02.01.2013 Aufrufe

(focus)uni lübeck - Universität zu Lübeck

(focus)uni lübeck - Universität zu Lübeck

(focus)uni lübeck - Universität zu Lübeck

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

| 29. JAHRGANG | HEFT 2 | OKTOBER 2012<br />

tavit [...]. Vel dic quod ista puella est virgo maria ad quam dei filius<br />

per incarnationem venit et sub crucis arbore mori voluit. Ipsa<br />

vero per compassionem eius gladio se transfodit Luc 2”.<br />

„Diese Erzählung kann auf das Leiden und die Fleischwerdung<br />

Christi übertragen werden. Pyramus ist Gottes Sohn. Thisbe aber<br />

[ist] die menschliche Seele, die sich am Anfang sehr liebten und<br />

gegenseitig übereinkamen, sich in Anhänglichkeit und Liebe <strong>zu</strong><br />

vereinen. Die Wand jedoch, sie ist gewissermaßen die Sünde,<br />

verhinderte die Vereinigung. Sie kamen gegenseitig überein, unter<br />

dem Maulbeerbaum, das heißt unter dem Kreuz bei der Quelle<br />

der Taufe und der Gnade <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>kommen. So geschah<br />

es, dass dieses Mädchen, die Seele, wegen der Löwin, das heißt<br />

wegen des Teufels, nicht <strong>zu</strong>r Quelle der Gnade gelangen konnte,<br />

sondern die Ankunft ihres Freundes Pyramus, das heißt Gottes,<br />

unter Schweigen erwartete. Oder interpretiere so, dass dieses<br />

Mädchen die Jungfrau Maria sei, <strong>zu</strong> welcher der Sohn Gottes<br />

durch die Fleischwerdung kam und unter dem Kreuzesbaum<br />

sterben wollte. Sie selbst aber durchbohrte sich aus Mitleid mit<br />

ihm mit dem Schwert, Lukas 2.“ 21<br />

Die angesprochene Bibelstelle lautet: „[…] et benedixit illis Symeon<br />

/ et dixit ad Mariam matrem eius / ecce positus est hic in<br />

ruinam et resurrectionem multorum in Israhel et in signum cui<br />

contradicetur / et tuam ipsius animam pertransiet gladius […]“:<br />

„[…] und Simeon segnete sie / und sprach <strong>zu</strong> Maria, seiner Mutter:<br />

/ Siehe, dieser ist gesetzt <strong>zu</strong>m Verderben und <strong>zu</strong>r Auferstehung<br />

vieler in Israel und als Zeichen, dem widersprochen werden<br />

wird, / und deine eigene Seele wird ein Schwert durchdringen.“ 22<br />

Die wohl bekannteste Version dieses Bildes ist die erste Strophe<br />

des Stabat Mater von einem unbekannten Verfasser des<br />

13. Jahrhunderts:<br />

| 56<br />

(<strong>focus</strong>) <strong>uni</strong> <strong>lübeck</strong><br />

„Stabat mater dolorosa<br />

Iuxta crucem lacrimosa,<br />

Dum pendebat filius;<br />

Cuius animam gementem,<br />

Contristatam et dolentem<br />

Pertransivit gladius.“<br />

„Schaut die Mutter voller Schmerzen,<br />

wie sie mit zerrißnem Herzen<br />

unterm Kreuz des Sohnes steht:<br />

Ach! wie bangt ihr Herz, wie bricht es,<br />

da das Schwerdt des Weltgerichtes<br />

tief durch ihre Seele geht!“ 23<br />

21 Meine Überset<strong>zu</strong>ng<br />

22 Lukas 2, 34-35 in der Version der Vulgata; cf. Schmitt – von Mühlenfels S. 55-65,<br />

hier S. 58; meine Überset<strong>zu</strong>ng.<br />

23 Überset<strong>zu</strong>ng von Christoph Martin Wieland 1779, cf. http://de.wikipedia.org/<br />

wiki/Stabat_mater (20.05.2012)<br />

Das Kolleg |<br />

Man sieht: Jegliche sexuelle Konnotation wäre in diesem<br />

Rahmen tatsächlich völlig unangebracht. Die hier vorgetragene<br />

These lautet nun, dass die auf den abgebildeten Steinmetzarbeiten<br />

dargestellte, der Beschreibung in Ovids Text<br />

widersprechende Position von Pyramus und Thisbe nach ihrem<br />

Tod genau da<strong>zu</strong> dient, die sexuelle Konnotation <strong>zu</strong> vermeiden.<br />

Mit der angeführten Allegorese erschließt sich darüber<br />

hinaus nun auch, warum Pyramus auf dem Basler Kapitell<br />

mit der Löwin kämpft (s. Abb. 8): Christus verrichtet in seiner<br />

Gestalt das Werk der Erlösung. 24<br />

Abb. 8: Pyramus kämpft gegen die Löwin. Basler Münster, Kapitell<br />

des Chorumganges 25<br />

Die Zuschreibung der auf Abb. 9 ausschnittweise wiedergegebenen<br />

Metamorphosis Ouidiana Moraliter […], welcher das<br />

angeführte Zitat entnommen ist, an Thomas Wallis ist irrig.<br />

Tatsächlich handelt es sich um das 15. Buch des Reductorium<br />

morale, einer während des päpstlichen Exils in Avignon<br />

dort entstandenen Enzyklopädie des Benediktiners Petrus<br />

Berchorius (Pierre Bersuire), gest. 1362, mit dem ursprünglichen<br />

Titel Ovidius moralizatus. Der erste Teil, De formis figurisque<br />

deorum, befasst sich, seltsam genug für ein Werk, welches<br />

eine durch und durch katholische Weltsicht darstellt,<br />

mit den Eigenschaften der antiken Götter. Vielleicht ist diese<br />

Diskrepanz der Grund dafür, dass das 15. Buch nicht in das<br />

Reductorium morale der in Venedig erschienenen Berchorius-<br />

Gesamtausgabe von 1583 aufgenommen wurde. Dabei wurde<br />

im 14. Jahrhundert eine ganze Reihe von volkssprachigen<br />

Analogien geschaffen, besonders in Frankreich als Ovide moralisé<br />

27 , und im 16. Jahrhundert, etwa mit dem sprechenden<br />

Titel La Bible des Poetes. Metamorphoze. Nouvellement imprime<br />

a Paris, gedruckt 28 . Als Beispiel sei in Abb. 10 die einführende<br />

Abbildung aus diesem Druck gezeigt, auf welcher der<br />

24 Zu diesem Schluss gelangt auch Gunnar Mikosch, a.a.O. (Anm 15). Der Autor<br />

weist darauf hin, dass Darstellungen von Kreuzigungsszenen auf Kapitellen des<br />

13. Jahrhunderts höchst selten sind, und unterstellt, dass allegorische Darstellungen<br />

wie die Kampfszene mit Pyramus dafür eintreten.<br />

25 4194303679_4ec0c4b88e_z.jpg (20.05.2012)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!