschichte“, machen diese für das Welterbe<br />
wie geschaffene Malerei-Inszenierung zum<br />
Erlebnis eines Gesamtkunstwerkes.<br />
DIE STÄDTE SIND FÜR DICH<br />
GEBAUT<br />
Tafelbildmontage von Klaus Armbruster<br />
14. April bis 27. Mai 2011<br />
Welterbe Zollverein, Halle 5, Schacht XII<br />
[A5]<br />
Gelsenkirchener Str. 181 – 45309 Essen<br />
Öffnungszeiten: Di bis Do 12.00 Uhr bis<br />
18.00 Uhr, Fr bis So 11.00 Uhr bis 20.00<br />
Uhr<br />
Weitere Informationen unter Tel.<br />
0201-246810 und im Internet unter<br />
www.zollverein.de<br />
Redaktion Frank Becker
36<br />
wenn man über<br />
die Altersgrenze spaziert<br />
Johanna Hilbrandt<br />
geboren 19. Dezember 1950 in Lahr,<br />
verheiratet, zwei Kinder<br />
1973 – 1984 Lehrtätigkeit an einer<br />
Förderschule in Baden-Württemberg<br />
Tätigkeit im parlamentarischen<br />
Beratungsdienst im Landtag<br />
von Baden-Württemberg<br />
1986 – 1989 Lehrtätigkeit an<br />
verschiedenen Schulen in Niedersachsen<br />
10/2010 Studium im Masterstudiengang<br />
Literarisches Schreiben<br />
an der IB Hochschule Berlin-Stuttgart<br />
Wo man ankommt<br />
Charlottenburg ist ein bürgerlicher Bezirk<br />
im Westen der Hauptstadt. Ehemals<br />
königliche Residenz, war der Ort zu dieser<br />
Zeit bekannt für das Vergnügungslokal<br />
FLORA, wo, zur Belustigung des Berliner<br />
Publikums, anthropologische Ausstellungen<br />
stattfanden. In der FLORA wurden<br />
Angehörige fremder Völker in möglichst<br />
naturgetreuer Kulisse präsentiert. So ist<br />
in der Ortschronik eine Kalmücken- und<br />
Irokesen – Schau unter dem Titel „Wild-<br />
Afrika“ dokumentiert. Obwohl in den<br />
Medien enthemmender Unterhaltung alle<br />
möglichen freak shows gezeigt werden,<br />
verbietet sich doch heute die Reproduktion<br />
kolonialer Blickverhältnisse. Dass es aber in<br />
Charlottenburg noch immer Schauplätze<br />
der besonderen Art gibt, erfahre ich auf<br />
dem Weg durch eine Grünanlage.<br />
Es ist einer der ersten, schon an den<br />
Sommer erinnernden Frühlingstage, als ich<br />
auf der Suche nach Ruhe und Ordnung<br />
zum Lietzensee spaziere, einem Gewässer<br />
mit Park nicht weit vom Schloss. Keine<br />
Bolz-, keine Bier-, keine Kindergärten und<br />
wenn ich Glück habe, entdecke ich hier<br />
einen Fleck ohne Hunde. Es gibt Dinge im<br />
Alltag, die verhindern, dass Städte auseinander<br />
fallen. Dazu gehören Parks. Es sind<br />
stabile verlässliche Flächen. In einem Park<br />
zu spazieren scheint mir ein wirksames<br />
Mittel gegen die Reizüberfl utung in der<br />
Hauptstadt, deren schiere Größe mich als<br />
Neubewohnerin überfordert. Die Ein-
heimischen gewinnen Abstand mit dem<br />
Rückzug in die Datsche; ich folge dem Rat<br />
Robert Walsers, der in das „obrigkeitliche<br />
Ohr“ seines Steuerbeamten spricht, um das<br />
fortlaufende Spazierengehen zu erklären:<br />
„Ohne Spazieren wäre ich tot. Auf weitschweifi<br />
gem Spaziergang fallen mir tausend<br />
brauchbare Gedanken ein. Ein Spaziergang<br />
tröstet, freut, erquickt mich, ist mir ein Genuss,<br />
hat aber zugleich die Eigenschaft, dass<br />
er mich spornt und zu fernerem Schaffen<br />
reizt, indem er mir zahlreiche mehr oder<br />
minder bedeutende Gegenständlichkeiten<br />
darbietet. Jeder Spaziergang ist voll von<br />
sehenswerten, fühlenswerten Erscheinungen.<br />
Von Gebilden, lebendigen Gedichten,<br />
anziehenden Dingen, die sich reiz- und<br />
anmutvoll vor den Sinnen und Augen des<br />
aufmerksamen Spaziergängers öffnen.“ Mit<br />
diesem „edlen Gedanken des Spazierganges“<br />
im Kopf setze ich mich auf eine Bank vor<br />
dem Teich mit der Aufschrift: Voll daneben<br />
das Leben und lasse mich von nutzlosen<br />
Gefühlen überfallen, als mein Blick auf<br />
ein Hinweisschild knallt und - von dessen<br />
Inschrift benommen - irritiert zurückweicht.<br />
Was ihn verstört ist das Paradoxon<br />
auf einer Tafel, aufgestellt von einem Verein<br />
‚Lebenskunst` mit folgender Beschriftung:<br />
Senioren- Spielplatz Litzenseepark, Vital in<br />
Deutschland (vid), Deutscher Spielraum –<br />
Preis 2009. Darunter, als Gebot adressiert<br />
an die herkömmlichen Benutzer eines Spielplatzes:<br />
Aktionsspielplatz ab 60 Jahre. Nun<br />
weiß ich, seit der Philosoph Sloterdijk seine<br />
Regeln für den Menschenpark aufgestellt<br />
hat, dass Menschen „sich selbst hegende,<br />
selbst hütende Wesen sind, die – wo auch<br />
immer sie leben – einen Parkraum um sich<br />
erzeugen. In Stadtparks, Nationalparks,<br />
Kantonalparks, Ökoparks – überall müssen<br />
Menschen sich eine Meinung darüber bilden,<br />
wie ihre Selbsterhaltung zu regeln sei.“<br />
Hier im Lietzenseepark geschieht sie zum<br />
Nulltarif, wie das amtliche Schild, das sich<br />
am Eingang der Anlage für die politischen<br />
Fördermittel bedankt, vermerkt. Es prahlt<br />
mit der Aufschrift:<br />
Fit zum Nulltarif !<br />
SENIOREN – SPIELPLATZ ?<br />
Wo bin ich? Alogische Räume, fi ktionale<br />
Gespinste, fremde Welten?!<br />
Paradox sind Phänomene, die einen Widerspruch<br />
in sich enthalten, dem menschlichen<br />
Verstand widersprechen. Auf diesem Platz<br />
sollen also alle, die sechzig und drüber sind<br />
spielen dürfen. Ich überlege, noch sieben<br />
Monate, bis ich mitspielen darf und in den<br />
Gedanken drängen sich die Bilder von Eimer,<br />
Schaufel, Sand und Förmchen. Gereizt<br />
von dieser Vorstellung dämpfe ich jedoch<br />
meinen Ingrimm mit Robert Walser, der<br />
mich ermahnt „höchst aufmerksam und<br />
liebevoll jedes kleinste Ding...ob hoch oder<br />
niedrig, ernst oder lustig zu studieren und<br />
zu betrachten.“ Ich soll, so trägt er mir<br />
auf, meinen „Blick überallhin schweifen,<br />
herumstreifen“ lassen und meine eigenen<br />
Klagen gering achten oder völlig vergessen.<br />
Geht aber nicht! Ich stehe vor dem Schild<br />
und ärgere mich. Was empört mich? Das<br />
Schild, das Wort, die Anlage? Der Blick auf<br />
eine Spielwiese ist mir unter gewöhnlichen<br />
Umständen sehr angenehm. Hier aber sind<br />
es die Umstände, die vor der Wiese stehende<br />
Tafel mit den hüpfenden Buchstaben<br />
und die auf der Wiese platzierten Gerätschaften<br />
mit ihrem Bedienungspersonal,<br />
um die sich meine Empfi ndungen erregt<br />
bewegen. Sie müssen sich bewegen, denn<br />
so fordert es die Aufschrift: AKTIONS-<br />
SPIELPLATZ!<br />
Der Zorn beim Anblick des Spielplatzes<br />
fährt in meine Muskeln und mein Fuß wird<br />
zu einem Produkt aus Kraft und Dauer.<br />
Ich trete zu. Es geschieht mir und hätte ich<br />
den Mut der alten Berliner Stadtindianer<br />
und die Fitness, die der Platz vorzugeben<br />
verspricht, würde ich das Licht der Öffentlichkeit<br />
nicht scheuen und das Schild jetzt<br />
sofort umhauen.<br />
Spielplätze sind Freiräume zum Spielen.<br />
Kinder lernen dort geschützt das Hineinwachsen<br />
in die Welt. Sie erleben ihren Körper<br />
und erwerben motorische Fähigkeiten.<br />
Auf dem Spielplatz machen sie die ersten<br />
Erfahrungen mit elementaren Naturgesetzen<br />
und entwickeln sich im Spiel mit anderen<br />
Kindern zu sozialen Wesen. Sie verrichten<br />
dort wichtige Tätigkeiten wie Klettern,<br />
Krabbeln, Buddeln, Rutschen und Bauen.<br />
Und nicht zuletzt ermöglichen Spielplätze<br />
den Eltern eine kurze Pause, in dem sie ihre<br />
Kinder für eine gewisse Zeit in dieses geschlossene<br />
Terrarium stecken und sicher sein<br />
können, es dort meist unbeschädigt, wenn<br />
auch nicht sauber wieder raus zu holen<br />
War es der Notschrei einer fi tnesssüchtigen<br />
Gesellschaft? oder was hat die Berliner<br />
Kommunalverwaltung dazu angeregt für ihre<br />
beschäftigungslosen und bewegungsscheu-<br />
en Mitbürger über sechzig diese Spielwiese<br />
anzulegen? Auf dem eingezäunten Gelände<br />
stehen überall abstrakte, rätselhafte Objekte.<br />
Zur Interaktion mit diesen sehen sich ältere<br />
Mitbürger veranlasst, gekleidet in Funktionslaufhose,<br />
Fleece Weste und BaseCap. Obwohl<br />
die Bewegungs – und Wahrnehmungsentwicklung<br />
in diesem Alter längst abgeschlossen<br />
ist, drücken sie ihre Füße gegen Federwiderstände,<br />
bewegen Stangen, kreisen auf dem<br />
Stehkarrussell, balancieren auf der Pendelscheibe<br />
und bemühen sich so, den Kindern<br />
die Illusion zu nehmen, es sei ihr Spielplatz.<br />
Diese verstehen zwar nicht, warum das<br />
Happy Big Wheel nur für den Opa sein soll,<br />
überlassen es ihm aber großzügig und erobern<br />
die Seniorenschaukel. Um die Bewegungen<br />
richtig ausführen zu können, beschreiben die<br />
Infoschilder altersgerechte Übungen und sind<br />
mit dem Hinweis versehen: „ Führen Sie ein<br />
Vorgespräch mit ihrem Hausarzt, bevor sie sich<br />
an die Geräte trauen.“<br />
Hallo? Habe ich was verpasst? Gibt es ergänzend<br />
zum Kinderfördergesetz ein Altenfördergesetz<br />
mit dem Inhalt Ausbau von Fitnessangeboten<br />
für Übersechzigjährige? Sind hier<br />
Baumaßnahmen beschlossen, die den Körper,<br />
dessen Markenzeichen der Verfall ist, durch<br />
permanente Vollbeschäftigung in einem<br />
Menschenpark am Altern hindern sollen?<br />
Das Konzept GIRO VITALE, das der Gerätehersteller<br />
play fi t gemeinsam mit Ingenieuren<br />
entwickelt hat, entstand nach einer<br />
China Reise der Firmeninhaberin. Dort sah<br />
sie viele Menschen, die sich morgens in<br />
den Parks der Städte trafen, um gemeinsam<br />
rituelle Bewegungen auszuführen, die auch<br />
als „Schattenboxen“ bekannt sind. Nach<br />
dem chinesischen Glauben verspricht Tai<br />
Chi dem Übenden die Geschmeidigkeit<br />
eines Kindes.<br />
Unter dem Motto: 50 + Eine Generation<br />
fordert einen neuen Ansatz - möbliert play<br />
fi t öffentliche Anlagen mit Balancebalken,<br />
Pendelbrettern, Schaukeln, Wippen u.v.m.<br />
für einen Preis in der Spanne von 25000 bis<br />
430000 Euro. „Wir bieten Ihnen an frischer<br />
Luft in Park-Atmosphäre die Möglichkeit<br />
einer kleinen Radtour, aber in bequemer Sitzhaltung,<br />
ohne auf das entspannte Gespräch zu<br />
verzichten. Ohne großen Aufwand trainieren<br />
Sie an den Geräten Bewegungsabläufe,<br />
Muskulatur, Kondition, Gleichgewicht. Im<br />
‚Twister’ lassen Sie schwungvoll Ihre Hüfte<br />
Kreisen“.<br />
37
38<br />
An dieser Stelle müsste die ‚Machtfrage’<br />
gestellt werden: Welche Mächte prägen den<br />
öffentlichen Raum und welche Bedeutung<br />
hat er für die eigene Identität? Diese Fragen<br />
aber bringen mich von den Dingen ab, die<br />
ich vor mir sehe, und so lasse ich sie fallen.<br />
„Je kürzer die Zeit, die mir zu leben verbleibt,<br />
desto tiefer und reicher muss ich sie<br />
gestalten“ trägt uns Montaigne auf. Meint er<br />
Spielzeit im Aktiv-Park, um dort die Reste<br />
von Agilität zu demonstrieren?<br />
Ich behaupte, dass jedes Alter die ihm gemäße<br />
Bewegungsgestalt hat, ein Bewegungsverhalten,<br />
das sich in seine Erscheinungsweise<br />
fügt: Ein Baby strampelt, Kinder hüpfen,<br />
springen, Jugendliche schleppen ihren Körper<br />
mit sich herum wie eine voll gestopfte<br />
Alditüte und idealtypisch geht ein Erwachsener<br />
möglichst aufrecht und gerade bei<br />
gleichzeitiger Gelöstheit.<br />
Da der Körper eine vom Leben bearbeitete<br />
Masse ist, weist er im Laufe der Jahre<br />
Beschädigungen auf oder wie Montaigne<br />
in seinem letzten Essai sinniert: „An einer<br />
schadhaften Stelle zu kranken ist normal für<br />
Gebäude dieses Alters.“<br />
Die Beeinträchtigungen am Körper – Bau<br />
verändern auch die Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten<br />
eines Menschen. Sein<br />
Gang ist weniger dynamisch, die Schultern<br />
hängen, der Rücken ist gebeugt, die Bewegungen<br />
langsamer.<br />
Jetzt soll also so ein gut abgehangener<br />
Schöngeist auf den Spielplatz, um sich<br />
dort zu rühren. Er soll wippen, schaukeln,<br />
balancieren, hüpfen, schwingen und mit<br />
kindischem Gebaren aus sich eine lächerliche<br />
Erscheinung machen. Die peinliche<br />
Zurschaustellung eines alternden Körpers<br />
in grotesken Positionen macht aus seinem<br />
Inhaber eine komische Figur. Der Anblick<br />
eines zappelnden Seniors lässt ihn würdelos<br />
erscheinen. Ist dieses Bild beabsichtigt?<br />
Oder steckt hinter der ganzen Aktion das<br />
schwungvolle Bemühen unserer Gesundheitspolitiker<br />
den Verfall der Kosten verursachenden<br />
Körpers aufzuhalten?<br />
Ich beginne mich in den wirren Gedanken<br />
anderer zu verfangen.<br />
Alte, eine Population, die für ein Bündel<br />
schwerwiegender, ökonomischer, sozialer<br />
und ethischer Probleme steht, Bewohner<br />
einer kauzigen Welt, die Schrecken und<br />
Abwehrrefl exe auslöst, werden mit GIRO<br />
VITALE in die Pfl icht genommen. Damit<br />
sie sich nicht störrisch verweigern, lockt<br />
man sie mit Schmeicheleien und bastelt an<br />
der Kreation einer neuen Sozialfi gur den<br />
„jungen Alten“. Eine vitale, dynamische,<br />
aktive, je nach Einkommen konsumfreudige<br />
und daher wirtschaftlich interessante Gruppe,<br />
die wegen ihrer zunehmenden Größe<br />
für Politiker und Gesundheitsökonomen<br />
immer mehr an Bedeutung gewinnt. Diese<br />
„jungen Alten“ sind die primäre Zielgruppe<br />
von gesundheitspolitischen Präventionsprogrammen,<br />
die einen wichtigen Baustein für<br />
„kompetentes Altern“ bilden. Das Krisenszenario<br />
einer drohenden Überalterung,<br />
das die Alten zu einer, das soziale System<br />
strapazierenden, Problemgruppe macht und<br />
die regelmäßige Konfrontation mit entsprechenden<br />
Bildern und Debatten bleiben<br />
nicht ohne Folgen. Es drängt die ‚jungen<br />
Alten’ zu vielfältigen Praktiken der Arbeit<br />
am Körper: Sport, Diät, Kosmetik, physiologische<br />
Eingriffe, Gehirnjogging. Alter ist<br />
ein Virus, dem nur mit rigider Körper- und<br />
Bedürfniskontrolle beizukommen ist.<br />
Hinfälligkeit, Gebrechlichkeit, Siechtum<br />
fungieren als Negativvision vom Leben im<br />
Alter, die eine biotechnologische Abhilfe<br />
nachgerade zur moralischen Pfl icht erhebt.<br />
Der alternde Körper wird als Baustelle gesehen<br />
für deren Zustand man selbst Verantwortung<br />
zu tragen hat. Trainieren Sie! Unterstützende<br />
Bausteine liefert eine gesamtgesellschaftliche<br />
anti-ageing-Strategie. In Turnhallen,<br />
Fitness-Studios, Sportparks und auf<br />
„Aktionsspielplätzen“ sollen die Individuen<br />
für den kollektiven Kampf gegen die alternde<br />
Gesellschaft mobilisiert werden. Dort wird<br />
das korporale Kapital bearbeitet, um erfolgreich<br />
– nämlich gar nicht – zu altern. Dieser<br />
inszenierte Diskurs behauptet, dass es kein<br />
Alter gibt, sondern nur ein den Ideen des<br />
einzelnen überlassenes Gestaltungsprojekt.<br />
Der Provokation des Menschen durch das<br />
Unumgängliche – das Altern – das zugleich<br />
das Nichtbewältigbare scheint, stellt sich seit<br />
Jahren die Sport – bzw. Biomedizin. Ausgehend<br />
von einem Verständnis des Alterns<br />
als „behandelbare, molekularbiologische<br />
Metakrankheit“ entwirft sie ein medizinisches<br />
Programm zur ‚Maximierung der Physiologie’<br />
alternder Körper. Schauen wir uns<br />
um! Alte werden als erstes durch ihre Körper<br />
bzw. bestimmte, sinnlich wahrnehmbare<br />
körperliche Zeichen identifi ziert: Welke<br />
Haut, verknitterte Züge, blasse Augen,<br />
müder Blick, brüchige Stimme, eingesunkener<br />
Brustkorb, unsicherer Gang. Friederike<br />
Mayröcker schaut an einem Geburtstag erbarmungslos<br />
auf ihren Körper und beklagt:<br />
„nämlich dass hineingegriffen worden war<br />
in dieses Gesicht, in dieses mein Altersgesicht,<br />
ich glaube die Zeit habe hineingegriffen<br />
und ihre Spuren in ihm zurückgelassen,<br />
die düsteren Nischen der eingesunkenen<br />
Augen, die schlaffen Wangen: senile Bäckchen:<br />
Beutelchen eines Kleinkindes, aber<br />
heruntergerutscht in die untere Hälfte des<br />
Gesichtes, greisenhaft, hässlich, clownesk,<br />
die vertrackten Nervenbahnen, die gemergelten<br />
Füße, der faltenverschnürte Leib.“<br />
Schauen wir uns um! Wo sehen wir das so<br />
gezeichnete Alter? Der junge Körper, der<br />
zugleich als Idealbild des Körpers kodiert<br />
ist, wird zur Norm erhoben und ist überall,<br />
wo es etwas zu verkaufen gibt präsent.<br />
Der alternde Körper dagegen wird als<br />
problematisch wahrgenommen, er ist ein<br />
außer - ordentlicher Körper, der aus dem<br />
Rahmen fällt und als solcher eine ästhetische<br />
Zumutung. Bei Medizinern weckt er<br />
das Reparaturbedürfnis, bei Angehörigen<br />
Überforderungs – oder Abschiebungsgedanken<br />
und bei Gesundheitspolitikern<br />
Vernichtungsimpulse. Der alte, hinfällige<br />
Körper ist nahezu unsichtbar faktisch und<br />
medial. Man sehe sich dazu die in der<br />
kommerziellen Werbung genutzte Darstellung<br />
von Alter an, z.B. die Werbeanzeige des<br />
Schweizer Uhrenfabrikanten Patek Philippe,<br />
2009, aus der Serie „Timeless Portraits“,<br />
wo ein smarter Eidgenosse um die 50+ mit<br />
vollem Haupthaar und faltenlos dem Sohn<br />
seinen Chronometer und demnächst die<br />
Firma vererbt. Hat also die Biomedizin ihr<br />
Programm erfolgreich umgesetzt? Oder hat<br />
der auf sich selbst gerichtete Blick die Alten<br />
so verstört, dass sie sich vor der Welt verbergen?<br />
In einem seiner fotografi sch inspirierten<br />
„snapshots“ Selbstbildnis im Supermarkt<br />
beschreibt Rolf Dieter Brinkmann wie eine<br />
solche Begegnung verlaufen sein könnte:<br />
In einer großen Fensterscheibe des Supermarkts<br />
komme ich mir selbst entgegen, wie ich bin.<br />
Der Schlag, der trifft, ist nicht der erwartete<br />
Schlag aber der Schlag trifft mich trotzdem.<br />
Und ich geh weiter bis ich vor einer kahlen<br />
Wand steh und nicht weiter weiß.<br />
Gerade der Blick auf sich selbst ist der<br />
grausame, weil es der Blick der anderen ist.<br />
Wir sehen uns mit den Augen der anderen.<br />
Wenn also das Alter nahezu unsichtbar ist,<br />
wenn das Bekannte in etwas absichtlich Verborgenes<br />
verwandelt wird, etwas Öffentli-
ches in etwas Nicht-Öffentliches, ist es dann<br />
ein Geheimnis? Eine Heimlichkeit aufs<br />
beste ge- und behütet in Seniorenanlagen,<br />
Seniorenresidenzen, oder Domizilen für<br />
Senioren, wie KURSANA, einer Tochter<br />
der DUSSMANN-GRUPPE ihre Einrichtung<br />
nennt. Natürlich heißt heute kein<br />
Haus für die Alten mehr Altenheim. Dieser<br />
Begriff klingt nach Abschiebehaft und ist<br />
Angst besetzt. Er erregt Schauder und sofort<br />
fallen jedem Gruselgeschichten ein, die man<br />
gelesen hat. Ich würde – bei Seite gesprochen<br />
- mein Alter von der DUSSMANN<br />
- Gruppe managen lassen, denn die sind<br />
Management-Profi s, die neben Energie,<br />
Sicherheit, Gebäude, Büros, Catering auch<br />
noch Kultur managen und demnächst vielleicht<br />
Seniorensiedlungen mit integrierten<br />
Entsorgungsparks, wo die Jungalten vom<br />
Seniorenspielplatz - inzwischen zu Altalten<br />
geworden – als endzeitliche Pfl egeobjekte<br />
auf dem Rasen – über kurz oder lang – unterm<br />
Rasen Platz nehmen.<br />
Die Anti-Aging-Religion hat das Alter<br />
zu einem Mysterium gemacht. Sie, die<br />
lautstark das gesunde, positive, fröhliche,<br />
im Erscheinungsbild schöne Dasein propagiert,<br />
lässt die Körpervielfalt nicht mehr<br />
zu. Die ungebrochene Idealisierung von<br />
Jugendlichkeit und Schönheit bewirkt die<br />
Ausgrenzung des alternden und sterblichen<br />
Körpers. Während der asketische oder<br />
technisch (auf)gerüstete Körper so seine<br />
ästhetisch-erotisch Attraktivität maximiert<br />
und an das tradierte Ideal der klassischen<br />
Skulptur erinnert, erscheint der ‚gebrechliche<br />
Mensch’ aufgrund seines Alters, seiner<br />
Behinderung, seiner chronischen Erkrankung<br />
„als verkörperte Negation der Normen<br />
physischer und psychischer Fitness,<br />
Jugendlichkeit und Schönheit“ so problematisiert<br />
der Rehabilitationswissenschaftler<br />
Markus Dederich diese Sicht auf das<br />
Alter. Altern wird nach dem Verständnis<br />
dieser Religion nicht mehr als natürlicher<br />
Prozess betrachtet sondern als ein nichtwünschenswerter<br />
Zustand des menschlichen<br />
Lebens, den es zu vermeiden gilt. Die<br />
Anti-Aging-Religion stellt mich vor ihr<br />
höchstes Gericht und meine Körperteile<br />
sagen gegen mich aus. Ein Albtraum gegen<br />
den nur die Nervenkekse der Hildegard<br />
von Bingen helfen. Ich trage sie immer bei<br />
mir, wenn ich spazieren gehe. Sie enthalten<br />
50 Gramm Muskat, das in dieser Menge<br />
halluzinogen wirkt.<br />
Auf Spaziergängen beschäftigen mich immer<br />
allerlei Gedanken und weil es heute kaum<br />
noch eine Debattenkultur gibt, spreche ich<br />
beim Spazierengehen mit mir selbst – auch<br />
eine Marotte des Alters. Früher konnte man<br />
jederzeit einen diskutierfreudigen Kreis<br />
zusammen trommeln, der ein hingeworfenes<br />
Thema mit Gedanken bombardierte, heute….das<br />
ist ein weites Feld, über das ich jetzt<br />
nicht mit Fontane spaziere. Beim Spazierengehen<br />
halte ich mich an Robert Walser. Der<br />
geht spazieren, währenddessen ihn „allerlei<br />
Gedanken stark beschäftigen, weil sich beim<br />
Spazieren Einfälle, Lichtblitze und Blitzlich-<br />
ter ganz von selbst einmengen und einfi nden<br />
um sorgsam verarbeitet zu werden“. Man<br />
muss dem Blitzlichtgewitter standhalten, das<br />
sich im Kopf entlädt, während man über die<br />
Altersgrenze geht. Der Gang über Grenzen<br />
kann riskant sein. Man weiß nicht, was<br />
einen jenseits der Grenze erwartet und die<br />
Quälgeister, die man diesseits der Grenze<br />
zurückgelassen hat, können einem auch<br />
jenseits davon wieder aufl auern. Eine Grenze<br />
bedeutet Trennung, Ausschluss, Ende.<br />
Über die Altersgrenze zu gehen, ist kein<br />
Spaziergang, auch wenn das Flanieren im<br />
Park den Anschein hat. Zur Vorbereitung<br />
empfehle ich: Warm anziehen! Nervenkekse!<br />
Und gutes Schuhwerk mit Stahlkappen,<br />
wegen der Schilder!<br />
Literatur<br />
Aristoteles: De anima (II 3, 414b4-6), S.29)<br />
Bovenschen Silvia: Älter werden, 2006<br />
Dederich Markus, Zur medialen repräsentation<br />
alter behinderter Körper in der<br />
Gegenwart, in : Mehlmann Sabine, Ruby<br />
Sigrid « Für Dein Alter siehst Du gut<br />
aus ! », 20010<br />
De Montaigne, Michel: Essais<br />
De Montaigne, Michel: Letzter Essai,<br />
Von der Erfahrung<br />
Kursbuch 151, Das Alter, 2003<br />
Mayröcker, Friederike: Und ich schüttelte<br />
einen Liebling, 2005<br />
Walser, Robert: Der Spaziergang, 1978<br />
39
40<br />
Literatur in hochwertiger graphischer Gestaltung<br />
Der Wuppertaler Verlag<br />
Edition 52 hat das Genre der<br />
Graphic Novel zur Hochblüte<br />
gebracht<br />
Ully Arndt, Cartoons aus<br />
dem Playboy-Magazin<br />
Schon lange bevor große Buchverlage<br />
auf den mittlerweile unaufhaltsam rollenden<br />
Zug aufgesprungen sind, nämlich<br />
vor bereits 15 Jahren, haben der Sozialwissenschaftler<br />
Uwe Garske und der<br />
Buchhändler Thomas Schützinger mit<br />
der Gründung ihres Verlages „Edition<br />
52“ die Bedeutung des Genres der Graphic<br />
Novel erkannt, einen entscheidenden<br />
Schritt in einen neues Kapitel der<br />
Literatur gemacht und damit anderen<br />
die später kamen, den Weg geebnet.<br />
Zitieren wir aus einem Faltblatt, das von<br />
einer Interessengemeinschaft der Verlage<br />
Edition 52, Avant-Verlag, Reprodukt,<br />
Carlsen und Fischer herausgegeben wurde,<br />
um dem Publikum das neue Medi-<br />
um näherzubringen: „Graphic Novels sind<br />
Comics mit Themen, die sich nicht mehr<br />
nur an Kinder und Jugendliche, sondern<br />
an erwachsene Leser richten. (…) Erzählt<br />
wird eine Geschichte mit Bildern, die zu<br />
Sequenzen angeordnet sind. Den Themen<br />
sind wie im Film, der Literatur und dem<br />
Theater keine Grenzen gesetzt. (…)“<br />
Und es ist in der Tat so, daß die Themenpalette<br />
unerschöpfl ich ist, da der<br />
Zeichner der Graphic Novel nicht der<br />
Beschränkung auf einzig effektvoll lustige<br />
Plots unterliegt, sondern graphisch<br />
und technisch höchst anspruchsvoll Literatur<br />
umsetzt, die durchaus ernste und<br />
literarisch seriöse Stoffe aus Geschichte<br />
und Alltag, Poesie und Musik aufgreift.<br />
Mit beachtlichen 70 Titeln unterschied-
Rich Koslowski „The King“<br />
lichster Inhalte in höchster Qualität und<br />
von namhaften Zeichnern hat die Edition<br />
52 mittlerweile ein Programm aufgelegt,<br />
das den Verlag in die Spitzengruppe<br />
des Genres stellt. Uwe Garske: „Wir<br />
veröffentlichen ambitionierte Comic-<br />
Romane von anerkannten Autoren wie<br />
z.B. Seth, Jeff Lemire (Geschichten vom<br />
Land) oder Jamiri (Arsenic Album, Kamikaze<br />
d´Amour) und möchten daneben<br />
begabte Autoren/Zeichner fördern.“<br />
Die Edition 52 publiziert gleichermaßen<br />
deutsche wie internationale Zeichner<br />
und Autoren, die mit besonderem künstlerischem<br />
Anspruch an ihre graphische<br />
und literarische Arbeit herangehen. „Mo-<br />
derne Autoren-Comics, Graphic Novels<br />
mit internationalem Renommee und<br />
verschiedenster Herkunft fi nden bei uns<br />
eine publizistische Heimat“. Hierzu zählen<br />
u.a. die Künstler der „Nouvelle Ligne<br />
Claire“ - ein Schwerpunkt der Edition<br />
52, „deren Autoren wir auch zukünftig<br />
bevorzugt mitpublizieren werden.“ Daniel<br />
Torres (Der dunkle Wald), der Poet<br />
unter den Zeichnern und Geschichten-<br />
Erzählern Ulf K., Joost Swarte oder<br />
beispielsweise auch Jean Claude Floc´h<br />
sind neben den bereits oben Genannten<br />
Künstler, die international eine hohe<br />
Reputation haben und als Vertreter einer<br />
„modernen“ Ligne Claire international<br />
sehr bewundert werden.<br />
„Wut im Bauch“ und „Elende Helden“,<br />
von Baru, sozialkritisch graphische Erzählungen,<br />
die in Frankreich mehrfach<br />
prämiert wurden, gehören ebenso zum<br />
Verlagsprogramm wie „Ausgetrickst“<br />
von Alex Robinson, der bei den Harvey<br />
Awards 2006 den Preis als bestes<br />
Album / „Best Graphic Novel“ erhielt,<br />
Rich Koslowskis mysteriöse Story „The<br />
King“ und das grandiose Highlight<br />
„Wimbledon Green“ von Seth. Auch<br />
die Werke von Joe Matt (Peepshow)<br />
und Michel Rabagliati (Pauls Ferienjob)<br />
werden in der Edition 52 verlegt, eine<br />
Auswahl also, die sich durchaus mit<br />
internationalen Konkurrenten messen<br />
kann. Comics, Graphic Novels und<br />
Portfolios deutscher Künstler wie Ulf<br />
K. (Silence, Floralia, Sternennächte, Hieronymus<br />
B.), Reinhard Kleist (Johnny<br />
Cash, Luxus-Edition), Boris Kiselicki,<br />
Uli Oesterle (Der halbautomatische<br />
Wahnsinn, Frass), Calle Claus (Findrella),<br />
Tim Dinter, Frank Schmolke (Die<br />
Schuld von Moby Dick), Ully Arndt<br />
(Playboy-Cartoons), Jule K. (Cherry<br />
Blossom Girl, Love Rehab) - um nur<br />
einige zu nennen – haben ebenfalls eine<br />
Heimat bei der Edition 52 gefunden.<br />
Wer bislang vielleicht etwas geringschätzig<br />
die Stirn gerunzelt hat, wenn<br />
das Gespräch auf den Begriff „Comics“<br />
kam, wird umdenken müssen. Hier<br />
ist ein anspruchsvolles neuen Medium<br />
entstanden, das vielleicht sogar in der<br />
Lage sein wird, die leseunlustig gewordene<br />
junge Generation mit den Mitteln<br />
des brillant gezeichneten Comics,<br />
besser und richtiger: der Graphic Novel<br />
wieder an die Literatur heranzuführen.<br />
Denken wir nur daran, daß es etwas<br />
verwandtes auch schon vor über 50<br />
Jahren gegeben hat, die „Illustrierten<br />
Klassiker“ die von 1956–1972 vor<br />
allem der Jugend literarische, historische<br />
und populäre Stoffe vermittelten.<br />
So wie sie sich bewährt haben, wird<br />
auch die Graphic Novel ihren festen<br />
Platz erobern – und dank der besseren<br />
beteiligten Künstler ihn auch über die<br />
Zeitläufe behaupten.<br />
41
42<br />
Silence 1, 2 und 10 (von oben nach unten)<br />
Silence -<br />
Ulf K. macht die Stille sichtbar<br />
Ulf K.’s „Silence“ gehört zum Berührendsten,<br />
was mir je in die Finger<br />
gekommen und mir intensiv unter die<br />
Haut gegangen ist.<br />
Selten bekommt man die Gelegenheit, so<br />
zarte und aussagekräftige Sujets der Stille zu<br />
sehen, wie sie der in Oberhausen geborene<br />
und jetzt in Düsseldorf lebende Zeichner<br />
und Cartoonist Ulf K. für sein Portfolio „Silence“<br />
geschaffen hat. Aus dem Jahr 2001,<br />
also seiner Pariser Zeit stammend, sind die<br />
10+1 auf feinem 240 Gramm Papier Rivoli<br />
exzellent gedruckten Blätter im Format<br />
12,4 x 16,4 cm eine Delikatesse, zeichnerisch<br />
wie drucktechnisch. 444 Exemplare,<br />
begleitet von einem Büchlein gleichen<br />
Formats und Inhalts und in eine gediegene<br />
Schachtel gelegt, brachte der spezialisierte<br />
Pariser Verlag Éditions Le 9ème Monde<br />
damals in den Verkauf. Die Schachtel trägt<br />
auf dem Deckel eine Vignette von Ulf K.,<br />
die als Deckblatt des Portfolio wiederkehrt.<br />
Die zehn verzauberten und bezaubernden<br />
Szenen zeigen berührende Momente der<br />
Stille, die Sprachlosigkeit eines zerstrittenen<br />
Paares, die Zufriedenheit im Einklang<br />
mit sich selbst, die leise, tiefe Trauer, zarte<br />
Mutterliebe, den Kummer des Unverstandenen,<br />
die Behaglichkeit des Heims mit<br />
Buch und Katze oder einem Goldfi schglas<br />
und die Erfüllung in körperlicher Liebe. Ulf<br />
K. versteht die in grau-oliv weich abgetönten<br />
Schwarz-Weiß-Kontrasten gezeichneten<br />
Situationen mit einer Form von Stille<br />
auszustatten, die man glaubt mit den Fingerspitzen<br />
fühlen, beim Atmen einsaugen,<br />
ja sogar hören zu können. Die Faszination,<br />
die den Betrachter einfängt, wiederholt sich<br />
Mal um Mal. Die Stimmungen der Bilder<br />
stecken an. Mit sensiblem Gefühl für den<br />
Moment, den leisen Augenblick läßt Ulf K.<br />
uns an intimsten Situationen teilnehmen.<br />
Edition 52<br />
Hofaue 55, 42103 Wuppertal<br />
Kontakt: Tel. 0202-735772 und<br />
info@Edition52.de<br />
Web-Seite: www.Edition52.de<br />
Weitere interessante Web-Seiten sind:<br />
www.fantagraphics.com<br />
www.grafi k-novel.info<br />
Frank Becker<br />
Peter Krämer<br />
WP/StB<br />
Andreas Niemeyer<br />
WP/StB<br />
Thomas Pintzke<br />
StB<br />
Katrin Schoenian<br />
WP/StB<br />
Dr. Jörg Steckhan<br />
RA/WP/StB<br />
Peter Temmert<br />
WP/StB<br />
Anke Jagau<br />
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Susanne Schäfer<br />
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Stephan Schmacks<br />
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Höfl ichkeit<br />
Andreas Steffens,<br />
Schriftsteller und Philosoph; lebt in<br />
Wuppertal; 2009 Träger des Springmann-<br />
Preises; 2010 erschienen von ihm im<br />
NordPark Verlag „Gerade genug. Essays<br />
und Miniaturen“ und „Vorübergehend.<br />
Miniaturen zur Weltaufmerksamkeit“.<br />
Soeben erschien dort: „Ontoanthropologie.<br />
Vom Unverfügbaren und seinen Spuren“,<br />
sowie im Athena-Verlag die kunstphilosophische<br />
Studie „Selbst-Bildung. Die<br />
Perspektive der Anthropoästhetik“<br />
Ich bin der höfl ichste Mensch von der Welt. Ich tue mir was darauf zu Gute, niemals grob<br />
gewesen zu sein auf dieser Erde (1) .<br />
Wer könnte dies heute noch uneingeschränkt von sich behaupten wie Heinrich<br />
Heine zu Beginn seiner Schilderung einer Italienreise im Jahr 1828? Ja, wer empfände es<br />
noch als erstrebenswert, gar als ein Ideal, dies von sich sagen zu können?<br />
Das liegt nicht nur am historischen Abstand. Die Gesellschaft, in der Höfl ichkeit ein<br />
Wert selbstverständlicher Verbindlichkeit war, gibt es nicht mehr. Daraus zu schließen,<br />
Höfl ichkeit sei gesellschaftlich bedeutungslos geworden, hieße, die Grundbedingungen<br />
jedes gesellschaftlichen Lebens verkennen. Ihre Beziehung zur Höfl ichkeit und deren<br />
Geltung in ihr, sind vielmehr ein Zeichen dafür, wie gut oder schlecht eine gegebene<br />
Gesellschaft ihre elementaren menschlichen Pfl ichten erfüllt. Eine Gesellschaft, die Höflichkeit<br />
nicht mehr kennen wollte, wäre eine, die es aufgegeben hätte, eine menschliche<br />
sein zu wollen.<br />
Bei Hofe ging es grob zu, aber nach feinen Regeln. Sie hatten die tatsächlichen Feindschaften<br />
hinter der Maske des Höfl ings zu verstecken. Die offenen zu verbergen, und<br />
die verborgenen verborgen zu halten. Das gesprochene freundliche Wort war Tarnung<br />
so sehr wie Puder, Parfum und Perücke. Es verbarg den feindlichen Gedanken. Da der<br />
Höfl ing nicht weiß, wer tatsächlich Freund, wer Feind ist, muß er jeden behandeln, als<br />
wäre er Freund, und vor jedem als möglichem Feind auf der Hut sein (2) .<br />
43
44<br />
Als Erbe des Höfl ings, der ein Heuchler<br />
sein musste, um zu überleben, blieb<br />
Höfl ichkeit lange ein Synonym für Verstellung.<br />
Es dauerte einige Generationen,<br />
bis auch die bürgerliche Gesellschaft, die<br />
die aristokratische verdrängt hatte, sie als<br />
einen eigenen Wert entdeckte, und übernahm.<br />
Denn in ihr trat an die Stelle des<br />
Kampfes der Höfl inge um die Gunst des<br />
Fürsten, von der ihre Stellung abhing, die<br />
Konkurrenz der Wirtschaftsbürger, deren<br />
ökonomischer Erfolg am Markt über ihr<br />
gesellschaftliches Sein entschied.<br />
Gegenwärtig also bezeichnet das Wort<br />
Höfl ichkeit nicht mehr die courtoisie, oder<br />
streng höfi sche Sitte, sondern die Gewohnheit<br />
und Kunst in jeglicher Beziehung von<br />
Menschen zu Menschen, im Reden, wie<br />
im Handeln, stets den zu treffenden Ton<br />
zu fi nden und anzuschlagen. Ihr sind die<br />
Begriffe Behaglichkeit, Unbefangenheit,<br />
Behendigkeit, Anstand, Freundlichkeit, Bereitwilligkeit,<br />
Dienstwilligkeit, Ehrerbietung<br />
und jener allgemeine Ton untergeordnet,<br />
welcher alle vorangenannten Eigenschaften,<br />
gleich einem musikalischen Grundtone, mit<br />
einander verknüpft und harmonisirt.<br />
Ihr Prinzip ist stets dasselbe: der<br />
gütige, der positive Wille (3) . Als der Baron<br />
von Rumohr diese Bestimmung 1834<br />
formulierte, gab es noch Höfe, und die<br />
sich gerade ausbildende bürgerliche Gesellschaft<br />
hatte noch nicht ihre endgültige<br />
Form gefunden, die erst mit der Industrialisierung<br />
der Ökonomie ausgeprägt<br />
werden sollte.<br />
Ein spätes Echo jener Fragwürdigkeit<br />
des ‚Höfi schen’ als Ursprung der Höflichkeit<br />
ist das Unbehagen, mit dem man<br />
noch heute einen Zeitgenossen als „ausgesucht<br />
höfl ich“ gekennzeichnet fi ndet: als<br />
verstecke sich im Lob eine Warnung vor<br />
Arroganz und Verstellung, die Unehrlichkeit<br />
und Bosheit verhüllen.<br />
Der Kleinbürger, zu dem die Nutznießer<br />
der Weltwirtschaftsgesellschaft<br />
wurden, seitdem der liberale Kapitalismus<br />
verschwand, dessen gesellschaftliche<br />
Stellung das ökonomische System für ihn<br />
festlegt, ohne seinen individuellen Einsatz<br />
dabei mehr zu berücksichtigen, darf in ihr<br />
nur noch eine unverbindliche Altertümlichkeit<br />
sehen: Rentnernostalgie.<br />
Niemand wirft einem mehr einen<br />
Handschuh vor die Füße, niemand<br />
schickt mehr einen Fehdebrief. Die Codes<br />
der Auseinandersetzung haben sich nicht<br />
nur geändert, sie sind bei gleichzeitiger<br />
Abnahme von Subtilität und symbolischer<br />
Präzision verborgener geworden, als sie<br />
es in den Zeiten einer streng geordneten<br />
Gesellschaft waren und sein mußten, da<br />
jeder seine klar bestimmte Position, seinen<br />
Rang und seine Funktion besaß. Im Zeitalter<br />
des universalen Kleinbürgertums, in<br />
dem Rang als symbolischer Wert ebenso<br />
verloren gegangen ist wie Ehre, gibt es nur<br />
noch den einen, auf alles angewandten<br />
Wert der ökonomischen Potenz, über die<br />
von der eigenen Stellung im Verwertungssystem<br />
der monetarisierten Ökonomie<br />
entschieden wird: Besitz an, oder Verfügungsgewalt<br />
über, Geld weist nun jedem<br />
seinen Ort in der Gesellschaft an.<br />
Nun wird auch der ‚Wert’ des<br />
einzelnen Menschen zum Posten betriebswirtschaftlicher<br />
Kosten-Nutzen-<br />
Kalkulationen. Nur der, der in einer<br />
solchen Kalkulation einen Platz auf der<br />
Nutzen-Seite einnimmt, verfügt über<br />
gesellschaftlichen Wert. Der ‚menschliche<br />
Faktor’ ersetzt den Menschen (4) .<br />
In der Folge verschwinden die konkreten<br />
Menschen. Wer nicht nachweislich<br />
Teil einer Bilanzoptimierung ist, dessen<br />
Existenz hat keinen gesellschaftlichen Ort<br />
mehr: er wird zur Last des Überfl üssigen.<br />
Der Mensch ist zum Störfaktor der Bereicherungsökonomie<br />
geworden. Sie kennt<br />
nur noch eine Regel, deren erfolgreiche<br />
Befolgung das Recht auf gesellschaftliches<br />
Dasein garantiert: setz dich durch, mit allen<br />
Mitteln, und erhöhe den Profi t dessen,<br />
für den du deine Arbeitskraft einsetzen<br />
darfst, und verzichte auf deinen Anteil an<br />
deren Ertrag.<br />
Nichts könnte dazu in größerem Gegensatz<br />
stehen als die Grundlage der Höflichkeit:<br />
die bedingungslose Anerkennung<br />
des Seinsrechts des Anderen. Wer sich<br />
höfl ich verhält, übt Toleranz in der direkten<br />
Begegnung mit einem Andersartigen.<br />
Höfl ichkeit als Daseinsanerkennung wird<br />
zur Grundlage gesellschaftlichen Miteinanderlebens,<br />
wenn sie in allgemeiner<br />
Gegenseitigkeit praktiziert wird.<br />
Ihr Gegenteil, hat die Gleichgültigkeit<br />
zum Wesenskern, deren äußerste Konsequenz<br />
das Einverständnis mit dem Nichtsein<br />
des Anderen ist: mit seinem Tod.<br />
Die Unhöfl ichkeit ist dem Faustrecht im<br />
Bürgerkrieg aller gegen alle so nah, wie die<br />
Höfl ichkeit dem Recht der zivilisierten<br />
Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder<br />
das Recht auf Leben gewährleistet.<br />
Da alle füreinander ausschließlich<br />
Konkurrenten sind, begegnen sie einander<br />
unablässig mit heimlichen Schlichen<br />
einer informellen Gegnerschaft, die nicht<br />
offengelegt werden darf. Das letzte Tabu<br />
nach der Enterotisierung der Sexualität<br />
in einem allgegenwärtigen Körperkult ist<br />
die tatsächliche Unverträglichkeit aller<br />
füreinander, deren Beziehungen vom ökonomischen<br />
Grundsatz der ausnahmslosen<br />
Konkurrenz bestimmt werden.<br />
Niemand muß der verborgenen<br />
Feindschaft auf Schritt und Tritt so gewärtig<br />
sein wie der ‚Parteifreund’, nach dessen<br />
Funktionärsposten unablässig mehr<br />
Konkurrenten gieren, als er kennen kann,<br />
vor deren heimlicher Illoyalität keine gemeinsamen<br />
‚Grundüberzeugungen’, kein<br />
Einstehen für eine ‚gemeinsame Sache’<br />
mehr schützen, seit das ‚Gemeinwohl’<br />
zum Spielball des Postenkungelns einer<br />
Gemeinheit aller gegen alle zum Zweck<br />
der Optimierung des Wohles einiger<br />
gegen das der vielen verkam.<br />
Die Verweigerung der Höfl ichkeit,<br />
die kalkulierte Geste der Unhöfl ichkeit<br />
ist gleichbedeutend der Erfi ndung eines<br />
Feindes. Der herausfordernde Blick, der<br />
Blick, der übersieht, wo gesehen werden<br />
sollte, die ironische oder höhnische<br />
Bemerkung, das Schweigen, das die<br />
schuldige Antwort versagt, die gezielte<br />
Ignoranz gegenüber der Leistung aller, die<br />
keiner ‚pressuregroup’ angehören, entwerten<br />
nicht nur, sondern entwirklichen den,<br />
dem sie gelten.<br />
Jede Feindschaft ist in ihrem Kern<br />
Todfeindschaft: ihr Gegenstand soll nicht<br />
sein. Der Feind ist der Andere, der nicht<br />
sein soll, weil er das eigene Sein in Frage<br />
stellt. Wie sehr die Stimmung in der<br />
Gesellschaft der Bereicherungsökonomie<br />
unterschwellig von der Sehnsucht nach<br />
Feindschaft beherrscht ist, verrät der nicht<br />
mehr nur unter Teilnehmern wochenendlicher<br />
Management-Seminare beliebte<br />
‚killer’-Instinkt, der zu ‚Führungspositionen’<br />
angeblich besonders geeignet macht.<br />
Unhöfl ichkeit ist die latente Aggression,<br />
die auf den Anlaß lauert, hervorzutreten.<br />
Sie signalisiert die Bereitschaft<br />
zur Feindseligkeit. Sie warnt: sieh dich<br />
vor, ich beobachte dich, und warte auf
deinen Fehler, der mir ermöglichen wird,<br />
dich offen als den Feind zu behandeln,<br />
als den ich dich sehen will. Unhöfl ichkeit<br />
ist Herausforderung zum Konfl ikt durch<br />
den, der davon überzeugt ist, aus ihm als<br />
Sieger hervorzugehen.<br />
Höfl ichkeit dagegen ist Freundschaft<br />
auf Distanz zwischen Fremden. Auf<br />
Gegenseitigkeit geübt, macht sie die<br />
gemeinsame Welt für ihre Angehörigen<br />
freundlich. Ihre Gesten signalisieren den<br />
Verzicht auf Feindseligkeit.<br />
Höfl ichkeit kann nur üben und<br />
erfahren, wer den anderen als Person<br />
wahrnimmt, und von ihm als Person<br />
wahrgenommen wird. In der Gesellschaft<br />
des totalen ‚homo oeconomicus’ jedoch<br />
darf jeder alle nur noch in ihrer System-<br />
Funktion wahrnehmen.<br />
In ihrer Ausdehnung auf alle Lebensbereiche<br />
hat die Totalisierung der<br />
ökonomischen ‚Werte’ die alte humane<br />
Trennung von gesellschaftlichem und<br />
privatem Leben aufgehoben. Privatleben<br />
wurde tendenziell aozial. Wer auf seiner<br />
Privatsphäre besteht, gibt zu erkennen,<br />
dass er sich dem Anspruch der totalen<br />
Verwertung seiner Person widersetzt.<br />
Der medial existierende Mensch ist<br />
der öffentliche Mensch, sein Modell<br />
der ‚Prominente’, dessen Intimsphäre<br />
unablässig veröffentlicht wird. Höfl ichkeit<br />
dagegen ist Achtung für die Sphäre des<br />
Privaten, in der einer unabhängig von<br />
seiner gesellschaftlichen Funktion sein<br />
kann, was er als Person ist.<br />
Der höfl iche Mensch, der sich nicht<br />
nur höfl ich verhält, sondern höfl ich<br />
ist, nimmt den anderen, mit dem er in<br />
Beziehung steht, vor der Blöße seiner<br />
Wahrheit in Schutz. Gegenseitig geübt,<br />
ist die Höfl ichkeit eine Rückversicherung<br />
gegen Enttarnung unverzichtbarer<br />
‚Lebenslügen’. Die Wahrheit zu verbergen,<br />
sie hinter Vorhängen zu halten (5) , ist<br />
eine Geste der Humanität als gegenseitige<br />
Schonung. Der Höfl iche übersieht, was<br />
sein Gegenüber in Verlegenheit setzen<br />
müsste, würde es bemerkt; der tüchtige<br />
Funktionär der totalen Ökonomie nutzt<br />
es im allumfassenden, nie ausgesetzten<br />
und keine Lebenssituation auslassenden<br />
Konkurrenzkampf gezielt für seine<br />
Zwecke aus.<br />
So verkehrt der Unhöfl iche die<br />
Aufmerksamkeit, mit der Höfl ichkeit<br />
verwirklicht wird, in ihr Gegenteil.<br />
Die Aufmerksamkeit ist keine Regel, die<br />
man kennt und einhält oder verletzt; sie gehört<br />
zum Fundament der Person. Aufmerksamkeit<br />
ist eine Grundhaltung des Menschen<br />
der Welt gegenüber. Der Aufmerksame<br />
hat sich entschlossen, nicht sich selber,<br />
sondern die ihn umgebenden Phänomene<br />
zu betrachten, man könnte auch sagen, sich<br />
selbst ausschließlich im Spiegel der anderen<br />
wahrzunehmen. Er blickt die Menschen,<br />
die ihm begegnen, an. Diese Menschen sind<br />
ihm wichtig. (…). Nur, dass der Aufmerksame<br />
von ihnen nicht profi tieren möchte.<br />
Seine Aufmerksamkeit ist seine Natur. Es ist<br />
wichtig, Menschen zu erkennen, sie haben<br />
ein Recht darauf. (…). Der Aufmerksame<br />
hat nicht vergessen, wer eine Fischallergie<br />
hatte; er wird dem Elternpaar, das Kummer<br />
mit seinen Kindern hat, nicht von den<br />
Erfolgen der eigenen berichten; er kennt die<br />
Stellen im Zimmer, an denen am wenigsten<br />
Zug herrscht, und weiß, wen er dorthin<br />
platzieren wird (6) .<br />
Nur dort, wo die Aufmerksamkeit am<br />
wichtigsten ist, in der exklusiven Liebesbeziehung,<br />
die die Welt ausschließt, gibt<br />
es keine Höfl ichkeit, weil sie verhinderte,<br />
ihr größtes Bedürfnis nach größtmöglicher<br />
körperlicher Nähe zu befriedigen.<br />
Hier kann das grobe Wort die letzte<br />
Distanz zum Verschwinden bringen, das<br />
im gesellschaftlichen Umgang die Distanz<br />
herstellt, die der, dem es gilt, nicht einzuhalten<br />
bereit ist.<br />
In einer Welt, die durch unablässige<br />
Zunahme der Bevölkerung für jeden<br />
Einzelnen immer enger wird, muß die<br />
Fähigkeit, sich die anderen im Umgang<br />
mit ihnen vom Leib zu halten, wie sie sich<br />
in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft<br />
als Selbstbildung des Individuums<br />
ausprägte und einen neuen gesellschaftlichen<br />
Kodex akzeptierter Umgangsformen<br />
entstehen ließ, aufs neue zu einer<br />
Grundfähigkeit all derer werden, die sich<br />
die Lebensform des Individuums bewahren<br />
wollen. Abstand zu halten, wird zum<br />
Handgriff einer neuen Kunst gesellschaftlicher<br />
Virtuosität, Nähe so zu dosieren,<br />
dass sie einen nicht von sich selbst fern<br />
rückt, ohne dabei ins Hintertreffen im<br />
totalen Konkurrenzspiel zu geraten,<br />
dessen Erfolg oder Mißerfolg darüber<br />
entscheidet, welche Lebensform man sich<br />
leisten kann.<br />
Das Verschwinden der Höfl ichkeit als<br />
selbstverständliche Umgangsform signalisiert<br />
ein Verblassen des Gemeinsinns, dessen<br />
Schwäche nichts anderes ist als eine<br />
Erscheinungsform der Lebensschwäche.<br />
Aber auch die Lebensklugheit gebietet<br />
uns höfl ich zu sein, und nicht verdrießlich<br />
zu schweigen, oder gar Verdrießliches zu<br />
erwidern, wenn irgend ein schwammiger<br />
Kommerzienrat oder dürrer Käsekrämer<br />
sich zu uns setzt, und ein allgemein europäisches<br />
Gespräch anfängt mit den Worten:<br />
„Es ist heute eine schöne Witterung.“ Man<br />
kann nicht wissen, wie man mit einem<br />
solchen Philister wieder zusammentrifft,<br />
und er kann es uns dann bitter eintränken,<br />
dass wir nicht höfl ich geantwortet: „Die<br />
Witterung ist sehr schön.“ (7) .<br />
Der grenzenlose Egoismus muß diese<br />
‚Lebensklugheit’ verlieren, die auf dem<br />
einfachen Bewußtsein der Unmöglichkeit<br />
beruht, alleine zu leben. Wer die anderen<br />
aus seiner Gesellschaft ausschließt,<br />
schließt sich selbst aus der Gesellschaftlichkeit<br />
aus, die darauf beruht, dass der<br />
Mensch ein Lebewesen der Selbstbehauptung<br />
auf Gegenseitigkeit ist.<br />
(1) Heinrich Heine, Italien (1828), in: ders., Sämtliche Schriften, hg. von Klaus Briegleb, Bd. 3, Ffm-Berlin-Wien 1981, 311-389; 315<br />
(2) Gracian, Balthasar, Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647), dt. von Arthur Schopenhauer, Stuttgart 1978<br />
(3) Carl Friedrich von Rumohr, Schule der Höfl ichkeit für Alt und Jung, 2 Bde., Stuttgart-Tübingen 1834/35; 51 f.; 53<br />
(4) François Emmanuel, Der Wert des Menschen. Roman, München-Zürich 2002<br />
(5) Andreas Steffens, Hinter Vorhängen oder Von der Wahrheit, in: ders., Gerade genug. Essays und Miniaturen, Wuppertal 2010, 13-18<br />
(6) Asfa-Wossen Asserate, Manieren, Ffm 2003, 39 f.<br />
(7) Heine, Italien, 315<br />
45
46<br />
Fundsache<br />
Ulrich Land<br />
Geboren 1956 in Köln. Freier Autor seit<br />
1987. Romandebüt: „Der Letzte macht<br />
das Licht aus“, Münster 2008.<br />
Jüngste Romanveröffentlichung: „Einstürzende<br />
Gedankengänge“, Münster 2010.<br />
Im Übrigen Lyrik, Prosa, Essays und fast<br />
hundert Hörspiele und Radiofeatures.<br />
Herausgeber von Anthologien und mehrfach<br />
von Literaturzeitschriften.<br />
Dozent für „creative writing“ an der Uni<br />
Witten/Herdecke.<br />
Mehrere Auszeichnungen, u. a. Kölner<br />
Medienpreis; Hörspiel-Stipendien der<br />
Filmstiftung NRW und des nordrheinwestfälischen<br />
Kulturministeriums.<br />
Ulrich Land<br />
Höhenweg 60<br />
45529 Hattingen<br />
Tel.: 02052 / 807 22<br />
Email: ulrichland@gmx.de<br />
Web: www.ulrichland.de<br />
Na ja, ich bitte Sie! Fahren Sie mal jeden Tag – Wochen, Monate, Jahre, ein halbes Leben,<br />
jeden Tag – immer die gleiche Strecke. Gut, da gibt‘s jetzt bei der Schwebebahn nicht<br />
viel Auswahl. Wupper rauf Wupper runter. Jedenfalls wär Ihnen auch anders geworden.<br />
Ganz anders.<br />
Es war: Wupper runter. Wie jeden Tag um die Zeit – und plötzlich – plötzlich ist<br />
alles anders! Dieser Handschuh. Der musste einem einfach ins Auge springen. Leuchtend<br />
weiß, wie er war. Aber keiner außer mir schien diese Kirschblüte im Ständerwerk bemerkt<br />
zu haben. Hoch droben – ich meine, von der Schwebebahn aus natürlich: unten – hoch<br />
im Gestängegestakse. Irgendwie anrührend. Hätte Sie auch mitgenommen, der einsame<br />
Handschuh. Wie er sich da mit fl achen Fingern festklammerte. Mit dreien seiner Finger.<br />
Daumen und Zeigefi nger hingen schlaff faltig herab und beteiligten sich nicht an der<br />
Mühe, diese halsbrecherische Position zu wahren. Wenn‘s nach ihnen gegangen wär, wäre<br />
die Reise abwärts in die Wupper einfach fortgesetzt worden. Wurde sie aber nicht. Die<br />
drei andern Kollegen Handschuhfi nger hatten das Gestänge gut im Griff. Diese irrsinnige,<br />
tagelang, wochenlang anhaltende Anstrengung dieser drei verlorenen Handschuhfi nger,<br />
das war‘s, was mich so schwermütig stimmte.<br />
Von nun an wurde ich jeden Tag, an dem ich da vorbeiruckelte, magisch angezogen<br />
von diesem fl ügellahmen weißen Schmetterling da oben und seinem Geheimnis. Stand<br />
für mich außer Frage, dass das jungfräuliche Stück einer jungen Dame gehörte. Nein,<br />
ich kenne sie nicht. Sie kämmt ihr goldenes Haar, sie kämmt es mit goldenem Kamme<br />
und singt ein Lied dabei, das hat eine wundersame, gewaltige Melodei. Ausgeschlossen,<br />
dass die bildschöne Besitzerin ihren Handschuh so hoch hätte hinauf werfen können. Bei<br />
diesen schmalen Fingern, dieser zierlichen Statur, diesem eleganten Mantel. Und wozu<br />
auch? Wozu hätte sie das Ding da rauf katapultieren, das Frieren der einen Hand in Kauf<br />
nehmen sollen!<br />
Und es war hier auch weit und breit kein Haus, aus dessen Fenster jemand dieses<br />
fl atterhafte Corpus Delicti hätte pfeffern können. Irgendwann nach Tagen und Tagen des<br />
Vorbeifahrens einigte ich mich mit mir – nein nein, nicht weil ich davon total überzeugt
gewesen wäre, sondern damit ich diese<br />
bohrende Frage loswurde, mich freischwimmen<br />
konnte aus dem Strudel dieser<br />
klaffenden Erklärungslücke – einigte ich<br />
mich mit mir darauf, dass diese weiße<br />
Fünffi ngermöwe direkt aus der Schwebebahn<br />
zum Sinkfl ug angesetzt haben<br />
musste. Der Schönen in der Schwebe aus<br />
der Handtasche gefallen. Oder aus der<br />
Manteltasche. Auf dem Boden von unachtsamen<br />
Füßen hin- und hergeschoben und<br />
schließlich durch die Gummilippen der<br />
Wagentür gequetscht – aus den Augen aus<br />
dem Sinn.<br />
Stimmt, Sie haben recht. Dann hätte<br />
der Handschuh nicht in diesem Gestänge<br />
landen können, bei dem Winkel, mit dem<br />
sich die Ständer schräg unter der Schwebebahn<br />
zum Flussufer spreizen, da hätte er<br />
nur schnurstracks bei den Fischen landen<br />
können. Also muss ihn irgendein jugendlicher<br />
Übeltäter der Goldblonden stibitzt<br />
und mit kraftvollem Schwung aus dem<br />
Handgelenk durch einen der Klappfensterschlitze<br />
der Schwebebahn geworfen haben.<br />
Ja. So war‘s.<br />
Die Frage nach dem Wer, nach dem<br />
Namen des armen Opfers interessierte<br />
mich nicht im Entferntesten. Mitnichten.<br />
Ich hatte sie ohnedies genau vor Augen.<br />
Nein, die Frage, die mir jetzt nach der<br />
Klärung des Entwendungsdeliktes das<br />
Hirn zermarterte, war die, wie sich das<br />
Drama weiter gestalten würde. Der traurige<br />
Anblick würde sich ja nicht einfach so<br />
aufheitern. Im Gegenteil. Jeden Tag, den<br />
das schneeweiße Geschöpf in seinem kalten<br />
Gestänge Wind und Wetter ausgesetzt<br />
war, bedeutete beträchtliche Einbußen an<br />
jungfräulicher Reinheit. Wurde Tag für<br />
Tag unansehnlicher. Schon nach kurzer<br />
Zeit hatte es den Charakter schmuddliger<br />
Novembermontagnachmittage angenommen.<br />
Fahlgelb, dreckig. Tat einem in der<br />
Seele weh.<br />
Es musste gehandelt werden. Das werden<br />
Sie als Hüter von Recht und Ordnung<br />
verstehn!<br />
Ich gab der unglücklichen Schönen<br />
noch fünf Tage, den verlustig gegangenen<br />
Handschuh aus seiner misslichen Lage zu<br />
befreien. Als sie auch diese Frist trauernd<br />
womöglich, doch tatenlos verstreichen<br />
ließ, war meine Stunde gekommen. Nachts<br />
um zwei. Ja, sicher. Und zwar nicht weil<br />
ich wie ein Strauchdieb die Dunkelheit<br />
gesucht hätte, sondern um Störungen<br />
des Schwebebahnbetriebsablaufes einerseits<br />
und meines höchste Konzentration<br />
erfordernden Unterfangens andererseits<br />
vorzubauen. Ich meine, immerhin galt es,<br />
die staksigen Ständer in stockfi nstrer Nacht<br />
aufzuentern.<br />
Stirnlampe und Klettersteigausrüstung<br />
hatte ich mir beim Alpenverein Sektion<br />
Unterbarmen Nordwest ausgeliehen. Aber<br />
womit ich nicht gerechnet hatte, dass die<br />
Füße sich bei jedem Schritt in den gekreuzten<br />
Streben verkanteten. Stechender<br />
Schmerz. Können Sie mir glauben, und ich<br />
bin nicht grade zimperlich. Aber immerhin,<br />
auf meine Hände konnte ich mich<br />
verlassen. Klammerten sich so fest um die<br />
schräggestellten Streben wie die Finger<br />
dieses ehedem so hübschen, gottverlassenen<br />
Handschuhs, den ich jetzt – fehlten noch<br />
zwölf, sieben, drei Zentimeter – den ich<br />
jetzt in Händen hielt! Endlich in Händen<br />
hielt.<br />
Und jetzt runter damit und rein damit<br />
in die Jackeninnentasche, dass das arm<br />
weiß Vögelein mit dem einen, dem gefi ngerten<br />
Flügel sofort ins Trockene kommt!<br />
Raus aus dem Schmuddel.<br />
Ja nein, wusste ich natürlich nicht,<br />
nicht zu dem Zeitpunkt, wohin mit dem<br />
geborgenen Schatz, wenn ich erst mal<br />
zu Hause angelangt sein würde. Jetzt,<br />
verdammt, hatte ich erst mal hier runter zu<br />
kommen. Ohne mir <strong>Nacke</strong>n und Knochen<br />
zu brechen. Bei dem Herzrasen! Das<br />
weniger der Angst vorm Abstieg geschuldet<br />
war als vielmehr dem Schatz, den ich am<br />
Herzen trug und der mir einen Kreislauftaumel<br />
nach dem andern durch die Gefäße<br />
jagte.<br />
Ich kam jedenfalls heil zu Hause an<br />
und auch das Objekt, das jetzt unter<br />
meinem Schutz, unter meinem persönlichen<br />
Schutz stand. Wie weggeblasen das<br />
Problem: wohin damit. Ich räumte ein<br />
Regalbrett hinter den Glastüren des von<br />
alten Küchenschrank meiner Großtante<br />
frei und gewährte dem Kleinod auf diese<br />
Weise einen staub- und feuchtigkeitssicheren,<br />
wiewohl stets einsehbaren Ehrenplatz.<br />
Ich war glücklich. Überglücklich.<br />
Zusätzlich beseelt von dem Gedanken<br />
– das ist auch der Grund, weshalb ich von<br />
da an nicht mehr nur zur Arbeit und wieder<br />
nach Haus fuhr, sondern auch etliche<br />
Stunden meiner durchaus knapp bemesse-<br />
nen Freizeit im ratternden Schwebezustand<br />
verbrachte, weshalb ich nicht selten bis<br />
Fahrplanende zwischen Oberbarmen und<br />
Vohwinkel hin- und herpendelte – zusätzlich<br />
beseelt also von der Hoffnung, eines<br />
Tages die traumschöne Goldblonde mit der<br />
zierlichen Figur unter elegantem Mantel zu<br />
treffen! Würde ich sie doch ohne jede Frage<br />
sofort an ihrem unruhigen Blick erkennen,<br />
mit dem sie die Bänke und den Boden des<br />
Schwebebahnwagens abtasten mochte auf<br />
der Suchen nach der verlorenen Preziose.<br />
Aber sie kommt nicht, sucht nicht,<br />
fährt nicht Schwebebahn. Vermutlich will<br />
sie den zweiten Handschuh nicht auch<br />
noch verlieren.<br />
Auch mein Gang zum Fundbüro trug<br />
keine Früchte. Erstens hat keine Dame einen<br />
weißen Handschuh vermisst gemeldet,<br />
und wenn, dann würde man mir zweitens<br />
aus Datenschutzgründen keinesfalls die<br />
Personalien zur Kenntnis geben.<br />
Ja nun, ich meine, ist ja doch sonnenklar,<br />
dass mir irgendwann etwas fehlen<br />
musste. Setzen Sie sich mal in die Schwebebahn<br />
und fahren 15 mal pro Tag rauf<br />
und runter, hin und her, kreuz und quer<br />
und nirgends, absolut nirgends hängt ein<br />
weißer Frauenhandschuh im Gestänge! Da<br />
wird man schier verrückt! Kriegt‘s mit der<br />
Angst zu tun. Der Horror ausgekochter<br />
Inhaltsleere. Das ist wie ein Nichts im<br />
Nichts. Ein schwarzes Loch in der Leere<br />
der Überfülle. Das ist, als würde man die<br />
ganze Zeit bloß nach der Bestätigung dafür<br />
suchen, dass einfach nichts da ist, dass in<br />
dem ganzen vorbeischwebenden Spektakel<br />
nichts ist, was einen aufmerken lässt.<br />
Logisch, dass ich da noch mal rauf<br />
bin. Wieder zu nachtschlafender Zeit.<br />
Den trostlosen Handschuh wieder dahin<br />
hängen wollte. Musste. Exakt gleiche<br />
Stütze, exakt gleiche Höhe, exakt gleiches<br />
Strebenkreuz. Aber, versteht sich, frisch<br />
gereinigt, jungfräulich weiß.<br />
So. Und jetzt kommen Sie mir nicht<br />
und sagen, ich sei vermutlich schon bei den<br />
Vorbereitungen der Expedition weniger<br />
umsichtig gewesen als bei der Erstbesteigung.<br />
Sie und kein anderer trägt die volle<br />
Verantwortung dafür, dass mich der Ihrerseits<br />
ausgelöste Martinshornschock auf<br />
Sturzfl ug in die fl achen Fluten der Wupper<br />
schickte und der Handschuh nicht wieder<br />
dort oben sitzt und tiriliert. Seine gewaltige<br />
Melodei.<br />
47
48<br />
Neue Kunstbücher<br />
Alte Meister<br />
Vorgestellt von Thomas Hirsch<br />
Giorgio Vasari, Das Leben des Sandro<br />
Botticelli, Filippino Lippi, Cosimo Rosselli<br />
und Alesso Baldovinetti, 205 S. mit 25<br />
farb. und 16 s/w-Marginalabb., Broschur,<br />
19 x 12 cm, Wagenbach, 14,90 Euro<br />
Ein alter Meister berichtet von den<br />
alten Meistern, denjenigen in Italien: Sukzessive<br />
bis 2014 veröffentlicht der Wagenbach<br />
Verlag die Schilderungen der Renaissancekünstler<br />
aus der Feder des italienischen<br />
Malers und Kunstschriftstellers Giorgio Vasari.<br />
Vasari ist aus der Kunstgeschichtsschreibung<br />
nicht wegzudenken, verdanken wir<br />
ihm doch erhebliche Einsichten zur Kunst<br />
des 14. bis 16. Jahrhunderts in Italien.<br />
Giorgio Vasari war selbst respektabler Maler<br />
des Cinquecento in Florenz, angesehen vor<br />
allem für seine Porträtmalerei, infolgedessen<br />
besaß er einen profunden und weitreichenden<br />
Einblick in das Metier. Als erste Sammlung<br />
von Künstlerviten in Verbindung<br />
mit einer Autobiographie gelten zwar die<br />
„Commentarii“ (um 1448) von Ghiberti.<br />
In der nordischen Renaissance gibt es<br />
dazu ein (auch die Antike bedenkendes)<br />
Pendant von Carel van Mander (1604) –<br />
bedeutender aber sind eben Giorgio Vasaris<br />
„Lebensbeschreibungen der berühmtesten<br />
Maler und Bildhauer“, die erstmals 1550<br />
im Druck vorlagen. Seine Künstlerportraits<br />
widmen sich Meistern aller künstlerischen<br />
Gattungen, sie sind überwiegend knapp<br />
gefasst, partiell legendenhaft und mitunter<br />
von Unkenntnis geprägt, stellen dann wieder<br />
Genealogien und Werkstätten klar und<br />
gehen auf wichtige Werke ein. Ausgehend<br />
von den antiken Tugenden der Mühsal und<br />
der Liebe zur Kunst entwirft Vasari hier<br />
eine zeitgenössische Vorstellung vom Künstler,<br />
der in Askese und Hinwendung den<br />
Gipfel der Kunst erklimmt. Mithin haben<br />
seine Biographien, so wahr oder unwahr<br />
sie waren, bereits in ihrem sprachlichen<br />
Duktus die Wahrnehmung der Künstler<br />
– und des Mythos vom Künstler – in der<br />
Nachwelt geprägt.<br />
Zunächst vom Kunsthistorischen Institut<br />
der Goethe-Universität Frankfurt/M.<br />
und heute vom Kunsthistorischen Institut<br />
Florenz erarbeitet, geht der Wagenbach<br />
Verlag die Edierung der Schriften von<br />
Vasari neu an: ausgehend vom Urtext mit<br />
einer ungekürzten Übersetzung, mit (leider<br />
etwas marginalen) Abbildungen, kritischen<br />
Einleitungen und einem ausgiebigen,<br />
noch kommentierenden Anmerkungsapparat.<br />
Die handlichen Bände ermöglichen<br />
die schnelle Lektüre wie auch die wissenschaftliche<br />
Beschäftigung auf einem<br />
sehr konkreten, anschaulichen Niveau. Zu<br />
den Veröffentlichungen der letzten Zeit<br />
gehören „Die Leben von Botticelli, Lippi,<br />
Cosimo Rosselli und Alesso Baldovinetti“,<br />
die in einem (wie gehabt) Taschenbuch<br />
zusammengeführt sind. Respekt!<br />
Michelangelo – Zeichnungen eines Genies,<br />
414 S. mit 223 Farbabb., geb. mit Schutzumschlag,<br />
31 x 24,5 cm, Hatje Cantz,<br />
49,80 Euro<br />
Einer der Künstler, denen Vasari ein<br />
Kapitel widmet, ist Michelangelo (1476-<br />
1564). Obwohl schon so viele Bücher zu<br />
Michelangelo und seinem genialen Werk<br />
erschienen sind, ist die nun vorliegende,<br />
bei Hatje Cantz verlegte Monographie<br />
„Michelangelo – Zeichnungen eines<br />
Genies“ eine wichtige Erweiterung unseres<br />
Blickes auf ihn. Sie wendet sich ganz den<br />
Zeichnungen zu. Begleitend zur Ausstellung<br />
in der Albertina in Wien, bildet sie<br />
über 100 Blätter aus seiner gesamten,<br />
fast sieben Jahrzehnte umspannenden<br />
Schaffenszeit ab, also einen beträchtlichen<br />
Teil der 600 erhaltenen Werke, die<br />
vereinzelt noch auf der Rückseite Zeichnungen<br />
besitzen und in verschiedenen<br />
Techniken zwischen Skizze und malerischer<br />
Bildhaftigkeit ausgeführt sind. Im Buch<br />
werden Michelangelos Zeichnungen<br />
ergänzt um Blätter von Zeitgenossen und<br />
begleitet von Abbildungen der Malereien<br />
und Skulpturen Michelangelos. Gerade<br />
die vielen anatomischen Studien sind in<br />
ihren Kontext zur Skulptur gerückt und in<br />
ihrer wissenschaftlichen Relevanz wie auch<br />
der Genauigkeit des Blickes vermittelt.<br />
Deutlich wird (und das ist die Leistung<br />
dieses opulenten Bandes), jede Zeichnung<br />
ist ein Kunstwerk für sich. Das brachte die<br />
Bearbeiter dieses Buches in die Schwierigkeit<br />
des Angemessenen – ein grafi sches,<br />
strukturelles Problem, welches indes nicht<br />
zu lösen war. Aber, bei allen Wechseln<br />
im Lay-Out, bei der fast überbordenden<br />
Textmenge, dominiert doch die Klarheit,<br />
zusammengehalten durch die Werke selbst,<br />
die Großzügigkeit, mit der diese reproduziert<br />
sind. Dass der einführende Text des<br />
Wiener Kurators Achim Gnann ebenso<br />
grundsätzlich wie verständlich ist, macht<br />
dieses Buch weiter empfehlenswert.<br />
Ebenfalls aus Anlass einer Ausstellung<br />
und ebenfalls verlegt bei Hatje Cantz, ist<br />
ein weiterer gewichtiger Band zu einem der<br />
frühen Meister erschienen, nun aus dem<br />
Norden: Zu Hans Holbein d. Ä., der um<br />
1465 geboren wurde, mit seiner Werkstatt<br />
in Augsburg ansässig war und um 1523/24<br />
gestorben ist. Zwar ist heute sein Sohn<br />
Hans Holbein d. J. bekannter, aber auch<br />
der Vater war über seine Lebenszeit hinaus<br />
hoch angesehen. Im Mittelpunkt der Stuttgarter<br />
Monographie steht sein Hauptwerk<br />
„Die Graue Passion“, die, im Besitz der
Hans Holbein d. Ä. – Die Graue Passion in<br />
ihrer Zeit, 448 S. mit 411 Farbabb., geb.<br />
mit Schutzumschlag, 31,2 x 25 cm, Hatje<br />
Cantz, 58,- Euro<br />
Staatsgalerie Stuttgart, nach der Restaurierung<br />
dort erstmals wieder gezeigt wird. „Die<br />
Graue Passion“ zählt zu den herausragenden<br />
Passionsfolgen der altdeutschen Kunst.<br />
Sie besteht aus zwölf Tafeln, die wahrscheinlich<br />
die Seiten eines Flügelaltares<br />
bildeten; ihr besonderes, durchgehendes<br />
Kolorit hat dieser Folge an Malereien auf<br />
Holz den Namen gegeben. Es ist die Leistung<br />
des Buches, dieses wichtige Kunstwerk<br />
erstmals ausgiebig im Detail und im<br />
Überblick vorzustellen, wissenschaftlich<br />
zu verorten und seinen sinnlichen Reiz<br />
Cranach und die Kunst der Renaissance<br />
unter den Hohenzollern, 364 S. mit 320<br />
Farbabb., Hardcover, 27,5 x 22,5 cm,<br />
Deutscher Kunstverlag, 39,90 Euro<br />
zu vermitteln. Es liefert einen konzisen<br />
Überblick über das Schaffen des Augsburger<br />
Künstlers und einen Vergleich zum<br />
zeitgleichen und vorausgehenden Schaffen,<br />
etwa mit Martin Schongauer und Albrecht<br />
Dürer und der frühen niederländischen<br />
Malerei. Anders als das Michelangelo-<br />
Buch ist die bildliche Darstellung durch<br />
Spezialkapitel immer wieder unterbrochen,<br />
dafür aber im Lay-Out gut leserlich: Also,<br />
jedes Buch ist anders, auch bei den frühen<br />
Meistern.<br />
Nach all der Euphorie über diese<br />
Neuerscheinungen, nun ein etwas komplizierter<br />
Fall. Zeitlich schließt das Buch<br />
„Cranach und die Kunst der Renaissance<br />
unter den Hohenzollern“, erschienen im<br />
renommierten Deutschen Kunstverlag, an<br />
die Monographie zu Hans Holbein d. Ä.<br />
an. Aber es verfolgt eine andere Akzentuierung,<br />
bindet die Bildende Kunst in den<br />
gesellschaftspolitischen und kulturellen<br />
Kontext der Hohenzollern ein und ist<br />
darin wesentlich Katalog mit Architektur,<br />
Kunst, Kunstgewerbe, Buchkunst<br />
und Urkunden, obzwar die Sammlung<br />
deutscher Malerei des 15./16. Jahrhunderts<br />
im Besitz der Stiftung Preußische<br />
Gärten und Schlösser Berlin-Brandenburg<br />
und der Abschluss des Bestandskataloges<br />
dazu Ausgangspunkt waren. Mit<br />
Beiträgen so renommierter Autoren bei<br />
Bredekamp, Koepplin, Warnke ergibt<br />
sich ein tieferer Einblick in die Kunst und<br />
deren gesellschaftliche Stellung zur Zeit<br />
der Renaissance in Berlin-Brandenburg<br />
und am Hof der Kurfürsten Joachim I.<br />
und Joachim II.; eigene Themen sind die<br />
Stadtkultur und die Rolle der Kirche in<br />
Bezug auf die Kultur. Aber das ist wenig<br />
koordiniert, insgesamt scheint das Buch,<br />
das zu einer Ausstellung erschienen ist, mit<br />
heißer Nadel gestrickt. So sind mögliche<br />
Gegenüberstellungen vergleichbarer Epitaphgemälde<br />
gerade nicht eingelöst. Teils<br />
fehlen die Maße der Werke. Und doch,<br />
reich bebildert und von einem ausführlichen<br />
Literaturverzeichnis begleitet, ist es<br />
ein Gewinn und eine gute Klärung der<br />
Bedingungen altdeutscher Kunst.<br />
Den alten Meistern ist Antonio Canal,<br />
genannt Canaletto (1697-1768) nicht<br />
mehr zuzurechnen – aber er zitiert die<br />
Antike und die Renaissance, indem er<br />
Canaletto in Venedig – Der Meister und seine<br />
Rivalen, 192 S. mit 64 Farbtafeln, geb.<br />
mit Schutzumschlag, 29 x 25 cm, Belser,<br />
39,95 Euro<br />
ihre architektonischen Zeugnisse malt, auf<br />
dem Fundament realistischer Erfassung.<br />
Im Anschluss an Capricci – erfundene<br />
Architekturen – wendet sich Canaletto der<br />
Vedutenmalerei zu, als deren Hauptvertreter<br />
er sich in seiner Heimatstadt Venedig<br />
etabliert. Er gibt die Atmosphäre und<br />
Abfolge des architektonischen Außenraums<br />
in seinen Ansichten wieder und<br />
greift doch künstlerisch ein. Er nimmt<br />
Perspektivwechsel innerhalb der Darstellung<br />
vor und setzt Licht und Schatten mit<br />
zunehmend lockerer Pinselführung. Das<br />
erfreulich unprätentiöse, geradlinige Buch<br />
Canalettto in Venedig. Der Meister und<br />
seine Rivalen, das nun im Belser Verlag<br />
erschienen ist und von Charles Beddington<br />
bearbeitet wurde, untersucht noch das<br />
Eigene in Canalettos Malerei, indem es ihn<br />
in den Zusammenhang der venezianischen<br />
Vedutenmalerei stellt und noch mit Bilddetails<br />
arbeitet. Zu den Künstlern, die<br />
vorgestellt werden, gehören seine Schüler<br />
Francesco Guardi und Bernardo Bellotto,<br />
wobei letzterer auch sein Neffe war und als<br />
Hofmaler in Dresden Erfolge feierte: Ein<br />
Bild von Bellotto, der ebenfalls den Namen<br />
Canaletto trug, hängt seit kurzem, als<br />
Leihgabe der Staatlichen Kunstsammlungen<br />
Dresden, im Büro des Bundespräsidenten<br />
in Berlin. Aber das ist eine andere<br />
Geschichte.<br />
49
50<br />
Gerhard Nebel<br />
„Zwischen den Fronten –<br />
Kriegstagebücher 1942-1945“<br />
Wiederentdeckt, ausgewählt und mit<br />
einem Nachwort von Michael Zeller<br />
© 2010 Wolf Jobst Siedler Verlag jr. Berlin,<br />
1. Aufl age<br />
282 Seiten, ISBN 978-3-937989-69-3<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.wjs-verlag.de<br />
Die Kriegstagebücher Gerhard<br />
Die spezifi sch deutsche literarische Aufarbeitung<br />
des grauenhaften 1. Weltkriegs<br />
(schätzungsweise 17 Millionen Tote)<br />
stammt von Ernst Jünger. „In Stahlgewittern“<br />
ist das Tagebuch seiner Erlebnisse in<br />
Frankreich. Der pathetische Titel kündigt<br />
bereits vom heldenhaften Kampf der<br />
Soldaten, von der trunkenen Stimmung<br />
der Jugend 1914, die, angefeuert von der<br />
großen nationalen Bewegung, sehnsüchtig<br />
mitmachen wollte bei dem Wahnsinn<br />
1914-1918 und die Kriegsgefahr begeistert<br />
suchte (Stichwort: Langemarck).<br />
Nach dem 2. Weltkrieg (schätzungsweise<br />
55 Millionen Tote) erscheint 1948-1950<br />
von Gerhard Nebel (1903-1974) sein<br />
dreibändiges Tagebuch der Kriegszeit.<br />
Von Pathos und Heldentum ist da überhaupt<br />
nicht die Rede. Mit Haß auf den<br />
Despoten und innerlich unbeteiligt am<br />
Krieg wollte er diesen nur überleben. Aktiv<br />
war er nicht am Widerstand beteiligt.<br />
Wie er dachten Hunderttausende.<br />
Gerhard Nebel wird im Februar 1942<br />
infolge eines lockeren Artikels über den<br />
Kommiß-Ton bei der Luftwaffe und die<br />
in der Wehrmacht herrschenden soldatischen<br />
(Un-)Sitten vom Gefreiten und<br />
Dolmetscher zum Bausoldaten degradiert,<br />
muß Paris verlassen, verliert damit seine<br />
Freundschaften und gesegneten Mußestunden,<br />
die er in Paris mit einzelnen<br />
intellektuellen Fliegern und Offi zieren<br />
(u.a. Ernst Jünger) erlebt und geschätzt<br />
hatte, und spricht von seiner hirnverbrannten<br />
Torheit, die Despotie mit einem<br />
unbedachten Artikel herausgefordert zu<br />
haben.<br />
„Die Lage, der ich entgegengehe, erscheint<br />
mir unangenehm“. So beginnen<br />
diese Tagebücher. Als Bausoldat wird er<br />
auf eine Insel des Kanal-Archipels westlich<br />
von Cherbourg versetzt. Dort muß<br />
er körperlich arbeiten, wird aber auch immer<br />
wieder als Dolmetscher in Anspruch<br />
genommen. In seiner Freizeit liest er<br />
Mommsen und Victor Hugo, beschreibt<br />
die stimmungsvolle Insellandschaft mit<br />
Kirchen, Kirchhöfen und ihren Menhiren<br />
und spricht dem französischen Wein gerne<br />
und ausgiebig zu. Was im Osten angerichtet<br />
wurde, ist bei den Soldaten an der<br />
Kanalküste bekannt. Seine Überlegungen<br />
zum preußischen Drill, der den Soldaten<br />
entwürdigt, ihm Qual verursacht und<br />
verursachen soll, was dem Kommiß zur<br />
Wache eingefallen ist, wie wichtig dieser<br />
hohle Stumpfsinn von Offi zieren bis<br />
hinauf zum General genommen wird, das<br />
hält G. Nebel für Wahnsinn. Über die<br />
bei der Wehrmacht verbreitete und mit<br />
Vorschriften manifestierte Kombination<br />
aus subalterner Dummheit und Grausamkeit<br />
erregt er sich, glaubt aber nicht an<br />
die Identität von Volk und Regime und<br />
ist sich der Gefahr, die aus der Identität<br />
von Politik und Verbrechertum resultiert,<br />
bewußt. Solange man noch Wein trinken<br />
kann, ist die Lage jedoch nicht völlig<br />
hoffungslos: Jenseits des Krieges erwartet<br />
Gerhard Nebel eine Welt der Freiheit, der<br />
Bildung und der Humanität.<br />
1943 wird er nach Italien versetzt, wo<br />
er als Dolmetscher für den Stab der<br />
Luftwaffe mit der aufgeräumten Anarchie<br />
der Italiener gut zurecht kommt. „Auf<br />
ausonischer Erde“ organisiert er Wein,<br />
Früchte, Brot und Eier für soldatische<br />
Feste, besorgt italienische Frauen für Bordelle<br />
der Luftwaffe, übersetzt Liebesbriefe<br />
der Landser und Flieger ins Italienische,<br />
hat selbst verschiedene Affären, kommentiert<br />
natürlich Affären der Offi ziere,<br />
wird beschossen, auch bombardiert, und<br />
versucht zu überleben, auch wenn ihn<br />
die „kochende Angst, die allen Inhalt der<br />
Seele verdampft und in deren Dunkel<br />
alle Farbe verlosch“ überfällt, sobald ihm<br />
Steine, Äste, Felssplitter um den Kopf<br />
fl iegen und die feindlichen Jabos (Jagdbomber)<br />
dicht über den Köpfen dröhnen.<br />
Dem Kradmelder bietet der Stahlhelm,<br />
der wie Butter von den kleinen Fetzen<br />
der Splitterbomben durchschnitten wird,<br />
keinen Schutz. Das Hirn spritzt aus dem<br />
Schädel. Nebel sieht und beschreibt es.<br />
Andererseits bleiben Gerhard Nebel aber<br />
schöne Frühlingstage mit weiten Blicken<br />
über die italienische Abruzzenlandschaften<br />
auf türmereiche Städte ebenso unvergeßlich<br />
wie noch schönere Nächte, in<br />
denen unzählige glühende Johanniskäfer<br />
durch samtenes Dunkel tanzen, nachdem<br />
die Nachtigallen verstummen und die<br />
Grillen das Nachtkonzert eröffnen. Jugendliche<br />
Partisanen muß er in Notwehr<br />
mit dem Maschinengewehr abwehren.<br />
Auf der Lagunenbrücke Venedigs wird er<br />
als Fußgänger von Jagdbombern überfl ogen,<br />
die den zwischen den Buhnensteinen
Nebels – wiederentdeckt<br />
Liegenden aber für eine Leiche halten<br />
und Munition sparen. Im Juni 1944 -<br />
liest man- werden deutsche Geschütze<br />
unter der Aufsicht von schwankenden<br />
Landsern, die Wein- und Schnapsfl aschen<br />
schwenken, von Ochsenkarren durch die<br />
Po-Ebene gezogen. Mal wieder verliebt,<br />
verliert er sich zuletzt an Antonia, wollte<br />
sich aber in den unsicheren Zeiten nicht<br />
an die Studentin binden und entweicht<br />
ohne Abschied, womit er wohl nicht nur<br />
sie, sondern vor allem auch sich selbst<br />
verraten hat. Endlich gerät er in amerikanische<br />
Kriegsgefangenschaft, erkrankt<br />
schwer und empfi ndet das Grauen in den<br />
Lazaretten Norditaliens entsetzlicher als<br />
die ausonischen Tage hinter der Front.<br />
Von Hitlers Tod erfährt er in Cortina<br />
d´Ampezzo und feiert das Ende der Bestie<br />
mit Sekt.<br />
Gerhard Nebel, 1903 geboren, hatte<br />
Philosophie und Altphilologie studiert,<br />
u.a. bei Heidegger und Jaspers. Politisch<br />
treibt es ihn als Berufsanfänger Ende der<br />
Zwanziger Jahre zur Sozialistischen Arbeiterpartei<br />
(SAP) und er setzt sich auch<br />
handgreifl ich mit den Nationalisten auseinander<br />
(Narbe neben dem linken Auge).<br />
Mit seinem dreibändigen Kriegstagebuch<br />
schreibt sich Nebel in die literarische<br />
Öffentlichkeit Nachkriegsdeutschlands.<br />
Er hält Vorträge über Ernst Jünger, der<br />
nach dem Krieg zunächst wegen eines<br />
Verbots der Alliierten selbst nicht publizieren<br />
durfte und schreibt ein Buch über<br />
ihn. Bald aber streiten sich die beiden, die<br />
zunächst in gleicher Weise vom Publikum<br />
wie auch der Kritik geschätzt wurden,<br />
kämpfen gegeneinander und beleidigen<br />
sich. Skandalös, wie Ernst Jünger die<br />
Übersetzung von Nebels „Hesperiden“<br />
ins Französische gezielt verhindert hat.<br />
1950 erhält Nebel den Eduard von der<br />
Heydt-Preis der Stadt Wuppertal. Hier<br />
hat er von 1950 bis 1955 als Studienrat<br />
am Gymnasium in der Bayreuther Straße<br />
gearbeitet. In Wuppertal gründet er, der<br />
promovierte Philosoph, die Gesellschaft<br />
„Der Bund“, in der zusammen mit der<br />
Elite der Zeit - Ernst Jünger, Gottfried<br />
Benn, Theodor W. Adorno, Ernst Bloch,<br />
Jürgen Habermas, Arnold Gehlen, Carl<br />
Schmitt u.a. waren Gäste - die geistige<br />
Erneuerung und Orientierung nach dem<br />
Nationalsozialismus diskutiert wird.<br />
Durch Aufklärung wollte man nachhaltig<br />
gegen „Gastfeindschaft, Barbarei<br />
und Dehumanisierung“ wirken (Zitat<br />
Michael Okroy s.u.). Gerhard Nebel<br />
schreibt im Laufe seines Lebens etliche<br />
Bücher und regelmäßig in der FAZ. Mit<br />
seinen Beiträgen macht er sich nicht<br />
nur Freunde. Thomas Mann konnte er<br />
nicht leiden. Zu dessen 75. Geburtstag<br />
erscheint am 6. Juni 1950 von G. Nebel<br />
ein bösartiger Artikel in der FAZ. Über<br />
Wuppertal schreibt er ein wenig freundlicher:<br />
„Wuppertal ist rauh und knochig,<br />
aber treu. Gewebe sind hier nicht wie<br />
anderswo Lügengewebe, Garne sind<br />
keine Betrugsschlingen. Die Solidität ist<br />
nicht Schwerfälligkeit, sondern Stärke<br />
- man hat sich nicht für den Oberfl ächenschmelz,<br />
sondern die Tiefenstruktur<br />
entschieden, nicht für die geschwinde,<br />
huschende Intelligenz, sondern für zähes<br />
Festhalten und bohrende Berechnung.<br />
Den Verlust an Charme und Lieblichkeit<br />
nimmt man, wenn man sieht, was in der<br />
Nachbarschaft mit diesen Kategorien<br />
getrieben wird, gern in Kauf.“ (zitiert<br />
nach Christine Hummel, 2004, s.u.).<br />
Georg Nebel starb 1974. Er wurde in<br />
Braunsbach-Steinkirchen (Landkreis<br />
Schwäbisch-Hall) beerdigt.<br />
Die Kriegstagebücher Gerhard Nebels<br />
(ursprünglich dreibändig) wurden von<br />
Michael Zeller, Von der Heydt-Preisträger<br />
2008, wiederentdeckt. Der heutige Leser<br />
des Werkes ist fasziniert von der Authentizität<br />
und Frische der Sprache, hinter der<br />
die gesamte Kultur des alten Europa immer<br />
wieder aufblitzt, von Nebels Humor,<br />
seinem Zynismus und der Souveränität<br />
des Gebildeten. Der Schriftsteller Michael<br />
Zeller hat das vergessene Werk von<br />
historischen Schlacken befreit, gekürzt,<br />
mit einem sehr informativen Nachwort<br />
zu Biographie, Werk und Rezeptionsgeschichte<br />
versehen und neu herausgegeben.<br />
Das Buch wurde von der Süddeutschen<br />
Zeitung im Januar 2011 auf Platz 3 (von<br />
10) der Liste der Sachbücher des Monats<br />
gesetzt.<br />
Literatur:<br />
1. Dr. Christine Hummel: Ungeschminktes<br />
Wuppertal, 2004 Bergische Universität<br />
(http://www.presse-archiv.uni-wuppertal.<br />
de/html/module/medieninfos/archiv/2004/1907_stadtjubilaeum_collage.<br />
htm)<br />
2. Michael Okroy: „Lebendig. ungeschminkt<br />
und voller Geist. Ein kulturgeschichtlicher<br />
Spaziergang durch das<br />
Wuppertal, der 1950er Jahre.“ Vortrag am<br />
24.11.2010 in der Citykirche Elberfeld)<br />
3. www.michael-zeller.de/<br />
Nachbemerkung<br />
mit Notizen zu Michael Zeller:<br />
Michael Zeller wurde 1944 in Breslau<br />
geboren und lebt seit 1998 in Wuppertal.<br />
1978 veröffentlichte er seinen ersten Roman<br />
(„Fehlstart-Training“). Nach seiner<br />
Promotion 1974 habilitierte er sich 1981<br />
in Erlangen. Michael Zeller erhielt zahlreiche<br />
Auszeichnungen, so z.B. 1984/85<br />
das Atelierhaus Stipendium Worpswede,<br />
als dessen literarisches Ergebnis sein<br />
Roman über Paula Moderson-Becker<br />
entstand („Die Sonne! Früchte. Ein<br />
Tod“, 4. Aufl age 2007). 1997 erhielt er<br />
das Schriftstellerstipendium der Robert-<br />
Bosch-Stiftung und lebte ein Jahr in<br />
Krakau. In „Café Europa“ und „Die Reise<br />
nach Samosch“ hat er diesen Aufenthalt<br />
literarisch verarbeitet. 2006 bereiste er das<br />
kriegszerstörte Bosnien und hielt seine<br />
Impressionen in „Granaten und Balladen“<br />
fest. 2008 erhielt er den Von der<br />
Heydt-Preis der Stadt Wuppertal, und es<br />
erschien sein achter Roman („Falschspieler“).<br />
Seit 2007 arbeitet Michael Zeller<br />
literarisch mit Schülern. Inzwischen sind<br />
vier „Schulhausromane“ entstanden. Der<br />
jüngste Roman „Ein Schuss Jugendliebe“<br />
wird im Mai 2011 erscheinen. Michael<br />
Zeller publiziert auch in den Musenblättern<br />
und im Wuppertaler NordPark<br />
Verlag.<br />
Weitere Informationen unter: www.<br />
michael-zeller.de<br />
Johannes Vesper<br />
51
52<br />
Kulturnotizen<br />
Ausstellung „Schloßgeschichten“<br />
über den Adel in Schlesien<br />
Ratingen - „Schloßgeschichten“ lautet<br />
der Titel einer Ausstellung, die ab dem 8.<br />
Mai im Oberschlesischen Landesmuseum<br />
in Ratingen zu sehen ist. Die Schau über<br />
den Adel in Schlesien zeigt Gemälde,<br />
Epitaphien, Waffen, Jagdtrophäen und<br />
einen zwei Meter großen präparierten<br />
Wisent. Unter den Ausstellungsstücken<br />
sind viele erstmals in Deutschland präsentierte<br />
Exponate. Die Schau läuft bis zum<br />
8. Januar kommenden Jahres.<br />
Über 3000 adelige Güter gab es in Schlesien,<br />
einige der bedeutendsten lagen in<br />
Oberschlesien. Die Ausstellung will den<br />
Besucher in die Lebenswelt der Schlösser<br />
und ihrer Bewohner führen. Der zeitliche<br />
Bezugsrahmen reicht vom Mittelalter<br />
bis in die Gegenwart. Der Reichtum der<br />
Besitzer stand im krassen Gegensatz zu<br />
den Lebensbedingungen vieler Arbeiter<br />
und Bauern.<br />
Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags<br />
von 11 bis 17 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.oslm.de<br />
Museum Kurhaus Kleve<br />
präsentiert das Werk von Carl Andre<br />
Kleve - Das Museum würdigt ab dem<br />
17. April in einer Einzelausstellung Carl<br />
Andre, den Mitbegründer der Minimal<br />
Art in Amerika. Gezeigt werden über 20<br />
teils großformatige Skulpturen. Besonderes<br />
Augenmerk gilt den für das Werk<br />
fundamentalen, aber noch immer wenig<br />
bekannten Textarbeiten, heißt es.<br />
Es handelt sich um Andres erste Ausstellung<br />
in einem deutschen Museum seit<br />
15 Jahren. Nur wenige Tage nach ihrer<br />
Eröffnung wird der Künstler am 5. Mai<br />
in Zürich mit einem der renommiertesten<br />
europäischen Kunstpreise ausgezeichnet,<br />
dem Roswitha Haftmann-Preis. Der 1935<br />
geborene Andre lebt und arbeitet in New<br />
York und hat entscheidenden Einfl uß<br />
auf die Entwicklung der Kunst im 20.<br />
Jahrhundert ausgeübt.<br />
Seit den frühen 1960er Jahren hat er<br />
den Begriff von Skulptur revolutioniert,<br />
indem er sie nicht länger in den Kategorien<br />
von Form und Struktur, sondern von<br />
Material und Ort defi nierte. Seine Werke<br />
sind im strengen Sinn des Wortes elementar,<br />
denn sie repräsentieren den äußersten<br />
Grad an Einfachheit und Klarheit.<br />
Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags<br />
von 11 bis 17 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.museumkurhaus.de<br />
Ausstellung über Armut als Motiv<br />
in der Kunst<br />
Künstlerische Sichtweisen auf Armut<br />
und Arme in Europa<br />
Trier - Eine Ausstellung in Trier zeigt<br />
erstmals eine Geschichte der Armut von<br />
der Antike bis zur Gegenwart im Spiegel<br />
der Kunst. „Armut - Perspektiven in<br />
Kunst und Gesellschaft“ lautet der Titel<br />
der Schau, die im Stadtmuseum Simeonsstift<br />
sowie im Rheinischen Landesmuseum<br />
in Trier zu sehen ist. Insgesamt zeigt<br />
die bis 16. Juli laufende Ausstellung<br />
250 Kunstwerke. Pieter Breughel d.J.,<br />
Rembrandt und Picasso, Käthe Kollwitz,<br />
Liebermann und Immendorff sind nur<br />
einige der berühmten Künstler, die sich<br />
mit dem Thema Armut auseinandergesetzt<br />
haben.<br />
Breughel etwa hält mit seinem berühmten<br />
Gemälde „Die sieben Werke der<br />
Barmherzigkeit“ dem Betrachter die<br />
Mildtätigkeit und Anteilnahme an armen<br />
Gesellschaftsschichten als moralische<br />
Pfl icht vor Augen. Rembrandts „Bettelmusikanten“<br />
stehen als Beispiel für die<br />
Idealisierung des Lebens in Armut. Später<br />
wurden grafi sche Arbeiten zu einem<br />
zentralen Medium in der Auseinandersetzung<br />
mit der Sozialen Frage. Kollwitz,<br />
Ernst Barlach oder Heinrich Zille wurden<br />
durch das Leid und Elend der Menschen<br />
zu einer neuen, expressiven Formensprache<br />
inspiriert.<br />
Die Ausstellung im Stadtmuseum ist<br />
dienstags bis sonntags von 10 bis 18 Uhr<br />
geöffnet. Die Ausstellung im Rheinischen<br />
Landesmuseum ist dienstags bis sonntags<br />
von 10 bis 17 Uhr zu sehen.<br />
Galerie Villa Zanders<br />
Bergisch Gladbach:<br />
„Knüller, Falter, Reißer“ lautet der Titel<br />
einer Ausstellung, die in der Städtischen<br />
Galerie Villa Zanders in Bergisch<br />
Gladbach zu sehen ist. Die bis zum 26.
Juni laufende Schau zeigt Exponate aus<br />
der Sammlung Kunst aus Papier, die in<br />
diesem Jahr ihr 25-jähriges Bestehen<br />
feiert. Die Sammlung umfaßt heute fast<br />
300 Arbeiten von Künstlern aus aller<br />
Welt, hierunter Künstlerbücher ebenso<br />
wie raumgreifende Installationen und<br />
Skulpturen.<br />
International renommierte Künstler<br />
wie Wolf Vostell, Christo, Felix Droese,<br />
Günther Uecker, Kenneth Noland oder<br />
Jiri Kolar markieren die Bandbreite der<br />
Sammlung und ihren Rang. Aber auch<br />
viele junge, weniger bekannte Künstler<br />
wurden ermutigt, sich mit diesem<br />
unerschöpfl ich vielseitigen Material<br />
auseinander zu setzen, sodaß die Sammlung<br />
nie bei etablierten Positionen stehen<br />
geblieben ist, sondern sich immer wieder<br />
auch in unbekanntes Land vorgewagt hat.<br />
Die Ausstellung ist dienstags, mittwochs,<br />
freitags und samstags von 14 bis 18 Uhr,<br />
donnerstags von 14 bis 20 Uhr und sonntags<br />
von 11 bis 18 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.villa-zanders.de<br />
Museum Kunstpalast feiert<br />
Wiedereröffnung seines<br />
Sammlungsfl ügels<br />
Düsseldorf - Unter dem Motto „Kunst<br />
befreit“ feiert das Museum Kunstpalast<br />
in Düsseldorf am 6. Mai die Wiedereröffnung<br />
des Sammlungsfl ügels und die<br />
Neupräsentation der eigenen Bestände. Bis<br />
zum 22. Mai können Besucher bei freiem<br />
���������������������������<br />
Eintritt die Neupräsentation von 450 ausgewählten<br />
Kunstwerken bewundern.<br />
Das Museum vereint fünf verschiedene<br />
Sammlungsbereiche unter einem Dach.<br />
Die Graphische Sammlung mit einem<br />
Schwerpunkt auf Zeichnungen des Barock,<br />
die Gemäldegalerie mit italienischer,<br />
fl ämischer, niederländischer und deutscher<br />
Malerei der Jahre 1490 bis 1920, den<br />
Sammlungsbereicch Moderne sowie den<br />
Bereich Skulptur und Angewandte Kunst.<br />
Schließlich zählt auch das integrierte<br />
Glasmuseum Henrich mit Objekten von<br />
1500 vor Christus bis hin zu aktuellem<br />
Studioglas zum Kunstpalast. Hier befi ndet<br />
sich die umfassendste Glaskollektion auf<br />
dem europäischen Kontinent.<br />
Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags<br />
von 11 bis 18 Uhr sowie donnerstags von<br />
11 bis 21 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.museum-kunst-palast.de<br />
Buddhismus im Mittelpunkt der<br />
diesjährigen Ruhrtriennale<br />
Gelsenkirchen - Nach der Erforschung<br />
der Kultur des Judentums<br />
und des Islams in den vergangenen<br />
beiden Spielzeiten steht in diesem Jahr<br />
der Buddhismus im Mittelpunkt des<br />
Kulturfestivals Ruhrtriennale. Bei der<br />
nicht-theistischen religiösen Tradition<br />
stünde die Überwindung des Ichs als<br />
Voraussetzung für bedingungslose Mitmenschlichkeit<br />
und absolute Gewaltlosigkeit<br />
im Zentrum, hieß es in einer<br />
Mitteilung der Kultur-Ruhr GmbH in<br />
Gelsenkirchen.<br />
Schwerpunkt der Triennale sei das Entdecken<br />
buddhistischer Wahrheiten in den<br />
theatralen, musikalischen und literarischen<br />
Werken unseres Abendlandes, so<br />
die Veranstalter weiter. Vom 26. August<br />
bis zum 9. Oktober fi ndet das Festival<br />
mit über 130 Vorstellungen in Bochum,<br />
Essen, Duisburg, Gladbeck und Oberhausen<br />
statt. Am 5. Mai soll das konkrete<br />
Programm der dritten und letzten Spielzeit<br />
des Ruhrtriennale-Intendanten Willy<br />
Decker in Bochum vorgestellt werden.<br />
Verstorbene Irene Ludwig<br />
schenkte der Stadt Aachen<br />
zahlreiche Kunstwerke<br />
Aachen - Die am 28. November<br />
vergangenen Jahres verstorbene Kunstmäzenin<br />
Irene Ludwig hat der Stadt<br />
Aachen testamentarisch Kunstwerke im<br />
Gesamtwert von 15 bis 20 Millionen<br />
Euro hinterlassen. In ihrem Testament<br />
hatte Irene Ludwig unter anderem festgelegt,<br />
daß der Stadt insgesamt 47 Werke<br />
hinterlassen werden. 37 davon gehen an<br />
das Suermondt-Ludwig- Museum und<br />
10 an das Couven-Museum, das ihr stets<br />
besonders am Herzen lag, so Philipp.<br />
Villa Hügel zeigt Krupp-Fotografi en<br />
Essen - „Krupp - Fotografi en aus<br />
zwei Jahrhunderten“ lautet der Titel<br />
einer Ausstellung, die vom 18. Juni bis<br />
53
54<br />
zum 11. Dezember in der Villa Hügel in<br />
Essen präsentiert wird. Die Ausstellung<br />
zeigt erstmals umfassend Fotografi en der<br />
Krupp-Geschichte.<br />
In insgesamt 15 Räumen der Villa Hügel<br />
werden rund 400 Aufnahmen in aufwendig<br />
inszenierten Themenbereichen zu<br />
sehen sein. Die Ausstellung schlägt einen<br />
Bogen von den Anfängen der Fotografi e<br />
bis zur zeitgenössischen Fotokunst. Zu<br />
sehen sind Familienfotos ebenso wie Bilddokumente<br />
der Industriegeschichte, Produkte,<br />
Bilder von Arbeitern und Direktoren,<br />
Sozialeinrichtungen, Reisealben,<br />
Schnappschüsse sowie Inszenierungen.<br />
Die meisten Bilder sind bislang noch nie<br />
öffentlich vorgestellt worden.<br />
Internet: www.villahuegel.de<br />
Bilderbuchmuseum zeigt Künstlerbücher<br />
von Leiko Ikemura<br />
Troisdorf - Unter dem Titel „Wußtest<br />
du, ich habe zwei versteckte Flügel“ ist<br />
im Bilderbuchmuseum Burg Wissem der<br />
Stadt Troisdorf bei Bonn eine Ausstellung<br />
mit Künstlerbüchern und Zeichnungen<br />
der Japanerin Leiko Ikemura<br />
zu sehen. Zugunsten der Opfer der<br />
Erdbeben-, Tsunami- und Atomkraft-<br />
Katastrophen erscheint zu der bis zum<br />
19. Juni laufenden Schau eine Edition<br />
der Künstlerin in einer Aufl age von 25<br />
Exemplaren. Der Erlös aus dem Verkauf<br />
der Edition werde für die Opfer in Japan<br />
gespendet, erklärte Museumsleiterin<br />
Maria Linsmann zum Auftakt.<br />
Mit ihrem Engagement will die<br />
Künstlerin nach Angaben von Linsmann<br />
nicht nur ihre Landsleute unterstützen,<br />
sondern auch zur Diskussion über die<br />
Frage der Bedeutung von Kunst in<br />
Mom enten der Katastrophe anregen.<br />
Die Ausstellung ist dienstags bis sonntags<br />
von 11 bis 17 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.Troisdorf.de<br />
Museum Morsbroich zeigt Zeichnungen<br />
von Gotthard Graubner<br />
Leverkusen - Mit der Ausstellung<br />
„Gotthard Graubner. Das zeichnerische<br />
Werk“ gibt es ab dem 10. April<br />
im Museum Morsbroich in Leverkusen<br />
erstmals seit 25 Jahren wieder einen<br />
Überblick über die Zeichnungen des<br />
inzwischen 80 Jahre alten Künstlers.<br />
Wie das Museum mitteilte, verkörpern<br />
die Zeichnungen in elementarer Form,<br />
was Graubners gesamte Kunst ausmacht,<br />
nämlich das Verständnis der Form als<br />
Prozess und das Bildkonzept der Entfaltung<br />
von Bewegung und Räumlichkeit.<br />
Die bis zum 6. November laufende<br />
Schau präsentiert frühe, großformatige<br />
Aktzeichnungen der Düsseldorfer Akademiezeit<br />
ebenso wie seine abstrakten,<br />
abgerundeten Rechteck-“Körper“, seine<br />
transparent-schimmernden „Frottagen“<br />
der 1970er Jahre sowie seine meist<br />
farbigen Raumstrukturen der letzten<br />
Jahrzehnte.<br />
Die Ausstellung ist donnerstags von 11<br />
bis 21 Uhr, dienstags bis sonntags von<br />
11 bis 17 Uhr geöffnet.<br />
Internet: www.museum-morsbroich.de
Ausstellung „Reiselust“ zum Werk<br />
von Emil Nolde in Hamm<br />
Hamm - „Emil Nolde - Reiselust“ lautet<br />
der Titel einer Ausstellung, die vom<br />
kommenden Sonntag an bis zum 19. Juni<br />
im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm zu<br />
sehen ist. Damit würdige man den Maler<br />
umfassend in seiner Rolle als Reisender in<br />
Deutschland, Spanien und der Schweiz.<br />
Neben seiner wohl bekanntesten einjährigen<br />
Reise in die Südsee in den Jahren<br />
1913/14 unternahm er zahlreiche mehrwöchige<br />
Urlaubsreisen, die auf markante<br />
Weise in seinem Schaffen Niederschlag<br />
gefunden haben. Von den ersten Aquarellarbeiten<br />
1907 in Thüringen über Bilder<br />
der Zigeuner und Flamencotänzer in<br />
Spanien, von der Bergwelt der Schweiz<br />
und Porträts von Freunden auf der Nordseeinsel<br />
Sylt spannt sich der Bilder-Bogen<br />
in der Ausstellung bis zum Jahr 1946.<br />
Viele der rund 100 Werke sind erstmals<br />
öffentlich zu sehen. Die Präsentation wird<br />
ergänzt um die Abteilung „Emil Nolde<br />
und der westfälische Expressionismus“.<br />
In dieser Abteilung werden Werke aus<br />
dem Eigenbestand zum Expressionismus<br />
in Westfalen gezeigt sowie Werke von<br />
Nolde, die während seines Aufenthaltes in<br />
Soest 1905/06 entstanden sind.<br />
Die Ausstellung ist dienstags bis samstags<br />
von 10 bis 17 Uhr sowie sonntags von 10<br />
bis 18 Uhr geöffnet.<br />
Internet:<br />
www.hamm.de/gustav-luebcke-museum<br />
Ausstellung zeigt Highlights des<br />
amerikanischen Fotorealismus<br />
Aachen - Unter dem Titel „Hyper Real<br />
– Kunst und Amerika um 1970“ zeigt das<br />
Aachener Ludwig-Forum Highlights des<br />
US-amerikanischen Fotorealismus. Die<br />
bis zum 19. Juni laufende Schau präsentiert<br />
die Aufnahmen im Kontext ihrer<br />
gesellschaftspolitischen Entwicklungen<br />
wie etwa der Nixon-Ära, dem Vietnam-<br />
Krieg oder der ersten Öl-Krise. Die rund<br />
250 Werke von 100 Fotografen waren in<br />
dieser Zusammenstellung in Deutschland<br />
noch nie zu sehen.<br />
Die Ausstellung wird aus Anlaß des<br />
20jährigen Bestehens des Ludwig-Forums<br />
gezeigt. Stilprägend wirkten in den<br />
1970er Jahren vor allem die großformatigen<br />
Arbeiten der Fotorealisten, die dem<br />
„American Way of Life“ ein visuelles<br />
Denkmal setzten. Unter den zahlreichen<br />
Bildern sind auch großformatige Aufnahmen<br />
wie etwa „Man with a Rifl e“ von<br />
Jeff Wall aus dem Jahr 2000, „das Bild<br />
„Orange Car Crash“ von Andy Warhol<br />
aus dem Jahr 1963 oder „Das Parkstück“<br />
von Gerhard Richter von 1971.<br />
Die Ausstellung ist dienstags, mittwochs<br />
und freitags von 12 bis 18 Uhr,<br />
donnerstags von 12 bis 20 Uhr sowie<br />
samstags und sonntags von 11 bis 18 Uhr<br />
geöffnet.<br />
Internet: www.ludwigforum.de<br />
Akademie-Galerie Düsseldorf zeigt<br />
„Rendezvous der Maler“<br />
Düsseldorf - „Rendezvous der Maler“<br />
lautet der Titel einer Ausstellung in der<br />
Akademie-Galerie Düsseldorf, die ab dem<br />
6. Mai die Malerei an der renommierten<br />
Kunstakademie in den Jahren 1946 bis<br />
1986 präsentiert. Die bis zum 17. Juli<br />
laufende Schau wird die Malergenerationen<br />
der Düsseldorfer Kunstakademie<br />
anhand von ausgewählten Werken aus der<br />
Zeit ihrer Professuren dokumentieren.<br />
Es werden rund 50 Werke von Künstlern<br />
wie Heinrich Kamps, Werner Heuser,<br />
Theo Champion, Bruno Goller, Ferdinand<br />
Macketanz, Georg Meistermann,<br />
Robert Pudlich, Joseph Fassbender, K.O.<br />
Götz, Gerhard Hoehme, Peter Brüning,<br />
Rupprecht Geiger, Gerhard Richter, Gotthard<br />
Graubner, Dieter Krieg, Konrad Klapheck<br />
und Markus Lüpertz gezeigt. Als<br />
im Januar 1946 die Kunstakademie Düsseldorf<br />
nach dem Krieg wieder eröffnet<br />
wurde, befand sie sich laut Mitteilung am<br />
Anfang eines Neubeginns.<br />
Die Ausstellung ist mittwochs bis<br />
sonntags von 12 bis 18 Uhr geöffnet.<br />
Schweben<br />
Mit dem Kaiserwagen zwischen<br />
den Zeilen<br />
Neun Wuppertaler AutorInnen aus drei<br />
Generationen und ein Musikus gratulieren<br />
der ältesten Dame des Tals zum<br />
hundertzehnten Geburtstag:<br />
der Schwebebahn!<br />
Aus gegebenem Anlass fährt kein geringerer<br />
als der Kaiserwagen selbst die<br />
Geburtstagsgäste zur Schwebebahnwerkstatt<br />
in Vohwinkel, wo neun AutorInnen<br />
zwischen 19 und 88 – David Grashoff,<br />
Michael Heinrich, Dieter Jandt, Ulrich<br />
Land, Rebekka Möller, Karl Otto Mühl,<br />
Hermann Schulz, Wolf von Wedel, André<br />
Wiesler – ein literarisches Geburtstagsständchen<br />
darbringen. Und Michael<br />
Burger stimmt mit seiner akustischen Gitarre<br />
den Soundtrack des Stahlengels mit<br />
nassen Füßen an. Seit 110 Jahren windet<br />
sich der eiserne Tausendfüßler durchs Tal<br />
und lässt die merkwürdige Straßenbahn<br />
kopfüber am Himmel über der Wupper<br />
baumeln, die – sehr zu ihrem Leidwesen<br />
– bekanntlich nicht schiffbar ist. Also<br />
hängt man ein Luftschiff darüber. Voller<br />
Geschwätz, Gezänk, Gedankenfl uten,<br />
die versuchen, das Rappeln der Räder<br />
hoch droben zu übertönen, neugierige<br />
Blicke in die Wohnzimmer am Talesrand<br />
werfen und jede Menge Lovestorys in der<br />
Schwebe halten.<br />
Freitag, den 6. Mai 2011, um 19.3o Uhr<br />
Abfahrt des Kaiserwagens in Oberbarmen<br />
zur Lesung in der Schwebebahnwerkstatt,<br />
Vohwinkel<br />
Eintritt inklusive Fahrkarte und einem<br />
Freigetränk: 10 Euro<br />
Reservierung wegen des begrenzten<br />
Platzangebots unbedingt erforderlich:<br />
dieterjandt@aol.com<br />
Frank Becker und<br />
Andreas Rehnolt<br />
55
Der Tipp für alle<br />
ab 60<br />
Mit dem BärenTicket sind Sie im ganzen<br />
VRR-Gebiet unterwegs, rund um die Uhr und<br />
in der 1. Klasse.<br />
Weitere Infos im MobiCenter<br />
Tel.: 0202 569-5200<br />
www.wsw-online.de<br />
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