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(focus)uni lübeck - Universität zu Lübeck

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| 29. JAHRGANG | HEFT 2 | OKTOBER 2012<br />

bzw. Διονύσου κάτοπτρον 51 und somit um eine neuplatonische<br />

Denkfigur. Die aus dem Reich der Ideen in ihre weltliche<br />

Existenz niedersteigenden Seelen werden durch den<br />

Blick in diesen Spiegel des Bacchus verlockt, ihren göttlichen<br />

Funken <strong>zu</strong> vergessen und sich der materiellen Welt gänzlich<br />

<strong>zu</strong><strong>zu</strong>wenden:<br />

„Ἀνθρώπων δὲ ψυχαὶ εἴδωλα αὑτῶν ἰδοῦσαι<br />

οἷον Διονύσου ἐν κατόπτρῳ ἐκεῖ ἐγένοντο ἄνωθεν<br />

ὁρμηθεῖσαι […]“<br />

„Die Seelen der Menschen aber sehen ihre Bilder wie in dem<br />

Spiegel des Dionysos und erhalten dort [unten] ihren Platz,<br />

nachdem sie von oben herabgeeilt sind […].“ 52<br />

Es ist der Anblick der Schönheit der Welt und der eigenen<br />

Leiblichkeit, welcher die Seele in die Materie und den<br />

Menschen in die Welt bannt, ungeachtet der Abwehr Plotins<br />

gegen die Gnostiker 53 zweifellos selbst ein gnostisches<br />

Motiv. Die Selbstbespiegelung ist als die Narcissus-Erzählung<br />

ihrerseits Thema der Metamorphosen 54 und diese wiederum<br />

ein Beispiel für die Leere der körperlichen Schönheit<br />

und die von ihr ausgehende gefährliche Verlockung<br />

in Plotins Buch Περὶ τοῦ καλοῦ, Über die Schönheit. 55<br />

Poussin hat die Fabel von Narcissus und Echo ebenfalls als<br />

Gemälde gestaltet. Aber auch das für Pyramus und Thisbe<br />

51 Bötschmann S. 57ff<br />

| 62<br />

(<strong>focus</strong>) <strong>uni</strong> <strong>lübeck</strong><br />

Morus alba (Weißer Maulbeerbaum), reife Beeren 56<br />

Das Kolleg |<br />

eingetretene Liebesunglück kann, verwandt mit dem Motiv<br />

der Narrheit der Liebe, als Verfallenheit an die hier gegenseitig<br />

wahrgenommene Schönheit der Welt gedeutet<br />

werden.<br />

Poussins Gemälde erweist sich somit – <strong>zu</strong>mindest unter<br />

anderem – als eine Darstellung Dionysischer Mysterien im<br />

Geiste eines Neuplatonismus in der Prägung von Marsilio<br />

Ficino (1433-1499) und seiner Platonischen Akademie.<br />

52 Plotin, Enneaden IV, 3, 12; meine Überset<strong>zu</strong>ng. Genauer dargestellt wird dieser<br />

Komplex von Georg Friedrich Creuzer in Dionysos sive commentationes academicae<br />

de rerum Bacchiarum Orphicarumque originibus et causis, Heidelberg 1809 S.<br />

39ff und in Plotini Liber de Pulcritudine [sic!] […], Heidelberg 1814 S. 34ff.<br />

Bötschmann a.a.O. S. 59f verweist auf die Motivverwandtschaft <strong>zu</strong> H. G. Wells<br />

Erzählung The Crystal Egg von 1897 und <strong>zu</strong> Jorge Luis Borges’ Text El Aleph von<br />

1949. H. G. Wells: Das Kristall-Ei in: Die Tür in der Mauer. Mit einem Vorwort von Jorge<br />

Luis Borges, Stuttgart, Edition Weitbrecht o.J. S. 108-128; Jorge Luis Borges: Das<br />

Aleph in: Gesammelte Werke Bd. 3 / 2: Erzählungen 2 München, Hanser 1981 S. 124-<br />

141. Eine Poetische Paraphrase der Denkfigur findet sich am Schluß des fiktionalen<br />

Textes Die Ringe des Saturn. Eine Englische Wallfahrt von W. G. Sebald, Frankfurt<br />

am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 2004 S. 350: „Und Thomas Browne, der<br />

als Sohn eines Seidenhändlers dafür ein Auge gehabt haben mochte, vermerkt an<br />

irgendeiner, von mir nicht mehr auffindbaren Stelle aus seiner Schrift ‚Pseudodoxia<br />

Epidemica’, in Holland sei es <strong>zu</strong> seiner Zeit Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen<br />

alle Spiegel und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder die Früchte<br />

der Felder <strong>zu</strong> sehen waren, mit seidenem Trauerflor <strong>zu</strong> verhängen, damit nicht die<br />

den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren<br />

eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat.“ Ganz<br />

offensichtlich wird hier der Plotinsche Ansatz in sein Gegenteil verkehrt, wenn<br />

die vorfindliche, sensorisch wahrnehmbare Welt als die „Heimat“ der „Seele“ bezeichnet<br />

wird.<br />

53 Plotin, Enneaden II, 9<br />

54 Ovid, Met. III, 341-510<br />

55 Plotin, Enneaden I, 6, 8<br />

56 http://en.wikipedia.org/wiki/Morus_alba (20.05.2012)

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